KENIANISCHE SAVANNE
5 TAGE VOR DEM ZWEITEN STICHTAG
In einem alten Lastwagen, den sie aus der Mine in Lalibela hatten mitgehen lassen, rasten Jack und Pooh Bear über die weite Savanne Kenias.
Während Pooh Bear fuhr, saß Jack auf dem Beifahrersitz und musterte die beiden antiken Tafeln.
»Huntsman, was sind das für Dinger?«
Ohne den Blick von den Tafeln zu nehmen, antwortete Jack: »Du würdest es mir nicht glauben, wenn ich es dir erzähle.«
Pooh Bear warf ihm einen Seitenblick zu. »Versuch's doch mal.«
»Na schön. Die Zwillingstafeln des Thutmosis sind zwei zusammengehörende Tafeln, die einst, um das Jahr 1250 vor Christus, Ramses dem Großen gehörten. Sie standen auf einem heiligen Altar in seinem Lieblingstempel in Theben und waren der wertvollste Schatz seiner Herrschaft. Aber kurz vor Ramses' Tod stahl ein abtrünniger Priester sie aus dem Tempel.«
»Ich gebe zu, dass ich noch nie von diesen Tafeln gehört habe«, sagte Pooh Bear hinter dem Steuer. »Sollte ich?«
»Oh, du hast ganz bestimmt schon von ihnen gehört. Nur hatten sie da einen anderen Namen. Die Zwillingstafeln des Thutmosis sind nämlich besser bekannt als die Zehn Gebote.«
»Die Zehn Gebote!«, rief Pooh Bear aus. »Das ist doch wohl nicht dein Ernst. Das da sind die beiden Steintafeln mit Gottes Geboten, die Moses auf dem Berg Sinai bekommen hat?« Jack gab zurück: »Vielleicht sollte man besser sagen: die bei den Steintafeln, auf denen bedeutendes uraltes Wissen stand und die ein ägyptischer Priester namens Moses aus dem Ramesseum in Theben gestohlen und nach seiner Flucht aus Ägypten auf dem Berg Sinai wieder hervorgezaubert hat.«
Jack fuhr fort: »Und wenn wir schon so genau sind: Ägyptische Quellen besagen, dass auf den beiden Tafeln nur fünf Gebote stehen, nicht zehn. Die Tafeln sind identisch und enthalten denselben Text. Ob wirklich Gott sie auf dem Berg Sinai Moses übergeben oder Moses sie nur am Berg Sinai zum ersten Mal seinen Anhängern offenbart hat, steht zur Debatte.«
»Tatsächlich?«
»Na, dann sag mir doch mal: Wer war Moses?«
Pooh Bear zuckte die Achseln: »Ein hebräischer Bauer, der von seiner Mutter in einem Binsenkörbchen ausgesetzt und von der Königin gefunden wurde, die ihn als Bruder von ... «
»Ramses II. aufzog«, beendete Jack den Satz. »Diese Geschichte kennen wir alle. Dass Moses zu Zeiten von Ramses dem Großen lebte, ist wahrscheinlich. Dass er ein Hebräer war, ist dagegen unwahrscheinlich, denn >Moses< ist ein ägyptischer Name.« »Der Name >Moses< ist ägyptisch?«
»Ja. Streng genommen ist es sogar nur ein halber Name. >Moses< heißt >geboren dem< oder >Sohn von<. Normalerweise wird er mit einem Präfix kombiniert, das zu einem Gott gehört. >Ram-ses< - oder anders geschrieben >Ramoses< - bedeutet deshalb auch >Sohn des Ra<.
Deshalb ist es auch sehr unwahrscheinlich, dass >Moses< wirklich der Name des Mannes war, den wir Moses nennen. Das wäre so, als würden wir einen Schotten Mc oder einen Iren O' nennen, ohne auch ihre Familiennamen McPherson oder O'Reilly dazuzunennen.«
»Und wie hieß er dann wirklich?«
»Heutzutage glauben die meisten Gelehrten, dass Moses' voller Name Thutmoses war. Der Sohn des Thoth.« »So wie im Wort von Thoth?«
»Genau so. Und wie du und ich genau wissen, war Thoth der ägyptische Gott des Wissens. Des Heiligen Wissens. Das hat viele Gelehrte zu der Theorie geführt, dass der Mann, den wir Moses nennen, in Wirklichkeit ein Mitglied der ägyptischen Priesterschaft war. Mehr noch, dass er sogar ein sehr einflussreicher Priester war. Ein begnadeter Redner, ein charismatischer Menschenführer. Allerdings war da ein großes Problem: Er predigte eine ketzerische Religion.«
»Nämlich?«
»Den Monotheismus«, erklärte Jack. »Die Vorstellung, dass es nur einen Gott gibt. Ein Jahrhundert, bevor Ramses den Thron des alten Ägypten bestieg, war das Land von einem eigentümlichen Pharao namens Akenaten regiert worden. Akenaten ist in die Geschichte eingegangen als der einzige ägyptische Pharao, der dem Monotheismus anhing. Natürlich hat er sich nicht lange halten können. Er wurde von einer Gruppe frommer Männer umgebracht, gekränkten Priestern, die den Ägyptern schon seit Jahrhunderten predigten, dass man viele Götter anbeten konnte.
Wenn wir uns nun allerdings den biblischen Moses ansehen, erkennen wir, dass er eine sehr ähnliche Idee vertrat, nämlich die eines allmächtigen Gottes. Es ist wahrscheinlich, dass Moses ein Priester von Akenatens neuer Religion war. Jetzt stell dir einmal vor, dieser Priester hat irgendwie zwei Steintafeln an sich gebracht, auf denen sich Schriften einer uralten, vorzeitlichen Zivilisation fanden. Glaubst du nicht, er würde sie dazu benutzen, seine Botschaft zu untermauern und seinen Anhängern zu sagen: Seht, was Gott in seiner Weisheit euch gesandt hat! Seine unumstößlichen Gesetzen«
»Dir ist ja wohl klar, dass, falls du damit recht hast, die Sonntagsschule der Christen nie mehr dieselbe sein wird«, warf Pooh Bear ein. »Und was hat das alles nun mit ein paar entlegenen Felsenkirchen in Äthiopien zu tun?«
»Gute Frage. Die biblische Geschichte lehrt uns, dass die Zehn Gebote in der Bundeslade aufbewahrt wurden, der arca foederis, und zwar in einem speziellen Gewölbe im Tempel Salomons. Indiana Jones hat im Film die Bundeslade in der antiken ägyptischen Stadt Tanis gefunden, aber in Äthiopien sagen sie, dass Indy sich da geirrt hat.
Seit über 700 Jahren behaupten die Äthiopier, dass die arca foederis sich in ihrem Land befindet, wohin sie A. D. 1280 europäische Ritter aus dem Tempel Salomons gebracht haben. Eben jene europäischen Ritter, die die Kirchen von Lalibela erbaut haben. Und ganz offensichtlich hatten die Äthiopier recht.«
»Wenn nun auf den Tafeln nicht die zehn endgültigen Gebote Gottes stehen - was dann?«, fragte Pooh Bear.
Jack musterte die eingemeißelten Schriftzeichen auf den Tafeln in seinem Schoß. »Was auf diesen Tafeln wirklich steht, ist nicht minder bedeutsam. Es sind die Worte eines Rituals, das am sechsten und siebten Eckpunkt der Maschine zelebriert werden muss, wenn der Dunkle Stern die Erde schon fast erreicht hat. Die Zwillingstafeln des Thutmosis tragen einen heiligen Text, der uns alle retten wird.«
Sie fuhren durch den Süden Kenias und rasten über die Highways. Schließlich erklommen sie einen letzten Berg, und dahinter kam ihr ehemaliges Basisquartier ins Blickfeld, ein altes Farmgebäude nicht weit von der Grenze zu Tansania. Weit entfernt ragte am südlichen Horizont majestätisch der Gipfel des Kilimandscharo in den Himmel.
Auf der Veranda vor dem Farmhaus erwarteten sie zwei Weiße.
Einer trug ein schwarzes T-Shirt, der andere ein weißes. Auf den T-Shirts stand:
I HAVE SEEN THE COW LEVEL! UND THERE IS NO COW LEVEL! Die Zwillinge.
Auf Lachlans Unterarm saß Horus. Er stieß ein freudiges Krächzen aus, als er Jack erblickte, und flog ihm sofort auf die Schulter.
»Als wir heute Morgen hier ankamen, wartete dein kleiner Freund schon«, sagte Julius.
»An dem hast du wirklich einen treuen Vogel«, meinte Lachlan.
» Den besten Vogel auf der Welt«, antwortete Jack und grinste den Falken an. »Den besten Vogel auf der Welt.«
Sie betraten das Farmgebäude.
»Wir müssen dir eine Menge erzählen«, begann Lachlan schon im Gehen, aber Jack unterbrach ihn mit einem erhobenen Finger und ging in sein altes Büro.
Dort stemmte er eine Bodendiele auf und holte darunter einen Schuhkarton mit bündelweise US-Dollarnoten und einem Erste-Hilfe-Päckchen der australischen SAS hervor.
Jack holte eine Spritze aus dem Päckchen und zog darauf ein Medikament namens Andarin auf - oder » Super juice«, wie die SAS-Männer es gerne nannten. Andarin war eine starke Mixtur aus Adrenalin und hochwirksamem Hydrocortisol. Eine Kampfdroge, die Schmerz unterdrückte und einem einen Adrenalinstoß gab. Ein schwerverwundeter Soldat - so wie Jack jetzt einer war -konnte damit ein Gefecht überstehen.
Jack injizierte das Medikament in seinen Unterarm, und sofort fingen seine Augenlider an zu flattern. »Oh, das haut rein.« Er entschuldigte sich bei den Zwillingen: »Tut mir leid, Gentlemen. Ich brauchte nur schnell was, was mich auf den Beinen hält, bis das hier vorbei ist. Also, jetzt erzählt mir mal alles.«
Sie setzten sich ins Wohnzimmer des leeren Farmhauses, und schon sprudelte alles aus den Zwillingen heraus, was sie im Verlauf der letzten Woche erfahren hatten.
Sie informierten Jack über die Lage des zweiten Eckpunkts: südlich vom Tafelberg im afrikanischen Kapstadt.
Sie erzählten ihm von Tank Tanaka, seiner eingeschworenen japanischen Bruderschaft und deren Mission, die nationale Schande im Zweiten Weltkrieg zu rächen - und zwar durch einen globalen Massenselbstmord. Dabei erwähnten sie auch den entscheidenden Punkt ihrer Informationen: dass diese japanische Bruderschaft Wolfs CIEF-Truppe mit einem der ihren infiltriert hatte, einem Mann namens Akira Isaki.
Während sie im Farmhaus darauf gewartet hatten, dass irgendjemand ankam, hatten die Zwillinge sich in eine amerikanische Militär-Datenbank gehackt und festgestellt, dass es in der Tat einen US-Soldaten mit dem Namen A. J. Isaki gab. Akira Juniro Isaki, einen Marineinfanteristen, den man zur CIEF abgestellt hatte.
Lachlan erklärte: »Isaki wurde 1979 als Sohn japanischstämmiger Amerikaner geboren, die ... «
»... nach allem, was wir wissen, reizende Leute waren«, beendete Julius den Satz.
»Seine Großeltern allerdings«, übernahm Lachlan wieder, »genauer gesagt die Eltern seines Vaters, waren geborene Japaner und während des Zweiten Weltkriegs in einem kalifornischen Internierungslager eingesperrt... «
»Ziemlich übel, diese Lager. Ein schwarzer Fleck in der amerikanischen Geschichte ... « »Aber als Klein-Akiras Eltern 1980 bei einem Autounfall umkamen, wurde A. J. Isaki zu seinen Großeltern gebracht.
Großeltern, die reinrassige Japaner, mittlerweile ziemlich nachtragend und Mitglieder der Bruderschaft des Bluts waren. A. J. trat in die Marineinfanterie ein, wurde in der US Marine Corps Force Reconnaissance immer weiter befördert und schließlich 2003 auf seine eigene Bewerbung hin in die CIEF versetzt.«
»Sein Codename«, erklärte Lachlan, »ist Switchblade.«
»Switchblade«, wiederholte Jack. Er erinnerte sich noch dunkel an einen asiatischamerikanischen Marineinfanteristen, den Wolf ihm in der äthiopischen Mine vorgestellt hatte, als er selbst an den Boden der Grube genagelt gewesen war. Er wandte sich zu den beiden um: »Sei ihr noch online?«
Julius legte den Kopf schief. » Genauso gut könntest du fragen, ob Raumschiff Enterprise von Dilithium-Kristallen angetrieben wird. Natürlich sind wir online!«
Er reichte Jack seinen Laptop.
Jack tippte auf einige Tasten. »Wir müssen herausfinden, ob Wizard und Zoe die zweite Säule von den Neetha haben. Hoffentlich haben sie uns im Netz eine Nachricht hinterlassen.«
Er öffnete die Seite des Herr-der-Ringe-Chatrooms und gab seinen Benutzernamen - STRIDER101 - sowie sein Passwort ein.
Eine neue Seite erschien und Jack scrollte. »Nichts.«
Keine Nachricht wartete auf ihn.
Wizards Nachricht sollte erst drei Tage später auf dem Messageboard erscheinen. Lachlan sagte: »Jack, da ist noch was.« »Was?«
» Seit wir hier angekommen sind, haben wir auf der Suche nach euch und den anderen die Militärfrequenzen abgehört. Im Verlauf der letzten vierundzwanzig Stunden haben eine ganze Reihe afrikanischer Staaten Truppen verlegt. Außerdem haben nacheinander mehrere Staaten im Süden des Kontinents ihre Lufträume gesperrt. Zuerst Simbabwe, dann Mosambik, dann Angola, Namibia und Botswana. Keine zivilen Flüge sind mehr erlaubt. Irgendjemand blockiert sämtliche Luftkorridore nach Südafrika.«
Jack dachte darüber nach. »Und ihr sagt, der nächste Eckpunkt liegt unter dem Tafelberg in Kapstadt?«
»Ja, etwas südlich da von«,.antwortete Lachlan.
Plötzlich stand Jack auf. »Wir müssen da irgendwie hinkommen. Wir müssen da sein, bevor die Frist abläuft.«
»Was soll das heißen?«, fragte Julius.
»So wie ich die Sache sehe, gibt es zwei Möglichkeiten, wie es laufen wird. Die erste ist, dass Wizard, Lily und Zoe die Säule haben und es bis nach Kapstadt schaffen. Dann
sind ihnen, wenn sie Kapstadt erreichen, ihre Feinde schon auf den Fersen. Sie werden uns da unten brauchen.«
»Und die zweite?«
Jack biss sich auf die Lippe.
»Die zweite Möglichkeit ist noch schlimmer. Wolf hat die Säule und ist damit nach Kapstadt unterwegs. Wenn er sie einsetzt, soll mir das recht sein, das rettet die Welt ein Weilchen länger. Aber wie ihr sagt, ist Wolfs Team von der japanischen Bruderschaft des Bluts unterwandert worden. Mindestens einer, dieser Switchblade, ist ein Verräter. Und der will ganz und gar nicht, dass die Säule eingesetzt wird. Er will die Welt zerstören, um damit die Schande Japans auszulöschen. Und wenn Switchblade zu Wolfs Team in Kapstadt gehört, dann wird er dafür sorgen, dass sie die Säule nicht erfolgreich einsetzen.«
»Und das wäre ziemlich übel«, kommentierte Lachlan.
»Praktisch das Ende der Welt«, ergänzte Julius.
»Genau«, sagte Jack. »Also, egal wie die Sache steht, wir müssen nach Kapstadt. Entweder helfen wir Wizard oder - ich kann es selbst nicht fassen, dass ich das sage - wir helfen Wolf.«
Julius fragte: »Aber wie sollen wir in vier Tagen nach Südafrika kommen, ohne zu fliegen?«
Jack starrte aus dem Fenster.
»Es gibt einen Mann, der uns vielleicht helfen könnte, aber dann dürfen wir keine Sekunde verlieren.« Er stand auf. »Auf geht's, Gentlemen, wir fahren nach Sansibar.«