BRITISH MUSEUM LONDON, ENGLAND 

28. FEBRUAR 2008. 17:00 UHR 12 TAGE VOR DEM DRITTEN STICHTAG

  

Sobald er das British Museum betrat, ließ ihn der Sicherheitsdienst nicht mehr aus den Augen.

Das hatte nichts mit Rassismus zu tun; es lag einfach daran, dass auf Pooh Bear haargenau die Beschreibung eines »Mannes von orientalisch anmutendem Äußeren« passte. Und in diesen unsicheren Zeiten - vor allem nach den Bombenanschlägen auf das Londoner Verkehrssystem im Jahr 2005 - wurden Personen, die so aussahen, scharf beobachtet, wenn sie mit einem dicken Rucksack ein öffentliches Gebäude betraten.

Obwohl er mit seinem Rucksack problemlos durch die Metalldetektoren gekommen war, behielten sie ihn weiterhin im Auge.

Das wiederum hieß, dass sie kaum auf Poohs Begleiter achteten, die hinter ihm das British Museum betraten - zwei rothaarige schottische Zwillinge, die Transformers-T-Shirts (eins mit dem Autobot-Zeichen, das andere mit dem Deception-Zeichen) unter ihren khakifarbenen Gärtneroveralls trugen und Plastiklunchboxen mit einer moosgrünen salatartigen Substanz bei sich hatten.

Der Grund für den Besuch Pooh Bears, Stretchs und der Zwillinge im British Museum war Albys jüngste Entdeckung, die er nach Jacks Aufbruch in die Mongolei und kurz vor seiner Entführung durch Vulture und Scimitar gemacht hatte. Sie suchten nach dem sechsten und letzten Ramsesstein, der Schale von Ramses II.

Es war Alby gewesen, dem ein interessanter Zusammenhang zwischen einer Reihe ägyptischer Altertümer und Napoleon, einem der fünf Krieger, aufgefallen war. Er hatte ein paar kluge Überlegungen angestellt, die richtigen Schlüsse aus ihnen gezogen und so herausgefunden, wo sich die Schale befand.

Den Ausschlag zu Albys Entdeckung hatte die Frage gegeben, warum der Stein von Rosette, möglicherweise das berühmteste ägyptische Artefakt überhaupt, ausgerechnet im British Museum ausgestellt war, obwohl er 1799 von französischen Soldaten Napoleons entdeckt worden war. Warum, fragte er sich, stand er nicht im Louvre?

Die Antwort war, dass die Engländer die Franzosen zwei Jahre nach der Entdeckung des Steins besiegt und Napoleon um seine sämtlichen ägyptischen Funde erleichtert hatten.

Deshalb hatte sich Alby zum Ziel gesetzt, herauszufinden, welche anderen Altertümer die Engländer Napoleons Truppen abgenommen hatten.

Es war eine lange und schmerzliche Geschichte gegenseitiger Betrugs- und Diebstahlsvorwürfe beider Nationen, von denen vermutlich der einzige wirklich wahre war, dass der »erstaunliche Stein von Rosette und sechzehn andere Kisten mit unterschiedlichsten ägyptischen Altertümern« an Bord des gekaperten französischen Kriegsschiffs L'Egyptienne 1802 in London eingetroffen waren.

Unter diesen sechzehn weiteren Kisten fand Alby einen Hinweis auf eine kleine Steinschale, die sogenannte »Schale des Montuemhat«.

Folglich sah er unter Montuemhat nach.

Montuemhat war ein schillernder Charakter der ägyptischen Geschichte. Um 660 v. Chr. war er der »Bürgermeister« Thebens und der Statthalter ganz Südägyptens gewesen.

Interessanterweise hatte er im Ramesseum, dem ehemaligen Palast Ramses IL, Hof gehalten und somit in denselben Räumen gelebt und regiert wie sechshundert Jahre vor ihm Ramses der Große. Daher war durchaus möglich, dass eine lange verschollene Schale, die Montemhuat im Ramesseum benutzt hatte, ursprünglich Ramses gehört hatte.

Untersuchungen an der Schale des Montuemhat hatten ergeben, dass sich, obgleich beschädigt, kein einziger Hinweis auf Montemhuat auf ihr befand. Der Name war ihr also allem Anschein nach von einem faulen französischen Kurator gegeben worden, der sie zusammen mit anderen Funden aus dem Ramesseum in einen Topf geworfen hatte. Und dann sah Alby im Internet eine Abbildung davon ...

... und stellte fest, dass ihr Rand eine im Wort von Thoth verfasste Inschrift trug. Der später von Lily übersetzte Text lautete:

 

DAS REINIGUNGSBECKEN

 

Er hatte den sechsten heiligen Stein gefunden. Und wo befand er sich jetzt?

Im British Museum, wo die alte Steinschale, von den Besuchermassen unbemerkt, still in einer Ecke des ägyptischen Flügels stand, etwa fünfundzwanzig Meter von der hell angestrahlten Vitrine entfernt, die das kostbarste Stück des Museums enthielt: den Stein von Rosette.

Und das war der Grund, warum Pooh Bear und sein Team nach England geschickt worden waren: um die Schale des Montemhuat aus dem British Museum zu stehlen.

Pooh Bear, der von den Sicherheitskräften des Museums keine Sekunde aus den Augen gelassen wurde, schlenderte seelenruhig durch das riesige Museum.

Schließlich ging er ins Museumscafe, wo er unter dem wachsamen Blick einer riesigen Steinskulptur von der Osterinsel zu Mittag aß. Die Statue oder Moai hatte erst vor kurzem für Schlagzeilen gesorgt: Die Bewohner der Insel hatten an die britische Regierung einen Antrag auf Rückgabe der 1868 von den Engländern gestohlenen Steinfigur gestellt - was die Briten selbstverständlich abgelehnt hatten. Als die kolossale Steinstatue vor kurzem in der Cafeteria des Museums einen neuen Platz erhalten hatte, waren die Bewohner der Osterinsel außer sich gewesen und hatten ihre Forderung nach Rückgabe der Moai erneuert.

Während des Mittagessens telefonierte Pooh Bear auf seinem Handy und sah sich dabei, wohl wissend, dass er beobachtet wurde, unauffällig um.

Dann suchte er - ganz nach Plan - die Herrentoilette auf und ließ seinen Rucksack unbeaufsichtigt im Museumscafe zurück. Es dauerte genau zwölf Sekunden, bis ein Museumswärter ein leises Piepen aus dem Rucksack hörte. Prompt wurde im Museum ein Bombenalarm ausgelöst.

Eine Einton-Warnsirene quäkte los, und die Besucher wurden höflich, aber bestimmt aufgefordert, das Museum umgehend zu verlassen.

Ein wogender Strom von Menschen strebte auf die Ausgänge zu, Hunderte von Schulkindern, Touristen, Museumsangehörige und Londoner Bürger.

Als Pooh Bear aus der Toilette kam, wurde er sofort von vier Sicherheitsbeamten festgenommen und abgeführt.

Unter der Menschenmenge, die sich auf dem weiten Hof vor dem British Museum versammelte, waren zwei rothaarige Männer mit Transformer-T- Shirts unter ihren Gärtneroveralls.

Sie schoben einen Karren mit einer steinernen Schale, die aussah, als stammte sie von einem der zahlreichen Brunnen des Museums, zumal sie auch grün bemoost war.

Allem Anschein nach waren die zwei Gärtner gerade dabei gewesen, sie zur Säuberung wegzubringen, als der Alarm ausgelöst und das Museum geräumt wurde.

Fünfzig Minuten später stellte ein Bombenentschärfungstrupp der British Army fest, dass das Piepen in Pooh Bears Rucksack von einem Nintendo DS kam, den er auszuschalten vergessen hatte. Das Gerät hatte von ihm wissen wollen, ob er weiterspielen wollte.

Selbstverständlich wurde Pooh Bear unter einer Flut verlegener Entschuldigungen wieder freigelassen, allerdings nicht ohne den nachdrücklichen Hinweis, seinen Rucksack künftig nicht mehr unbeaufsichtigt an einem öffentlichen Ort stehenzulassen.

Kurz darauf wurde das British Museum wieder für die Öffentlichkeit geöffnet.

Seltsamerweise waren jedoch die zwei rothaarigen Gärtner und die bemooste Steinschale nirgendwo mehr aufzufinden. Zuletzt waren sie gesehen worden, als sie vor dem Museum zu einem Lieferwagen gingen, an dessen Steuer ein großer, schlanker Israeli saß.

 

 

 

DER FERNE OSTEN RUSSLANDS - LONDON, ENGLAND 

9. MÄRZ 2008, 01:45 UHR 

2 TAGE VOR DEM DRITTEN STICHTAG

 

Die Halicarnassus stand auf dem Rollfeld eines aufgelassenen sowjetischen Luftstützpunkts tief in den Bergen nördlich des russischen Pazifikhafens Wladiwostok.

Nachdem sie aus der Schatzkammer des Dschingis Khan in der Wüste Gobi entkommen und zu Fuß zur Hali zurückgekehrt waren, waren Jack, Lily, Zoe und Sky Monster mit ihrem Gefangenen, dem verwundeten Tank, nach Osten geflogen und waren, nur wenige hundert Kilometer von der japanischen Insel Hokkaido entfernt, hier eingetroffen.

Es war spät. Der Vollmond tauchte die abweisenden Berggipfel in einen eisigen Glanz. Und es war kalt, 20 Grad minus. In einer Viertelstunde sollte sich Jack mit Pooh Bears Team in London in Verbindung setzen.

Immer noch tief erschüttert über den Verlust Wizards - Lily hatte in den Tagen seit dem schrecklichen Aufeinandertreffen in der Schatzkammer kaum ein Wort gesprochen -, versuchte Jack, alle mit irgendetwas zu beschäftigen, um sie auf andere Gedanken zu bringen.

Sie versuchten erneut, Alby in Perth zu erreichen, aber er meldete sich nicht. »Komisch«, murmelte Jack.

»Allerdings«, sagte Lily. »Normalerweise geht er schon beim ersten Klingeln dran, so wild ist er darauf, zum Team zu gehören.«

Was sie allerdings bekamen, war eine E-Mail von Alby mit den Zeitpunkten des Titanic Rising an den Tagen, an denen die Säulen eingesetzt werden mussten, und eine Theorie Albys, der zufolge die Dunkle Sonne auch Tsunamis auslösen konnte.

»Keine schlechte Theorie«, bemerkte Jack anerkennend. »Der Junge ist klüger als die meisten Erwachsenen, die ich kenne.«

Er sah auf die Liste mit den Zeiten, die Alby den Daten vom Opferstein der Maya hinzugefügt hatte:

 

3. SÄULE - 11. MÄRZ (00:05 UHR - JAPAN)

4. SÄULE - 18. MÄRZ (02:31 UHR -GREENWICH MEAN TIME)

5. SÄULE - 18. MÄRZ (02:31 UHR - GMT)

6. SÄULE - 20. MÄRZ (18:00 UHR - MAYA/ MEXIKO) [ZWEIFACHES ÄQUINOKTIUM]

 

Die Dritte Säule musste am 11. März eingesetzt werden. In zwei Tagen.

Jack resümierte, was er über den Dritten Eckpunkt wusste: Auf der goldenen Tafel am Ersten Eckpunkt war er als das »Feuerlabyrinth« bezeichnet worden; die Dritte Säule war dort irgendwo in einem eigenen inneren Labyrinth versteckt; nach Ansicht der Zwillinge befand sich die ganze Anlage an der Nordwestküste Hokkaidos.

Jack nagte an seiner Unterlippe. »Wenn das Labyrinth so groß ist, wie der Shogun behauptet hat, wird es eine Weile dauern, es zu durchqueren. Wir sollten also nicht zu spät eintreffen. Und weil Wolf den Stein des Philosophen und den Feuerstein hat, ist er im Augenblick der Einzige, der die Dritte Säule reinigen und einsetzen kann.«

»Was sollen wir demnach tun?«, fragte Zoe.

»Das Einzige, was wir im Moment tun können, ist, die Augen offen zu halten. Auf dem Luftweg sind wir nur eine Stunde von der Küste Hokkaidos entfernt. Wir beobachten aus der Ferne, was Wolf unternimmt, und hoffen erst mal, dass er den Eingang zum Eckpunkt findet und durch das Labyrinth dahinter kommt.«

»Glaubst du denn, er schafft das?«, fragte Lily.

»Er ist zwar ein richtiges Schwein, aber er ist clever; auf jeden Fall clever genug, um es zu schaffen. Und im Gegensatz zu der japanischen Bruderschaft hat er keinerlei Selbstmordabsichten. Mein Vater will über die Welt herrschen, und dazu muss er diese Säule einsetzen.«

In diesem Moment begann Tank hinter ihnen laut zu stöhnen. Er kam zu sich. Er war mit Kabelbindern an einen Sitz gefesselt. Sein Gesicht war von der Granate, die er in der Schatzkammer selbst gezündet hatte, stark verbrannt und von dicken Blasen überzogen. Stirn und Wangen glänzten unter einer Schicht Desinfektionscreme, die Jack auf die Verbrennungen aufgetragen hatte.

Der alte japanische Professor schaute sich blinzelnd um. Dann merkte er, dass er gefesselt war, und sah abrupt zu Jack, Lily und Zoe auf.

»Dein Plan ist schiefgegangen, Tank«, sagte Jack.

Tank sagte nichts.

»Du hast zwar das Ei zerstört, aber Dschingis Khan hat die Abbildungen darauf auf seinen Schild übertragen lassen.« Jack hielt den prächtigen fünfeckigen Schild hoch.

Tank sagte immer noch nichts.

»Wir sind zu dem Schluss gelangt, dass der Dritte Eckpunkt an der Küste von Hokkaido sein muss. Und dank der Abbildungen auf dem Schild wissen wir auch, wie der Zugang dazu aussieht. Es kann nicht mehr lange dauern, bis Wolf ihn findet, so dass wir zur Abwechslung einmal etwas mehr Zeit haben.« Tank schnaubte verächtlich.

Dann flüsterte er heiser: »Ihr habt keine Zeit.«

»Wie bitte?«

»Eure Zeit ist abgelaufen.« Tank grinste mit seinem verbrannten Gesicht. »Ihr kapiert immer noch nicht, wie? Meine Blutsbrüder und ich sind nicht die Einzigen, die dich am Einsetzen der Säulen hindern wollen. Wir sind nur die Spitze eines wesentlich größeren Schwerts.«

Jack runzelte verständnislos die Stirn.

»Die kaiserlichen Herrscher Japans«, fuhr Tank fort, »wissen schon seit langem, wo der Eckpunkt unserer Nation ist. Er gilt als das bedeutendste Heiligtum unseres Volkes, und der Ort, an dem es sich befindet, wird seit der Zeit, als der Große Khan unser Land besucht hat, von Kaiser zu Kaiser weitergegeben.

Versteh doch endlich, Jack, du Narr! Ich repräsentiere nicht irgendeine kleine Gruppe verkalkter Fanatiker, die nichts anderes im Sinn haben, als die Welt aus purer Rache zu zerstören. Ich vertrete die ganze japanische Nation, die fest entschlossen ist, die tiefste Beleidigung unserer Ehre zu vergelten.

Wenn du jetzt nach Hokkaido zu gelangen versuchst, wirst du feststellen, dass die ganze Küste von Kriegsschiffen der Kaiserlichen Japanischen Marine abgeriegelt ist. Und den Zugang von Land wirst du von unseren besten Spezialeinheiten versperrt finden. Ich habe während des gesamten Verlaufs dieser Mission immer mit ausdrücklicher Befugnis meiner Regierung und meines Kaisers gehandelt. Du nimmst es hier nicht nur mit mir und meinen

Brüdern auf, Jack West, du legst dich mit der gesamten japanischen Nation an.«

Jack fiel aus allen Wolken.

Zoe wandte sich ihm zu. »Eine Seeblockade entlang der Küste? Wie will Wolf da durchkommen?«

Jack überlegte fieberhaft. »Keine Ahnung, ich wusste ja nicht... «

»Jack«, rief Sky Monster von der Treppe herunter. »Ich habe Pooh Bear in der Leitung. Aus England.«

Konsterniert stiegen Jack, Zoe und Lily aufs Oberdeck, um den Anruf entgegenzunehmen.

Auf einem Monitor auf dem Oberdeck der Hali war Pooh Bear in London zu sehen.

Zusammen mit Stretch und den Zwillingen saß er in einem billigen Hotelzimmer nicht weit von der Waterloo Station.

Jack erzählte ihnen von Wizards Tod in der Mongolei.

»O nein ...«, flüsterte Pooh Bear.

»Es war eine einzige Katastrophe«, sagte Jack. »Die japanische Bruderschaft des Blutes war da und dazu noch Wolf und ein gewaltiges chinesisches Truppenkontingent. Mein Vater hat Wizard umgebracht.«

»Das tut mir aufrichtig leid, Jack«, sagte Stretch.

»Und wie soll es jetzt mit unserer Mission weitergehen?«, fragte Pooh behutsam.

»Wir haben alles, was wir brauchen«, entgegnete Jack. »Das Ei selbst wurde zwar von Tank zerstört, aber wir haben die Abbildungen darauf: Darstellungen der Zugänge zu allen sechs Eckpunkten. Dschingis Khan hatte sie auf seinen Schild übertragen lassen. Zoe ist gerade dabei, dir ein Digitalfoto zu mailen.«

»Eben angekommen«, sagte Julius, während er auf seinem Computer das Foto des Schilds ansah. »Mann, echt super ... «

»Und wie sieht es bei euch aus?«, fragte Jack. »Habt ihr die Schale?«

»Klar«, sagte Pooh.

»Allerdings hatten wir gehofft, über unseren nächsten Schritt mit Wizard reden zu können«, fügte Stretch hinzu. »Lily meint, dass die letzten drei Säulen zweimal gereinigt werden müssen: im Stein des Philosophen und in der Schale in den reinen Wassern der Quelle der Schwarzpappel. Die Schale haben wir inzwischen, jetzt müssen wir nur noch die Quelle der Schwarzpappel finden, was immer das ist.« »Außerdem«, sagte Julius, »brauchen wir die Vierte Säule, die wir auf dem Stützpunkt auf Mortimer Island zusammen mit der Ersten Säule gereinigt haben, als diese dämliche hochwohlgeborene Schnepfe von Iolanthe noch auf unserer Seite stand. Wahrscheinlich hat sie sie immer noch.«

»Aber wie können wir sie finden?«, fragte Lachlan.

»Vielleicht solltet ihr es andersrum versuchen«, schlug Jack vor. »Sie dazu bringen, euch zu finden. Tut mir leid, Leute, aber über alles Weitere müsst ihr euch selbst Gedanken machen, weil wir hier im Moment einiges zu tun haben. Der Dritte Eckpunkt ist besser gesichert, als wir dachten. Im Moment beobachten wir Wolf: Es ist ihm gelungen, die massive japanische Seeblockade vor der Küste Hokkaidos zu durchbrechen, und jetzt versucht er, in das Labyrinth zu kommen, mit dem der Eckpunkt geschützt ist.«

»Ihr seht also«, sagte Zoe, »wir sollten langsam in die Gänge kommen ...«

In diesem Moment gab ihr Notebook einen Glockenton von sich. Im Videolink-Fenster begann ein Icon mit der Inschrift »RON« zu pulsieren.

»Das ist Alby!«, rief Lily und klickte das Icon sofort an. Pooh Bear in London machte das Gleiche, so dass sie eine Konferenzschaltung hatten.

Aufgeregt drängten sich Jack und Lily um den Bildschirm. Sie konnten es kaum erwarten, Alby zu sehen ...

... aber vor ihnen erschien Vultures dunkles, hakennasiges Vogelgesicht.

»Na, ihr Luschen«, sagte der saudi-arabische Geheimagent und machte einen Schritt zur Seite, so dass ...

... Alby und Lois zu sehen waren, die, von Scimitar bewacht, gefesselt und geknebelt hinter ihm saßen. Sie befanden sich in einer beigefarbenen Kabine: wahrscheinlich im Innern eines Privatjets. Lois war bewusstlos in ihrem Sitz zusammengesunken. Alby hatte entsetzt die Augen aufgerissen.

»Schaut mal, was ich gefunden habe«, zischte Vulture. Dann sah er Pooh Bear. »Sieh mal einer an, Zahir, du bist also tatsächlich aus dieser Mine in Äthiopien entkommen. Du scheinst doch nicht so ein Loser zu sein, wie ich dachte.« »Was willst du, Vulture?«, fragte Jack.

Vulture zuckte beiläufig mit den Achseln. »Wie du weißt, Huntsman, können Kinder einiges an Schmerzen aushalten. Ich habe mich oft gefragt, wie viel Folter ein kleiner Junge ertragen kann - Folter, der er unterzogen wird, oder Folter, die er mit ansehen muss, wenn seine Mutter ihr unterzogen wird. Was ich will? Ich will deine uneingeschränkte Aufmerksamkeit, Huntsman, und die habe ich mir, glaube ich, gerade verschafft.«

Das Bild auf dem Monitor löste sich auf. Lily brach in Tränen aus. Zoe sah Jack an. Jack schloss die Augen.

Vulture und Scimitar hatten Alby und seine Mutter in ihre Gewalt gebracht.

Es war eine Sache, jemanden als Geisel zu nehmen, an dem Jack etwas lag. Eine andere war es, jemanden zu kidnappen, an dem seiner Tochter etwas lag. Gottverdammte Sch...

»Jack.« Sky Monster kam aus dem Cockpit. »Wolf hat gerade seinen Angriff auf Hokkaido gestartet, und es hört sich an, als wäre der Dritte Weltkrieg ausgebrochen. Falls du dir das ansehen willst, müssen wir jetzt starten.«

Jack setzte sich kerzengerade auf, sammelte sich kurz und sagte: »Pooh Bear, sieh zu, dass du diese Quelle findest. Wir müssen los.«

 

 

 

LUFTRAUM ÜBER DEM ARABISCHEN MEER

 

In der komfortablen Kabine seines Gulfstream-IV-Privatjets wandte sich Vulture vom Computer ab, sah lächelnd Alby an und nahm ihm den Knebel aus dem Mund.

»Danke, Albert. Zu jeder Schlacht gehört ein wenig psychologische Kriegsführung, und du hast dich wieder einmal als außerordentlich nützlich erwiesen.«

»Wieder?« Alby runzelte die Stirn. Neben ihm stöhnte seine unter Drogen gesetzte Mutter in unruhigem Schlaf.

»Aber natürlich, das kannst du ja gar nicht wissen...« Vulture setzte sich in einen breiten Ledersessel. »Du wirst dich vielleicht erinnern, dass Captain West letztes Jahr auf seiner Farm in der australischen Wüste unliebsamen Besuch bekam.«

»Ich war dabei.«

»Wissen wir, wissen wir.« Vulture schaute grinsend zu Scimitar hinüber, der sich gerade einen Whiskey genehmigte. »Du warst es ja auch, der uns zu Huntsmans Farm geführt hat, Albert.«

»Was?« Alby setzte sich kerzengerade auf.

»Der Huntsman ist ein echter Profi und macht selten Fehler. Wir haben natürlich das Mädchen beobachtet, aber er hatte dafür gesorgt, dass sie in der Schule gut geschützt war. Und er kehrte nie auf demselben Weg auf die Farm zurück - selbst wenn er sie von eurer Schule in Perth abholte. Deshalb gelang es uns nicht, seine Farm und den Feuerstein zu finden, den er dort versteckt hatte.

Doch dann hast du dich mit dem Mädchen angefreundet. Deshalb sind wir dazu übergegangen, dich zu beobachten, und plötzlich machte der Huntsman einen seiner seltenen Fehler. Denn du, junger Mann, hast nicht das soldatische Know-how eines echten Profi. Als du auf der Farm Ferien gemacht hast, wurdest du auf dem ganzen Weg dorthin beobachtet. Du warst es also, der unsere Verbündeten - Wolf und Mao und Maos chinesische Truppen - zu Jack Wests Farm in der Wüste geführt hat. Ja, mein lieber Albert, sein größter Fehler warst du.«

Alby stellte entsetzt fest, dass dem tatsächlich so gewesen sein könnte. Hatte er Lilys Feinde wirklich zu ihrem geheimen Zuhause geführt?

»Wir wissen eine Menge über dich, Albert«, fuhr Vulture fort, der Albys Unbehagen sichtlich genoss. »Wir wissen, wie deine Mutter dich verwöhnt und dass dein Bruder dir keine Beachtung schenkt und dein Vater sich von dir distanziert, weil er so einen schlappen Bücherwurm wie dich unmöglich findet.«

Alby traten Tränen in die Augen.

Scimitar warf einen Blick zu ihm herüber. »Muss das sein? Du erinnerst mich an diesen Loser von meinem eigenen Bruder.«

Scimitar zog ein blitzendes Messer von seinem Gürtel. Es hatte eine höchst außergewöhnliche Klinge, lang und scharf, mit einem juwelenbesetzten goldenen Heft.

»Siehst du das?«, knurrte er. »Ein Geschenk meines Vaters. Ich habe es zu meinem fünfzehnten Geburtstag bekommen. Ein Geschenk von Mann zu Mann. Bis zum heutigen Tag hat mein Vater Zahir kein solches Geschenk gemacht, weil Zahir kein Mann ist, weil sich Zahir eines solchen Geschenks nicht würdig erwiesen hat.«

»Pooh Bear ist ein Mann, wie Sie nie einer sein werden ... «

Scimitar durchquerte die Kabine mit erstaunlicher Schnelligkeit, und ehe Alby es sich versah, spürte er die Klinge des kostbaren Messers an seiner Kehle und Scimitars heißen Whiskeyatem in seinem Gesicht.

»Sag das noch mal«, zischte Scimitar. »Sag das noch mal... «

»Scimitar!«, pfiff Vulture ihn zurück. »Nicht jetzt... «

Ein zweimaliges lautes Donnern ließ alle herumfahren.

Für Alby hörte es sich an, als hätten zwei Flugzeuge die Schallmauer durchbrochen.

Und tatsächlich: Als er aus dem Fenster des Gulfstream schaute, sah er plötzlich auf beiden Seiten des Privatjet MiG-Jäger mit russischer Kennung

auftauchen. Sie waren so nah, dass Alby die Visiere der russischen Piloten in der Sonne blitzen sehen konnte.

»Sie fordern uns auf, ihnen zu folgen!«, rief der saudische Pilot aus dem Cockpit. »Sonst schießen sie uns ab.«

Vulture war ebenso baff wie wütend.

»Was soll das ...?«, stieß er hervor und ging von Fenster zu Fenster.

Ohne Vorwarnung feuerte eine der MiG‘s eine Salve Leuchtspurgeschosse am Bug des Gulfstream vorbei.

»Was soll ich jetzt tun!«, rief der Pilot, sichtlich in Panik.

»Wir haben keine Wahl«, sagte Vulture. Sein Verstand hatte angesichts dieser unerwarteten Wende der Ereignisse bereits fieberhaft zu arbeiten begonnen. »Wir tun einfach, was sie uns sagen.«

Und so drehte der Gulfstream-Jet, gefolgt von den russischen Kampfflugzeugen, nach rechts ab und verließ seinen geplanten Kurs.