Samstag, 10. November 2007
Am nächsten Morgen um neun waren wieder mal alle im Büro versammelt: Peter Pfister, der einen wesentlich weniger verdrossenen Eindruck machte als in den letzten drei Tagen, Angela Kaufmann, gut gelaunt und aufmerksam wie immer, und Nick Baumgarten, der nach seinem Gespräch mit Andrew Ehrlicher für einmal früh schlafen gegangen war. Sie standen vor der Pinnwand, die alles enthielt was sie wussten: Fotos des toten und des lebenden Tom Truninger sowie der Tatwaffe, eine Aufzeichnung der Beziehungen Truningers mit Pfeilen und verschiedenen Farben, Zeitungsartikel der letzten Monate. Angela war stark im Visualisieren, und die beiden Männer hatten dieses Talent in den letzten Monaten schätzen gelernt. Es half, wenn man ein Bild des Falls hatte, auch ein unvollständiges, das man komplettieren konnte; man konnte die Bilder verschieben, die Pfeile anders zeichnen, Neues hinzufügen. Baumgarten und Pfister sassen an ihren Schreibtischen, Angela stand vor der Wand und versuchte, die bisherigen Ergebnisse zusammenzufassen.
„Wir haben relativ viel und doch praktisch nichts“, sagte sie und runzelte die Stirn, „es führen immer noch alle Spuren ins Leere. Der Griff des Messers gibt zwar einen verwischten Fingerabdruck her, von dem wir aber in der Datenbank keine Entsprechung haben. Auf den Videos der Abendstunden sind nur Angestellte des Casinos zu sehen, die ihrer normalen Tätigkeit nachgehen: Sicherheitschef Schifferli, Personalchefin Fuchs, zwei Leute aus der Finanzabteilung. Wir haben keine unüblichen Bewegungen auf den Konten der Truningers, eine ausserordentlich harmonische Familie, weder Feinde im Privatleben noch grosse Konflikte in der Firma. Irgendetwas müssen wir übersehen haben.“
„Weisst du, Angela, manchmal erfahren wir die wichtigen Informationen auch erst mit der Zeit. Ich habe gestern Abend nochmals mit Andrew Ehrlicher gesprochen und ihn gefragt, ob in der Ehe der Truningers alles zum Besten stand. Er hat mich zwar nicht gerade hinausgeworfen, aber es war klar, dass ich seine gute Freundin Maggie und das Andenken von Tom Truninger mit dieser Frage beleidigte. Es ist unwahrscheinlich, dass es aussereheliche Beziehungen gab. Andrew Ehrlicher bleibt vorläufig bei den Truningers und will uns weiterhelfen, wenn er kann.“
Nick lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Füsse auf den Tisch. „Peter, deine Grippe scheint sich verflüchtigt zu haben – ist daran etwa die Wasserleiche von gestern schuld?“
„Indirekt schon“,erwiderte Pfister mit kräftiger Stimme. „Der untersuchende Arzt hat mir ein paar Pillen mitgegeben, und die haben wunderbar gewirkt. Ich habe jedenfalls zehn Stunden tief geschlafen, und jetzt fühle ich mich wieder fit.“
„Was für eine Wasserleiche denn?“ fragte Angela. „Hat sie etwas zu tun mit unserem Fall?“
„Hoffentlich nicht, sonst hätten wir schon zwei Tote“, sagte Pfister. „Nein, ich musste am späten Nachmittag ausrücken, weil sonst keiner hier war und die Regionalpolizei sich nicht mehr allein um solche Sachen kümmern darf. Man fragt sich schon, warum bei so klaren Selbstmordfällen die Verantwortung bei der Kripo liegen muss. Auf jeden Fall müssten die Kollegen sie schon identifiziert haben, und ich bekomme dann den Bericht von der Obduktion.“
Nick nahm die Füsse vom Tisch und stand auf. „Haben wir die Liste der Casino-Mitarbeiter, die in letzter Zeit entlassen worden sind?“
„Ja, hier ist sie“, antwortete Angela und reichte ihm eine Faxnachricht. „Truninger hat in seinen drei Jahren als CEO insgesamt vier Personen gefeuert: einen Croupier, der Geld veruntreute, eine zu schwatzhafte Sekretärin, einen alkoholkranken Gärtner und eine Bardame mit Beziehungen zu einem albanischen Zockerkönig. Zumindest auf den ersten Blick hätten alle vier ein Motiv, wir sollten sie unbedingt befragen. Ich mache mich gleich auf die Suche.“
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und tippte den ersten Namen in ihr System.
„Gut. Peter, du und ich fahren nochmals ins Casino. Wir müssen herausfinden, was die verschiedenen Geschäftsleitungsmitglieder von Truningers Führungsstil hielten und wie sie zu ihm standen. Irgendeinen Konflikt muss es gegeben haben – es scheint mir unwahrscheinlich, dass ein Aussenseiter diesen Mord begangen haben könnte. Wir fahren mit deinem Wagen, bei meinem werden gerade die Winterreifen montiert.“
Sie zogen ihre Mäntel an, und auf dem Weg nach draussen sagte Baumgarten plötzlich: „Sag mal, was ist eigentlich mit dem Wagen von Truninger? Steht der noch in der Tiefgarage?“
Pfister ging zurück an seinen Schreibtisch und zog ein Blatt Papier von einem Stapel. „Die Leute von der Spurensicherung haben den Wagen noch in der Mordnacht überprüft. Ich habe allerdings nicht das volle Detailprogramm angeordnet, da Truninger offensichtlich dort ermordet wurde, wo man ihn fand. Die Fingerabdrücke im Auto stammen nur von der Familie, und an den Reifen ist auch nichts Besonderes aufgefallen. Obwohl es sich um einen Cherokee Chief handelt, ist Truninger damit nicht auf ungeteerten Strassen unterwegs gewesen. Es gab ein paar CDs im Auto, Queen, Bruce Springsteen, Tom Waits und andere, deren Namen ich mir nicht merken konnte. Auf jeden Fall hatte er nicht den gleichen Musikgeschmack wie ich. Sonst war nichts von Bedeutung im Wagen. Wir haben auf und unter dem linken hinteren Kotflügel einen grossen Blutfleck mit Haaren gefunden, aber es handelt sich um Tierblut, das heisst, er hat vermutlich einen Hasen oder einen Marder überfahren. Mit anderen Worten: nichts Verwertbares. Wenn wir wüssten, wonach wir suchen, könnten die Spezialisten das Auto nochmals gründlicher unter die Lupe nehmen.“
Nick schüttelte den Kopf. „Nein, lass den Wagen nach Küttigen zu Frau Truninger bringen. Wir werden dort nichts mehr finden. Und jetzt ab ins Casino!“ Die Tür schlug hinter den beiden Männern zu und ihre Schritte enfernten sich.
Als das Telefon auf Pfisters Tisch klingelte, nahm Angela den Anruf entgegen und versprach, die Information an ihren Kollegen weiterzuleiten: bei der Toten von Beznau handelte es sich um Sybille Senn, sechsundfünfzig, wohnhaft gewesen in Brugg, und sie sei definitiv ertrunken, die Mediziner bestätigten, dass es sich höchstwahrscheinlich um Selbstmord handle, keine offensichtliche Fremdeinwirkung, aber eine hohe Konzentration von Beruhigungsmitteln und Antidepressiva im Körper. Die Familie sei informiert, und ob Detektiv Pfister bitte den Leichnam zur Bestattung freigeben könne. Angela ging zurück an ihren Platz und wollte sich wieder in die Nachforschungen zum betrügerischen Croupier stürzen, als sie stutzte. Der Name der indiskreten Sekretärin auf ihrer Liste war Sybille Senn.
Angela erreichte nur die Mailbox von Baumgarten, und auch Pfister war nicht auffindbar. „Mist“, sagte sie halblaut. „Endlich habe ich etwas, und keiner interessiert sich dafür.“ Sie rief die Rechtsmedizin an und bat, man möge den Leichnam von Sybille Senn noch behalten, Nick Baumgarten werde sich melden.
„Was ist denn los, hat die Dame etwa unseren Casino-Direktor ermordet, bevor sie ins Wasser ging?“ lachte der Arzt durchs Telefon. „Ich lege die beiden auf jeden Fall nebeneinander ins Kühlfach und warte auf weitere Instruktionen. Tschüss, Frau Kaufmann.“
Zynischer Typ, dachte Angela, und auch etwas unheimlich, wie er beinahe Gedanken lesen konnte. Obwohl es natürlich höchst unwahrscheinlich war, dass die Senn irgendetwas mit dem Tod von Truninger zu tun hatte, schliesslich gab es statistisch im Kanton Aargau nur eine verschwindende Minderheit von weiblichen Gewalttätern. Angela war überzeugt davon, dass Frauen ihre Konflikte im Allgemeinen friedfertig zu lösen versuchten und erst unter extremen Belastungen zu Gewalt griffen. Aber natürlich wollte sie trotzdem wissen, unter welchen Umständen Sybille Senn von Truninger entlassen worden war, und wie sie diesen Bruch in ihrem Leben bewältigt hatte.