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DIE WELT 

20. MÄRZ 2008 (GRÜNDONNERSTAG) 

DER LETZTE STICHTAG

 

Als der Morgen des 20. März, ein Donnerstag, graute, spielte auf der ganzen Welt das Wetter verrückt.

Berghohe Wellen wälzten sich über den südlichen Atlantik und brandeten gegen die Küste Afrikas. Im Indischen Ozean wurden Supertanker herumgeschleudert wie Badeenten. Am Pazifik war in neun Ländern Tsunami-Alarm ausgegeben worden.

Tornados rasten über den amerikanischen Mittelwesten hinweg. Zyklone suchten Asien heim. Aktive Vulkane vom sizilianischen Ätna bis zum Cerro Azul auf den Galapagosinseln spuckten Lavafontänen, schlafende begannen zu grummeln und zu rauchen und ließen alle Welt wissen, dass sie nicht mehr lange ruhig bleiben würden.

Aufnahmen von der Internationalen Raumstation ISS zeigten rund um den Globus Dutzende aufsehenerregende Wolkenformationen, die tiefen strudelförmigen Signaturen von Hurrikanen und Zyklonen.

Die Welt spielte verrückt.

Es war, als bekäme sie einen epileptischen Anfall.

Gleichzeitig meldeten Astronomen aus Observatorien rund um die Welt, dass sich im ganzen Sonnensystem ähnliche Dinge abspielten: Die Gasatmosphären von Jupiter, Neptun und Saturn brodelten und strudelten heftig. Vulkane auf

dem geologisch aktiven Jupitermond Io brachen mit solcher Gewalt aus, dass ihr Auswurf der Atmosphäre des Monds entwich.

Es war nicht nur die Erde, sagten die Astronomen. Auf das ganze Sonnensystem wirkte eine lautlose, unsichtbare Kraft ein.

Die Wissenschaft hatte keine Erklärungen anzubieten, die Regierungen mahnten zu Ruhe und Besonnenheit, und überall auf der Welt strömten die Menschen in Kirchen, Moscheen und Synagogen. Evangelisten und New-Age- Apostel kündigten den Weltuntergang an, und ausnahmsweise schienen sie recht zu haben.

Die Dunkle Sonne war am Rand des Sonnensystems eingetroffen.

In diesen noch nie da gewesenen Wetterverhältnissen dampften auf dem sturmgepeitschten Pazifik zwei Meeresungeheuer in Richtung Süden.

Sie waren die zwei jüngsten Verstärkungen der chinesischen Marine, die gewaltigen Flugzeugträger Mao Zedong und China.

Normalerweise durchschnitten die zwei grauen Monster mit ihrem Geleitschutz aus Fregatten und Zerstörern die Weltmeere mühelos, aber diesmal kamen selbst sie unter dem Ansturm der gewaltigen Brecher und des prasselnden Regens nur beängstigend schleppend voran. Wegen der verheerenden Witterungsbedingungen waren die Flugzeuge entweder in ihren Hangars im Bauch der Schiffe verstaut oder auf dem Flugdeck fest vertäut.

Auf der Brücke der China standen Oberst Mao Gongli und Wolf - der am Tag zuvor nur einen kurzen Blick auf Maos Sechste Säule geworfen hatte, um sie darauf als plumpe Fälschung zu bezeichnen und verächtlich auf den Boden zu schleudern.

Eine Spektralanalyse bestätigte ihn in seiner Einschätzung. Maos Säule war eine täuschend echte Kopie, die aus einem Marienglaskristall geschnitten worden war. Vulture und Scimitar hatten ihn hereingelegt.

Wolf starrte zum Horizont, sein Unterkiefer bewegte sich unruhig hin und her.

Sie waren bereits anderthalb Tage in Verzug, und er machte sich heftige Vorwürfe, sich auf Mao und seine Flugzeugträger verlassen zu haben. Er hätte nach der Flucht aus Carnivores Schlupfwinkel hoch über dem Sturmtief direkt hierherfliegen sollen, aber stattdessen hatte er sich zunächst nach Peking und von dort auf die chinesischen Flugzeugträger bringen lassen, die bereits zum letzten Eckpunkt unterwegs waren. Endlich kam ihr Ziel in Sicht.

Es war eine winzige karge Insel inmitten des größten Ozeans der Erde.

Gerade einmal fünfzehn Kilometer lang, von flachen mit trockenem Gras bewachsenen Hügeln bedeckt, war sie wegen der riesigen Steinstatuen, die ihre Bewohner fast tausend Jahre lang mit geradezu manischer Besessenheit errichtet hatten, weltbekannt.

Die Osterinsel.

Von ihren rätselhaften Moai ging schon seit langem eine ungeheure Faszination aus. Mit einer Höhe von bis zu elf Metern waren sie in jedem Sinn des Wortes kolossal. Jede Statue blickte mit gerecktem Kinn, den Kopf zum Himmel erhoben, landeinwärts (einzige Ausnahme war eine Siebenergruppe, die aus unerfindlichen Gründen nach Südwesten ausgerichtet war).

Aufgrund ihrer schieren Größe, ihrer eigenartigen langgezogenen Köpfe und der extremen Abgelegenheit der Insel hatten die Statuen seit ihrer Entdeckung durch die Europäer am Ostersonntag des Jahres 1722 Anlass zu zahlreichen Spekulationen gegeben.

Die meisten Fachleute waren sich darin einig, dass die Moai tote Häuptlinge darstellten, aber im Lauf der Jahre wurden auch Stimmen laut, dass die Steinstatuen für außerirdische Besucher standen - eine Theorie, die aufgrund der Tatsache an Gewicht gewann, dass die Köpfe der frühesten Statuen nicht langgezogen sind. Im Gegenteil, die frühesten Moai sehen ganz und gar nicht menschenähnlich aus.

Dazu kommt noch der Umstand, dass die ursprünglichen Bewohner der Osterinsel Polynesier waren, dass aber nirgendwo in ganz Polynesien der Bau riesiger Steinstatuen bekannt ist.

Aufgrund dessen haben einige Forscher die Hypothese aufgestellt, dass die ältesten Statuen bereits auf der Insel waren, als die ersten Polynesier dort eintrafen.

Das warf eine wesentlich tiefgreifendere Frage auf: Wer schuf diese frühesten Statuen?

Leider wurde mit der Ankunft der Europäer die historische Spur zurück in die Vergangenheit unwiederbringlich gekappt. Im 19. Jahrhundert verschleppten spanische Sklavenschiffe die letzten Bewohner der Osterinsel auf die peruanischen Guanoinseln, wo sie beim Abbau des begehrten Vogeldungs elend zugrunde gingen. Und mit ihnen ging auch alles

überlieferte Wissen über die Statuen - insbesondere die frühesten - für immer verloren.

Wolf betrachtete die sturmumtoste Insel, die hinter einem dichten Regenschleier vor ihm lag.

War er vorher schon extrem ungehalten gewesen, geriet er vollends außer sich, als er dreißig Minuten später auf der Insel eintraf.

Auf dem einzigen Flugplatz der Insel stand eine schwarze Tupolew-144.

 

 

 

OSTERINSEL, PAZIFISCHER OZEAN 

20. MÄRZ 2008 (GRÜNDONNERSTAG) 17:30 UHR 

30 MINUTEN VOR ABLAUF DER LETZTEN FRIST

 

Im Lauf des Nachmittags hatte der chinesische Flottenverband mit den zwei Flugzeugträgern bei peitschendem Regen und stürmischer See die Osterinsel umstellt. Die Mao Zedong ankerte vor der Nordwestspitze, die China im Süden, nicht weit vom Flugplatz der Insel.

Die kleine Stadt Hanga Roa, die einzige größere Ansiedlung auf der Osterinsel, erschien geradezu winzig angesichts der vor ihr ankernden China. Chinesische Soldaten strömten an Land und erteilten den 3000 Bewohnern der Insel Anweisung, in ihren Häusern zu bleiben - das war nicht weiter schwer, denn wegen der extremen Regenfälle verspürte niemand das Bedürfnis, sie zu verlassen.

Auf Wolfs Anweisungen hin entfernte sich die Mao Zedong wieder ein paar Kilometer von der Nordwestspitze der Insel, da von Norden her ein Vier- Wellen-Tsunami anrückte; bei seinem Eintreffen würden zunächst die Küstengewässer zurückweichen und den Meeresboden freilegen. Deshalb musste der Flugzeugträger weit genug von der Küste entfernt sein, um nicht auf Grund zu laufen.

Um den Himmel nach Eindringlingen abzusuchen, starteten vier MiG-26-Abfangjäger und ein Aufklärungsflugzeug von dem Flugzeugträger.

Und schließlich, was das Wichtigste war, landete Wolf mit einem kleinen Trupp chinesischer Fallschirmjäger auf der Steilküste an der Nordwestspitze der Insel. Sonarortungen hatten nämlich ergeben, dass sich, ähnlich den Zugängen zum Zweiten und Dritten Eckpunkt, am Fuß eines der Kliffs ein großer Unterwassereingang befand. Auf einem Hügel über der Steilküste sah Wolf die Überreste einer einsamen Moai-Plattform, die unter dem Namen Ahu Vai Mata bekannt war.

Die umgestürzte Statue, die vor der bühnenartigen Plattform lag, war eine der ältesten Statuen der Insel und gehörte zu den vier Figuren, die im Gegensatz zu allen anderen Moai aus Basalt waren. Sie stammte aus der Frühzeit dieser Kultur, als die Statuen kleiner und die Gesichter noch nicht so langgezogen waren. Es war eine der Figuren, von denen angenommen wurde, dass sie schon vor der Ankunft der Polynesier auf der Insel waren.

Hätte sie aufrecht gestanden, stellte Wolf fest, hätte sie genau mit der Abbildung des Eckpunkts auf dem Drachenei übereingestimmt.

» Die erste Welle des Tsunami kommt!«, brüllte Mao Wolf zu, der im peitschenden Regen neben ihm auf der Klippe stand.

»Das will ich doch hoffen!«, schrie Wolf zurück. »Carnivore ist bereits drinnen! Wahrscheinlich sind sie reingetaucht! Aber dafür ist die See inzwischen zu rau! Außerdem werden wir keine Tauchausrüstung brauchen! Wenn die Welle ankommt, wird sich das Meer zurückziehen, und dann gehen wir rein! Sagen Sie Ihren Leuten, sie sollen schon mal ihre Ziplines bereithalten!«

Wenige Minuten später wich im Norden der Osterinsel das Wasser, wie Wolf vorhergesagt hatte, plötzlich in einem breiten schäumenden Bogen, hinter dem der sandige Meeresboden zum Vorschein kam, etwa fünfhundert Meter zurück.

Genau unterhalb der Stelle, wo Wolf und Mao standen, wurde jetzt in der Felswand das imposante Eingangsportal des Sechsten Eckpunkts sichtbar.

Wie auf Hokkaido war es rechteckig, so groß wie das Tor eines Flugzeughangars und in den normalerweise unter Wasser stehenden Fuß der Klippe gehauen.

»Unglaublich ...«, flüsterte Mao.

Wolf brüllte nur: »Los! Die Ziplines runter!«

Ohne auch nur eine Sekunde zu verlieren, seilte sich der kleine Trupp, bestehend aus Wolf, Mao und fünf chinesischen Fallschirmjägern an der inzwischen bis zum Grund freigelegten Klippe ab, bis sie auf dem feuchten Sand direkt vor dem gewaltigen Eingangsportal zu stehen kamen. Als er durch die riesige Öffnung blickte, sah Wolf eine nach hinten immer dunkler werdende Halle mit zahlreichen Säulen, ebenfalls wie auf Hokkaido, vor einem Hügel aus Stufen enden.

»Schnell rein! Bevor die Welle kommt!«, brüllte er.

Kaum hatte er sich auf den Weg in die Höhle gemacht, kam über Funk eine hysterische chinesische Stimme, und zuerst konnte Wolf nicht glauben, was er hörte.

»Sir! Feindliches Flugzeug im Anflug! Es ist eine 747-Tarn-kappensignatur! Sie kommt mit beachtlicher Geschwindigkeit direkt auf uns zu!«

Die Halicarnassus stach in einem leicht abschüssigen Winkel aus der Wolkenschicht.

Sie legte sich nicht auf die Seite. Sie wich nicht vom Kurs ab. Sie flog unbeirrbar ganz gerade weiter.

Kurz nachdem der Jumbo auf ihren Schirmen aufgetaucht war, entdeckten die chinesischen Radaroperatoren auf der Mao Zedong und in der AWACS- Maschine eine kleinere Signatur, die von der 747 fortschoss.

Darauf hatte Wolf sie bereits hingewiesen: Sein Sohn hatte einen Satz Karbonflügel, sogenannte Gullwings, die er manchmal für geheime Landeaktionen verwendete. Erwartungsgemäß benutzte er sie auch jetzt.

Die MiG‘s hatten Befehl, die Halicarnassus abzuschießen und die Gullwings zu orten und zu zerstören.

Als sie jedoch das Feuer auf die beständig sinkende Halicarnassus eröffneten, mussten sie feststellen, dass sie einen regelrechten Sturm elektromagnetischer Störsignale aussendete, der ihre Geschosse ablenkte. Sie versuchten es mit Kanonen, hatten damit aber noch weniger Glück. Sie konnten nicht wissen, dass sich in dem Flugzeug einige provisorisch zusammengebaute Warbier befanden, die auf Maximalpower gestellt waren, so dass die Hali jetzt, zumindest für kurze Zeit, von ihrem eigenen flugzeuggroßen Warbier geschützt wurde.

Dennoch war es erstaunlich, dass der schwarze Jumbo trotz des massiven Beschusses nicht ein einziges Mal von seinem Kurs abkam. Die 747 legte sich noch immer nicht auf die Seite und flog einfach weiter unbeirrbar im Sinkflug auf vollkommen geradem Kurs durch den strömenden Regen.

Ihr Pilot war entweder komplett verrückt oder todesmutig, oder es war - wie schließlich jemand merkte - gar niemand in ihrem Cockpit...

Während zwei MiG’s die winzige Signatur verfolgten, die sich kurz zuvor von der Halicarnassus gelöst hatte, setzten sich die zwei restlichen MiG's an die Seite der im Sinkflug begriffenen schwarzen 747, um einen Blick in ihr Cockpit werfen zu können.

Sie flogen im gleichen Tempo neben ihr her, ohne dass die Halicarnassus einen einzigen Schuss auf sie abgegeben oder auch nur Notiz von ihnen genommen hätte.

»Mao Zedong, hier Abfangjäger Eins«, meldete sich einer der Piloten über Funk. »Ich kann ins Cockpit des Flugzeugs sehen. Keine Spur von einem Piloten. Die Kiste muss mit Autopilot fliegen ... «

»Mao Zedong, hier Abfangjäger Drei. Wir haben das kleinere Signal geortet. Es dreht in einem weiten Bogen nach Süden ab und versucht die Insel von der anderen Seite anzufliegen!«

»Der Jumbo ist ein Ablenkungsmanöver«, kam Mao Gonglis Stimme über Funk. » Folgen Sie dem kleineren Signal und zerstören Sie es!«

Als die erste Tsunamiwelle auf die Osterinsel zurauschte und über den kurz zuvor freigelegten Meeresgrund brandete, schoss die Halicarnassus tief über ihren vordersten Ausläufer hinweg.

Die 747 würde ganz dicht vor der herannahenden Welle direkt vor dem uralten hangargroßen Eingang des Eckpunkts aufsetzen. Aber sie machte keine Anstalten, sich auf die Landung vorzubereiten: Weder änderte sie ihren Anflugwinkel, noch fuhr sie ihr Fahrwerk aus.

Das Geisterflugzeug schlug einfach auf dem freigelegten Stück Meeresboden auf und rutschte heftig schlingernd über den nassen Sand, bis eine seiner Tragflächen gegen das in den Fuß der Klippe gegrabene Portal krachte und glatt abgerissen wurde, während der Rest des Flugzeugs durch die riesige Öffnung in die Höhle dahinter rutschte.

Zehn Sekunden später folgte ihm der Tsunami, eine gewaltige schäumende Wand aus brodelnder Gischt, die gegen die Nordwestspitze der Osterinsel krachte. Sie klatschte gegen die Klippen, dass ihr Wasser himmelwärts spritzte, und in der Eingangshalle des Eckpunkts mit ihren vielen Säulen erfasste die Riesenwelle die Halicarnassus und schleuderte sie wie ein Kinderspielzeug auf den Hügel aus Stufen an ihrem Ende, wo sie nur wenige Minuten nachdem Wolfs Fallschirmjägertrupp den Hügel erklommen hatte, liegen blieb.

Kurz darauf, die erste Welle des Tsunami hatte an Schwung verloren und schwappte um die Nordseite der Insel herum, holten die chinesischen Abfangjäger, die hinter Jacks kleinem Gullwings-Signal her nach Süden geflogen waren, ihn ein ...

... und fanden nur die per Fernbedienung gesteuerten Gullwings, auf deren Sitz eine smileygesichtige Sandsackpuppe namens George festgeschnallt war.

 

Im selben Moment, in dem die Halicarnassus oben auf dem Stufenhügel schwankend liegen blieb, rauschten hinter ihr gewaltige Wassermassen in die Eingangshöhle.

Das Flugzeug war nur noch ein Wrack: Eine Tragfläche war abgerissen, der Bauch war bei der Rutschpartie über den Meeresboden so stark aufgerissen worden, dass an eine Reparatur nicht mehr zu denken war, sämtliche Cockpitfenster waren zersprungen, und die Geschütztürme waren von feuchtem Sand überzogen.

Einen langen Moment lag die einst so eindrucksvolle 747 vollkommen still und reglos auf dem Gipfel des Stufenhügels, als plötzlich eine ihrer Türen von innen aufgestoßen wurde ...

... und aus dem zerstörten Flugzeug stieg Jack West jr.

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Jack betrachtete den Sechsten Eckpunkt.

Verglichen mit den anderen Eckpunkten, die er gesehen hatte, schien er von ziemlich simpler Machart, aber sein einfaches Äußeres trog.

Der Sechste Eckpunkt hatte die Form eines riesigen Trichters, dessen steile Seitenwände zu einem kreisrunden Abgrund in seiner Mitte abfielen. An seinem oberen Rand betrug sein Durchmesser etwa dreihundert Meter, an seiner Basis dagegen nur sechzig Meter.

Darüber hing, wie sollte es anders sein, eine auf dem Kopf stehende Bronzepyramide - auf zwei ihrer Seiten flackerten viele bernsteinfarbene Leuchtgeschosse, die aller Wahrscheinlichkeit kurz zuvor bei Carnivores Eintreffen abgefeuert worden waren, um die riesige Höhle zu erhellen.

In dem schwachen goldenen Licht betrachtete Jack die Oberfläche des riesigen Trichters: Sie sah aus wie eine glatte durchgehende Fläche, doch bei genauerem Hinsehen zeigte sich, dass dem keineswegs so war.

Ganz und gar nicht.

Die Oberfläche des Trichters bestand aus Tausenden - vielleicht Millionen - ungeheuer spitzer eineinhalb Meter hoher Stacheln, die aus einem schieferähnlichen Stein gemeißelt waren. Die einzelnen Dornen waren jeweils nur dreißig Zentimeter voneinander entfernt und standen so dicht beieinander, dass die Oberfläche des riesigen Trichters durchgehend zu sein schien.

Vorsichtig hielt Jack einen Finger an die Spitze eines der grauen Dornen. Obwohl er sie nur ganz leicht berührte, begann er sofort zu bluten.

Links von ihm führte eine Art Graben durch den brusthohen Wald aus Stacheln. Es schien ein Weg darin zu verlaufen, der sich ohne ein erkennbares Muster auf den Grund des Trichters hinabschlängelte. Er führte durch den Stachelwald zu einem festungsartigen Bau hinab, von dem ein langgezogener, reichverzierter Balkon über den Abgrund zur Spitze der Pyramide hinausragte.

Jack vermutete, dass man auf diesem Weg zwar durch den Stachelwald zum Eckpunkt hinabgelangte, dass dort aber auch die Auslösemechanismen für die Fallen verborgen waren, die sich vermutlich wieder mithilfe der Zeichen auf dem Rahmen der goldenen Tafel umgehen ließen. Und tatsächlich sah er wenige Momente später die Köpfe von Wolf, Mao und den chinesischen Fallschirmjägern über den spitzen Dornen auftauchen; sie eilten den gewundenen Pfad hinunter und hatten bereits etwa ein Drittel des Wegs zurückgelegt.

Es war 17:51 Uhr.

Die letzte Säule musste um 18:00 Uhr eingesetzt werden, wenn das zweifache Äquinoktium eintrat.

Und dann wurde Jack auf Carnivore aufmerksam.

Er war Wolf weit voraus und hatte bereits den Balkon erreicht, der über den Abgrund zur Spitze der Pyramide hinausragte. Bei ihm waren Iolanthe, Diane Cassidy, Lily und Alexander sowie vier seiner Speznas-Bodyguards.

Auf einer Reihe von Steinsockeln neben ihm lagen die Ramses-Steine, die er benötigte: der Feuerstein, der Stein des Philosophen, die Schale des Ramses und die Zwillingstafeln des Thutmosis.

Auf einem eigenen Sockel lagen außerdem alle fünf bereits aufgeladenen Säulen, die er seinen Kontrahenten abgenommen hatte, nachdem diese sie eingesetzt hatten.

In seiner Hand hielt Carnivore die Sechste Säule, die Jesus-Säule, die Jack in dem römischen Salzbergwerk gefunden hatte. Sie troff vor Nässe.

Als die Halicarnassus so spektakulär in die Eingangshalle gerauscht war, hatte Carnivore gerade die Sechste Säule in der mit Quellwasser gefüllten Schale doppelt gereinigt, und als sie unter großem Getöse auf dem Rand des Trichters liegen blieb, musste er fast gegen seinen Willen grinsen. West der Jüngere gab einfach nicht auf - selbst wenn seine Chancen gleich null waren.

Wie jedoch Carnivore wusste und Jack jetzt einsehen musste, sah die Sache schlicht und einfach so aus: Carnivore war nicht mehr einzuholen, sein Vorsprung war zu groß.

Niemand könnte ihn noch rechtzeitig erreichen. Nicht Wolf und schon gar nicht Jack. Carnivore würde die Sechste Säule einsetzen und die Welt vor dem Dunklen Stern retten - und so die sechste und letzte Belohnung gewinnen:

Macht.

Jack wog kurz seine Möglichkeiten ab. Er lag bei diesem Dreierrennen abgeschlagen auf dem letzten Platz. Selbst wenn er den Weg noch so schnell hinunterrannte, konnte er Wolf unmöglich überholen, es sei denn, er schaffte es, auf direktem Weg über den Stachelwald zu kommen ...

Jack drehte sich um.

Die Halicarnassus - verbeult und aufgerissen - balancierte mit ihrer einen Tragfläche auf dem Rand des Trichters; sie hing nur noch an ihrem äußeren Steuerbordtriebwerk, das sich an der Kante des Stufenhügels verhakt hatte. »Es wäre gemogelt«, sagte Jack mit einem Blick auf das Flugzeug. »Aber was soll's?« Rasch kletterte er in die Hali zurück.

Dreißig Sekunden später war er im Cockpit und glitt in den Pilotensitz. Er klappte eine Sicherheitsabdeckung auf, unter der die vier Schalter zum Vorschein kamen, mit denen sich bei einem Notfall die vier Triebwerke einzeln von den Tragflächen lösen ließen - eine Sicherheitsvorkehrung, über die sämtliche Düsenmaschinen verfügten.

Jack tätschelte das Flugzeug zum Abschied. »Danke für die schöne Zeit, die wir miteinander hatten, Baby. Tut mir leid, aber es geht einfach nicht anders.« Damit legte er den Schalter um, mit dem sich das äußere Steuerbordtriebwerk der Halicarnassus absprengen ließ.

Es kam zu einer heftigen Detonation, und das riesige zylinderförmige Triebwerk löste sich von der Tragfläche. Weil es bereits auf der Kante des Stufenhügels auflag, fiel es nicht weit.

Die Halicarnassus dagegen schon.

Nachdem sie abrupt ihren einzigen Halt verloren hatte, begann sie, zunächst langsam, aber rasch schneller werdend, in den riesigen Trichter hinabzurutschen.

Die in den Trichter des Sechsten Eckpunkts hinabrutschende Halicarnassus bot einen spektakulären Anblick.

Der verbeulte schwarze Jumbo, der nur noch eine Tragfläche hatte, schlidderte den von engstehenden Dornen überzogenen Abhang hinunter. Sein aufgerissener Aluminiumbauch gab dabei ein Geräusch von sich, als scharrten Millionen Fingernägel über eine Schiefertafel.

Als die schwarze 747 funkenstiebend immer schneller den Abhang hinunterrutschte, erfüllte das schrille durchdringende Kreischen ihres über die steinernen Spitzen gleitenden Bauchs die ganze Höhle.

Wolf, der inzwischen etwa die Hälfte der Strecke zur Pyramidenspitze hinunter zurückgelegt hatte, drehte sich erstaunt um und sah das riesige schwarze Flugzeug auf kürzestem Weg nach unten rauschen: direkt auf den dunklen Abgrund zu.

»Scheiße!«, fluchte er wütend.

Trotz seiner enormen Ausmaße wirkte der schwarze Jumbo geradezu winzig neben der auf dem Kopf stehenden Pyramide und dem Trichter. Angesichts der altehrwürdigen Monumentalität der gigantischen Höhle sah er aus wie ein Kinderspielzeug.

Auch Carnivore unten auf dem Balkon drehte sich verdutzt um und starrte mit offenem Mund nach oben.

Zum ersten Mal in seinem Leben brachte ihn etwas aus seiner sonst so unerschütterlichen Ruhe. Zum ersten Mal tat jemand etwas, worauf er absolut nicht gefasst war.

Starr vor Schreck beobachtete Carnivore, wie die Halicarnassus funkensprühend auf ihn zugerast kam.

Dann krachte die voluminöse Nase der 747 mit voller Wucht durch die Befestigung am Rand des Abgrunds, und Teile des uralten Mauerwerks flogen in alle Richtungen durch die Luft, über den Balkon und in den Abgrund hinab. Carnivores Männer warfen sich zu Boden. Diane Cassidy, Iolanthe und die zwei Kinder gingen hinter einen massivem Steinsockel in Deckung.

Als sich der Staub legte, ragte die ganze vordere Hälfte des riesigen Flugzeugs durch die zertrümmerte Befestigungsmauer. Die große schwarze 747, deren Nase fast den Balkon berührte, war gefährlich weit nach unten geneigt, und einen Augenblick lang fürchtete Carnivore, sie würde ganz durch die Mauer brechen und in den Abgrund stürzen.

Aber das tat sie nicht.

Unter dem lauten Ächzen des enormen Belastungen ausgesetzten Metallrumpfs kam das Flugzeug zum Stillstand und blieb, an seinem Bauch von der halb zerstörten alten Befestigungsmauer gehalten, mit gesenkter Nase in einem extrem steilen Winkel über dem Balkon hängen.

Es war 17:55 Uhr.

 

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Carnivore stand ungeschützt vor der Halicarnassus auf dem Balkon. Der mächtige schwarze Jet, dessen zersprungene Cockpitfenster wie riesige Augen aussahen, blickte wie ein zorniger Gott auf ihn hinab.

Carnivore spähte angespannt ins Cockpit, sah aber nichts, was sich bewegte.

»Meine Herren!«, befahl er darauf seinen Männern. »Halten Sie Ihre Waffen bereit! Erschießen Sie alles und jeden, der aus diesem Flugzeug kommt!« Dann rief er in Richtung Halicarnassus: »West der Jüngere! Ich nehme mal an, dass Sie das sind da drinnen! Ein kühner Versuch, das Blatt in letzter Sekunde zu wenden, das sei Ihnen unbenommen. Aber Sie stehen auf verlorenem Posten! Sie sind eindeutig in der Unterzahl!«

Carnivore bekam nicht mit, dass Iolanthe, Lily und Alexander neben ihm zurückgewichen waren.

Dann bewegte sich im Cockpit plötzlich etwas, und die vier Speznas-Männer eröffneten sofort das Feuer und überzogen das nach unten gekippte Cockpit mit ihrem vernichtenden Beschuss.

Nach einer Weile stellten sie das Feuer mit rauchenden Waffen wieder ein.

Im Cockpit rührte sich jetzt nichts mehr.

Trotzdem ließ es Carnivore nicht aus den Augen. Er hielt Ausschau nach ... Aus einem Lautsprecher ertönte Jacks Stimme: »In der Unterzahl vielleicht, aber...«

Und im selben Moment sah Carnivore erschrocken, wie sich etwas bewegte - allerdings nicht im Cockpit, sondern auf der einzigen noch verbleibenden Tragfläche der Halicarnassus. Die darauf angebrachte 50mm-Kanone begann sich zu drehen ...

... bis ihre Zwillingsläufe direkt auf Carnivore gerichtet waren.

»O nein ...«, entfuhr es Carnivore, als er Jack im Geschützturm sitzen sah. »Sie haben gewonnen, junger West.« Jack eröffnete das Feuer.

Die doppelläufige 50mm-Kanone erwachte krachend zum Leben und spuckte zwei lange Feuerzungen aus, deren vernichtende Geschosse jedes Kampfflugzeug durchschlagen hätten.

Entsprechend verheerend waren die Folgen, wenn sie einen Menschen trafen. Carnivores vordere Körperhälfte wurde in kürzester Zeit durchlöchert, als Dutzende faustgroßer 50mm-Geschosse in rasend schneller Folge in seinen Oberkörper klatschten. Bei jedem Treffer wie eine Marionette zuckend und zappelnd, wurde er von dem massiven Dauerbeschuss so lange am Niedersinken gehindert, bis Jack das Feuer einstellte. Dann sackte er jedoch sofort in sich zusammen und blieb, nur noch ein Haufen blutiger Matsch, reglos liegen.

Das Gleiche galt für die Speznas-Männer neben ihm. Auch sie wurden von dem Geschosshagel einfach zerfetzt. Ein Mann wurde von der Wucht der Einschläge über den Rand des Balkons geschleudert und stürzte laut schreiend in den bodenlosen Abgrund.

Als alles vorbei war, kletterte Jack aus dem Geschützturm und sprang mit einer Desert-Eagle-Pistole in jeder Hand von der Tragfläche auf den Balkon hinab.

Lily rannte auf ihn zu und schlang die Arme um ihn. Er ließ sie gewähren, umarmte sie aber nicht, sondern hielt die Pistolen auf Iolanthe, Alexander und Diane Cassidy gerichtet. Seine Augen waren so unnachgiebig wie Stahl.

»Du bist eine eigenartige Frau«, wandte er sich an Iolanthe. »Aber weil du mir einmal das Leben gerettet hast, werde ich dich jetzt nicht töten ... es sei denn, du lieferst mir einen Grund dazu. Und jetzt halte den Jungen fest und geh mir aus dem Weg.«

Iolanthe nahm Alexander an der Hand, trat zurück und sagte klugerweise nichts. Diane Cassidy folgte ihrem Beispiel.

Jack hob die immer noch vor Nässe triefende Sechste Säule auf, die neben Carnivores Leiche auf dem Boden lag, und schaute zu Wolf und Mao hinauf, die den Grabenweg herunterrannten. Sie würden in Kürze unten ankommen. Dann drehte sich Jack zu der auf dem Kopf stehenden Pyramide um. Er hatte gerade noch genügend Zeit.

Er wandte sich Lily zu. »Weißt du, Kleine, irgendwie war mir von Anfang an klar, dass es am Ende auf dich und mich ankommen würde. Wir bringen das jetzt gemeinsam zu Ende.«

17:59 Uhr.

Lily nahm die Zwillingstafeln und folgte Jack, der hoch über dem dunklen Abgrund auf dem reichverzierten Balkon auf die Pyramide zuschritt, die der Sechste Eckpunkt war.

Sie erreichten ihre Spitze ... und Jack gab Lily die Säule.

Lily runzelte verständnislos die Stirn.

»Man muss die Inschrift auf einer der Tafeln lesen, wenn man die letzte Säule einsetzt«, sagte Jack. »Ich kann kein Thoth lesen. Du schon.«

Lily nickte nervös. »Aber was ist mit der Belohnung? Macht. Was ist, wenn ich, na ja, allmächtig werde?«

Jack sah ihr ganz tief in die Augen. »Kleine. Es gibt auf der ganzen Welt niemanden, dem ich solche Macht lieber anvertrauen würde.«

Lily lächelte verlegen.

»Wenn du meinst... «

Die Uhr schlug sechs Uhr abends, der Moment des Sonnenuntergangs.

Und als darauf das zweifache Äquinoktium einsetzte und die Osterinsel von den Strahlen der zwei Sonnen beschienen wurde, las Lily unter Jacks Anleitung in einer Sprache, die wenige jemals gehört hatten, die Beschwörungsformel von einer der Zwillingstafeln ab.

Und als sie die letzte Zeile sprach, setzte sie die Säule in die dafür vorgesehene Vertiefung in der Spitze der Pyramide ein.

Sie rastete mit einem leisen Klicken ein, und wie bei den fünf anderen Eckpunkten schoss ein blendend heller weißer Lichtstrahl aus der uralten Pyramide in den Abgrund hinab, direkt in den Bauch der Erde.

Aber im selben Moment setzte sich im Erdinnern explosionsartig ein spektakulärer Mechanismus in Bewegung.

Auch an allen fünf anderen Eckpunkten - von Abu Simbel bis England, Kapstadt, Japan und Diego Garcia - fuhren grelle weiße Pfeile aus Licht von den Diamantspitzen ihrer Pyramiden zum Mittelpunkt der Erde hinab.

Im eisernen Kern der Erde trafen die sechs Strahlen aufeinander, und der ganze Planet begann von innen heraus zu beben - ein sonores Summen, das eine unsichtbare harmonische Kraft ins All hinausschickte, eine Kraft, die dem einströmenden Zerstörungspotential des Dunklen Sterns entgegenwirkte und es genau in dem Moment aufhob, in dem der Dunkle Stern den Rand des Sonnensystems erreichte. Deshalb kam er von diesem Moment an der Erde nicht mehr näher.

Die verheerenden Wetterverhältnisse auf der Erde kamen fast schlagartig zum Erliegen - grollende Vulkane verstummten, ihre reißenden Lavaströme versiegten wieder zu harmlos blubbernden Rinnsalen; Zyklone und Hurrikane hörten einfach auf zu stürmen, weshalb von ihnen durch die Luft gewirbelte Autos und Wohnwagen plötzlich zu Boden fielen und einfach liegen blieben; sturmgepeitschte Ozeane hörten von einem Moment auf den anderen auf, über Küstenstraßen und Steilküsten zu branden, und das Tosen der alles mit sich reißenden Brecher wurde vom einlullenden Rauschen friedlich plätschernder Wellen abgelöst.

Von den Küsten Amerikas bis zu den Dschungeln Afrikas, von den verschneiten Bergen Norwegens bis zu den dürren Ebenen Indiens hatten sich die Menschen eben noch überall auf der Welt in ihren Behausungen verschanzt oder verzweifelt gegen den Ansturm der Elemente angekämpft, um sich nun plötzlich von einem unglaublichen Ausmaß der Zerstörung umgeben zu finden und in fassungslosem Staunen zu verfolgen, wie sich eine gespenstische Ruhe über den Planeten legte und mit ihr wieder die Normalität zurückkehrte.

Der Dunkle Stern und die zerstörerische Kraft seines Nullpunkt-Felds waren abgewehrt worden.

Am Sechsten Eckpunkt war die trichterförmige Höhle noch immer in den grellen Schein des überirdischen weißen Lichts getaucht, das in den Abgrund hinabstrahlte. Und dann, ohne Vorwarnung, zog sich der laserähnliche Lichtstrahl wieder nach oben zurück, und seine ungeheure Energie schien sich in der Säule zu sammeln, die in der Spitze der Pyramide steckte.

Die Säule begann in einem vollkommen reinen weißen Licht von innen heraus zu leuchten.

Dann löste sich die Säule mit einem leisen Klicken aus der Pyramidenspitze, und Lily fing sie mit den Händen auf.

Das pulsierende weiße Licht der kristallklaren Säule strahlte in Lilys Gesicht, und Jack sah, wie sich ein hypnotischer Glanz über ihre Augen legte - das Weiß in ihnen wurde pechschwarz, und dann weiteten sie sich, als würden sie von etwas erfüllt... von einer Art Kraft... Energie ... oder Macht...

Und einen flüchtigen Augenblick lang hatte Jack eine Vision, was die letzte Belohnung, Macht, sein könnte, und gleichzeitig fragte er sich, ob er gerade den schwersten Fehler seines Lebens begangen hatte, als er sie Lily überlassen hatte.

Als es in der Höhle wieder dunkel und still wurde, kamen Wolf und Mao unten an. Flankiert von den fünf chinesischen Fallschirmjägern, gingen sie an der zerstörten Halicarnassus vorbei auf den Balkon hinaus und schnitten Jack und Lily, die gerade von der Pyramidenspitze zurückkehrten, den Weg ab. Wolf sah die Säule in Lilys Händen, sah den tödlich schwarzen Blick in ihren Augen.

»O nein, nein ...«, stieß er hervor.

Idiotischerweise richteten die chinesischen Soldaten ihre Waffen auf Jack und Lily.

Lilys schwarze Augen sprühten vor Zorn, als sie den Blick auf sie richtete ...

... und im selben Moment fassten sich auch schon alle fünf chinesischen Soldaten mit krampfartigen Bewegungen an den Hals, sie bekamen keine Luft mehr. Ihr Todeskampf war kurz. Sie sanken heftig würgend in die Knie und sackten tot zu Boden.

Wolf und Mao trauten ihren Augen nicht.

Jack, der neben Lily stand, dachte staunend:

Das ist also die Belohnung »Macht«. Die Macht, die eigenen Gedanken in die Tat umzusetzen und anderen total und uneingeschränkt den eigenen Willen aufzuzwingen. Absolute Macht.

Jack sah Lily an, ihren aufgebrachten unheimlichen Blick.

Inzwischen hatte sie ihn auf Diane Cassidy gerichtet, die immer noch hinter dem Sockel kauerte. »Sie. Sie haben uns verraten und unseren Feinden alles erzählt, was wir getan haben. Ich finde, Sie haben den Tod verdient.«

Diane sank sofort in die Knie. Den Blick auf Lily gerichtet, begann sie, heftig würgend nach Luft zu schnappen, und dann quoll Blut aus ihren Augen, die immer weiter aus ihren Höhlen traten, bis sie buchstäblich platzten und Diane Cassidy tot zu Boden sackte.

Angesichts des schrecklichen Schicksals, das seine Männer und die amerikanische Archäologin ereilt hatte, suchte Mao sein Heil in der Flucht. Lily sah ihm mit ausdrucksloser Miene hinterher.

»Als Sie Wizard gefoltert haben, waren Sie aber sicher nicht so zimperlich, Oberst Gongli.« Lilys Stimme war ungewohnt tief.

Mao rannte keuchend vom Balkon und verschwand hinter einem Mauerstück der zerstörten Befestigung.

Lily machte nur eine beiläufige Handbewegung in seine Richtung - und im selben Moment löste sich erdrutschartig ein Mauerstück über Mao und landete mit seinem ganzen Gewicht direkt auf ihm, so dass er in Sekundenschnelle zerquetscht wurde.

Die Trümmer, die ihm zum Verhängnis geworden waren, kamen neben Iolanthe und Alexander zum Stillstand. Sie hatten sich halb wahnsinnig vor Angst, was Lily ihnen antun könnte, eng aneinandergedrängt.

Jack sah Lily entsetzt an. Ihr Gesicht war wutverzerrt, ihre Augen sprühten vor Hass. Sie hielt die leuchtende Säule fest in ihrer Faust.

Diese ungeheuren Kräfte verleiht ihr die Säule, dachte Jack, und zugleich befeuert sie diese unglaubliche Wut...

»Lily, Liebling ...«, begann er behutsam.

Sie wandte sich ihm mit blitzenden schwarzen Augen zu ... blinzelte und erkannte ihn.

Und dieser Moment des Wiedererkennens - dieser Moment der Liebe, die auf all den Hass prallte, der in ihr aufstieg - war zu viel für ihr Kleinmädchengehirn.

Sie wurde ohnmächtig und fiel auf den Balkon. Die Säule entglitt ihrer Hand und blieb am Rand des Abgrunds liegen.

Jack stand neben ihr auf dem Balkon: die leuchtende Säule zu seinen Füßen, die gigantische Pyramide über ihm, der bodenlose Abgrund unter ihm und vor ihm eine letzte Person, die ihm den Weg versperrte: sein Vater.

Wolf hatte den Blick auf die Säule geheftet, die vor Jack auf dem Boden lag. »Jack«, sagte er, »überlege es dir gut. Wer das Ding da in seiner Hand hält, kann alles tun, was er will. Er kann den Willen eines jeden beugen, er kann mit einem einzigen Gedanken töten, er kann herrschen, ohne Grenzen oder Einschränkungen oder ... «

«... Gewissen«, sagte Jack.

In diesem Moment ertönte ein tiefes Grollen. Als Lily einen Teil der Befestigung hatte abbrechen lassen, um Mao zu töten, war die Mauer, an der die Halicarnassus hing, empfindlich geschwächt worden. Der riesige Jumbo, der ohnehin schon gefährlich weit nach vorn gekippt war, drohte vollends auf den Balkon hinabzustürzen.

»Ich könnte der ganzen Welt den Frieden bringen«, fuhr Wolf fort. »Frieden durch Androhung ultimativer Gewalt.«

»So etwas wie einen wohltätigen Diktator gibt es nicht, Vater ... «

»Was zögerst du denn? Los, heb die Säule schon auf«, drängte Wolf. »Spüre ihre Macht. Spüre, wie sie dich durchströmt. Du weißt, dass du nichts anderes willst.«

Jack blickte auf die von innen heraus leuchtende Säule hinab. Da lag sie, direkt vor ihm, alle Macht der Welt...

Er sah erst sie an und dann Lily, die mit geschlossenen Augen und flach atmend neben ihm lag. In diesem Moment wurde ihm etwas klar, ohne jeden Zweifel.

Er wollte nicht.

Er wollte sie nicht aufheben.

Er wollte über niemanden herrschen.

Und gleichzeitig sah Jack mit absoluter Klarheit, dass er nicht wie sein Vater war, in keiner Hinsicht...

Die Kugel schlug in Jacks Brust, vollkommen unerwartet; sie wirbelte ihn herum und schleuderte ihn fast vom Balkon.

Die Füße hoch über dem schwindelnden Abgrund baumelnd, kam er auf dem Bauch zu liegen.

Als er aufschaute, sah er Wolf auf den Balkon laufen, um sich die Säule zu schnappen.

Wolfs Gerede von Macht und Frieden war nur ein Ablenkungsmanöver gewesen, um Jack dazu zu bringen, kurz den Blick von ihm abzuwenden, damit er seine Waffe ziehen und einen Schuss abgeben konnte. Es hatte seinen Zweck erfüllt.

Die Säule lag dreißig Zentimeter von Jacks Fingerspitzen entfernt. Lily war immer noch bewusstlos.

Jacks Finger tasteten über den glatten Steinboden des Balkons und versuchten, die Säule zu fassen zu bekommen.

Er hörte, wie die Halicarnassus wieder zu ächzen begann, sah, wie unter ihrem Rumpf Ziegel und Mörtel bröckelten. Das letzte Aufbäumen vor dem endgültigen Fall...

Und dann, gerade als Wolf die leuchtende Säule an sich reißen wollte, streckte Jack mit letzter Kraft seine Hand weit aus, aber er griff nicht nach der Säule - denn haben wollte er sie nicht -, sondern schlug nur nach ihr. Er traf sie mit der Handkante, worauf sie auf das hintere Ende des Balkons zurutschte.

Wolf rannte ihr hinterher.

Doch Jack wusste, er hatte sein Ziel erreicht. Es war ihm gelungen, so fest gegen die Säule zu schlagen, dass sie die ganze Länge des Balkons hinunterschlidderte und ...

... über seine Kante in den Abgrund stürzte.

Die leuchtende Säule fiel mitsamt ihrer tödlichen Macht in die Tiefe und verschwand für immer in der bodenlosen Dunkelheit.

Wolf rannte ihr bis ans Ende des Balkons nach, warf sich ihr im letzten Moment sogar noch hinterher, aber es war zu spät.

Jack beobachtete, wie er am Ende des Balkons auf die Knie sank und frustriert aufschrie - um jedoch von einem plötzlich einsetzenden Knirschen sofort wieder in die raue Wirklichkeit zurückgeholt zu werden.

Jack drehte sich um und sah, wie die Halicarnassus endgültig den Halt verlor und von der Befestigung auf den Balkon hinabstürzte.

In einem versteckten Winkel seines Gehirns dämmerte Jack, dass er diese Szene schon einmal gesehen hatte.

Am Dritten Eckpunkt auf Hokkaido, unmittelbar nachdem er und Wolf die Dritte Säule eingesetzt und sich mit blutverschmierten Händen an ihr festgeklammert hatten.

In diesem Moment hatte Jack eine seltsame Vision gehabt: wie er zusammen mit einer schwarzen 747, die nur noch eine Tragfläche hatte, in den Abgrund unter einem Eckpunkt gestürzt war.

Die Belohnung für das Einsetzen der Dritten Säule, dachte er mit einem Frösteln. Sehen.

Er erinnerte sich an Wizards Schilderungen eines alten ägyptischen Rituals, bei dem ein Priester mit blutigen Händen einen Gegenstand umfasst hielt und Visionen bekam - und an Laotses Theorie, dass mit Sehen die Fähigkeit gemeint sein könnte, seinen eigenen Tod zu sehen.

Das war er also, sein Tod.

Aber das hieß nicht, dass er nicht versuchen sollte, sich dagegen anzustemmen.

Mit blutender Brust und schmerzendem Körper hob Jack unter Aufbietung seiner letzten Kräfte Lily vom Boden hoch und schaffte es, sie hinkend und wankend gerade noch rechtzeitig ans sichere Ende des Balkons zu tragen, bevor die Hali mit einem kolossalen Knall auf ihn hinabstürzte.

Der schwere Jumbojet knallte etwa drei Meter von der Befestigungsmauer entfernt auf den langen Balkon und durchschnitt ihn wie ein Messer - worauf sich der ganze Balkon von der Befestigung löste und genau in dem Moment in den Abgrund stürzte, in dem Jack und Lily unter der herabfallenden Hali auf den letzten Stumpf des Balkons sprangen.

Sobald Jack wieder festen Boden unter den Füßen hatte, wirbelte er herum - gerade noch rechtzeitig, um seinem Vater ein letztes Mal in die Augen sehen zu können.

Die Hände vor Frustration zu Fäusten geballt, drehte sich Wolf, der immer noch am Ende des Balkons lag, herum - und sah mit entsetzt aufgerissenen Augen, wie die Halicarnassus herabstürzte.

Und in diesem flüchtigen Moment sah Jack das Aufblitzen bestürzten Begreifens im Gesicht seines Vaters: dass ihm seine ungezügelte Machtgier endgültig zum Verhängnis geworden war. Es war sein hemmungsloses Streben nach der Macht der letzten Säule, das ihn in diese ausweglose Lage gebracht hatte. Sein Wunsch nach uneingeschränkter Macht würde ihn das Leben kosten.

Vom Aufprall des schweren Flugzeugrumpfs aus seiner Verankerung gerissen, stürzte der Balkon mit Wolf in den Abgrund.

Wolf fiel.

Er schaute nach oben und sah, wie die auf dem Kopf stehende Pyramide des Sechsten Eckpunkts rasend schnell von ihm zurückwich und immer kleiner wurde. Dann versperrte ihm der hinter ihm in die Tiefe stürzende Schatten der Halicarnassus, die nur noch eine Tragfläche hatte, den Blick auf sie.

Auch er hatte diese Szene schon einmal gesehen - zur gleichen Zeit wie Jack, als sie beide mit blutverschmierten Händen die Dritte Säule umklammert hielten. Aber weil damals Wolfs Blut auf der Säule gewesen war und nicht das von Jack, war es Wolfs Tod gewesen, den sie in diesem Moment gesehen hatten.

Und so stürzte jetzt Jack West sen., besser unter dem Namen Wolf bekannt, in das bodenlose Dunkel unter dem Sechsten Eckpunkt und wurde wie die Allmacht verleihende Säule, die vor ihm in den Abgrund gefallen war, nie mehr gesehen.

Den Eckpunkt wieder zu verlassen dauerte einige Zeit, aber nach all den Monaten, in denen er nichts anderes getan hatte, als der Himmelsuhr hinterherzuhetzen, hatte es Jack nicht eilig.

Als Lily, noch etwas benommen und durcheinander, wieder zu sich kam, konnte sie sich nicht mehr an die mörderische Zurschaustellung ihrer Macht erinnern.

Iolanthe half Jack, seine Brustwunde zu verarzten, und legte ihm einen Verband an, während er sich ein Schmerzmittel spritzte.

Anschließend trugen sie mit Alexanders Hilfe Carnivores inzwischen vollständige Sammlung von Säulen und Ramses-Steinen aus dem Eckpunkt. Iolanthe unternahm keinen Versuch, sie zu stehlen oder an sich zu bringen.

Sie schien eine stillschweigenden Übereinkunft mit Jack getroffen zu haben: Solange sie keinen Ärger mehr machte, käme sie mit dem Leben davon.

Sie legten die Tauchausrüstungen an, die Carnivore und seine Männer benutzt hatten, um durch das unter Wasser liegende Portal des letzten Eckpunkts zu kommen.

»Hast du schon mal mit Ausrüstung getaucht?«, fragte Lily Alexander.

Der Junge sagte kein Wort. Seit er Lily derart brutal hatte wüten sehen, schien er geradezu in Ehrfurcht erstarrt vor ihr. Er schüttelte nur den Kopf.

»Hier, ich zeige dir, was du machen musst«, sagte sie.

»Wie willst du an den chinesischen Kriegsschiffen vorbeikommen?«, wandte sich Iolanthe an Jack.

Jack schenkte ihr keine Beachtung, sondern stellte nur sein Funkgerät an. »Bist du da draußen, J. J.?«

Ein kurzes Rauschen.

»Allerdings, Jack«, kam Sea Rangers Stimme über Funk. »Inzwischen warte ich schon mehrere Tage. War mir nicht mehr sicher, ob du überhaupt noch mal auftauchen würdest.«

»Wie du siehst, haben wir es zurückgeschafft«, antwortete Jack müde. »Sind gerade dabei, aufs offene Meer hinauszutauchen. An der Nordwestspitze.«

»Schwimmt einfach nach draußen und lasst euch von der Strömung an der Nordküste der Insel nach Osten treiben. Ich warte auf euch.«

Und so schwammen die vier durch die inzwischen wieder unter Wasser stehende Eingangshalle. Die zwei Kinder hatte Jack sicherheitshalber mit Seilen an sich festgebunden. Sobald sie durch das riesige Eingangsportal getaucht waren und an die Oberfläche kamen, spürten sie, wie sie von der starken Strömung nach Osten getragen wurden, fort von den chinesischen Schiffen.

Sie kämpften nicht dagegen an, sondern ließen sich einfach an der Nordküste der Osterinsel entlang in Richtung Osten treiben, bis sie von J. J. Wickhams U- Boot, der Indian Raider, aus dem Wasser gefischt wurden.

Sobald sie durch eine Luke an Bord geholt worden waren, nahm das alte U- Boot der Kilo-Klasse Kurs nach Süden, fort von den nichtsahnenden chinesischen Flugzeugträgern, die immer noch die Osterinsel bewachten.

 

 

 

DER FERNE OSTEN RUSSLANDS 

24. MÄRZ 2008 

4 TAGE NACH DEM LETZTEN STICHTAG

 

Jack und Lily stürmten in die provisorische Krankenstation, die in Carnivores ehemaligem Stützpunkt eingerichtet worden war.

Dort lagen Zoe, Alby und Lois, gesäubert und bei Bewusstsein, auf Feldbetten. Astro und Scheich Anzar al Abbas neben ihnen waren von Pooh Bear, Stretch, den Zwillingen, Sky Monster und einer Gruppe bewaffneter Soldaten aus Pooh Bears Regiment umringt.

Jack und Lily waren auf schnellstem Weg hierhergeflogen, sobald Sea Ranger sie in einem befreundeten Land, in diesem Fall Neuseeland, hatte absetzen können.

Lily eilte an Albys Seite.

Jack ging zu Zoe.

»Wie geht es dir?« Lily schloss Alby in die Arme.

»Ach, ganz okay«, sagte er. »Pooh und Stretch kamen gerade noch rechtzeitig, bevor uns die Luft ausging.«

Lily sah Albys Mutter Lois mit einem entschuldigenden Blick an. »Es tut mir furchtbar leid, Mrs. Calvin, dass wir Sie da hineingezogen haben.«

Lois Calvin lächelte sie freundlich an. »In den letzten Tagen hat mir Alby alles erzählt, Lily. Ich bin sehr stolz auf meinen Jungen, und genauso stolz bin ich, dass er eine so wundervolle Freundin in dir hat.«

Jack stand an Zoes Bett. Lange sahen sie sich nur schweigend an. »Na«, sagte er schließlich.

»Jack«, begann Zoe. »Ich kann dir nicht sagen, wie leid mir tut, was ich in Dublin getan habe, ich ... «

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.«

»Ich war so wahnsinnig dumm. Ich hatte zu viel...«

»Schwamm drüber. Du musst dich nie mehr bei mir entschuldigen. «

Lily kam zu ihnen und gab Zoe die Hand. »Hallo.«

»Ich habe Lily mal einen guten Rat in Sachen Freundschaft gegeben«, fuhr Jack fort. »Ich habe ihr erklärt, dass die Treue eines Freundes weiter zurückreicht als sein Gedächtnis. Es ist mir egal, was passiert ist, Zoe. Außerdem war damals ich derjenige, der viel zu sehr getrödelt hat. Meine Treue zu dir reicht weiter zurück als irgendetwas sonst. Und was damals passiert ist, habe ich längst vergessen.«

Mit Freudentränen in den Augen schlang Zoe die Arme um Jacks Hals und gab ihm unter Lilys lautem Beifall einen leidenschaftlichen Kuss.

Damit war das Team wieder glücklich vereint, und sie nutzten den Rest des Tages, um ihre Erfolge zu feiern, Geschichten auszutauschen und ihre Verletzungen zu begutachten.

Pooh Bear erzählte seinem Vater vom Verrat und Tod seines Bruders und von der Rettungsaktion, bei der er Stretch aus Mordechai Muniz' Kerker befreit hatte. Der alte Scheich war sowohl entsetzt als auch tieftraurig über Scimitars Verhalten, aber am Ende legte er die Hand an Pooh Bears Wange und sagte: »Es freut mich zu wissen, dass ich wenigstens einen aufrechten Sohn habe.« Jack erzählte den anderen von seiner spektakulären Landung im letzten Eckpunkt und wie er die Halicarnassus anschließend den Abhang hatte hinunterrutschen lassen.

»Hast du nicht immer behauptet«, sagte Lily, »dass man ein Fallensystem nicht austricksen darf?«

Jack zuckte ein wenig verlegen mit den Achseln. »Ich hatte einfach keine Zeit mehr. Außerdem stand das Schicksal allen Lebens auf der Erde auf dem Spiel.«

Jemand wollte wissen, was aus Iolanthe und Alexander geworden war.

Darauf erzählte Jack, dass er Iolanthe in Neuseeland zurückgelassen hatte, damit sie sich von dort allein auf den Heimweg machte. Ihre Haltung dem Team gegenüber war zwiespältig gewesen. Teils war sie feindselig, teils hilfreich gewesen, und am Fünften Eckpunkt in Diego Garcia hatte sie ihm das Leben gerettet, obwohl sie ihn ohne weiteres hätte in den Tod stürzen lassen können. Jack war überzeugt, dass das nicht das Letzte wäre, was sie und die Welt noch von Iolanthe Compton-Jones hören würden.

Lilys Bruder Alexander hatte Jack bei zuverlässigen Leuten in Neuseeland gelassen, einem Ehepaar, das in Militärkreisen niemand kannte und das sich des Jungen annehmen würde wie eines eigenen Sohnes: Sky Monsters reizende, aber ein bisschen verschrobene Eltern.

»Wenigstens liegen sie mir jetzt nicht mehr ständig wegen eines Enkelkinds in den Ohren«, brummte Sky Monster.

Irgendwann während der Feier nahm Sky Monster Jack beiseite und ließ sich in aller Ausführlichkeit von ihm schildern, was aus seiner geliebten Halicarnassus geworden war.

Jack erzählte ihm die ganze Geschichte, und Sky Monster zog einen Flunsch. »Sie war so ein gutes Flugzeug ...«

»Das war sie eindeutig«, gab ihm Jack recht. »Aber wenn du in ein paar Wochen für einen kleinen Einbruch bereit bist, könnte sein, dass ich weiß, wo wir eine neue herbekommen können.«

 

 

 

SIMPSONWÜSTE WESTAUSTRALIEN 

1. MAI 2008, 17:30 UHR 

SECHS WOCHEN NACH DEM LETZTEN STICHTAG

 

Die untergehende Sonne tauchte die neue Farm von Jack West jr. in strahlendes orangefarbenes Licht.

Jacks neues Zuhause war ein riesiges abgelegenes Anwesen, das mitten im australischen Outback am Rand eines ausgetrockneten Salzsees lag. Es war ihm von der australischen Regierung zum Lohn für seine treuen Dienste überlassen worden - und als Ersatz für seine alte Farm, auf der es zu dem Überfall gekommen war.

Der ehemalige Militärstützpunkt verfügte über einige Extras seiner alten Farm: mehrere Hügel, ein kleines Salzbergwerk, einen Flugplatz mit einem Hangar und jede Menge Platz. Aber es gab auch ein paar neue Vorteile, darunter Satelliten-, Laser- und Video-Überwachungssysteme.

Jack saß auf der Veranda seines neuen Farmhauses und trank mit Zoe Kaffee. Auf dem staubigen Hof vor ihnen spielten Lily und Alby ausgelassen; sie warfen Horus immer wieder eine Mausattrappe zu, die er im Flug fing und zu ihnen zurückbrachte.

Jack schaute zum Hangar, wo er Sky Monster an der schwarzen Tupolew-144 herumwerkeln sah, die sie vor einigen Wochen aus einem abgezäunten Bereich des Flughafens der Osterinsel befreit hatten. Sie war zwar kleiner als die Hali, aber dafür schneller. Sky Monster war begeistert von seinem neuen Flugzeug. Er hatte es Sky Warrior getauft.

Darüber hinaus hatten sie in der Tupolew sämtliche Unterlagen Carnivores über die Säulen, die Maschine und den Dunklen Stern gefunden, darunter Tabellen, Landkarten und Digitalaufnahmen von den weißen Thoth-Inschriften auf den Säulen. Diese Unterlagen wurden zerstört.

Die fünf verbleibenden Säulen lagerten inzwischen in dem kleinen Salzbergwerk der Farm in einer von Salzkristallen luftdicht verschlossenen weißwandigen Kammer hinter einer Holztür, in die Lily Thoth-Schriftzeichen geritzt hatte.

Dort glommen sie, unbefugten Blicken entzogen, mit ihren von innen heraus leuchtenden flüssigen Kernen still vor sich hin.

Solange die Säulen dort vor aller Welt verborgen und dem Zugriff der Menschheit und ihrer Machtgier entzogen waren, blieben ihre Belohnungen ungenutzt, so mächtig, tödlich, lebensrettend oder weitreichend sie auch sein mochten.

Jack hatte seinen Vorgesetzten erzählt, bei dem Kampf am letzten Eckpunkt seien alle Säulen verloren gegangen, sie seien mit Wolf und der Sechsten Säule in den bodenlosen Abgrund gefallen und für immer verschwunden. Diese Nachricht war mit einigem Missmut aufgenommen worden, aber dann hatte man sich ohne lange Fragen damit abgefunden; schließlich hatte Jack die Welt erst einmal vor dem Untergang und dann auch noch vor der Herrschaft eines Tyrannen bewahrt.

Nach all dem, fand Jack, sollte die Welt gefälligst allein zurechtkommen, ohne das Wissen und die Kräfte der legendären Säulen.

Zoe, die mit Jack auf der Veranda ihres neuen Zuhauses saß, ergriff seine Hand. Seit ihrer standesamtlichen Trauung vor einer Woche trugen beide Eheringe.

»Und so ist auf der Welt wieder einmal Ruhe eingekehrt«, sagte sie.

»Ich muss gestehen, dass mir das irgendwie gefällt«, sagte Jack.

»Nur gut, dass diese frühen Menschen damals die Maschine gebaut haben«, sagte Zoe. »Ohne sie stünden wir jetzt ziemlich dumm da. Was mir allerdings zu denken gibt, ist, dass sie selbst nicht überlebt haben. Irgendwann im Lauf der Jahrtausende ist ihre hochentwickelte Kultur trotz all ihrer technologischen Errungenschaften untergegangen.«

Jack zuckte mit den Achseln. »Die Erde ist über zwei Milliarden Jahre alt, Zoe. Unsere Ausgabe der Menschheit hat in nur fünftausend Jahren die Entwicklung vom Jäger und Sammler zur Raumfahrt durchlaufen. Die Erbauer der Maschine waren einfach eine Kultur, die einen hohen Stand erreicht hatte, und dann, tja, wer weiß? Vielleicht sind sie von irgendeiner Krankheit dahingerafft worden. Vielleicht haben sie sich gegenseitig bekriegt und ausgerottet. Vielleicht hat sie ein Asteroid, mit dem sie nicht gerechnet haben, ausgelöscht. Kulturen entstehen, dann gehen sie unter, und alles beginnt wieder von vorn. Das ist der Lauf der Welt. Auch unsere Zivilisation wird eines Tages enden - und ja, möglicherweise werden wir dieses Ende sogar selbst herbeiführen -, nur jetzt gleich wird es dazu nicht kommen, jedenfalls nicht, solange ich noch ein Wörtchen mitzureden habe.«

Zoe lächelte. Sie zog ein Notizbuch heraus. »Übrigens gibt es immer noch etwas, was wir nicht geklärt haben.«

»Und das wäre?«

»Wer der fünfte Krieger ist.« Zoe hielt das Notizbuch hoch. »Wenn ich dir vielleicht drei Zitate vorlesen darf.

>Eine tödliche Schlacht zwischen Vater und Sohn, einer kämpft für alles und der andere für eins.<

>Der fünfte, der strahlende Krieger, wird bei der Wiederkunft da sein und das Schicksal aller entscheiden.« Und ...

>Der fünfte wird auf die härteste Probe gestellt werden und entscheiden, ob alle leben oder sterben.«

Wie gesagt«, fuhr Zoe fort, »wir haben nie herausgefunden, wer der fünfte Krieger ist.«

Sie sah Jack forschend an. Er blickte einfach mit zusammengekniffenen Augen zum Horizont, aber er war sich ihres forschenden Blicks sehr wohl bewusst. »Du warst bei der Wiederkunft, der Rückkehr der Dunklen Sonne, am letzten Eckpunkt«, sagte sie. »Du hast mit deinem Vater gekämpft, und soweit du mir erzählt hast, hättest du die letzte Säule in deinen Besitz bringen und dich ihrer unglaublichen Macht bedienen können. Du hättest das Leben auf der Erde von Grund auf umgestalten können, du hättest über sie herrschen oder Wolf über sie herrschen lassen können. Aber indem du die Säule in den Abgrund gestoßen hast, hast du unser Schicksal entschieden. Du hast bestimmt, ob die Menschheit leben oder sterben wird.«

»Ja, das könnte sein«, sagte Jack betont unschuldig.

»Ich glaub es nicht...«, entfuhr es Zoe. »Du weißt es, oder?«

»Der Gedanke ist mir jedenfalls schon gekommen, ja.«

Zoe schüttelte den Kopf. »Jesus, Maria und Josef, ich fasse es nicht. Jack West \r.... du bist der fünfte Krieger.«

Und als sie das sagte, wandte sich Jack ihr zu, und grinste.

 

*** ENDE ***