24

Erst als Stephan mit Shara vor dem Haus stand, atmete er tief durch. »Hättest du mich nicht warnen können, Engel?«

»Du lässt dich von einer dreiundsiebzig Jahre alten Frau in die Flucht schlagen?«

»Das war keine Flucht, sondern ein strategischer Rückzug.«

»Den Spruch kenne ich von Dirk.« Sie zog Stephans Kopf zu sich heran. »Aber du hast dich ganz gut gehalten. Wenn du brav bist, verrate ich dir, wer vor dir schon strategische Rückzüge hingelegt hat.«

»Die Antwort habe ich mir schon jetzt verdient.«

»Mal sehen.« Shara schmiegte sich wie selbstverständlich an ihn, und schweigend legten sie die paar Meter zum Eichtalpark zurück. Sharas Hand wanderte über seinen Rücken, und ehe er sie vorwarnen konnte, berührte sie seine Waffe. Sie zuckte zurück und löste sich aus seiner Umarmung.

Stephan konnte ihre Miene nicht interpretieren. Dann lächelte sie. »Entschuldige, ich war nur überrascht. Das ist neu, oder?«

Einen Moment musste er überlegen, was sie meinte. »Eigentlich nicht, sie ist dir bisher nur nicht aufgefallen, weil ich sie meistens in der Jacke trage. Aber nicht, wenn ich im Einsatz bin. Kannst du damit leben?«

Sie runzelte die Stirn und schwieg. Das war natürlich auch eine Antwort. Stumm gingen sie einige Schritte weiter. Erst unter den ausladenden Ästen einer Eiche blieb Shara stehen. »Ich weiß wirklich nicht, ob es gut ist, wenn wir uns sehen, während du verdeckt ermittelst.« Sie beobachtete misstrauisch einen Mann im Anzug mit Notebook über der Schulter, bis er außer Sichtweite war. »Und Anrufe und SMS sollten wir auch besser lassen.«

Stephan konnte nichts gegen das Lachen tun, das in ihm aufstieg. »Lass den armen Kerl leben. Der will bestimmt nur schnell nach Hause. Keine Angst, Engel, ich weiß schon, was ich tue. Du brauchst nur etwas Geduld, bis ich auf Anrufe oder SMS antworte. Das ist alles.«

»Und wie soll das funktionieren?«

Er erklärte ihr das Arrangement mit den verschiedenen Wagen. »Sobald ich in dem Polizeiwagen sitze, kann ich dich anrufen. Auf dem Handy, das ich im Moment nutze, sollte deine Nummer besser nicht erscheinen, genauso wenig wie Svens. Der kennt meine Nummer, aber für den absoluten Notfall. Und dir gebe ich sie auch.«

»Nein, lieber nicht. Nachher komme ich noch in Versuchung, dir zu schreiben oder dich anzurufen. Einfach nur so. Aber sag mal. S-Klasse-Daimler, Vier Jahreszeiten als Hotel. Das klingt ja sehr nett. Vielleicht sollte ich mich dort mal unauffällig herumtreiben. Womöglich sehe ich dich.«

Jeder Anflug von Humor verflog, und Kälte breitete sich in Stephan aus. »Denk nicht einmal an so etwas. Die Welt, in der ich mich dort bewege, ist nicht schön, sondern hässlich und bösartig. Ich werde nicht zulassen, dass du damit in Berührung kommst. Niemals.«

Er merkte selbst, dass sein Ton zu schroff war, aber das interessierte ihn nicht. Hauptsache, sie begriff, dass es sein Ernst war.

Sharas Augen glitzerten jetzt beinahe grün. Sie fasste nach seinem Arm und zog ihn mit sich. »Komm mit.«

Erst abseits der normalen Wege blieb sie stehen und deutete durch die Äste auf einen vor ihnen liegenden See. Sonnenstrahlen brachen sich auf der Wasseroberfläche, auf der zahlreiche Wasservögel träge dahintrieben. »Wunderschön, oder?«

»Ja, aber was …«

»Sekunde. Ich meinte, es ist so friedlich, so harmonisch. Weißt du, die meiste Zeit, wenn wir zusammen sind, steht ein Lachen in deinen Augen. Sogar als Em dich ins Verhör genommen hat, waren sie warm und freundlich. Aber sobald es um deinen Job gehst, errichtest du eine richtige Mauer um dich herum. In Augenblicken wie eben wirkst du hart und unnahbar, und dennoch bist du derselbe Mann, der mit mir lacht und dessen Stärke mir ein Gefühl der Sicherheit gibt.«

Ein Schäferhund jagte auf den See zu und lief laut bellend ins Wasser. Panisch stoben die Wasservögel auseinander, und die Idylle war unwiederbringlich zerstört.

»Nach deiner Logik wäre ich dann also der Kläffer da.«

»Nein, natürlich nicht. Wenn du mit der Welt leben kannst, in der du dich bewegst, kann ich das auch.«

Schon die Vorstellung brachte ihn beinahe um. »Keine Chance, Engel. Du kannst alles von mir haben, aber nicht diesen Teil meines Lebens.«

Obwohl sie dicht nebeneinanderstanden, spürte er die plötzliche Distanz zwischen ihnen. »Und wie stellst du dir das in Zukunft vor?« Ihre Wangen röteten sich, und ihre Hand fuhr zum Mund. »Ich meinte nur …«

Stephan fasste nach ihrer Hand. »Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Ich kann und werde dir nichts versprechen. Aber eins ist sicher: Wenn das hier vorbei ist, suche ich mir einen neuen Job, und dann sehen wir weiter.« Ehe sie seine Absicht kommentieren oder Fragen stellen konnte, auf die er keine Antworten wusste, küsste er sie.

Die Silhouette der im hellen Mondlicht neben ihnen aufragenden Berge wäre zusammen mit dem von funkelnden Sternen übersäten Nachthimmel ein beeindruckendes Panorama gewesen, doch Mark gönnte der atemberaubenden Landschaft keinen zweiten Blick. Gegen die Motorhaube des Jeeps gelehnt wartete er darauf, dass Jake die Satellitenaufnahmen ausgewertet hatte. Am liebsten hätte er das selbst übernommen, war aber ehrlich genug zuzugeben, dass Jake am Computer schneller war. Ihre Verfolger hatten sie abgehängt, aber solange noch die geringste Hoffnung bestand, Pat zu finden, würde er an ihr eigentliches Ziel, Al-Wassai, keinen Gedanken verschwenden.

Daniel kam gähnend auf ihn zu. »Wann hat Jake denn endlich eine Antwort? Das kann doch nicht so lange dauern.« Mark sagte nichts, anscheinend hatte Daniel auch keine Antwort erwartet, denn er fuhr fort: »Ich habe da noch eine andere Frage.«

»Dann schieß los.«

»Bist du ganz sicher, dass der Kerl, der euch die Maschinenpistolen überlassen hat, Amerikaner war?«

»Ja.«

»Und der Anrufer bei Dirk hat Englisch mit einem leichten Akzent gesprochen?«

»Ja, das hat Dirk gesagt. Worauf willst du hinaus?«

»Ich hatte eine Theorie, aber die passt nicht ganz. Wir sind uns einig, dass keine Taliban hinter Pats Entführung stecken. Die hätten ihn nicht telefonieren lassen und uns wohl kaum gewarnt. Stattdessen wäre schon eines dieser widerlichen Videos auf YouTube aufgetaucht, mit Pat als Hauptdarsteller bei seiner eigenen Hinrichtung. Laut Pat sollen die Kerle ja irgendwie hinter dir her sein.«

»Richtig. Und weiter?«

»Du hast gesagt, dass dieser ältere Afghane dich die ganze Zeit beobachtet hat. Ich hätte da vielleicht eine Theorie, die passen könnte.«

Mark sah ihn auffordernd an. »Und welche?«

Daniel sprach weiter. »Ich weiß, es klingt seltsam, und der Amerikaner passt auch nicht ins Bild, aber … kann es sein, dass es irgendwie mit deiner Herkunft zu tun hat?«

So weit waren Jake und Mark in ihren Überlegungen auch gekommen. Schlagartig erinnerte sich Mark jetzt jedoch an den Zwischenfall auf dem deutschen Stützpunkt, den er schon längst vergessen hatte. Dass ihn dort jemand mit seinem ursprüng­lichen Namen gerufen hatte, so als wollte er sehen, ob er darauf reagierte, würde zu dieser Theorie durchaus passen.

Anscheinend hatte er zu lange geschwiegen, denn Daniel seufzte. »War ja nur eine Idee.«

»Und die ist nicht schlecht. Aber es passt eben leider auch nicht richtig zusammen. Es gibt eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder finden wir eine Spur von Pat, oder seine Entführer melden sich.«

Jake klappte das Notebook mit mehr Schwung als erforderlich zu. »Ihr habt eine dritte Möglichkeit vergessen: Pats Entführer beschließen, sich persönlich mit uns anzulegen und haben uns deswegen gewarnt.« Er tippte auf den tragbaren Computer. »Ich weiß nicht, ob sie Pat aus der Stadt gebracht haben, möglich ist es. Es gab da schon einige Fahrzeuge, die infrage kämen. Das bringt uns nicht weiter. Etwas anderes gefällt mir jedoch überhaupt nicht. Drei Fahrzeuge sind in unsere Richtung unterwegs, aber nicht die, die unser Versteck bei der Stadt überfallen wollten, sondern völlig andere Wagentypen. Trotzdem sollten wir hier ganz schnell verschwinden. Das sieht für mich nicht nach einem Zufall aus.«

Daniel machte trotz Jakes drängendem Tonfall keine Anstalten, sich zu bewegen. »Wir befinden uns hier mitten im Gebirge. Ohne GPS hätten wir uns hoffnungslos verirrt, und wir haben seit Stunden keinen Menschen getroffen. Wer sollte wissen, wo wir uns befinden?«

Jake verstaute das Notebook in seinem Rucksack. »Und genau diese Frage macht mich verdammt unruhig.«

Daniel stieß sich von der Motorhaube ab. »Können die uns irgendwie anpeilen? Vielleicht dein Notebook oder eines der Handys?«

»Dazu müssten sie die Nummer des Telefons kennen und entsprechende technische Möglichkeiten haben. Beides halte ich für ausgeschlossen.«

Mark überlegte kurz, dann stand seine Entscheidung fest. Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, nachts in diesem unwegsamen Gelände zu fahren, aber ihm blieb keine Wahl. »Also gut, dann überzeugen wir uns, ob sie etwas von uns wollen. Wenn sie uns tatsächlich folgen, werden wir den Spieß umdrehen und sie uns schnappen. Mal sehen, mit wem wir es zu tun haben.«

Drei Stunden später stoppten sie inmitten eines Tals. In der Dunkelheit wäre es Wahnsinn, den vor ihnen liegenden Berg zu überqueren, sie konnten schon froh sein, so weit ohne Achsenbruch oder geplatzten Reifen gekommen zu sein. Mark signalisierte seinen Männern im zweiten Wagen, sich auszuruhen.

Jake brauchte keine Aufforderung, sondern startete auf dem Notebook bereits das Programm zur Satellitenüberwachung. Ein Fluch sagte Mark, was er wissen wollte. »Wie weit?«

»Gut zwei bis drei Stunden hinter uns, aber noch in Bewegung.«

»Das gibt es doch gar nicht. Bis du sicher, dass sie uns nicht doch irgendwie anpeilen können?«

»Ich weiß langsam nicht mehr, was ich glauben soll. Um nachts vernünftige Bilder zu bekommen, brauchst du Wärmescans. Es gibt genug Drohnen, die mit entsprechenden Kameras ausgerüstet sind, und die Reece-Tornados der Bundeswehr können das auch, aber wir reden hier über Alliierte. Dazu kommt natürlich der Vogel, den ich gerade anzapfe. Vergiss es.«

Mark studierte die Karte der Region. Sie hatten sich dem Ort, an dem sich Al-Wassai aufhalten sollte, deutlich genähert. Wenn ihre Verfolger von hinten kamen, war der Weg zurück in die Stadt abgeschnitten. Da sie keine Ahnung hatten, ob sich Pat dort noch befand, konnte er damit leben. Wenn er mit seiner Einschätzung des Geländes richtig lag, hatten sie die Wahl, entweder weiter Kurs auf ihre Zielperson zu nehmen oder eine ganz andere Richtung einzuschlagen. Mark deutete auf ein Gebäude, das ungefähr vier Stunden entfernt lag. »Was ist das hier?«

Jake zoomte den Ausschnitt dichter heran. »Ein Haus, Palmen, Mauern. Mehr kann ich nicht erkennen. Es gibt eine Straße, die dort hinführt, man kann es aber auch quer durchs Gebirge erreichen.«

»Schalte mal um auf Wärmebildmodus.«

Es dauerte einige Augenblicke, dann pfiff Jake leise durch die Zähne. »Sieht nach einer Menge Leuten aus, die sich dort aufhalten.«

»Wie weit ist der Ort von der Stadt entfernt, aus der wir kommen? Gab es Fahrzeuge, die von dort aus zu diesem Haus gefahren sind?«

Jake gab die erforderlichen Befehle ein. »Woran denkst du?«

»Nur so ein Gefühl.«

Dieses Mal brauchte Jake sehr viel länger, ehe er ein Ergebnis hatte. »Tatsächlich, ein Fahrzeug, das aus der Stadt gekommen ist, könnte dorthin unterwegs sein. Glaubst du, dass sie Pat dahin bringen?«

»Ich weiß es nicht. Aber wir waren uns ja fast sicher, dass sie Pat aus der Stadt geschafft haben.«

»Lass uns noch kurz etwas anderes überprüfen.« Gespannt sah Mark zu, wie sich Jake die Gegend auf den Schirm holte, in der sie auf Al-Wassai treffen würden. Dann ließ er die Bilder durch einen Zeitraffer laufen. »Nun sieh dir das an. Von dem Haus aus, das dich interessiert, sind zwei Fahrzeuge mit direktem Kurs auf Al-Wassai unterwegs.« Jake navigierte zurück zu dem verdächtigen Gebäude. »Und ich wette, der Berg verbirgt noch einiges vor dem Satelliten. Dem Wärmescan nach kann es sich auch um mehrere Häuser oder einen sehr verwinkelten Komplex handeln. Langsam werde ich wirklich neugierig, was das ist und wer sich dort aufhält.«

»Ich auch. Es gibt da nur ein Problem. Ich habe das Gefühl, dass wir in gewisser Weise dorthin getrieben werden. Wenn ich mir das Gelände ansehe, haben wir mit den Fahrzeugen nur zwei Möglichkeiten: über den Berg rüber und dann rechts Richtung Al-Wassai oder links zu diesem Gebäude. Gibt es eine Chance, dass es sich dort nur eine Herde Schafe an einer Wasserstelle bequem gemacht hat?«

Jakes Mundwinkel hob sich. »Sorry, Mark. Die Signatur war eindeutig, es handelt sich um Menschen. Ich wette, ich weiß, was du jetzt vorhast, und fürs Protokoll: Es gefällt mir nicht.«

Mark grinste nur, obwohl ihm die Vorstellung, sich zu Fuß durchs Gebirge zu bewegen, ebenfalls nicht behagte. Aber falls er richtig mit seiner Vermutung lag, dürften sie so die Pläne ihrer Verfolger durchkreuzen und sie nicht nur abhängen, sondern auch in einen Hinterhalt locken.

Hydra – Riskante Taeuschung
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