2. Teil: Die Jahre in Princeton
»Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman!«
Als ich am MIT studierte, gefiel es mir dort sehr gut. Ich fand, es sei ein toller Ort, und natürlich wollte ich dort auch promovieren. Aber als ich zu Professor Slater ging und ihm von meinen Absichten erzählte, sagte er: »Wir lassen Sie hier nicht rein.«
Ich sagte: »Was?«
Slater fragte: »Wieso meinen Sie, Sie sollten am MIT zur Graduate School gehen?«
»Weil das MIT die beste Hochschule für Wissenschaft im ganzen Land ist.«
»Das glauben Sie?«
»Yeah.«
»Gerade deshalb sollten Sie an eine andere Hochschule gehen. Sie sollten herausfinden, wie es in der übrigen Welt aussieht.«
So beschloß ich, nach Princeton zu gehen. Nun, Princeton hatte eine gewisse Eleganz. Es war teilweise die Imitation einer englischen Universität. Deshalb machten die Leute in der Verbindung, die meine ziemlich rauhe, ungezwungene Art kannten, Bemerkungen wie: »Warte nur ab, bis sie in Princeton herausfinden, wen sie da zu sich gelassen haben! Warte ab, bis sie merken, was sie für einen Fehler gemacht haben!« So beschloß ich, mich anständig zu benehmen, wenn ich nach Princeton kam.
Mein Vater brachte mich in seinem Auto nach Princeton, ich bekam mein Zimmer, und er fuhr wieder ab. Ich war noch nicht eine Stunde dort, als mich ein Mann aufsuchte: »Ich bin der Leiter des Wohnheims hier, und ich möchte Ihnen sagen, daß der Dekan heute nachmittag zum Tee bittet, und er möchte, daß Sie alle kommen. Vielleicht sind Sie so freundlich, Ihren Zimmergenossen, Mr. Serette, zu informieren.«
Das war meine Einführung in das Graduierten-»College« in Princeton, wo alle Studenten wohnten. Es war wie eine Imitation von Oxford oder Cambridge - komplett bis hin zu den Akzenten (der Leiter des Wohnheims war ein Professor für »French littrachaw«). Unten gab es einen Pförtner, alle hatten schöne Zimmer, und wir nahmen alle unsere Mahlzeiten gemeinsam in einem großen Saal mit Fenstern aus farbigem Glas ein und trugen dazu Talare.
Am gleichen Nachmittag, an dem ich in Princeton ankam, ging ich also zum Tee des Dekans, und dabei wußte ich nicht einmal, was »der Tee« war oder was das sollte! Ich hatte überhaupt keine Umgangsformen; ich hatte keine Erfahrung in solchen Dingen.
Ich komme also an die Tür, und da steht der Dekan, Mr. Eisenhart, und begrüßt die neuen Studenten: »Oh, Sie sind Mr. Feynman«, sagte er. »Wir freuen uns, Sie bei uns zu haben.« Das half ein bißchen, denn irgendwie erkannte er mich.
Ich gehe durch die Tür, und da sind einige Damen und auch ein paar Mädchen. Alles ist sehr förmlich, und ich überlege, wo ich mich hinsetzen soll, ob ich mich neben dieses Mädchen setzen soll oder nicht, und wie ich mich benehmen soll, als ich hinter mir eine Stimme höre.
»Nehmen Sie Sahne oder Zitrone, Mr. Feynman?« Es ist Mrs. Eisenhart, die Tee einschenkt.
»Beides, danke schön«, sage ich, immer noch Ausschau haltend, wo ich mich hinsetzen soll, als ich plötzlich höre: »Hi-hi-hi-hi-hi. Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman.«
Scherzen? Scherzen? Was zum Teufel hatte ich gerade gesagt? Dann wurde mir klar, was ich getan hatte. Das war also meine erste Erfahrung mit dieser Tee-Geschichte.
Später, als ich schon länger in Princeton war, lernte ich dieses »Hi-hi-hi-hi-hi« verstehen. Eigentlich wurde mir schon bei diesem ersten Tee, als ich mich verabschiedete, klar, daß es bedeutete: »Sie begehen einen Fauxpas.« Denn beim nächsten Mal, als ich dieses gleiche Kichern »Hi-hi-hi- hi-hi« von Mrs. Eisenhart hörte, gab ihr jemand einen Handkuß, als er sich verabschiedete.
Ein anderes Mal, vielleicht ein Jahr später, bei einem anderen Tee, unterhielt ich mich mit Professor Wildt, einem Astronomen, der eine Theorie über die Wolken auf der Venus entwickelt hatte. Sie sollten aus Formaldehyd bestehen (es ist herrlich, worüber wir uns früher Gedanken gemacht haben), und er hatte das alles ausgerechnet, wie sich das Formaldehyd niederschlägt und so weiter. Es war äußerst interessant. Wir unterhielten uns über diesen ganzen Kram, als eine kleine Dame auf mich zu kam und sagte: »Mr. Feynman, Mrs. Eisenhart würde Sie gerne sprechen.«
»O. k., einen Moment...«, und ich unterhielt mich weiter mit Wildt.
Die kleine Dame kam wieder zurück und sagte: »Mr. Feynman, Mrs. Eisenhart würde Sie gerne sprechen.«
»O. k., o. k.!«, und ich gehe hinüber zu Mrs. Eisenhart, die Tee eingießt.
»Nehmen Sie Kaffee oder Tee, Mr. Feynman?«
»Mrs. Soundso sagt, Sie möchten mich sprechen.«
»Hi-hi-hi-hi-hi. Möchten Sie Kaffee oder lieber Tee, Mr. Feynman?«
»Tee«, sage ich, »danke sehr«.
Einige Augenblicke später kamen Mrs. Eisenharts Tochter und eine Schulfreundin herüber, und wir wurden einander vorgestellt. Alles, was hinter diesem »Hi-hi-hi« steckte, war: Mrs. Eisenhart wollte gar nicht mit mir sprechen, ich sollte da sein und Tee trinken, wenn ihre Tochter und deren Freundin herüberkamen, so daß sie sich mit jemandem unterhalten konnten. So lief das. Inzwischen wußte ich, was ich zu tun hatte, wenn ich das »Hi-hi-hi-hi-hi« hörte. Ich sagte nicht: »Was meinen Sie mit >Hi-hi-hi-hi-hi<?«; ich wußte, das »Hi- hi-hi« bedeutete »Fehler« und daß ich das besser ausbügelte. Jeden Abend trugen wir beim Essen Talare. Beim ersten Mal jagte mir das eine Heidenangst ein, denn ich konnte Förmlichkeiten nicht ausstehen. Aber mir wurde schnell klar, daß die Talare einen großen Vorteil hatten. Diejenigen, die draußen Tennis gespielt hatten, konnten auf ihr Zimmer eilen, sich den Talar schnappen und überziehen. Sie brauchten keine Zeit damit zu verlieren, ihre Kleider zu wechseln oder sich zu duschen. Unter den Talaren steckten also nackte Arme, T- Shirts, alles mögliche. Im übrigen gab es eine Regel, daß man den Talar nie reinigte; auf diese Weise konnte man einen Studenten aus dem ersten Jahr von einem Studenten aus dem zweiten Jahr, aus dem dritten Jahr und von einem Ferkel unterscheiden! Man machte den Talar nie sauber, und man flickte ihn auch nicht, deshalb hatten die Studenten aus dem ersten Jahr sehr schöne, relativ saubere Talare, aber wenn man dann ins dritte Jahr oder so kam, hatte man bloß noch eine Art Pappding um die Schultern, von dem die Fetzen herunterhingen.
So ging ich also, als ich nach Princeton kam, am Sonntagnachmittag zu jenem Tee, und zu Abend aß ich in einem Talar im »College«. Aber am Montag wollte ich als erstes das Zyklotron sehen.
Am MIT war ein neues Zyklotron gebaut worden, als ich dort Student war, und es war einfach herrlich! Das Zyklotron selbst war in einem Raum und das Kontrollpult in einem anderen. Es war hervorragend konstruiert. Die Kabel führten vom Kontrollraum durch unterirdische Leitungsrohre zum Zyklotron, und da war eine große Schalttafel mit Knöpfen und Meßinstrumenten. Es war das, was ich ein vergoldetes Zyklotron nennen würde.
Ich hatte eine Menge Arbeiten über Zyklotron-Experimente gelesen, aber vom MIT gab es nicht viele. Vielleicht fingen sie gerade erst damit an. Aber von Forschungsstätten wie Cornell und Berkeley und vor allem aus Princeton lagen massenhaft Resultate vor. Was ich deshalb unbedingt sehen wollte, worauf ich mich freute, war das ZYKLOTRON von PRINCETON. Das mußte was Besonderes sein!
Am Montag gehe ich also als erstes in den Physik-Bau und frage: »Wo ist das Zyklotron - in welchem Gebäude?«
»Unten im Keller - am Ende des Ganges.«
Im Keller? Es war ein altes Gebäude. Im Keller war kein Platz für ein Zyklotron. Ich ging den Gang entlang bis zum Ende, trat durch die Tür, und innerhalb von zehn Sekunden erkannte ich, warum Princeton richtig für mich war - der beste Ort, an dem ich weiterstudieren konnte. In dem Raum waren an allen Ecken und Enden Kabel gezogen! An den Kabeln hingen Schalter, Kühlwasser tropfte aus den Ventilen, der Raum war voller Krempel, und alles völlig offen. Überall standen Tische herum, auf denen sich Werkzeuge stapelten; es war ein einziges heilloses Durcheinander. Das ganze Zyklotron war in einem Raum, und es war ein totales, absolutes Chaos!
Es erinnerte mich an mein Labor zu Hause. Am MIT hatte mich nie etwas an mein Labor zu Hause erinnert. Plötzlich wurde mir klar, warum Princeton Resultate erzielte. Sie arbeiteten mit dem Instrument. Sie hatten das Instrument gebaut; sie wußten, wo was war, sie wußten, wie alles funktionierte, da war kein Techniker beteiligt, es sei denn, er arbeitete auch da. Es war viel kleiner als das Zyklotron am MIT, und »vergoldet«? - es war das genaue Gegenteil. Wenn sie ein Leck in der Vakuumkammer flicken wollten, klebten sie es mit Glyptal zu, deshalb die Glyptaltropfen auf dem Boden. Es war wunderbar! Denn sie arbeiteten damit. Sie brauchten nicht in einem anderen Raum zu sitzen und Knöpfe zu drücken! (Nebenbei bemerkt, wegen des ganzen chaotischen Durcheinanders - zu viele Kabel - brach in dem Raum ein Feuer aus, und das Zyklotron wurde zerstört. Aber davon erzähle ich besser nicht!)
(Als ich nach Cornell kam, ging ich mir das dortige Zyklotron anschauen. Dieses Zyklotron benötigte kaum einen Raum: Es war ungefähr ein Yard breit - der Durchmesser des ganzen Apparates. Es war das kleinste Zyklotron der Welt, aber sie hatten phantastische Resultate erzielt. Sie hatten alle möglichen Spezialtechniken und Tricks. Wenn sie etwas an den »D's« verändern wollten - den D-förmigen Halbkreisen, zwischen denen die Teilchen beschleunigt werden -, nahmen sie einen Schraubenzieher, bauten die D's mit der Hand aus, brachten sie in Ordnung und bauten sie wieder ein. In Princeton war das viel schwieriger, und am MIT brauchte man einen Kran, der unter der Decke herangerollt wurde, man mußte die Haken herunterlassen, und es war eine Heiiiiiidenarbeit.)
Ich lernte eine Menge verschiedener Dinge an verschiedenen Hochschulen. Das MIT ist ein sehr guter Ort; ich will es nicht schlechtmachen. Ich war richtig in es verliebt. Es hat für sich selbst einen Geist entwickelt, so daß jeder, der dort arbeitet, es für den wunderbarsten Ort auf der Welt hält - irgendwie ist es das Zentrum der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung in den Vereinigten Staaten, wenn nicht sogar der ganzen Welt. Es ist so, wie die New Yorker New York sehen: sie vergessen das übrige Land. Und obwohl man dort kein gutes Gefühl für Proportionen bekommt, bekommt man ein besonderes Gefühl dafür, dabei zu sein und beteiligt zu sein, und die Motivation und den Wunsch, weiterzumachen - ein Gefühl, daß man auserwählt ist und das Glück hat, dort zu sein.
Das MIT war also gut, aber Slater hatte recht gehabt, mir zu empfehlen, an einer anderen Universität zu promovieren. Und ich gebe meinen Studenten oft den gleichen Rat. Entdeckt, wie die übrige Welt ist. Die Abwechslung lohnt sich.
Im Zyklotron-Labor in Princeton habe ich einmal ein Experiment durchgeführt, das einige erstaunliche Resultate brachte. In einem Lehrbuch über Hydrodynamik gab es ein Problem, das von allen Physik-Studenten diskutiert wurde. Das Problem ist folgendes: Man hat einen S-förmigen Rasensprenger - eine S-förmige Röhre auf einem Drehzapfen -, und das Wasser spritzt im rechten Winkel zur Achse heraus und läßt diese in einer bestimmten Richtung rotieren. Jeder weiß, in welche Richtung der Rasensprenger sich dreht: er wird von dem austretenden Wasser zurückgetrieben. Die Frage ist nun: Angenommen, man hat einen See oder einen Swimmingpool - ein großes Becken mit Wasser -, und man tut den Sprenger ganz unter Wasser und saugt Wasser ein, statt es hinauszuspritzen, in welche Richtung würde er sich drehen? Würde er sich in die gleiche Richtung drehen, in die er sich dreht, wenn man das Wasser in die Luft spritzt, oder würde er sich in die entgegengesetzte Richtung drehen?
Auf den ersten Blick ist die Antwort völlig klar. Das Pech war nur, daß der eine dachte, es sei ganz klar diese Richtung, und der andere, es sei ganz klar jene. Deshalb diskutierten alle darüber. Ich erinnere mich, daß in einem bestimmten Seminar oder bei einem Tee jemand zu Professor John Wheeler ging und ihn fragte: »Was denken Sie: in welche Richtung dreht er sich?«
Wheeler sagte: »Gestern hat Feynman mich davon überzeugt, daß der Rasensprenger sich rückwärts dreht. Heute hat er mich mit ebenso guten Argumenten davon überzeugt, daß er sich in die entgegengesetzte Richtung dreht. Ich weiß nicht, wovon er mich morgen überzeugen wird!«
Ich werde jetzt ein Argument anführen, das einen glauben läßt, daß der Rasensprenger sich in die eine Richtung dreht, und dann ein anderes, das einen glauben läßt, daß er sich in die andere Richtung dreht. O. k.?
Das eine Argument lautet: Wenn man das Wasser einsaugt, ist es so, als würde man das Wasser mit der Düse ziehen, so daß der Sprenger sich vorwärts bewegt, auf das einströmende Wasser zu.
Aber dann kommt jemand anders vorbei und sagt: »Angenommen, wir halten den Sprenger fest und fragen, was für ein Drehmoment wir brauchen, um ihn festzuhalten. Für den Fall, daß das Wasser austritt, wissen wir alle, daß man ihn, wegen der Zentrifugalkraft des Wassers, das um die Biegung strömt, an der Außenseite der Biegung festhalten muß. Wenn das Wasser nun in entgegengesetzter Richtung um die gleiche Biegung strömt, übt es die gleiche Zentrifugalkraft auf die Außenseite der Biegung aus. Deshalb sind beide Fälle gleich, und der Sprenger wird sich in die gleiche Richtung drehen, ob man das Wasser ausspritzt oder einsaugt.«
Nach einigem Nachdenken kam ich zu dem Schluß, wie die Antwort lautete, und um das zu beweisen, wollte ich ein Experiment durchführen.
Im Zyklotron-Labor in Princeton hatten sie eine große Korbflasche - eine riesengroße Flasche mit Wasser. Ich dachte, das sei genau das richtige für das Experiment. Ich besorgte mir ein Stück Kupferröhre und bog es zu einem S. Dann bohrte ich ein Loch in die Mitte, steckte einen Gummischlauch hinein und führte diesen durch ein Loch in dem Korken, mit dem ich die Flasche verschlossen hatte. Der Korken hatte noch ein zweites Loch, in das ich einen weiteren Gummischlauch steckte, den ich an die Preßluftflasche im Labor anschloß. Indem ich Luft in die Flasche pumpte, konnte ich Wasser in die Kupferröhre pressen, genauso als würde ich es einsaugen. Die S-förmige Röhre würde sich zwar nicht frei drehen, sondern sich (wegen des flexiblen Gummischlauchs) nur winden, aber ich wollte die Geschwindigkeit der Wasserströmung messen, indem ich maß, wie weit das Wasser oben aus der Flasche herausspritzte.
Ich hatte alles aufgebaut, drehte die Preßluft auf, und es machte »Pfff!«. Der Luftdruck hatte den Korken aus der Flasche getrieben. Ich steckte ihn fest wieder hinein, so daß er nicht wieder herausflog. Jetzt lief das Experiment ziemlich gut. Das Wasser kam heraus, und der Schlauch verdrehte sich, also erhöhte ich ein wenig den Druck, denn bei höherer Geschwindigkeit würden die Messungen genauer sein. Ich maß sehr sorgfältig den Winkel und den Abstand und erhöhte noch einmal den Druck, und mit einemmal explodierte das ganze Ding, und Glas und Wasser spritzten in alle Richtungen durch das Labor. Ein Bursche, der gekommen war, um zuzugucken, wurde ganz naß und mußte nach Hause gehen und sich umziehen (es ist ein Wunder, daß er durch das Glas nicht verletzt wurde), und viele Bilder aus der Nebelkammer, die geduldig mit dem Zyklotron aufgenommen worden waren, waren völlig naß, aber ich war aus irgendeinem Grund weit genug weg oder stand so, daß ich nicht besonders naß wurde. Aber ich werde nie vergessen, wie der große Professor Del Sasso, der für das Zyklotron verantwortlich war, zu mir kam und streng sagte: »Erstsemester-Experimente sollten im Erstsemester-Labor gemacht werden.«
Iiiiiiiiiich!
Mittwochs kamen verschiedene Leute ans Graduate-College in Princeton, um Vorträge zu halten. Die Redner waren oft interessant, und bei den Diskussionen nach den Vorträgen hatten wir meist eine Menge Spaß. Ein Kommilitone zum Beispiel war stark anti-katholisch, deshalb verteilte er vorher Fragen, die die Leute einem religiösen Redner stellen sollten, und dem machten wir dann schwer zu schaffen.
Ein andermal hielt jemand einen Vortrag über Dichtung. Er sprach über die Struktur des Gedichtes und über die Gefühle, die es begleiten; er teilte alles in bestimmte Klassen ein. In der folgenden Diskussion fragte er: »Ist das nicht genau wie in der Mathematik, Dr. Eisenhart?«
Dr. Eisenhart war der Dekan der Graduate-School und ein bedeutender Mathematik-Professor. Außerdem war er sehr clever. Er sagte: »Ich wüßte gern, wie Dick Feynman darüber denkt im Zusammenhang mit der Theoretischen Physik.« In solchen Situationen brachte er mich immer ins Spiel.
Ich stand auf und sagte: »Ja, es besteht eine sehr enge Beziehung. In der Theoretischen Physik ist das Analogon zum Wort die mathematische Formel, das Analogon zur Struktur des Gedichtes ist die Wechselbeziehung zwischen dem theoretischen Dingsbums und dem Soundso« - und ich ging die ganze Sache durch und stellte eine perfekte Analogie her. Die Augen des Redners strahlten vor Glück.
Dann sagte ich: »Mir scheint, ganz gleich, was man über Dichtung sagt, so wie ich es mit der Theoretischen Physik gemacht habe, könnte ich zu jedem Bereich eine Analogie herstellen. Ich sehe in solchen Analogien keinen Sinn.«
In dem riesengroßen Speisesaal mit den farbigen Fenstern, wo wir, in unseren stetig sich verschleißenden Talaren, immer aßen, sprach Dr. Eisenhart vor jedem Abendessen ein lateinisches Tischgebet. Nach dem Abendessen stand er oft auf, um etwas bekanntzugeben. Eines Abends stand er auf und sagte: »In zwei Wochen wird ein Psychologie-Professor kommen und einen Vortrag über Hypnose halten. Nun, der Professor hat gemeint, es wäre viel besser, wenn wir die Hypnose richtig vorgeführt bekämen, statt nur darüber zu sprechen. Deshalb möchte er, daß ein paar Leute sich freiwillig zur Verfügung stellen, um hypnotisiert zu werden ...«
Ich bin ganz aufgeregt. Keine Frage, daß ich hinter die Hypnose kommen muß. Das wird toll werden!
Der Dekan sagte weiter, es wäre gut, wenn sich drei oder vier Leute freiwillig zur Verfügung stellen würden, damit der Hypnotiseur sie zunächst ausprobieren könne, um zu sehen, wer von ihnen fähig sei, hypnotisiert zu werden, er bäte uns also sehr, uns dafür zu melden. (Um Gottes willen, er verschwendet bloß Zeit!)
Eisenhart war an einem Ende des Saals, und ich war ganz weit hinten am anderen Ende. Es waren Hunderte von Leuten da. Ich wußte, daß jeder das würde machen wollen, und ich hatte große Angst, daß er mich nicht sehen werde, weil ich so weit hinten war. Ich mußte einfach bei dieser Vorführung mitmachen!
Schließlich sagte Eisenhart: »Ich möchte also fragen, ob sich irgend jemand freiwillig meldet...«
Ich hob die Hand, schoß von meinem Stuhl auf und brüllte so laut ich konnte, um sicher zu sein, daß er mich auch hörte: »Iiiiiiiiiich!«
Er hörte mich nur zu gut, denn sonst meldete sich keine Menschenseele. Meine Stimme hallte im Saal wider - es war sehr peinlich. Eisenhart reagierte sofort: »Ja, natürlich, daß Sie sich zur Verfügung stellen würden, Mr. Feynman, war mir klar, aber ich wollte wissen, ob sich sonst noch jemand melden würde.«
Schließlich stellten sich noch ein paar andere zur Verfügung, und eine Woche vor der Vorführung kam der Mann, um an uns zu üben, um zu sehen, ob einer von uns sich für die Hypnose eignete. Ich wußte über das Phänomen Bescheid, aber ich wußte nicht, wie es ist, hypnotisiert zu werden.
Er fing an, mich zu bearbeiten, und bald war ich soweit, daß er sagte: »Sie können Ihre Augen nicht öffnen.«
Ich sagte zu mir: »Ich wette, daß ich meine Augen öffnen könnte, aber ich möchte die Situation nicht verderben. Woll'n mal sehen, wie weit das geht.« Es war eine interessante Situation: Man ist nur leicht benebelt, und obwohl man ein bißchen weggetreten ist, ist man ziemlich sicher, daß man die Augen öffnen könnte. Aber natürlich öffnet man die Augen nicht, in gewisser Hinsicht kann man es also nicht.
Er machte allerlei Sachen und entschied, daß ich recht gut geeignet sei.
Als die eigentliche Vorführung kam, mußten wir auf das Podium kommen, und er hypnotisierte uns vor dem versammelten Graduate-College von Princeton. Diesmal war die Wirkung stärker; ich nehme an, ich hatte gelernt, mich hypnotisieren zu lassen. Der Hypnotiseur führte Verschiedenes vor, indem er mich Dinge tun ließ, die ich normalerweise nicht tun konnte, und am Ende sagte er, wenn ich aus der Hypnose erwacht sei, würde ich, anstatt direkt zu meinem Platz zurückzukehren, was die natürlichste Art und Weise sei, um den ganzen Raum herumlaufen und von hinten zu meinem Platz gehen.
Während der ganzen Vorführung war ich mir vage dessen bewußt, was vorging, und arbeitete bei dem, was der Hypnotiseur sagte, mit, aber diesmal beschloß ich: »Verdammt, genug ist genug! Ich werde schnurstracks auf meinen Platz gehen.«
Als ich aufstehen und das Podium verlassen konnte, begann ich, geradewegs zu meinem Platz zu gehen. Aber dann überkam mich ein unangenehmes Gefühl: ich fühlte mich so unbehaglich, daß ich nicht weitergehen konnte. Ich lief um den ganzen Saal herum.
Einige Zeit später wurde ich in einer anderen Situation von einer Frau hypnotisiert. Während ich hypnotisiert war, sagte sie: »Ich werde jetzt ein Streichholz anzünden, es ausblasen und dann sofort damit Ihren Handrücken berühren. Sie werden keinen Schmerz verspüren.«
Ich dachte: »Quatsch!« Sie nahm ein Streichholz, zündete es an, blies es aus und tippte damit an meinen Handrücken. Es fühlte sich ein wenig warm an. Meine Augen waren die ganze Zeit geschlossen, aber ich dachte: »Das ist einfach. Sie hat ein Streichholz angezündet, aber dann mit einem anderen an meine Hand getippt. Da ist ja nichts bei; es ist Schwindel!«
Als ich aus der Hypnose erwachte und meinen Handrücken ansah, erlebte ich eine große Überraschung: auf meinem Handrücken war eine Brandwunde. Bald bildete sich eine Blase, aber es tat überhaupt nicht weh, nicht einmal als die Blase aufplatzte.
Ich stellte also fest, daß die Hypnose eine sehr interessante Erfahrung ist. Die ganze Zeit sagt man sich: »Ich könnte es, aber ich werde es nicht tun« - womit man nur auf andere Weise sagt, daß man es nicht kann.
Eine Katzenkarte?
Im Speisesaal des Graduate-College in Princeton saßen die einzelnen meist mit Studenten der eigenen Fachrichtung zusammen. Ich saß bei den Physikern, aber nach einem Weilchen dachte ich: Es wäre gut, wenn man sich ansähe, was der Rest der Welt treibt, ich werde mich also jeweils für ein oder zwei Wochen zu einer der anderen Gruppen setzen.
Als ich bei den Philosophen saß, hörte ich ihnen zu, wie sie sehr ernsthaft über ein Buch von Whitehead diskutierten, das den Titel hatte: Prozeß und Realität. Sie benutzten die Worte auf komische Art und Weise, und ich konnte nicht recht verstehen, was sie sagten. Ich wollte sie aber in ihrem Gespräch nicht unterbrechen und sie nicht dauernd bitten, etwas zu erklären, und bei den wenigen Malen, als ich doch fragte, versuchten sie es mir zu erklären, aber ich begriff es trotzdem nicht. Schließlich luden sie mich ein, in ihr Seminar zu kommen.
Sie hatten ein Seminar, das wie eine Klasse war. Es war jede Woche einmal zusammengekommen, um ein neues Kapitel aus Prozeß und Realität zu diskutieren - irgend jemand hielt ein Referat darüber, und dann gab es eine Diskussion. Ich ging in dieses Seminar und schwor mir, den Mund zu halten, indem ich mir ins Gedächtnis rief, daß ich nicht das geringste vom Thema verstand und nur hinging, um zuzuschauen.
Was dort geschah, war typisch - so typisch, daß es unglaublich war, aber wahr. Zuerst saß ich da, ohne irgend etwas zu sagen, was kaum zu glauben, aber ebenfalls wahr ist. Ein Student hielt ein Referat über das Kapitel, das in jener Woche untersucht werden sollte. Whitehead benutzte darin dauernd die Worte »wesentlicher Gegenstand«, und zwar in einer bestimmten terminologischen Weise, die er vermutlich definiert hatte, die ich jedoch nicht verstand.
Nach einiger Diskussion darüber, was »wesentlicher Gegenstand« bedeute, sagte der Professor, der das Seminar leitete, etwas, das die Dinge klären sollte, und zeichnete etwas an die Tafel, das wie Blitze aussah. »Mr. Feynman«, fragte er, »würden Sie sagen, daß ein Elektron ein wesentlicher Gegenstand< ist?«
Nun, jetzt saß ich in der Patsche. Ich gab zu, daß ich das Buch nicht gelesen hatte, deshalb hätte ich keine Ahnung, was Whitehead mit dem Ausdruck meine; ich sei nur gekommen, um zuzuschauen. »Aber«, sagte ich, »ich werde versuchen, die Frage, die der Herr Professor gestellt hat, zu beantworten, wenn Sie vorher eine Frage von mir beantworten, damit ich mir eine bessere Vorstellung davon machen kann, was >wesentlicher Gegenstand< bedeutet. Ist ein Ziegelstein ein wesentlicher Gegenstand?«
Ich hatte herausfinden wollen, ob sie glaubten, daß theoretische Konstrukte wesentliche Gegenstände seien. Das Elektron ist eine Theorie, die wir benutzen; es ist so nützlich für unser Verständnis vom Funktionieren der Natur, daß wir es fast als real bezeichnen können. Ich wollte per Analogie klarmachen, was eine Theorie ist. Im Fall des Ziegelsteins sollte meine nächste Frage lauten: »Und wie steht es mit dem Inneren des Ziegelsteins?« - und dann wollte ich darauf hinweisen, daß noch nie jemand das Innere eines Ziegelsteins gesehen hat. So oft man den Ziegelstein auch zerbricht, man sieht immer nur eine Oberfläche. Daß der Ziegelstein ein Inneres hat, ist eine einfache Theorie, die uns hilft, die Dinge besser zu verstehen. Bei der Theorie der Elektronen ist es ähnlich. Deshalb stellte ich als erstes die Frage: »Ist ein Ziegelstein ein wesentlicher Gegenstand?«
Dann kamen die Antworten. Einer stand auf und sagte: »Der Ziegelstein als einzelner, besonderer Ziegelstein. Das ist es, was Whitehead unter einem wesentlichen Gegenstand versteht.«
Ein anderer sagte: »Nein, der einzelne Ziegelstein ist kein wesentlicher Gegenstand; es ist der allgemeine Charakter, den alle Ziegelsteine gemeinsam haben - ihre >Ziegelsteinhaftigkeit< -, das ist der wesentliche Gegenstand.«
Wieder ein anderer stand auf und sagte: »Nein, es liegt nicht in den Ziegelsteinen selbst. Wesentlicher Gegenstand< meint die Vorstellung im Bewußtsein, die sich einstellt, wenn man an Ziegelsteine denkt.«
Wieder und wieder stand jemand auf, und ich hatte wirklich noch nie gehört, daß man auf so einfallsreiche und unterschiedliche Weise einen Ziegelstein betrachten kann. Und genau wie es in allen Geschichten über Philosophen sein muß, endete es in vollständigem Chaos. In all ihren vorherigen Diskussionen hatten sie sich nicht einmal die Frage gestellt, ob ein so einfacher Gegenstand wie ein Ziegelstein, ganz zu schweigen von einem Elektron, ein »wesentlicher Gegenstand« ist.
Danach zog ich beim Abendessen an den Biologen-Tisch um. Ich hatte mich immer für Biologie interessiert, und sie sprachen über sehr interessante Dinge. Einige von ihnen luden mich ein, zu einem Kurs über Zellphysiologie zu kommen, den sie besuchen wollten. Ich kannte mich etwas aus in Biologie, aber dies war ein Kurs für Graduierte. »Glaubt ihr, ich komme damit zurecht? Wird der Professor mich reinlassen?« fragte ich.
Sie fragten den Dozenten, E. Newton Harvey, der viel über Leuchtbakterien gearbeitet hatte. Harvey sagte, ich könne an diesem besonderen Kurs für Fortgeschrittene teilnehmen, unter einer Bedingung: ich müsse bei allem mitarbeiten und wie alle anderen Referate halten.
Bevor der Kurs zum erstenmal zusammenkam, wollten mir die, die mich zur Teilnahme eingeladen hatten, ein paar Dinge unter dem Mikroskop zeigen. Sie hatten einige Pflanzenzellen darunter, und man konnte ein paar grüne Pünktchen, die als Chloroplasten bezeichnet werden (sie produzieren Zucker, wenn sie dem Licht ausgesetzt werden), zirkulieren sehen. Ich sah sie mir an, und dann schaute ich auf: »Wie kommt es, daß sie zirkulieren? Was schiebt sie herum?« fragte ich.
Keiner wußte es. Es stellte sich heraus, daß das damals noch nicht bekannt war. So fand ich gleich etwas über die Biologie heraus: es war sehr leicht, eine Frage zu finden, die sehr interessant war und auf die niemand eine Antwort wußte. In die Physik mußte man ein wenig tiefer eindringen, bevor man eine interessante Frage finden konnte, die die Leute nicht beantworten konnten.
Als der Kurs begann, zeichnete Harvey zuerst ein riesengroßes Bild von einer Zelle an die Tafel und beschriftete all die Dinge, die in der Zelle sind. Dann sprach er darüber, und ich verstand das meiste von dem, was er sagte.
Nach der Vorlesung fragte mich der Typ, der mich eingeladen hatte: »Na, wie fandest du es?«
»Ganz gut«, sagte ich. »Das einzige, was ich nicht verstanden habe, war das mit dem Lezithin. Was ist Lezithin?«
Da fängt der Typ mit monotoner Stimme an zu erklären: »Alle Lebewesen, sowohl Pflanzen als auch Tiere, bestehen aus einer Art Bausteinchen, den >Zellen<...«
»Hör mal«, sagte ich ungeduldig, »ich weiß das alles; sonst wäre ich ja nicht in dem Kurs. Was ist Lezithin ?«
»Ich weiß es nicht.«
Ich mußte wie alle anderen Referate über Artikel schreiben, und der erste, der mir übertragen wurde, ging über das Thema, wie sich Druck auf Zellen auswirkt - Harvey hatte dieses Thema für mich ausgewählt, weil es etwas mit Physik zu tun hatte. Obwohl ich verstand, was ich schrieb, sprach ich alles falsch aus, als ich mein Referat vorlas, und die Kursteilnehmer lachten immer hysterisch, wenn ich von »Blastopheren« statt von »Blastomeren« sprach oder ähnlichem.
Der nächste Artikel, der für mich ausgesucht wurde, war von Adrian und Bronk. Sie wiesen nach, daß nervöse Impulse Phänomene sind, die jeweils aus einer einzigen, heftigen Entladung bestehen. Sie hatten Experimente mit Katzen durchgeführt, bei denen sie die Spannung an den Nerven gemessen hatten.
Ich begann mit der Lektüre des Artikels. Da war dauernd die Rede von Extensoren und Flexoren, vom Musculus gastrocnemius und so weiter. Der und der Muskel wurde benannt, aber ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wo diese Muskeln in bezug auf die Nerven lokalisiert waren, oder wo sie sich in der Katze befanden. Deshalb ging ich zu der Bibliothekarin in der Biologie-Abteilung und fragte sie, ob sie mir eine Katzenkarte heraussuchen könne.
»Eine Katzenkarte, Sir?« fragte sie entsetzt. »Sie meinen eine zoologische Schautafel!« Seitdem gab es Gerüchte über irgendeinen dummen Doktoranden der Biologie, der nach einer »Katzenkarte« suchte.
Als es soweit war, daß ich meinen Vortrag über das Thema halten sollte, zeichnete ich zuerst den Umriß einer Katze und fing an, die verschiedenen Muskeln zu benennen.
Da unterbrechen mich die anderen Studenten im Kurs: »Das wissen wir alles!«
»Oh«, sagte ich, »tatsächlich? Kein Wunder, daß ich euch so schnell einholen konnte, obwohl ihr schon vier Jahre Biologie gehabt habt.« Sie hatten ihre Zeit damit verschwendet, sich solches Zeug einzuprägen, wo man das doch in einer Viertelstunde nachschlagen konnte.
Nach dem Krieg reiste ich jeden Sommer mit dem Auto irgendwo in den Vereinigten Staaten herum. In einem Jahr, als ich schon am Caltech war, dachte ich: »Diesen Sommer fahre ich nicht in eine andere Gegend, ich begebe mich auf ein anderes Gebiet.«
Das war kurz nachdem Watson und Crick die DNS-Spirale entdeckt hatten. Es gab ein paar sehr gute Biologen am Caltech, denn Delbrück hatte dort sein Labor, und Watson kam ans Caltech, um einige Vorlesungen über das Codierungssystem der DNS zu halten. Ich ging zu seinen Vorlesungen und besuchte Seminare im Fachbereich Biologie und geriet in helle Begeisterung. Es war eine sehr aufregende Zeit in der Biologie, und am Caltech zu sein, war wunderbar.
Ich glaubte nicht, daß ich fähig sei, in der Biologie wirklich Forschung zu betreiben, deshalb stellte ich mir vor, daß ich bei meinem sommerlichen Abstecher ins Gebiet der Biologie einfach im Biologie-Labor herumlungern und »Teller waschen« würde, während ich zusah, was sie da trieben. Ich ging hinüber zum Biologie-Labor, um ihnen zu erzählen, was ich vorhatte, und Bob Edgar, ein junger Biologe, der gerade promoviert hatte und dort irgendwie verantwortlich war, meinte, er werde das nicht zulassen. Er sagte: »Sie müssen eine richtige Forschungsaufgabe übernehmen, genau wie ein Doktorand, und wir werden Ihnen eine Aufgabe geben, an der Sie arbeiten können.« Das war mir recht.
Ich nahm an einem Kurs über Phagen teil, bei dem wir lernten, wie wir in der Forschung Bakteriophagen einsetzen konnten (ein Phage ist ein Virus, das DNS enthält und Bakterien angreift). Ich stellte gleich fest, daß mir eine Menge Ärger erspart blieb, weil ich etwas von Physik und Mathematik verstand. Ich wußte, wie sich Atome in Flüssigkeiten verhalten, deshalb war für mich nichts Geheimnisvolles an der Arbeitsweise einer Zentrifuge. Ich wußte genug über Statistik, um die statistischen Fehler zu erkennen, die unterlaufen, wenn kleine Punkte auf einer Schale gezählt werden. Während also die Biologen sich alle bemühten, diese »neuen« Dinge zu verstehen, konnte ich meine Zeit damit verbringen, den biologischen Teil zu lernen.
In dem Kurs lernte ich eine nützliche Labor-Technik, die ich heute noch verwende. Man brachte uns bei, wie man mit einer Hand ein Probierglas hält und den Verschluß abnimmt (man macht das mit Mittel- und Zeigefinger), während man die andere Hand frei hat, um etwas anderes zu tun (zum Beispiel um eine Pipette zu halten, mit der man Cyanid aufsaugt). Jetzt kann ich in der einen Hand meine Zahnbürste und in der anderen die Tube mit Zahnpasta halten, den Verschluß abdrehen und wieder aufsetzen.
Man hatte entdeckt, daß Phagen Mutationen durchmachen können, die ihre Fähigkeit beeinträchtigen, Bakterien anzugreifen, und wir sollten diese Mutationen untersuchen. Es gab auch einige Phagen, die eine zweite Mutation durchliefen, die ihre Fähigkeit, Bakterien anzugreifen, wiederherstellte. Einige Phagen, die zurückmutierten, waren dann genau wie vorher. Andere nicht: Es gab einen geringfügigen Unterschied in ihrer Wirkung auf Bakterien - sie wirkten langsamer oder schneller als gewöhnlich, und die Bakterien wuchsen langsamer oder schneller als gewöhnlich. Mit anderen Worten, es gab »Rückmutationen«, aber sie waren nicht immer vollständig; manchmal erlangte der Phage nur teilweise die Fähigkeit zurück, die er verloren hatte.
Bob Edgar schlug mir ein Experiment vor, mit dem ich herausfinden sollte, ob die Rückmutationen in der DNS-Spirale an der gleichen Stelle vorkamen. Mit großer Sorgfalt und einer Menge langweiliger Arbeit gelang es mir, drei Beispiele für Rückmutationen zu finden, die sehr nah beieinander vorgekommen waren - näher als alles, was man bis dahin gesehen hatte - und die teilweise die Funktionsfähigkeit des Phagen wiederherstellten. Es war eine Arbeit, die langsam vor sich ging. Irgendwie hing sie vom Zufall ab: Man mußte warten, bis man eine zweifache Mutation bekam, was sehr selten vorkam.
Ich überlegte mir dauernd, wie man einen Phagen veranlassen könnte, häufiger zu mutieren, und wie man Mutationen schneller ausfindig machen könnte, aber bevor ich eine gute Technik entwickeln konnte, war der Sommer vorüber, und ich hatte keine Lust, an dem Problem weiterzuarbeiten.
Da jedoch mein Forschungsurlaub bevorstand, beschloß ich, in dem gleichen Labor zu arbeiten, allerdings an einem anderen Thema. In gewissem Umfang arbeitete ich mit Matt Meselson und dann mit einem netten Kerl aus England namens J. D, Smith zusammen. Das Problem hatte mit Ribosomen zu tun, der »Maschinerie« in der Zelle, die Protein aus dem herstellt, was wir jetzt als Messenger-RNS bezeichnen. Unter Verwendung radioaktiver Substanzen wiesen wir nach, daß die RNS die Ribosomen verlassen und wieder in sie eingebracht werden kann.
Ich arbeitete sehr sorgfältig, indem ich alles erwog und unter Kontrolle zu behalten versuchte, aber ich brauchte acht Monate, bis ich merkte, daß es einen Schritt gab, bei dem es schlampig zuging. Um die Bakterien zu präparieren, so daß man die Ribosomen herausholen konnte, zermahlte man sie damals mit Aluminiumoxid in einem Mörser. Alles andere ging chemisch vor sich und war vollkommen unter Kontrolle, aber die Art und Weise, wie man den Stößel bewegte, wenn man die Bakterien zermahlte, ließ sich nie wiederholen. Deshalb kam bei dem Experiment nie etwas heraus.
Ich denke, ich sollte noch erzählen, wie ich mit Hildegarde Lamfrom herauszufinden versuchte, ob Erbsen die gleichen Ribosomen verwenden können wie Bakterien. Die Frage war, ob die Ribosomen von Bakterien Proteine von Menschen oder anderen Organismen herstellen können. Sie hatte gerade einen Plan entwickelt, die Ribosomen aus Erbsen herauszuholen und ihnen Messenger-RNS zu geben, so daß diese Erbsenproteine produzierten. Es war uns klar, daß es eine sehr spannende und wichtige Frage war, ob Bakterienribosomen, wenn man ihnen die Messenger-RNS von Erbsen gab, Erbsenprotein oder Bakterienprotein herstellen würden. Es sollte ein sehr aufregendes und grundlegendes Experiment werden.
Hildegarde sagte: »Ich brauche eine Menge Ribosomen aus Bakterien.«
Meselson und ich hatten für ein anderes Experiment ungeheure Mengen von Ribosomen aus E. coli extrahiert. Ich sagte: »Wissen Sie was, ich gebe Ihnen einfach die Ribosomen, die wir haben. Wir haben reichlich davon in meinem Kühlschrank im Labor.«
Es wäre eine phantastische und wichtige Entdeckung geworden, wenn ich ein guter Biologe gewesen wäre. Aber ich war kein guter Biologe. Wir hatten eine gute Idee, ein gutes Experiment, die richtige Ausrüstung, aber ich vermasselte es: ich gab ihr infizierte Ribosomen - der gröbste Fehler, den man bei einem solchen Experiment machen kann. Meine Ribosomen waren fast einen Monat lang im Kühlschrank gewesen, und sie waren mit irgend etwas anderem Lebendigen kontaminiert. Hätte ich diese Ribosomen unverzüglich neu präpariert, und wäre ich, als ich sie ihr gab, so umsichtig und sorgfältig gewesen, daß alles unter Kontrolle gewesen wäre, dann hätte das Experiment geklappt, und wir hätten als erste die Gleichförmigkeit des Lebens nachgewiesen: denn der Mechanismus der Proteinherstellung, die Ribosomen, ist in allen Lebewesen der gleiche. Wir waren am rechten Ort, und wir taten das Richtige, aber ich stellte mich an wie ein Amateur - dumm und schlampig.
Mich erinnert das an den Mann von Madame Bovary in dem Buch von Flaubert, ein stumpfsinniger Landarzt, der irgendeinen Einfall hatte, wie man Klumpfüße heilen kann, und alles, was er tat, war, die Leute zu verhunzen. Ich war so ähnlich wie dieser unerfahrene Chirurg.
Über die andere Arbeit mit dem Phagen habe ich nie geschrieben - Edgar hat mich immer wieder gebeten, das niederzuschreiben, aber ich bin nie dazu gekommen. Das ist das Übel, wenn man nicht auf seinem eigenen Gebiet arbeitet: Man nimmt es nicht ernst.
Ich habe formlos etwas darüber geschrieben. Ich schickte es Edgar, und er lachte, als er es las. Es hatte nicht die Standardform, die bei Biologen üblich ist - erstens, Vorgehensweise und so weiter. Ich hielt mich lange dabei auf, Dinge zu erklären, die allen Biologen bekannt sind. Edgar stellte eine gekürzte Version her, aber ich konnte sie nicht verstehen. Ich glaube nicht, daß sie das je veröffentlicht haben. Ich habe es nie direkt veröffentlicht.
Watson fand, das, was ich mit den Phagen gemacht hatte, sei von einigem Interesse, deshalb lud er mich nach Harvard ein. Ich hielt einen Vortrag im Fachbereich Biologie über die zweifachen Mutationen, die so nah beieinander vorkamen. Ich sagte, meine Vermutung sei, daß die eine Mutation eine Veränderung im Protein bewirke, beispielsweise den pH-Wert einer Aminosäure verändere, während die andere Mutation die entgegengesetzte Veränderung bei einer anderen Aminosäure im gleichen Protein bewirke, so daß sie teilweise die erste Mutation ausgleiche - nicht vollständig, aber genug, um den Phagen wieder tätig werden zu lassen. Ich war der Meinung, es fänden zwei Veränderungen im gleichen Protein statt, die sich gegenseitig kompensierten.
Es stellte sich heraus, daß das nicht der Fall war. Ein paar Jahre später wurde von Leuten, die zweifellos eine Technik entwickelt hatten, die Mutationen schneller herbeizuführen und festzustellen, herausgefunden, daß die erste Mutation eine Mutation war, bei der eine ganze DNS-Base fehlte. Dadurch verschob sich der »Code« und konnte nicht mehr »gelesen« werden. Bei der zweiten Mutation wurde entweder eine zusätzliche Base mit eingebaut, oder es wurden zwei weitere Basen entfernt. Danach konnte der Code wieder gelesen werden. Je näher die zweite Mutation an der ersten vorkam, desto weniger wurde die Botschaft durch die doppelte Mutation verändert und desto vollständiger erlangte der Phage seine verlorengegangenen Fähigkeiten zurück. Auf diese Weise wurde nachgewiesen, daß es drei »Buchstaben« gibt, mit denen jede Aminosäure codiert wird.
Als ich in jener Woche in Harvard war, machte Watson einen Vorschlag, und wir arbeiteten ein paar Tage lang gemeinsam an einem Experiment. Das Experiment wurde nicht zu Ende geführt, aber ich lernte ein paar neue Labortechniken von einem der besten Männer auf diesem Gebiet.
Aber das war mein großer Augenblick: ich hielt ein Seminar im Fachbereich Biologie in Harvard! So mache ich es immer, ich arbeite mich in etwas ein und schaue, wie weit ich gehen kann.
Ich habe in der Biologie vieles gelernt, und ich sammelte eine Menge Erfahrung. Ich lernte die Worte richtig auszusprechen, lernte besser erkennen, was in einem Artikel oder in einem Seminar nicht vorkommen darf, und konnte bei einem Experiment eine schwache Technik ausfindig machen. Aber ich liebe die Physik, und ich möchte jetzt auf sie zurückkommen.
Geistesriesen
Als ich noch Doktorand in Princeton war, arbeitete ich als Forschungsassistent unter John Wheeler. Er gab mir ein Problem, an dem ich arbeiten sollte, es wurde schwierig, und ich kam einfach nicht weiter. Deshalb griff ich auf eine Idee zurück, die ich früher, am MIT, gehabt hatte. Die Idee war, daß Elektronen nicht mit sich selbst in Wechselwirkung stehen, sondern nur auf andere Elektronen einwirken.
Es gab folgendes Problem: Wenn man ein Elektron schüttelt, strahlt es Energie ab, die verlorengeht. Das bedeutet, daß eine Kraft auf das Elektron einwirken muß. Und wenn es geladen ist, muß es eine andere Kraft sein als dann, wenn es nicht geladen ist. (Wenn die Kraft genau dieselbe wäre, wenn es geladen und wenn es nicht geladen ist, würde es im einen Fall Energie verlieren und im anderen nicht. Es kann nicht zwei unterschiedliche Lösungen für dasselbe Problem geben.)
Die Standardtheorie besagte, daß es die Selbstwechselwirkung des Elektrons sei, die diese (als Strahlungsrückwirkung bezeichnete) Kraft erzeugt, und ich hatte nur Elektronen, die auf andere Elektronen einwirkten. Deshalb wurde mir zu dem Zeitpunkt klar, daß ich in ziemlichen Schwierigkeiten war. (Als ich am MIT war, kam ich auf die Idee, ohne das Problem zu bemerken, aber als ich nach Princeton kam, kannte ich das Problem.)
Was ich dachte, war: Ich schüttele dieses Elektron. Es wird ein in der Nähe befindliches Elektron erschüttern, und die Rückwirkung von dem in der Nähe befindlichen Elektron müßte der Ursprung der Strahlungsrückwirkung sein. Also stellte ich ein paar Berechnungen an und brachte sie Wheeler.
Wheeler sagte sofort: »Also, das stimmt nicht, denn die Kraft variiert umgekehrt mit dem Quadrat der Entfernung der anderen Elektronen, während sie überhaupt nicht von irgendeiner dieser Variablen abhängig sein sollte. Außerdem wird sie umgekehrt proportional zur Masse des anderen Elektrons und proportional zu seiner Ladung sein.«
Was mich beunruhigte, war dies: ich dachte, er müsse das berechnet haben. Erst später wurde mir klar, daß ein Mann wie Wheeler sofort diesen ganzen Kram sehen kann, wenn man ihm das Problem vorlegt. Ich mußte rechnen, aber er konnte sehen.
Dann sagte er: »Und sie wird verzögert sein - die Welle kehrt spät zurück -, alles, was Sie beschrieben haben, ist also reflektiertes Licht.«
»Oh! Natürlich«, sagte ich.
»Aber warten Sie«, sagte er. »Nehmen wir an, sie kehrt durch avancierte Wellen zurück - Reaktionen, die rückwärts laufen -, dann kommt sie rechtzeitig zurück. Wir haben gesehen, daß der Effekt umgekehrt zu dem Quadrat der Entfernung variierte, aber nehmen Sie an, es gibt eine Menge Elektronen, die überall im Raum verteilt sind: die Anzahl verhält sich proportional zum Quadrat der Entfernung. Vielleicht können wir das also alles ausgleichen.«
Wir fanden heraus, daß wir das tun konnten. Es ging alles sehr schön auf und paßte sehr gut. Es war eine klassische Theorie, die richtig sein konnte, auch wenn sie sich von Maxwells oder Lorentz' Standardtheorien unterschied. Es gab keinen Ärger mit der Unendlichkeit der Selbsteinwirkung. Alles war klug angelegt. Die Theorie arbeitete mit Wirkungen vorwärts und rückwärts in der Zeit - wir nannten das »halb-avancierte und halb-retardierte Potentiale.«
Wheeler und ich dachten, das nächste Problem wäre, sich der Quantenelektrodynamik zuzuwenden, die (wie ich meinte) Schwierigkeiten mit der Selbstwechselwirkung des Elektrons hatte. Wir stellten uns vor, wenn es uns gelingen sollte, die Schwierigkeit zuerst in der klassischen Physik zu beseitigen und dann daraus eine Quantentheorie zu machen, könnten wir auch die Quantentheorie geradebiegen.
Nachdem wir jetzt die klassische Theorie hingekriegt hatten, meinte Wheeler: »Feynman, Sie sind ein junger Kerl - Sie sollten ein Seminar darüber halten. Sie müssen Erfahrungen sammeln, wie man Vorträge hält. In der Zwischenzeit werde ich den quantentheoretischen Teil ausarbeiten und später darüber ein Seminar halten.«
Es sollte also mein erster fachlicher Vortrag werden, und Wheeler vereinbarte mit Eugene Wigner, ihn auf den regulären Veranstaltungsplan zu setzen.
Ein oder zwei Tage vor dem Vortrag traf ich Wigner auf dem Flur. »Feynman«, sagte er, »ich finde die Arbeit, die Sie mit Wheeler machen, sehr interessant, deshalb habe ich Russell zu dem Seminar eingeladen.« Henry Norris Russell, der berühmte, bedeutende Astronom der damaligen Zeit, kam zu dem Vortrag!
Wigner fuhr fort: »Ich denke, Professor von Neumann dürfte es auch interessieren.« John von Neumann war der bedeutendste Mathematiker am Ort. »Und zufällig haben wir gerade Professor Pauli aus der Schweiz bei uns zu Gast, ich habe ihn also eingeladen« - Pauli war ein sehr berühmter Physiker - und ich werde jetzt bleich. Schließlich sagte Wigner: »Professor Einstein kommt nur selten zu unseren wöchentlichen Seminaren, aber Ihre Arbeit ist so interessant, daß ich ihn extra eingeladen habe, er kommt also auch.«
Da muß ich schon ganz grün ausgesehen haben, denn Wigner sagte: »Nein, nein! Machen Sie sich keine Sorgen! Sie sollten nur folgendes wissen: Wenn Professor Russell einschläft - und er wird ohne Zweifel einschlafen -, so heißt das nicht, daß das Seminar schlecht ist; er schläft nämlich in allen Seminaren ein. Andererseits, wenn Professor Pauli die ganze Zeit nickt und während der Veranstaltung zuzustimmen scheint, dann achten Sie nicht darauf. Professor Pauli hat einen Schlaganfall gehabt.«
Ich ging zu Wheeler und erzählte ihm, was für große, berühmte Leute zu dem Vortrag, den er mich halten ließ, kommen würden, und sagte ihm, daß mich das nervös mache.
»Ist in Ordnung«, meinte er. »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde alle Fragen beantworten.«
Ich bereitete also den Vortrag vor, und als es soweit war, ging ich hinein und tat etwas, das junge Männer, die noch keine Erfahrung mit Vorträgen gesammelt haben, oft tun - ich schrieb zu viele Gleichungen an die Tafel. Ein junger Kerl kann nicht sagen: »Natürlich, das variiert umgekehrt und dies läuft so und so«, weil nämlich jeder, der zuhört, es bereits weiß; sie können es sehen. Aber er weiß es nicht. Er kann es nur herausfinden, indem er die Algebra durchrechnet - und deshalb diese vielen Gleichungen.
Als ich dabei war, vor Beginn der Veranstaltung die ganze Tafel mit diesen Gleichungen vollzuschreiben, kam Einstein herein und sagte freundlich: »Hallo, ich komme zu Ihrem Seminar. Aber zunächst mal, wo ist denn der Tee?«
Ich sagte es ihm und fuhr fort, die Gleichungen anzuschreiben.
Dann war es soweit, daß ich den Vortrag zu halten hatte, und vor mir sitzen alle diese Geistesriesen und warten! Mein erster Fachvortrag, und das vor diesem Publikum! Ich dachte, sie würden mich durch die Mangel drehen! Ich erinnere mich sehr genau daran, daß ich sah, wie meine Hände zitterten, als sie meine Notizen aus einem braunen Umschlag zogen.
Aber dann geschah ein Wunder, und es ist immer wieder in meinem Leben geschehen, und das ist ein großes Glück für mich: In dem Augenblick, in dem ich anfange, über die Physik nachzudenken, und mich auf das konzentrieren muß, was ich erkläre, ist mein Bewußtsein mit nichts anderem beschäftigt - ich bin vollkommen dagegen gefeit, nervös zu werden. Nachdem ich also losgelegt hatte, wußte ich einfach nicht mehr, wer in dem Raum war. Ich erklärte nur noch diese Idee, das war alles.
Aber dann kam das Ende des Seminars, und es war Zeit für Fragen. Gleich als erster steht Pauli, der neben Einstein saß, auf und sagt: »Ich glaube nicht, daß diese Theorie richtig sein kann, wegen diesem und diesem und diesem«, und er dreht sich zu Einstein herum und sagt: »Sind Sie nicht auch meiner Meinung, Professor Einstein?«
Einstein sagt: »Nooooooooooooo«, ein nettes, deutsch klingendes »No« - sehr höflich. »Ich finde nur, daß es sehr schwierig wäre, eine entsprechende Theorie für die Gravitationswechselwirkung aufzustellen.« Er meinte: für die allgemeine Relativitätstheorie, die sein Kind war. Er fuhr fort: »Da wir zur Zeit nicht gerade viele experimentelle Beweise haben, bin ich mir nicht absolut sicher, was die korrekte Theorie der Gravitation angeht.« Einstein hatte Verständnis dafür, daß die Dinge anders sein konnten als seine Theorie behauptete; er war anderen Ideen gegenüber sehr tolerant.
Ich wünschte, ich hätte behalten, was Pauli gesagt hatte, denn Jahre später entdeckte ich, daß die Theorie nicht genügte, um eine entsprechende Quantentheorie aufzustellen. Es ist möglich, daß dieser bedeutende Mann die Schwierigkeit sofort bemerkte und sie mir in der Frage erklärte, aber ich war so erleichtert, die Fragen nicht beantworten zu müssen, daß ich sie mir nicht wirklich aufmerksam anhörte. Ich erinnere mich, daß ich mit Pauli die Stufen der Palmer Library hinaufstieg und er mich fragte: »Was wird Wheeler über die Quantentheorie sagen, wenn er seinen Vortrag hält?«
Ich antwortete: »Ich weiß es nicht. Er hat es mir nicht gesagt. Er arbeitet das alleine aus.«
»Ah ja?« sagte er. »Der Mann arbeitet und erzählt seinem Assistenten nicht, was er mit der Quantentheorie macht?« Er kam näher und sagte mit leiser, geheimnisvoller Stimme: »Wheeler wird dieses Seminar nie halten.«
Und so war es. Wheeler hat das Seminar nicht gehalten. Er glaubte, es sei einfach, den quantentheoretischen Teil auszuarbeiten; er glaubte, er hätte es fast schon. Aber er hatte es nicht. Und als es soweit war für das Seminar, wurde ihm klar, daß er nicht wußte, wie er es machen sollte, und daß er deshalb nichts zu sagen hatte.
Ich habe es auch nie gelöst - eine Quantentheorie halbavancierter, halb-retardierter Potentiale -, und ich habe jahrelang daran gearbeitet.
Das Mischen von Farben
Der Grund, weshalb ich sage, ich sei »unkultiviert« oder »anti-intellektuell«, liegt wahrscheinlich in der Zeit, als ich auf der High School war. Es hat mich immer geärgert, daß ich ein Schwächling war; ich wollte nicht zu empfindlich sein. Ich fand, ein richtiger Mann gibt sich nicht mit Poesie und solchen Sachen ab. Wie es überhaupt dazu kam, daß Gedichte geschrieben wurden - das ging mir nie auf! Ich entwickelte also eine negative Einstellung gegenüber dem, der französische Literatur studiert oder sich zu sehr mit Musik oder Dichtung beschäftigt - mit all diesen »Phantasie«-Dingen. Ich bewunderte eher den Stahlarbeiter, den Schweißer oder den Mann, der in der Maschinenwerkstatt arbeitet. Ich dachte immer, wer in der Maschinenwerkstatt arbeitet und etwas herstellen kann, das muß ein richtiger Kerl sein! Das war meine Einstellung. Ein Praktiker zu sein, das war für mich immer irgendwie eine Tugend, und »kultiviert« oder »intellektuell« zu sein, war keine. Das erste war natürlich richtig, aber das zweite war verrückt.
Wie man sehen wird, empfand ich immer noch so, als ich in Princeton promovierte. Ich aß häufig in einem netten kleinen Restaurant, das Papa's Place hieß. Als ich eines Tages dort aß, kam ein Anstreicher im Arbeitsanzug vom oberen Stockwerk herunter, wo er ein Zimmer gestrichen hatte, und setzte sich neben mich.
Irgendwie fingen wir ein Gespräch an, und er begann davon zu sprechen, daß man eine Menge lernen müsse, um als Maler zu arbeiten. »Nehmen Sie zum Beispiel dieses Restaurant«, sagte er, »was für Farben würden Sie verwenden, um die Wände anzustreichen, wenn Sie das machen müßten?«
Ich antwortete, ich wisse es nicht, und er sagte: »Bis zu der und der Höhe machen Sie einen Sockel, und den streichen Sie in einer dunklen Farbe, denn die Leute, die an Tischen sitzen, kommen ja mit ihren Ellbogen an die Wand, also können Sie da keine schöne weiße Wand gebrauchen. Die wird nämlich zu leicht schmutzig. Aber darüber, da will man es weiß haben, damit das Restaurant einen sauberen Eindruck macht.«
Der Typ schien zu wissen, was er tat, und ch saß da und hing an seinen Lippen, als er sagte: »Und mit den Farben muß man sich auch auskennen - wie man durch Mischen unterschiedliche Farbtöne bekommt. Welche Farben würden Sie zum Beispiel mischen, um Gelb zu bekommen?«
Ich wußte nicht, wie man durch Mischen Gelb bekommt. Wenn es um Licht geht, mischt man Grün und Rot, aber ich wußte ja, daß er von Malerfarben redete. Deshalb sagte ich: »Ich weiß nicht, wie man Gelb bekommt, ohne Gelb zu verwenden.«
»Nun«, sagte er, »wenn man Rot und Weiß mischt, kriegt man Gelb.«
»Sind Sie sicher, daß Sie nicht Rosa meinen?«
»Nein«, sagte er, »man kriegt Gelb« - und ich glaubte ihm, daß er Gelb bekam, denn er war Anstreicher von Beruf, und ich bewunderte solche Burschen immer. Aber trotzdem fragte ich mich, wie er das anstellte.
Ich hatte eine Idee. »Es muß irgendeine chemische Veränderung sein. Haben Sie irgendeine besondere Art von Pigmenten verwendet, die sich chemisch verändern?«
»Nee«, sagte er, »das geht mit allen Pigmenten. Sie können ja rüber ins Kaufhaus gehen und Farbe holen - 'ne ganz gewöhnliche Büchse rote Farbe und 'ne ganz gewöhnliche Büchse weiße Farbe -, und dann misch' ich die und zeig' Ihnen, wie man Gelb bekommt.«
Zu dem Zeitpunkt dachte ich: »Irgendwas ist verrückt. Ich versteh' genug von Farben, um zu wissen, daß man kein Gelb bekommt, aber er muß wissen, daß man tatsächlich
Gelb bekommt, also passiert irgendwas Interessantes. Ich muß herauskriegen, was da passiert!«
Deshalb sagte ich: »O. k., ich gehe die Farben holen.«
Der Maler ging wieder nach oben, um das Zimmer fertig zu streichen, und der Restaurantbesitzer kam zu mir und sagte: »Was soll denn das, mit dem Mann herumzustreiten? Der Mann ist Anstreicher; er ist sein ganzes Leben lang Anstreicher gewesen, und er sagt, er bekommt Gelb. Wieso streiten Sie sich da mit Ihm?«
Es war mir peinlich. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Schließlich sagte ich: »Ich habe mich mein ganzes Leben lang mit dem Licht beschäftigt. Und ich denke, mit Rot und Weiß kann man kein Gelb bekommen - man bekommt nur Rosa.«
Ich ging also ins Kaufhaus, holte die Farbe und brachte sie zurück ins Restaurant. Der Maler kam herunter, und der Restaurantbesitzer war auch dabei. Ich stellte die Büchsen mit der Farbe auf einen alten Stuhl, und der Maler fing an, die Farben zu mischen. Er tat ein bißchen mehr Rot dazu, dann ein bißchen mehr Weiß - für mich sah es immer noch rosa aus -, und er mischte noch etwas mehr Farbe. Dann murmelte er etwas wie: »Ich hatte sonst immer 'ne kleine Tube Gelb dabei, um es ein bißchen abzutönen - dann ist es Gelb.«
»Ach!« sagte ich. »Na klar! Sie tun Gelb dazu, und dann bekommen Sie Gelb, aber ohne das Gelb ginge es nicht.«
Der Maler ging wieder nach oben, um weiter zu streichen.
Der Restaurantbesitzer sagte: »Na, der Kerl hat vielleicht Nerven, streitet mit jemand herum, der sich sein ganzes Leben lang mit Licht beschäftigt hat!«
Aber das zeigt, wie sehr ich diesen »richtigen Kerlen« vertraute. Der Anstreicher hatte mir soviel Zeug erzählt, das vernünftig war, daß ich bereit war, bis zu einem gewissen Grad die Möglichkeit zuzugestehen, daß es ein merkwürdiges Phänomen gab, das ich nicht kannte. Ich erwartete Rosa, aber mein Gedankengang war: »Die einzige Möglichkeit, Gelb zu bekommen, wird etwas Neues und Interessantes sein, und das muß ich sehen.«
In meiner Physik habe ich sehr oft Fehler gemacht, weil ich dachte, die Theorie sei nicht so gut, wie sie in Wirklichkeit war, denn ich glaubte, daß es eine Menge Komplikationen gebe, die sie ungültig machen würden - eine Einstellung, daß alles mögliche passieren kann, obwohl man ziemlich sicher ist, zu wissen, was eigentlich passieren müßte.
Ein anderer Werkzeugkasten
An der Graduate-School in Princeton teilten sich der Physik- und der Mathematik-Fachbereich einen gemeinsamen Aufenthaltsraum, und dort tranken wir jeden Tag um vier Uhr Tee. Auf diese Weise konnte man sich nachmittags entspannen, außerdem ahmte man ein englisches College nach. Man saß herum und spielte Go oder diskutierte Theoreme. Damals war Topologie die große Sache.
Ich kann mich noch an einen Burschen erinnern, der auf der Couch saß und sehr angestrengt nachdachte, und vor ihm stand ein anderer und sagte: »Und deshalb ist das und das wahr.«
»Wieso denn das?« fragt der auf der Couch.
»Trivial! Trivial!« sagt der andere und rasselt eine Reihe von logischen Schritten herunter: »Als erstes nimmst du das und das an, dann haben wir Kerchoffs dies und jenes; dann gibt es das Waffenstoffersche Theorem, und das ersetzen wir und konstruieren dann dies. Jetzt nimmst du den Vektor, der hier herumgeht, und dann das und das...« Der Typ auf der Couch müht sich ab, dieses ganze Zeug zu verstehen, das mit großer Geschwindigkeit noch ungefähr eine Viertelstunde so weitergeht!
Schließlich kommt der, der steht, zum Schluß, und der auf der Couch sagt: »Yeah, yeah. Das ist trivial.«
Wir Physiker lachten uns kaputt und versuchten daraus schlau zu werden. Wir beschlossen, daß »trivial« soviel heißt wie »bewiesen«. Deshalb trieben wir mit den Mathematikern unsere Spaße: »Wir haben ein neues Theorem - nämlich: Mathematiker können nur triviale Theoreme beweisen, denn jedes bewiesene Theorem ist trivial.»
Den Mathematikern gefiel dieses Theorem nicht, und ich neckte sie deswegen. Ich sagte, daß es nie irgendwelche Überraschungen gebe - daß Mathematiker nur Dinge beweisen, die offensichtlich sind.
Die Topologie war für die Mathematiker durchaus nicht offensichtlich. Es gab allerlei verrückte Möglichkeiten, die »unanschaulich« waren. Dann hatte ich einen Einfall. Ich forderte sie heraus: »Ich wette, ihr könnt mir nicht ein einziges Theorem nennen - und zwar die Annahmen und das Theorem in Begriffen, die ich verstehen kann -, bei dem ich euch nicht auf der Stelle sagen kann, ob es zutrifft oder falsch ist.«
Das lief oft so: Sie erklärten mir: »Du hast eine Orange, o. k.? Nun schneidest du die Orange in unendlich viele Stücke, setzt sie wieder zusammen, und sie ist so groß wie die Sonne. Wahr oder falsch?«
»Keine Löcher?«
»Keine Löcher.«
»Unmöglich! So etwas gibt's nicht.«
»Ha! Wir haben ihn! Kommt mal alle her! Es ist Soundsos Theorem des unmeßbaren Maßes!«
Genau dann, wenn sie meinen, sie hätten mich, erinnere ich sie: »Aber ihr habt doch von einer Orange gesprochen! Man kann die Orangenschale nicht dünner schneiden als die Atome.«
»Aber wir haben die Bedingung der Kontinuität: Wir können immer kleiner schneiden!«
»Nein, ihr habt von einer Orange gesprochen, also habe ich angenommen, daß ihr eine wirkliche Orange gemeint habt.«
Auf diese Weise gewann ich immer. Wenn ich richtig riet, großartig! Riet ich falsch, dann konnte ich immer etwas in ihren Vereinfachungen finden, das sie ausgelassen hatten.
Tatsächlich war an meinen Vermutungen wirklich etwas dran. Ich folgte einem Schema, das ich noch heute benutze, wenn mir jemand etwas erklärt, das ich zu verstehen versuche: ich denke mir Beispiele aus. Die Mathematiker kamen zu Beispiel mit einem tollen Theorem an, und sie sind ganz aufgeregt. Während sie mir die Bedingungen des Theorems nennen, konstruiere ich etwas, das alle Bedingungen erfüllt. Etwa so: Gegeben sei eine Menge (eine Kugel) - und die Menge sei disjunkt (zwei Kugeln). Dann stelle ich mir vor, daß die Kugeln farbig werden, daß sie Haare bekommen oder sonstwas, während die Mathematiker immer mehr Bedingungen stellen. Schließlich tragen sie das Theorem vor, und das ist dann irgendwas Dummes über die Kugel, was für mein haariges grünes Kugel-Ding nicht zutriff;, also sage ich: »Falsch!«
Dann sind sie ganz begeistert, und ich lasse ihnen den Spaß für eine Weile. Danach weise ich auf mein Gegenbeispiel hin.
»Oh. Wir haben vergessen, dir zu sagen, daß es sich um einen Hausdorffschen Homomorphismus 2. Klasse handelt.«
»Ja, wenn das so ist«, sage ich. »Dann ist es trivial! Trivial!« Aber zu dem Zeitpunkt weiß ich, wie es geht, auch wenn ich nicht weiß, was Hausdorffscher Homomorphismus bedeutet.
Meistens riet ich richtig, denn obwohl die Mathematiker meinten, ihre Topologie-Theoreme seien unanschaulich, waren sie eigentlich nicht so schwierig, wie sie aussahen. Man kann sich an die komischen Eigenschaften dieses Geschäfts gewöhnen, wo alles bis in allerletzte Feinheiten zerlegt wird, und recht gut erraten, was dabei herauskommen wird.
Obwohl ich den Mathematikern eine Menge Schwierigkeiten machte, waren sie immer sehr freundlich zu mir. Das war ein lustiger Haufen, immer dabei, etwas zu entwickeln, und sie waren unheimlich begeistert davon. Sie diskutierten ihre »trivialen« Theoreme und versuchten einem immer etwas zu erklären, wenn man ihnen eine einfache Frage stellte.
Paul Olum und ich hatten ein gemeinsames Badezimmer. Wir wurden gute Freunde, und er versuchte mir Mathematik beizubringen. Er brachte mich bis hin zu Homotopiegruppen, und an dem Punkt gab ich auf. Aber was im Schwierigkeitsgrad darunter lag, verstand ich ziemlich gut.
Eine Sache, die ich nie gelernt habe, war die Integration von geschlossenen Kurven. Ich hatte gelernt, Integrale zu lösen und dabei verschiedene Methoden anzuwenden, die in einem Buch dargestellt waren, das mein Physiklehrer an der High School, Mr. Bader, mir gegeben hatte.
Eines Tages sagte er zu mir, ich solle nach der Stunde dableiben. »Feynman«, sagte er, »du redest zuviel und du machst zuviel Krach. Ich weiß warum. Du langweilst dich. Ich werde dir ein Buch geben. Wenn wir Unterricht haben, setzt du dich da hinten in die Ecke und studierst dieses Buch, und wenn du alles weißt, was in dem Buch steht, kannst du wieder reden.«
So paßte ich in den Physikstunden nicht auf, wenn es um das Pascalsche Gesetz ging oder um irgend etwas anderes, was sie gerade durchnahmen. Ich saß hinten mit diesem Buch: Höhere Analysis von Woods. Bader wußte, daß ich ein bißchen in Analysis für den Praktiker herumstudiert hatte, deshalb gab er mir etwas, woran ich wirklich zu knacken hatte - es war für einen Unter- oder Oberstufenkurs im College. Es behandelte Fouriersche Reihen, Besselsche Funktionen, Determinanten, elliptische Funktionen - alles mögliche wunderbare Zeug, von dem ich nicht das geringste wußte.
Dieses Buch brachte mir auch bei, wie man Parameter unter dem Integralzeichen differenziert - das ist eine bestimmte Operation. Es zeigt sich, daß das an den Universitäten nicht viel gelehrt wird, sie messen dem kein besonderes Gewicht bei. Aber ich kapierte, wie man diese Methode benutzt, und ich habe dieses Werkzeug immer wieder verwendet. Weil ich also durch dieses Buch Autodidakt war, hatte ich seltsame Methoden, Integrale zu lösen.
Das Resultat war folgendes: Wenn die Leute am MIT oder in Princeton Schwierigkeiten hatten, ein bestimmtes Inte gral zu lösen, dann lag das daran, daß es mit den Standardmethoden, die sie in der Schule gelernt hatten, nicht ging. Wenn es sich um die Integration von geschlossenen Kurven oder um die einfache Entwicklung einer Reihe gehandelt hätte, hätten sie es herausgefunden. Dann komme ich und versuche unter dem Integralzeichen zu differenzieren, und das klappte oft. Auf diese Weise kam ich in den Ruf, gut Integrale lösen zu können, und das nur, weü ich einen anderen Werkzeugkasten hatte als die anderen und weil sie alle ihre Werkzeuge an dem Problem ausprobiert hatten, bevor sie es mir vorlegten.
Gedankenleser
Mein Vater interessierte sich für Zauberei und Kunststücke auf Rummelplätzen und wollte immer wissen, wie sie funktionierten. Eines, worin er sich auskannte, war das Gedankenlesen. Als er noch ein kleiner Junge war und in einem Städtchen lebte, das Patchogue hieß und mitten auf Long Island lag, wurde eines Tages auf Plakaten, die überall angeschlagen waren, angekündigt, daß nächsten Mittwoch ein Gedankenleser kommen werde. Auf den Plakaten hieß es, einige geachtete Bürger - der Bürgermeister, ein Richter, ein Bankier - sollten eine Fünf-Dollar-Note nehmen und sie irgendwo verstecken, und wenn der Gedankenleser in die Stadt komme, werde er sie finden.
Als er kam, umringten ihn die Leute, um ihm bei seiner Arbeit zuzuschauen. Er nimmt den Bankier und den Richter, die die Fünf-Dollar-Note versteckt hatten, bei der Hand und geht los, die Straße hinunter. Er kommt an eine Kreuzung, biegt um die Ecke, geht eine andere Straße hinunter, dann noch eine, bis zu dem richtigen Haus. Er geht mit ihnen, sie immer an der Hand haltend, in das Haus, hinauf in den zweiten Stock, in das richtige Zimmer, hin zu einem Sekretär, läßt ihre Hände los, öffnet die richtige Schublade, und da liegt die Fünf-Dollar-Note. Ungemein dramatisch!
Damals war es schwierig, eine gute Ausbildung zu bekommen, deshalb wurde der Gedankenleser als Privatlehrer für meinen Vater angeheuert. Nun, nach einer seiner Unterrichtsstunden fragte mein Vater den Gedankenleser, wie er es fertiggebracht hätte, das Geld zu finden, ohne daß ihm jemand gesagt hatte, wo es war.
Der Gedankenleser erklärte, daß man die Leute bei der Hand hält, und zwar locker, und während man geht, wackelt man ein bißchen hin und her. Man kommt an eine Kreuzung, wo man geradeaus, nach links oder rechts gehen kann. Man wackelt ein bißchen nach links, und wenn das nicht richtig ist, spürt man einen gewissen Widerstand, weil die Leute nicht erwarten, daß man diesen Weg nimmt. Wenn man dagegen in die richtige Richtung geht, dann geben sie leichter nach, weil sie glauben, man könne es schaffen, und es gibt keinen Widerstand. Man muß also immer ein bißchen herumwackeln und ausprobieren, welcher Weg der direkte zu sein scheint.
Mein Vater erzählte mir die Geschichte, meinte aber, dazu brauche man doch eine Menge Übung. Er hat es nie selbst versucht.
Später, als ich als Doktorand in Princeton arbeitete, beschloß ich, es an einem Burschen namens Bill Woodward auszuprobieren. Ich verkündete ihm plötzlich, ich sei Gedankenleser und könne seine Gedanken lesen. Ich sagte ihm, er solle ins »Labor« gehen - ein großer Raum mit Tischreihen, auf denen alle möglichen Apparate standen, wo es elektrische Schaltkreise gab, Werkzeuge, und wo überall Zeug herumlag -, sich irgendwo einen bestimmten Gegenstand aussuchen und herauskommen. Ich erklärte: »Jetzt lese ich deine Gedanken und führe dich genau auf den Gegenstand zu.«
Er ging ins Labor, merkte sich einen bestimmten Gegenstand und kam heraus. Ich nahm seine Hand und fing an, hin und her zu zappeln. Wir gingen einen Gang entlang, dann einen anderen, direkt zu dem Gegenstand hin. Wir versuchten es dreimal. Einmal fand ich den Gegenstand auf Anhieb - und er war mitten in einem ganzen Haufen Zeug. Ein anderes Mal ging ich zu der richtigen Stelle, verfehlte aber den Gegenstand um ein wenig - falscher Gegenstand. Beim dritten Mal ging irgend etwas schief. Aber es lief besser, als ich gedacht hatte. Es war sehr leicht.
Einige Zeit danach, als ich ungefähr sechsundzwanzig war, fuhren mein Vater und ich nach Atlantic City, wo es unter freiem Himmel allerlei Rummelplatz-Vergnügungen gab. Während mein Vater etwas Geschäftliches zu erledigen hatte, zog ich los, um mir einen Gedankenleser anzuschauen. Er saß auf der Bühne mit dem Rücken zum Publikum: in wallende Gewänder gehüllt und mit einem riesigen Turban auf dem Kopf. Er hatte einen Assistenten, einen kleinen Kerl, der im Publikum herumlief und Dinge sagte wie: »Oh, großer Meister, welche Farbe hat dieses Notizbuch?«
»Blau!« sagt der Meister.
»Und oh, Erhabener, wie lautet der Name dieser Frau?«
»Marie!«
Jemand steht auf: »Wie heiße ich?«
»Henry.«
Ich stehe auf und frage: »Wie ist mein Name?«
Er antwortet nicht. Der andere war offenbar ein Komplize, aber ich kam nicht dahinter, wie der Gedankenleser es bei den anderen Tricks anstellte, etwa wenn er die Farbe des Notizbuchs erriet. Trug er Kopfhörer unter dem Turban?
Als ich mich mit meinem Vater traf, erzählte ich ihm davon. Er sagte: »Sie haben einen Code verabredet, aber ich weiß nicht, was für einen. Laß uns noch einmal hingehen und es herausfinden.«
Wir gingen zurück, und mein Vater sagte zu mir: »Hier hast du fünfzig Cents. Laß dir da hinten in der Bude wahrsagen, wir treffen uns dann in einer halben Stunde.«
Ich wußte, was er vorhatte. Er würde dem Mann ein Märchen erzählen, und das würde glatter gehen, wenn sein Sohn nicht dabei war und dauernd »Ooh, ooh!« machte. Er mußte mich loswerden.
Als er zurückkam, erzählte er mir, wie der ganze Code funktionierte: »Blau heißt >Oh, großer Meister, Grün ist >Oh, Weisester der Weisen<« und so weiter. Er erklärte: »Ich bin nachher zu ihm gegangen und habe ihm erzählt, ich gäbe in Patchogue Vorstellungen, wir hätten auch einen Code, aber damit könnte man nicht so viele Zahlen verschlüsseln und die Farbauswahl sei kleiner, und dann habe ich gefragt: >Wie können Sie so viele Informationen weitergeben?<
Der Gedankenleser war so stolz auf seinen Code, daß er sich hinsetzte und meinem Vater das ganze Drum und Dran erklärte. Mein Vater war Vertreter. Er wußte, wie man in solchen Situationen sein Ziel erreicht. Ich kann so etwas nicht.
Der Amateurwissenschaftler
Als ich ein Kind war, hatte ich ein »Labor«. Es war kein Laboratorium in dem Sinne, daß ich Messungen vorgenommen oder großartige Experimente gemacht hätte. Statt dessen spielte ich: ich baute einen Motor, ich bastelte eine Vorrichtung, die ausgelöst wurde, wenn etwas eine Photozelle passierte, ich spielte mit Selen; dauernd fummelte ich mit irgend etwas herum. Ein bißchen gerechnet habe ich bei der Schaltung mit den Lampen, eine Reihe von Schaltern und Glühbirnen, die ich als Widerstände verwendete, um die Spannung zu kontrollieren. Aber das hatte alles nur mit Anwendung zu tun. Irgendwelche Laborexperimente habe ich nie gemacht.
Ich hatte auch ein Mikroskop, und ich schaute mir furchtbar gern etwas darunter an. Da mußte man Geduld haben: ich tat etwas unter das Mikroskop und betrachtete es endlos lange. Ich sah viele interessante Dinge, wie jeder sie sieht - eine Kieselalge, die sich langsam über den Objektträger bewegt, und so weiter.
Eines Tages betrachtete ich ein Pantoffeltierchen und sah etwas, das in den Büchern, die ich in der Schule - ja, selbst im College - bekam, nicht beschrieben wurde. Diese Bücher vereinfachen die Dinge immer, damit die Welt mehr so ist, wie sie sie haben wollen: Wenn darin von Tierverhalten die Rede ist, geht das immer so los: »Der Bau des Parameciums ist überaus einfach; es zeigt ein einfaches Verhalten. Es dreht sich, während sich seine pantoffelförmige Gestalt durch das Wasser bewegt. Wenn es auf ein Hindernis stößt, zuckt es zurück, macht eine Wendung und setzt dann seinen Weg fort.«
Das ist eigentlich nicht richtig. Vor allem findet bekanntlich bei den Pantoffeltierchen von Zeit zu Zeit eine Konjugation statt - sie treffen sich und tauschen Kerne aus. Wie entscheiden sie, wann es soweit ist, das zu tun? (Aber das ist nicht so wichtig; die Beobachtung stammt nicht von mir.)
Ich sah, wie diese Pantoffeltierchen auf etwas trafen, zurückzuckten, eine Wendung machten und sich dann weiterbewegten. Die Vorstellung, daß das etwas Mechanisches sei, wie ein Computerprogramm - danach sieht es nicht aus. Sie bewegen sich unterschiedlich weit fort, sie zucken unterschiedlich weit zurück, sie machen Wendungen, die sich in einigen Fällen unterscheiden; sie wenden sich auch nicht immer nach rechts; ihr Verhalten ist sehr unregelmäßig. Es sieht zufällig aus, denn man weiß nicht, worauf sie treffen; man weiß nicht, was sie alles für chemische Stoffe riechen oder was da sonst vorgeht.
Eine Sache, die ich mir anschauen wollte, war, was mit dem Pantoffeltierchen geschieht, wenn das Wasser, in dem es sich befindet, austrocknet. Es wurde behauptet, das Pantoffeltierchen könne zu einer Art hartem Keim zusammenschrumpfen. Ich hatte einen Tropfen Wasser auf dem Glasplättchen unter dem Mikroskop, und in dem Wassertropfen war ein Pantoffeltierchen und etwas Gras - im Maßstab des Pantoffeltierchens sah es aus wie ein Gitter aus Mikadostäben. Während der Wassertropfen verdunstete, was fünfzehn oder zwanzig Minuten dauerte, wurde die Lage für das Pantoffeltierchen immer schwieriger: es gab immer öfter dieses Hin und Her, bis es sich kaum mehr bewegen konnte. Es saß zwischen diesen »Stäben« fest, beinahe eingeklemmt.
Dann sah ich etwas, was ich vorher nie gesehen oder wovon ich nie gehört hatte: das Pantoffeltierchen änderte seine Gestalt. Es konnte sich zusammenziehen wie eine Amöbe. Es drückte sich gegen einen der Stäbe und begann sich in zwei Zacken zu teilen, bis es fast zur Hälfte geteilt war, und dann fand es, daß dis keine sehr gute Idee sei, und wich zurück.
Mein Eindruck ist deshalb, daß das Verhalten dieser Tiere in den Büchern viel zu sehr vereinfacht wird. Es ist gar nicht so mechanisch oder eindimensional, wie behauptet wird. Man sollte das Verhalten dieser einfachen Tiere korrekt beschreiben. Solange wir nicht sehen, wie viele Verhaltensdimensionen selbst ein einzelliges Tier hat, können wir auch das Verhalten von komplizierten Tieren nicht völlig verstehen.
Es machte mir auch Spaß, Insekten zu beobachten. Als ich ungefähr dreizehn war, hatte ich ein Insektenbuch. Darin stand, daß Libellen nicht gefährlich sind; sie stechen nicht. Bei uns in der Nachbarschaft hieß es dagegen, »Stopfnadeln«, wie wir sie nannten, seien sehr gefährlich, wenn man von ihnen gestochen werde. Wenn wir irgendwo draußen waren und Baseball oder irgend etwas anderes spielten und eines von diesen Dingern kam angeflogen, rannten wir deshalb alle weg, um in Deckung zu gehen, fuchtelten mit den Armen herum und brüllten: »Eine Stopfnadel! Eine Stopfnadel!«
Eines Tages war ich am Strand, und ich hatte gerade dieses Buch gelesen, in dem stand, daß Libellen nicht stechen. Da kam eine Stopfnadel vorbei, und alles schrie und rannte durcheinander, und ich blieb einfach sitzen. »Keine Sorge!« sagte ich. »Stopfnadeln stechen nicht!«
Das Ding landete auf meinem Fuß. Alle brüllten, und es war ein Riesentrara, weil diese Stopfnadel auf meinem Fuß saß. Und da war ich, dieses wissenschaftliche Wunder, und sagte, sie werde mich nicht stechen.
Bestimmt erwartet man jetzt, daß die Geschichte so ausgeht, daß sie mich sticht - aber das tat sie nicht. Das Buch hatte recht. Aber ein bißchen geschwitzt habe ich schon.
Ich hatte auch ein kleines Handmikroskop. Es war ein Spielzeugmikroskop, und ich nahm das Objektiv heraus und hielt es in der Hand wie eine Lupe, obwohl es ein Mikroskop mit vierzig- oder fünfzigfacher Vergrößerung war. Wenn man sich Mühe gab, blieb das Bild scharf. So konnte ich herumgehen und gleich draußen auf der Straße etwas betrachten.
Einmal, als ich in Princeton in der Graduate-School war, nahm ich das Objektiv aus der Tasche, um mir ein paar Ameisen anzuschauen, die auf einem Efeustrauch herumkrochen. Ich schrie laut auf, so begeistert war ich. Was ich sah, war eine Ameise und eine Blattlaus; Ameisen kümmern sich ja um die Blattläuse - sie tragen sie zu einer anderen Pflanze, wenn die, auf der sie gerade sind, eingeht. Dafür bekommen die Ameisen von den Blattläusen einen teilweise verdauten Saft, den sogenannten »Honigtau«. Ich wußte das; mein Vater hatte mir davon erzählt, aber ich hatte es nie gesehen.
Da war also diese Blattlaus, und tatsächlich kam eine Ameise und tippte sie mit dem Fuß an - um die ganze Blattlaus herum, tip, tip, tip, tip, tip. Es war furchtbar aifregend! Dann kam aus dem After der Blattlaus der Saft heraus. Und wegen der Vergrößerung sah das aus wie eine große, schöne, glitzernde Kugel, wie ein Ballon, wegen der Oberflächenspannung. Das Mikroskop war nicht besonders gut, deshalb wirkte der Tropfen durch die chromatische Aberration in der Linse eine bißchen farbig - es war sagenhaft!
Die Ameise nahm diese Kugel in ihre beiden Vorderfüße, hob sie von der Blattlaus ab und hielt sie. In diesem Maßstab ist die Welt so anders, daß man Wasser aufheben und halten kann! Vermutlich haben die Ameisen irgendeinen fettigen oder öligen Stoff an ihren Beinen, so daß die Oberflächenspannung des Wassers nicht durchbrochen wird, wenn sie es hochhalten. Dann brach die Ameise die Oberfläche mit ihrem Mund auf, und durch die Oberflächenspannung gelangte die Flüssigkeit gleich in ihren Bauch. Es war sehr interessant zu sehen, wie das alles vor sich ging!
In meinem Zimmer in Princeton hatte ich ein Erkerfenster mit einer U-förmigen Fensterbank. Eines Tages kamen ein paar Ameisen auf die Fensterbank und wanderten ein bißchen herum. Ich war neugierig, ob sie etwas finden würden. Ich fragte mich, woher sie wissen, wo sie hinlaufen müssen. Können sie einander mitteilen, wo Nahrung ist, wie die Bienen es können? Haben sie ein Gespür für Geometrie? Das ist alles amateurhaft; jeder kennt die Anwort, aber ich kannte die Antwort nicht, deshalb spannte ich als erstes eine Schnur über das U des Erkerfensters und hängte ein Stückchen gefalteten Karton mit Zucker daran. Die Idee war, den Zucker von den Ameisen zu isolieren, so daß sie ihn nicht zufällig finden konnten. Ich wollte alles unter Kontrolle haben.
Als nächstes schnitt ich eine Menge Papierstreifchen zurecht und machte einen Knick hinein, damit ich Ameisen aufnehmen und sie von einer Stelle zur anderen befördern konnte. Die Papierstreifen mit dem Knick legte ich an zwei Plätze: ein paar zu dem Zucker (der an der Schnur hing) und die anderen zu den Ameisen an eine bestimmte Stelle. Ich saß den ganzen Nachmittag da und las und paßte auf, bis eine Ameise auf eine meiner kleinen Papierfähren lief. Dann brachte ich sie hinüber zu dem Zucker. Nachdem ein paar Ameisen zu dem Zucker befördert worden waren, lief eine von ihnen zufällig auf eine der dort liegenden Fähren, und ich trug sie zurück.
Ich wollte sehen, wie lange es dauern würde, bis die anderen Ameisen die Botschaft bekamen, zu der »Fährstation« zu laufen. Es ging zuerst langsam, aber dann kamen rasch immer mehr Ameisen, bis ich wie verrückt zu tun hatte, sie hin und her zu befördern.
Als alles gut lief, fing ich plötzlich an, die Ameisen, die von dem Zucker kamen, an einer anderen Stelle abzusetzen. Die Frage war jetzt: lernt die Ameise, dahin zurückzulaufen, wo sie gerade herkam, oder geht sie dahin, wo sie vorher hingelaufen ist?
Nach einer Weile liefen praktisch keine Ameisen mehr zu der ersten Stelle (von wo aus sie zu dem Zucker gelangt waren), während an der zweiten Stelle viele Ameisen herumwimmelten und den Zucker zu finden versuchten. Auf diese Weise kriegte ich erst einmal heraus, daß sie dahin liefen, wo sie gerade hergekommen waren.
Bei einem anderen Experiment legte ich eine Menge gläserne Objektträger aus und brachte die Ameisen dazu, darauf hin und her zu laufen, zu dem Zucker hin, den ich auf die Fensterbank streute. Dadurch, daß ich die Glasplättchen austauschte oder anders anordnete, konnte ich dann demonstrieren, daß die Ameisen kein Gespür für Geometrie haben: sie konnten nicht ausmachen, wo sich etwas befand. Wenn sie auf dem einen Weg zu dem Zucker liefen und es einen kürzeren Weg zurück gab, fanden sie nie den kurzen Weg heraus.
Durch die neue Anordnung der Glasplättchen wurde auch ziemlich klar, daß die Ameisen irgendeine Spur hinterließen. Daraus ergab sich dann eine Reihe einfacher Experimente, mit denen ich herausfinden wollte, wie lange es dauert, bis eine Spur trocknet, ob sie sich leicht verwischen läßt und so weiter. Ich entdeckte auch, daß die Spur nicht gerichtet war. Wenn ich eine Ameise auf ein Stück Papier hob, sie mehrmals herumdrehte und dann wieder auf die Spur setzte, wußte sie so lange nicht, daß sie in die falsche Richtung lief, bis sie auf eine andere Ameise traf. (Später, in Brasilien, beobachtete ich einige Blattschneiderameisen und machte mit ihnen das gleiche Experiment. Sie konnten innerhalb weniger Schritte erkennen, ob sie zur Nahrung hin oder von ihr weg liefen - vermutlich aufgrund der Spur, die aus einer Reihe von Gerüchen bestehen könnte, die in einem Muster angeordnet sind: A, B, Zwischenraum, A, B, Zwischenraum und so weiter.)
Einmal versuchte ich, die Ameisen im Kreis laufen zu lassen, aber ich hatte nicht genug Geduld, um das zustande zu bringen. Außer fehlender Geduld sah ich keinen Grund, warum es nicht gelingen sollte.
Was das Experimentieren schwierig machte, war, daß mein Atem die Ameisen weghuschen ließ. Es muß ein instinktiver Schutz vor irgendeinem Tier sein, das sie frißt oder belästigt. Ich weiß nicht, ob es die Wärme, die Feuchtigkeit oder der Geruch meines Atems war, was sie störte, aber ich mußte immer meinen Atem anhalten und irgendwie zur Seite schauen, um das Experiment nicht durcheinanderzubringen, während ich die Ameisen beförderte.
Eine Frage, über die ich mir Gedanken machte, war, warum die Wege der Ameisen so gerade und ordentlich aussehen. Es sieht so aus, als wüßten die Ameisen, was sie tun, als hätten sie ein gutes Gespür für Geometrie. Trotzdem hatten die Experimente, die ich anstellte, um ihr Gespür für Geometrie zu demonstrieren, nicht funktioniert.
Viele Jahre später, als ich am Caltech war und in einem Häuschen an der Alameda Street wohnte, kamen einmal Ameisen aus dem Abfluß der Badewanne. Ich dachte: »Das ist eine gute Gelegenheit.« Ich tat etwas Zucker an das andere Ende der Badewanne und saß den ganzen Nachmittag da, bis endlich eine Ameise den Zucker fand. Es ist nur eine Frage der Geduld.
Als die Ameise den Zucker fand, nahm ich einen Farbstift, den ich mir bereitgelegt hatte (ich hatte schon vorher Experimente gemacht, die darauf hindeuteten, daß sich die Ameisen überhaupt nicht um Bleistiftstriche kümmern - sie marschieren einfach darüber hinweg -, ich wußte also, daß ich nichts störte), und zog hinter der Ameise eine Linie, so daß ich wußte, wo ihre Spur war. Die Ameise wanderte ein bißchen umher, um zu dem Loch zurückzukommen, deshalb war die Linie ziemlich wackelig, ganz anders als ein typischer Ameisenweg.
Als die nächste Ameise, die den Zucker gefunden hatte, zurücklief, markierte ich ihre Spur mit einer anderen Farbe. (Übrigens folgte sie der Spur des Rückwegs der ersten Ameise und nicht der Spur ihres eigenen Hinwegs. Meine Theorie ist, daß eine Ameise, wenn sie Nahrung gefunden hat, eine deutlichere Spur hinterläßt, als wenn sie bloß umherwandert.)
Diese zweite Ameise hatte es sehr eilig und folgte so ziemlich der ursprünglichen Spur. Aber weil sie so schnell lief, bewegte sie sich geradeaus, als ob sie schlitterte, wenn die Spur einen Bogen machte. Oft fand die Ameise, wenn sie »schlitterte«, die Spur wieder. Es zeigte sich bereits, daß der Rückweg der zweiten Ameise etwas gerader war. Bei den folgenden Ameisen kam es zu der gleichen »Verbesserung« der Spur, indem sie dieser eilig und unachtsam »folgten«.
Ich folgte acht oder zehn Ameisen mit meinem Stift, bis ihre Spuren zu einer sauberen Linie wurden, die durch die ganze Badewanne lief. Es ist wie beim Skizzieren: Erst zieht man einen schlechten Strich; dann geht man ein paarmal darüber, und nach einer Weile wird eine saubere Linie daraus.
Ich erinnere mich, daß mir mein Vater, als ich klein war, erzählte, wie wunderbar Ameisen sind und wie sie zusammenarbeiten. Ich beobachtete sehr aufmerksam, wie zwei oder vier Ameisen ein Stückchen Schokolade in ihren Bau trugen. Auf den ersten Blick sieht das wie eine wirksame, phantastische, glänzende Zusammenarbeit aus. Aber wenn man genau hinschaut, sieht man, daß es nichts dergleichen ist: Sie verhalten sich alle, als würde die Schokolade von etwas anderem gehalten. Sie ziehen sie hierhin und dorthin. Eine Ameise krabbelt vielleicht darauf herum, während die anderen daran ziehen. Die Schokolade schwankt und wackelt, mit den Richtungen geht es völlig durcheinander. Sie wird nicht auf geradem Weg in den Bau gebracht.
Bei den brasilianischen Blattschneiderameisen gibt es eine interessante Dummheit, die erstaunlicherweise nicht durch die Evolution beseitigt worden ist. Es bedeutet eine beträchtliche Arbeit für die Ameise, den Kreisbogen zu schneiden, um ein Stück Blatt zu bekommen. Wenn sie mit dem Schneiden fertig ist, stehen die Chancen fifty-fifty, daß die Ameise an der falschen Seite ziehen wird und das Stück, das sie gerade abgeschnitten hat, auf den Boden fallen läßt. Die halbe Zeit reißt und zieht die Ameise am falschen Teil des Blattes, bis sie auf gibt und anfängt, ein anderes Stück, das sie oder eine andere Ameise bereits abgeschnitten hat, aufzusammeln. Wenn man ganz genau beobachtet, ist es also ganz offensichtlich, daß das Abschneiden und Wegtragen von Blättern keine so tolle Sache ist; sie laufen zu einem Blatt, schneiden einen Bogen, und die halbe Zeit nehmen sie die falsche Seite, während das richtige Stück zu Boden fällt.
In Princeton fanden die Ameisen meine Speisekammer, in der ich Brot und Marmelade und anderes Zeug hatte und die ziemlich weit vom Fenster entfernt war. Auf dem Boden marschierte eine lange Reihe von Ameisen durchs Wohnzimmer. Das war in der Zeit, als ich diese Experimente mit den Ameisen machte, deshalb überlegte ich: »Wie kann ich sie von meiner Speisekammer fernhalten, ohne welche zu töten? Gift kommt nicht in Frage; du mußt menschlich mit den Ameisen umgehen!«
Was ich tat, war folgendes: Zur Vorbereitung streute ich, sechs oder acht Inches von ihrem Eingang entfernt, ein bißchen Zucker ins Zimmer, wovon sie nichts wußten. Dann machte ich wieder diese Fähren, und immer wenn eine Ameise, die mit Nahrung zurückkam, auf meine kleine Fähre lief, brachte ich sie hinüber und setzte sie auf dem Zucker ab. Auch jede Ameise, die zur Speisekammer kam und auf eine Fähre lief, brachte ich zu dem Zucker hinüber. Schließlich fanden die Ameisen den Weg vom Zucker zu ihrem Loch, so daß diese neue Spur doppelt bestätigt wurde, während die alte immer weniger benutzt wurde. Ich wußte, daß die alte Spur nach ungefähr einer halben Stunde trocknen würde, und nach einer Stunde waren sie aus meiner Speisekammer verschwunden. Den Boden wischte ich nicht auf; ich tat nichts weiter als Ameisen befördern.