31
Die Fahrt über den steilen Bergpfad war für die Wagen genauso mühsam wie für die Insassen. Jake zweifelte mittlerweile trotz des Allradantriebs ernsthaft daran, dass sie ihr Ziel erreichten. Zeitweise erkannte er nicht einmal den Pfad, sondern sah nur Sand und Felsen. Oft bewegten sie sich so dicht am Abgrund entlang, dass er den Atem anhielt. Ständig rutschten die Räder weg, um dann doch noch in dem Geröll und Sand Halt zu finden. Die beiden Afghanen saßen jeweils am Steuer, während die SEALs sich auf die Fahrzeuge verteilt hatten. Das war zwar sinnvoll, da die Männer die Gegend besser kannten, hieß aber nicht, dass es Jake gefiel. Er hasste es, die Kontrolle aus der Hand zu geben, und das schloss das Lenkrad ausdrücklich mit ein. Er hatte es auf dem Beifahrersitz neben Hamid zwar bequemer als Daniel, der auf dem Rücksitz umhergeworfen wurde, aber auch das war nur ein geringer Trost.
Endlich stoppte Hamid den Wagen hinter einer Felsformation. Auch ihm war die Anstrengung anzusehen. Wortlos reichte Jake ihm eine Plastikflasche Wasser.
Sichtlich überrascht nahm der Afghane sie entgegen und trank durstig. »Danke. Wir befinden uns nun oberhalb der Piste, die Al-Wassai entlangkommt.« Er sah auf seine Uhr. »Wir müssten ungefähr eine Stunde Zeit für die Vorbereitungen haben. Ich hoffe, das reicht.«
Daniel, der nicht nur ihr Teamarzt, sondern auch der Sprengstoffexperte war, sprang aus dem Wagen. »Wird es. Ich sehe mich um und checke das Gelände.«
Das zweite Fahrzeug hatte bereits neben ihnen gehalten, und es war den Passagieren anzusehen, wie sehr sie es genossen, nicht mehr in dem Blech eingezwängt zu sein. Jake ließ kurz den Gedanken an Mark zu. Wo mochte sein Freund sich befinden? Und vor allem: Wie ging es ihm? Dann konzentrierte er sich auf die vor ihnen liegende Aufgabe. Nach der anstrengenden Fahrt überwog bei allen die Erleichterung, die zunächst keinen Platz für offen gezeigte Feindseligkeiten ließ.
Murat deutete mit der Hand auf den Kofferraum. »Wir haben genug Wasser. Bedient euch.«
Die Stimmung der Männer war bisher gespannt-abwartend, aber dennoch unterschwellig misstrauisch. Nur Daniel war nichts anzumerken, aber Jake kannte ihn zu gut, um sich von seiner lässigen Art täuschen zu lassen. Das musste sich ändern, ehe sie Al-Wassai festsetzten. Eine bewaffnete Auseinandersetzung mit Al-Wassais Leuten war zu riskant, wenn sie sich gegenseitig belauerten, statt sich auf den gemeinsamen Gegner zu konzentrieren. Jake ging zu dem Wagen und nahm sich eine der Wasserflaschen.
»Danke.«
Fox beobachtete ihn aus zusammengekniffenen Augen. Jake rechnete jeden Moment mit einem bissigen Kommentar, aber Daniels Rückkehr sorgte für eine kurze Ablenkung.
Ihr Teamarzt fuhr sich durch die blonden Haare und band sie sich dann mit einem Stirnband zurück, ehe er sich demonstrativ auch eine Wasserflasche nahm und dabei Fox nicht aus den Augen ließ.
»Reiß dich zusammen, Fox. Falls du es nicht kapiert hast: Wir stehen die nächsten Stunden auf der gleichen Seite. Die Örtlichkeiten sind genau so, wie Murat und Hamid sie beschrieben haben. Das passt perfekt.«
Daniel starrte den älteren SEAL so lange an, bis Fox sich an die Stirn tippte. »Aye, Sir.«
Jake verkniff sich ein Grinsen. Allzu oft war es noch nicht vorgekommen, dass Daniel den Offizier herausgekehrt hatte, und dieses Mal war er froh, dass ihm es erspart geblieben war.
»Gut, nachdem das geklärt wäre, seht mal her.« Daniel hob einen Stein auf und zeichnete eine grobe Skizze in den Sand. »Das ist die Straße, wir befinden uns hier. Al-Wassai wird vermutlich wie gewöhnlich mit drei Wagen unterwegs sein. Er selbst bevorzugt eine deutsche Edelkarosse und wird sich in der Mitte des Konvois befinden. Damit ist das Vorgehen recht einfach und zudem der einzige Weg, um ein Feuergefecht zu vermeiden. Wir scheuchen sie erst auf und bringen etwas Abstand zwischen die Wagen. Das hintere Begleitfahrzeug schneiden wir sofort mithilfe einer kleinen Gerölllawine von den anderen ab. Dann wird der führende Wagen eine Reifenpanne haben. Al-Wassai müsste nun allmählich merken, dass etwas faul ist. Er wird sich mit seinem Wagen an dem mit dem zerschossenen Reifen vorbeizwängen und möglichst schnell verschwinden wollen. Das ist dann der Zeitpunkt für die zweite Gerölllawine. Wenn alles klappt, haben wir danach Al-Wassai alleine vor der Mündung. Das heißt, dass ihn einige von uns dort unten direkt stoppen müssen. Und vorher gibt es einige Sprengladungen zu platzieren. Das packen wir zeitlich nur, wenn alle zusammenarbeiten. Noch Fragen?«
Fox nickte. »Wie willst du sie auseinandertreiben?«
»Wir jagen einiges von unserer Munition hoch. Das klingt, als ob sie sich unter Beschuss befinden.«
Tom betrachtete die Skizze. »Klingt gut. Wer stoppt Al-Wassai unten?«
Jake und Daniel sahen sich an. Schließlich zuckte Daniel mit der Schulter. »Der Knackpunkt ist der Schuss auf die Reifen. Der muss sitzen. Ich habe mir eben auch das angesehen. Der Schuss muss von weiter oben kommen, ich schätze die Distanz wird um die sechshundert Meter betragen. Durch die Kurven gibt es nur eine oder zwei Stellen, von denen aus man schießen kann. Weiter unten gibt es kein freies Schussfeld mehr, wenn man sich nicht gerade mitten auf die Straße stellt. So ungern ich es auch zugebe, Jake trifft geringfügig besser.«
Die SEALs lachten. Es war kein Geheimnis, dass Jake um Längen treffsicherer war und beinahe an ihre beiden Scharfschützen, Mark und Pat, herankam.
Jake seufzte übertrieben. »Aber da ich Daniel den Spaß unten nicht alleine überlassen möchte, werde ich sehen, dass ich möglichst schnell zu ihm stoße. Tom und Fox verschanzen sich ungefähr dort, wo wir Al-Wassai anhalten. Sobald wir ihn vor der Mündung haben, übernehmt ihr die Absicherung.« Er wandte sich an Murat und Hamid. »Bei dem Verteilen des Sprengstoffes brauchen wir euch. Was wollt ihr machen, wenn es losgeht?«
Überraschenderweise war es Hamid, der auf die skizzierte Straße tippte, obwohl Murat anzusehen war, dass ihm das nicht passte. »Ich empfange den Kerl mit euch zusammen. Zu dritt sind wir immer noch recht wenige, trotz des Backups. So wie ich ihn einschätze, wird er die besten Männer bei sich im Wagen haben. Murat?«
»Ihr habt die andere Seite der Straße nicht abgedeckt.«
Jake nickte. »Gut gesehen, aber es wird verdammt knapp, dorthin zu gelangen, nachdem wir den Sprengstoff verteilt haben. Da gibt es nur wenige Stellen, die geeignet sind, und keine einzige in der Nähe.«
Murat ging ein paar Schritte zur Seite und sprang auf einen Felsen. Dann kehrte er zurück. »Stimmt, aber es ist machbar. Ich übernehme das. Problematisch ist eher, dass es dort ziemlich flach ist. Es gibt kaum Sichtschutz, von ordentlicher Deckung ganz zu schweigen.«
Toms Kopf ruckte hoch. »Keine Deckung ist genau mein Ding. Soll ich ihn begleiten?«
Da Tom ihr Späher war und sich in jedem Gelände unauffällig bewegte, sah Jake Murat fragend an. Der Afghane nickte sofort. »Natürlich, gerne sogar. Mit einem Backup von links werden sie rechnen, aber mit uns auf der rechten Seite kaum. Wenn sie nicht ganz bescheuert sind, merken sie, dass wir sie in der Zange haben, und geben auf.«
Jake verengte die Augen etwas, ließ sich aber sonst nichts weiter anmerken. Es war schon erstaunlich, wie gut ihre Begleiter sich in militärischer Taktik auskannten.
»Dann los.«
Jake bekam noch mit, dass Tom den Afghanen als Ausgleich fürs Wasser einige ihrer Energieriegel anbot. Das Eis schien einigermaßen gebrochen zu sein, auch wenn es nur ein fragiler Waffenstillstand war. Damit hatten sie eine realistische Chance, Al-Wassai festzunehmen. Wie es dann weiterging, würde sich zeigen.
Mark hasste es, nichts tun zu können. Die Warterei machte ihn wahnsinnig. Es wäre ein Leichtes gewesen, den Fahrer zu überwältigen, aber ein gegebenes Wort zu brechen kam für ihn nicht infrage. Immerhin sah es aus, als hätte der Amerikaner sein Versprechen ebenfalls eingelöst. Er betrachtete die Berge, und das nicht nur, um einen Überblick zu behalten, wohin sie fuhren. Das war also das Land, in dem er aufgewachsen wäre, wenn sein leiblicher Vater damals nicht umgekommen wäre. Auf den ersten Blick nur Staub, Sand und Felsen, aber wenn man genauer hinsah, erkannte man seine Schönheit. Die Sonne brachte die unterschiedlichsten Farben hervor, Raubvögel zogen am strahlendblauen Himmel ihre Bahnen, und vereinzelt gab es sogar Büsche und Pflanzen.
»Scheiße.«
Der Amerikaner trat voll auf die Bremse und brachte den Wagen gerade noch rechtzeitig zum Stehen. Eine zottelige Wildziege war ihnen vor die Motorhaube gesprungen. Statt in Panik zu fliehen, blieb das Tier stehen und meckerte laut, ehe es gemächlich weiterschritt.
»So ein blödes Viech.« Doch der Amerikaner wirkte eher amüsiert als verärgert. Auch Mark hatte Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken, sagte jedoch nichts, obwohl der Mann darauf zu warten schien. Was dazu führte, dass sein Begleiter nicht nur unsicher wurde, sondern auch ziemlich gereizt. Sehr schön. Was hatte der Kerl eigentlich erwartet? Dass sie während der Fahrt eine nette Konversation über Land und Leute führten? Da konnte er lange warten.
Sie erreichten eine erstaunlich gut ausgebaute Piste. Wenn Mark das Satellitenbild richtig in Erinnerung hatte, führte der Weg nun direkt zu dem Gebäudekomplex, den er und Jake sich auf den Aufnahmen angesehen hatten. Unerwartet bog der Amerikaner ins Gelände ab und fuhr einen Hügel hinauf. Oben angekommen stoppte er und schaltete den Motor aus. »Sieh es dir mal von hier aus an.«
Neugierig stieg Mark aus. Auf dem Notebook hatten sie nicht einmal die Hälfte von dem gesehen, was ihn nun hier erwartete. Das, was Jake und er für Felsen gehalten hatten, waren verfallene Häuser und niedrige Mauern, die in früheren Zeiten wohl als Umrandung für Felder gedient hatten. Anscheinend hatte sich dort das ursprüngliche Dorf befunden, das jetzt jedoch verlassen vor ihm lag. Als er auf die Häuser hinabsah, beschlich ihn ein seltsames Gefühl. Er ließ den Blick weiter zu den Gebäuden schweifen, die bewohnt wurden. Mindestens zwei Meter hohe Mauern umzäunten ein Areal, in dem ein Haus, beinahe eine Villa, und mehrere kleinere Gebäude standen. Palmen und andere Grünpflanzen, manche mit farbenprächtigen Blüten, umgaben die Häuser. Mit einer solchen Oase hatte er nicht gerechnet. Plötzlich wusste er, dass dort hinten zwischen den Palmen und den Bergen noch etwas war.
»Ein See«, sagte er mehr zu sich selbst.
Der Amerikaner sah ihn prüfend an. »Stimmt, aber den kann man von hier aus nicht erkennen. Vor einigen Jahren ist es gelungen, Wasser aus den Bergen hinabzuleiten, seitdem ist der See das ganze Jahr dort und nicht nur einige Wochen. Daher ist das alte Dorf aufgegeben worden. Auf die Felder hat man von hier aus keinen Blick, aber es gibt sie, und auch Vieh. Obwohl das meiste Geld heute anders verdient wird. Leider zieht ein solcher Ort auch die falschen Leute an. Gewisse Sicherheitsmaßnahmen sind unumgänglich.«
Mark hatte bereits die Männer in Tarnanzügen, aber auch in traditioneller Kleidung gesehen, die entlang der Mauer patrouillierten und strategisch günstige Stellen besetzten. Wenn er sich dorthin begab, hatte er auch mit seiner Pistole kaum noch eine Chance, den Ort lebend zu verlassen. Die Versuchung wurde übermächtig, den Amerikaner zu überwältigen, dennoch sah er nur regungslos auf die Oase hinab.