ABU SIMBEL SÜDÄGYPTEN

9. DEZEMBER 2007, 04:00 UHR

 

Im fahlen Licht kurz vor Sonnenaufgang ragten die gewaltigen Statuen von Ramses dem Großen auf wie in Stein gegossene Riesen.

Sie erhoben sich hoch über Wests Leute und ihre Fahrzeuge und ließen sie wie Zwerge aussehen.

Während Zoe in Stonehenge die Wachen leise und ohne den Einsatz tödlicher Waffen aus dem Verkehr gezogen hatte, war Jack diesmal nicht so zimperlich gewesen. Die beiden Wachposten der ägyptischen Denkmalschutzbehörde, die an der viel besuchten Sehenswürdigkeit patrouillierten, hatten sich schnell ergeben, als sie sich unversehens den Läufen von vier Maschinenpistolen gegenübergesehen hatten. Jetzt lagen sie geknebelt und gefesselt in ihrem Wachhäuschen.

Jack stand vor den vier Statuen von Ramses, während Wizard sich hundert Meter weiter vor dem kleineren Nefertari-Tempel befand. Praktisch das ganze Team war da, nur Sky Monster und Stretch waren an Bord der Halicarnassus geblieben und kreisten jetzt hoch über ihnen, observierten das Gelände und warteten auf den Rückholruf. »Entfernungsmesser«, befahl Jack, und für jede Statuengruppe wurde je ein lasergestütztes Entfernungsmessgerät ausgeladen.

»Gibt es deswegen ein Problem?«, fragte Zoe und nickte in Richtung der zweiten von den vier Ramsesstatuen, der irgendwann in grauer Vorzeit der Kopf abgefallen war. »Nein«, antwortete West. »Im alten Ägypten wurde von rechts nach links gezählt. Das sogenannte >Dritte Auge< ist bestimmt an dieser da.« Er deutete auf die zweite Säule von rechts.

Mit Pooh Bears Hilfe seilte sich Astro von einem Felsvorsprung über der betreffenden Säule ab. In seiner freien Hand hielt er einen Entfernungsmesser.

Drüben am Tempel der Nefertari machte Scimitar es ihm mit Vultures Unterstützung nach. Auch dort befand sich das >Dritte Auge< an der zweiten Statue von rechts, einer Nefertari-Plastik.

Während sie sich noch bis auf die richtige Höhe abseilten, wandte Jack sich um und starrte hinaus auf den Nassersee.

Das große Gewässer erstreckte sich bis zum Horizont, dunkel und still und so ruhig, wie es nur ein künstliches Gewässer vermochte. Über dem See lag eine dünne Nebeldecke.

Das gegenüberliegende Ufer beschrieb eine lang gezogene Kurve, und kurz vor dem Uferstreifen konnte Jack gerade noch eine Reihe pyramidenförmiger Inselchen ausmachen.

Jack wusste, dass sich am Sockel vieler dieser Inseln und entlang des gesamten ehemaligen Ufers Hieroglyphen befanden, die die UNESCO nicht hatte vor dem steigenden Wasser retten können. Genauso wie beim Drei-Schluchten-Damm in China. Astro und Scimitar waren in Position.

Der große steinerne Kopf vor Astro war einfach riesig, noch größer als er selbst.

»Setzt die Entfernungsmesser in die Augenhöhlen ein«, wies Jack Astro und Scimitar an. »Achten Sie darauf, dass sie exakt in derselben Sichtlinie wie die der Statuen ausgerichtet sind.«

Die beiden gehorchten und befestigten die Entfernungsmesser mit Klammern in den Augenhöhlen der Statuen.

Als sie fertig waren, ließ West sie die Geräte noch ein wenig nachjustieren, zwei Grad in südlicher Richtung, um die leichte Ungenauigkeit durch die Umsetzung von Abu Simbel durch die UNESCO auszugleichen.

»Okay, jetzt einschalten.«

Die Entfernungsmesser wurden eingeschaltet.

Plötzlich schössen zwei schnurgerade Laserstrahlen aus den Höhlen der Dritten Augen, durchschnitten auf ihrer Bahn über den See den Nebel und verloren sich in einiger Entfernung.

Sie trafen sich an einem etwa zwei Kilometer entfernt liegenden Punkt auf einer der pyramidenförmigen Felseninselchen, die nicht weit vom gegenüberliegenden Ufer aus den Fluten des Nassersees hervorlugten.

»Wahnsinn«, flüsterte Wizard, »wir haben ihn gefunden.«

Sofort wurden zwei Zodiac-Schnellboote aufgepumpt und zu Wasser gelassen.

Vulture und Scimitar blieben als Nachhut an Land zurück, während Jack und die anderen in den beiden Rennbooten über den See peitschten.

Nach nur zehn Minuten hatten die zwei Zodiacs die in Nebel gehüllte, pyramidenförmige Insel erreicht.

Ganz in der Nähe waren im Wasser Dutzende von Nilkrokodilen zu sehen, die einen weiten Kreis um die beiden Boote bildeten. Sie starrten die Eindringlinge an, und ihre Augen reflektierten das Licht der Scheinwerfer.

Als sie näher kamen, warf Zoe einen prüfenden Blick auf die felsige Insel. An der Wasserlinie ragte sie steil, beinahe senkrecht aus dem Wasser, erst ein Stück weiter oben flachte die Neigung ab.

»Die Oberfläche sieht beinahe so aus, als wäre sie von Hand bearbeitet worden«, sagte sie. »Als ob jemand die Felseninsel in die Form einer Pyramide gemeißelt hätte.« Wizard warf ein: »Den Archäologen hat die Form dieser Inseln lange zu denken gegeben, schon früher, als sie noch Berge waren, bevor der See dann anstieg. Aber wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass sie nicht behauen wurden. Es ist einfach ihre natürliche Form.«

»Komisch«, sagte Lily.

»He! Ich empfange ein Sonarsignal«, rief Astro aus seinem Zodiac, auf dem sich alle möglichen Bodenradare und Sonargeräte befanden.

»Nein, wartet mal.« Er seufzte. »Es war nichts. Irgendein Lebewesen. Etwas unten am Grund. Vielleicht nur ein Kroko ...

Moment, das hier ist schon besser. Das Bodenradar hat direkt unter uns im Sockel der Insel einen Hohlraum entdeckt. Der Sonarimpuls bestätigt das. Scheint eine Art waagerechter Tunnel zu sein, der sich in die Insel bohrt.«

»Bringt die Boote zusammen«, befahl Jack, »und werft am Sockel der Insel Anker.

Dann holt den Luftkanal und die Andockschleuse raus. Pooh Bear! Deine Aufgabe ist es, den Eingang abzudichten.«

Zwanzig Minuten später war eine eigentümliche Vorrichtung zwischen den beiden vor Anker liegenden Zodiacs installiert: ein aufblasbarer, hohler Gummischlauch, der ins Wasser hineinragte wie ein oben offenes, senkrechtes Rohr.

Astro und Pooh Bear, beide in voller Tauchausrüstung und mit Harpunen und Schusswaffen gegen die Krokodile ausgerüstet, klatschten mit einer Rolle rückwärts ins Wasser. Sie hatten ihre Scheinwerfer eingeschaltet.

Dreißig Meter unterhalb der Boote erreichten sie den Seegrund an der Stelle, wo der Sockel der Insel sich erhob.

Sie ließen ihre Scheinwerfer über die Inselpyramide streifen und entdeckten buchstäblich Hunderte von Abbildungen, die in den Fels gemeißelt waren. Bei den meisten handelte es sich um die üblichen ägyptischen Reliefs: Hieroglyphen und Darstellungen von Pharaonen, die den Göttern die Hand schüttelten.

»Jack«, sprach Astro in das in seine Tauchmaske integrierte Mikro, »wir haben hier unten massenweise Reliefbilder.«

Pooh Bear schwenkte ein Bodenradar über die von Abbildungen übersäte Felswand. Es funktionierte beinahe wie ein Röntgenapparat und war in der Lage, hinter der Oberfläche Hohlräume und Nischen zu entdecken. »Hier! Hinter diesem Bild ist ein Hohlraum!«

Astro richtete seinen Scheinwerfer auf die betreffende Stelle und beleuchtete im nächsten Moment ein Abbild, das er schon einmal gesehen hatte.

 

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Das Bild der Maschine.

»Damit hätten wir ja rechnen können«, gab er durch. »Wir haben ihn gefunden.«

Rasch machten sich Astro und Pooh Bear daran, eine seltsame, zeltförmige Apparatur über die Stelle zu stülpen, an der der Grund des Sees mit der Pyramideninsel zusammentraf. Sie überdeckten auch das Bild der Maschine.

Bei dem zeltförmigen, quadratischen Ding handelte es sich um eine mobile Andockschleuse der United States Navy, die an die unterschiedlichsten Öffnungen angepasst werden konnte. Ein Geschenk von Sea Ranger an West.

Normalerweise diente es dazu, mit Tauchbooten an U-Boote anzudocken. Es bestand aus Gummiwänden und funktionierte etwa so wie eine Luftschleuse. Sobald man es an einer bestimmten Stelle angebracht und die Ränder versiegelt hatte, pumpte man Luft hinein, blies es auf wie einen Ballon und drückte so alles Wasser heraus. So entstand zwischen zwei unter Wasser liegenden Punkten eine trockene Verbindung.

An allen sechs Seiten des Kubus befand sich ein Eingangsloch, das man öffnen konnte. Eines, das sich an der oberen Seite der Andockschleuse befand, war gegenwärtig mit der Röhre verbunden, die sich wie eine Schlange hinauf zu den Zodiacs wand.

Als die Schleuse angebracht und ihre Ecken mit Bolzen am Grund des Sees und an der Pyramideninsel befestigt waren, setzte Jack eine Pumpe in Gang, die die Röhre und die Schleuse mit Luft füllte.

Rasch wurde der Schleuseneingang aufgeblasen, und kurze Zeit später konnten sie die Röhre hinabklettern und trockenen Fußes den Fels der alten Pyramideninsel erreichen. Indem er sich an den eingebauten Sprossen festhielt, kletterte Jack langsam die Gummiröhre hinunter in den Nassersee. Um den Hals, aber nicht vor dem Gesicht, trug er eine Atemmaske. Es war lediglich eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, dass die Schleuse nicht hielt oder sich aus einem anderen Grund mit Wasser füllte. Außerdem hatte er sich die gereinigte erste Säule vor die Brust geschnallt. Auf seinem Kopf trug er seinen Feuerwehrhelm.

Er erreichte das Ende der Röhre und stand nun dank der mit Druckluft gefüllten Andockschleuse auf dem Grund des Nassersees. Seine Stiefel klatschten in wenige Zentimeter hohes Wasser, das die zeltartige Schleuse mit seinem Druck an den Boden presste.

Vor ihm lag die nackte Wand der Pyramideninsel, felsig und uneben und vor Nässe glänzend.

Sie war übersät mit Symbolen, ein Kaleidoskop von Bildern, in dem sich das Relief der Maschine beinahe verlor.

Was die Wand nicht hatte, das war ein erkennbarer Einlass. Nur ein Relief nach dem anderen.

Jack starrte auf das Symbol der Maschine.

 

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Es war ein ziemlich großes Relief, etwa so groß wie ein Einstiegsloch. Und seine sechs Rechtecke, die die sechs Säulen symbolisierten, schienen diese in Originalgröße abzubilden. Jedes war so groß wie die Säule in Jacks Brustbeutel.

Anders als alle anderen jedoch war das oberste Rechteck ausgehöhlt, eine Aussparung im Relief.

»Ein Schlüsselloch«, sagte Jack laut.

Er nahm die Säule aus seinem Brustbeutel und hielt sie gegen das abgesenkte Dreieck.

Sie passte haargenau.

»Probieren geht über studieren ... «

Also lehnte er sich mit der Säule vor und schob sie in das Rechteck.

Im nächsten Moment drehte sich das gesamte kreisförmige Bild um seine eigene Achse. Es rotierte wie ein Rad in die Wand zurück und brachte hinter sich einen dunklen Tunnel zum Vorschein.

Immer noch die Säule in der Hand, trat Jack überrascht einen Schritt zurück.

»Jack? Alles klar da unten?«, hörte er Zoes Stimme in seinem Ohr.

»Klar wie Kloßbrühe«, antwortete er. »Komm runter. Wir sind drin.«

 

Der Tunnel des Sobek

 

Der enge Tunnel jenseits des Einstiegslochs war von der Nässe rutschig. Von irgendwo im Innern hörte man es tropfen.

Jack klemmte sich einen Leuchtstab zwischen die Zähne und kroch im Licht der Lampe seines Feuerwehrhelms auf dem Bauch etwa fünf Meter in den klaustrophobisch engen Tunnel hinein. Und schon traf er auf das erste Hindernis: ein riesiges Nilkrokodil, gut und gerne sechs Meter lang. Es versperrte einen Meter vor ihm den Weg und grinste ihn an.

Jack erstarrte.

Das Tier war gewaltig. Ein riesiges, fettes, prähistorisches Biest. Furchterregende Zähne ragten aus seinem Maul heraus. Es schnaubte laut.

Jack leuchtete mit seiner Helmlampe in den Tunnel jenseits des großen Krokodils hinein. Hinter ihm lagen in dem engen, schmalen Tunnel noch ungefähr vier weitere.

Es muss noch einen anderen Eingang geben, dachte Jack, einen Spalt irgendwo über Wasser, durch den die Krokodile geglitten sind.

»He, Jack?«, fragte Zoe, die hinter ihm im Tunnel angekommen war, »wieso geht es nicht weiter?«

»Wegen eines großen Tieres mit einem Haufen Zähnen.«

»Oh.«

Jack spitzte die Lippen und dachte nach. Zoe kroch näher heran und leuchtete mit ihrem Scheinwerfer an ihm vorbei. »Das ist doch wohl ein Witz!« Plötzlich sagte Jack: »Es ist zu kalt.« »Wie bitte?«

»Es ist noch zu früh am Tag für sie. Ihr Blut ist noch zu kalt, als dass sie gefährlich werden könnten.«

»Was meinst du damit?«, fragte Zoe.

»Krokodile sind Kaltblüter. Damit ein Krokodil, besonders ein großes, sich schnell bewegen kann, muss sein Blut aufgeheizt sein, üblicherweise durch die Sonne. Diese Dinger da sehen zwar wirklich schaurig aus, aber es ist für sie noch zu früh am Morgen, zu kalt. Die werden sich noch nicht so schnell bewegen und angreifen können.

Wir können an ihnen vorbeikriechen.«

»Jetzt machst du aber wirklich Witze.«

In diesem Moment kamen Pooh Bear und Wizard hinter ihnen an.

»Wo liegt das Problem?«, fragte Pooh Bear.

»Da.« Zoe wies mit dem Kinn auf die Reihe großer Krokodile vor ihnen. »Aber nur keine Bange, unser Captain Courageous hier glaubt, dass wir einfach an ihnen vorbeikriechen können.«

Pooh Bear wurde weiß wie die Wand. »Vo... vorbeikriechen???«

Wizard starrte die Krokodile an und nickte. »Um diese Tageszeit ist ihr Blut noch sehr kalt. Das Einzige, was sie jetzt tun könnten, wäre beißen.«

»Das Beißen ist genau mein Problem«, gab Zoe zurück.

Jack sah auf seine Uhr. Es war 5:47.

»Wir haben keine andere Wahl«, sagte er. »Wir haben nur noch fünfundzwanzig Minuten, um den Eckpunkt zu erreichen, und das bedeutet, wir müssen an diesen Dingern da vorbei. Ich gehe rein.«

»Ah, Huntsman«, meldete sich Pooh Bear. »Verstehst du ... na ja ... du weißt ja, ich würde dir überallhin folgen. Aber ... mit Krokodilen komme ich schon unter normalen Umständen nicht klar, und hier ...«

Jack nickte. »Ist schon in Ordnung, Zahir. Kein Mensch ist vollkommen ohne Angst, noch nicht mal du. Diesmal machst du Pause. Ich sag es auch keinem.«

»Danke, Huntsman.«

»Zoe? Wizard?«

Er sah ihnen an, dass ihnen ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen.

Dann starrte Zoe mit entschlossener Miene in den Tunnel. »Das schaffst du nicht allein. Ich bin direkt hinter dir.«

Und Wizard sagte: »Ich habe mein ganzes Leben dafür gearbeitet, das zu sehen, was hinter diesen Biestern liegt. Wäre ja noch schöner, wenn ich mich von denen jetzt aufhalten ließe.«

»Also dann los«, sagte Jack.

Jack kroch durch die Dunkelheit und erreichte das erste Krokodil.

Neben dem großen Reptil machte er geradezu einen mickrigen Eindruck.

Als Jack auf gleicher Höhe mit dem Krokodil war, öffnete es seinen riesenhaften Rachen und zeigte seine sämtlichen Zähne. Wie eine Warnung ließ es ein heiseres Rülpsen hören.

Jack hielt inne und holte tief Luft. Dann machte er einen Satz, kroch an dem Maul des Tieres vorbei und die Seite des Tieres hinunter, indem er sich an der gekrümmten Tunnelwand entlang schob. Sein Blick traf den des Krokodils und er sah, dass dessen kalte, unbarmherzige Augen ihn Zentimeter um Zentimeter verfolgten.

Aber das Tier griff nicht an. Es rutschte lediglich auf seinen Klauen hin und her.

Jack zwängte sich an ihm vorbei, seine Cargo-Hosen rieben sich an dem wulstigen Bauch des Monsters, und er spürte, wie der schwabbelige Unterleib nachgab. Im nächsten Moment war er neben dem stacheligen Schwanz und vorbei.

Die ganze Zeit hatte er die Luft angehalten, jetzt atmete er tief durch.

»Ich bin am ersten vorbei«, sagte er in seine Freisprechanlage. »Zoe, Wizard, kommt mir nach.«

 

Die Treppe des Atum

 

Auf diese Weise schlängelten sich Jack, Zoe und Wizard durch den langen, engen Tunnel und drückten sich an den riesenhaften Nilkrokodilen vorbei.

Am Ende des Tunnels erreichten sie das obere Ende eines rechteckigen Steinbrunnens, in dem sich eine Treppe in die Dunkelheit hinabwand.

In einer Zickzacklinie zogen sich die Stufen den Brunnenschacht hinunter. An jedem Treppenabsatz waren die Wände mit Tausenden von Hieroglyphen übersät, unter ihnen weitere große Bildnisse der radförmigen Maschine.

Jack stieg die erste Treppe hinab und erreichte den ersten Absatz.

Hier zog sich das dort befindliche Symbol der Maschine plötzlich wie von einem unsichtbaren Mechanismus gezogen in die Wand zurück und hinterließ ein weit klaffendes Loch, aus dem jederzeit irgendeine giftige Flüssigkeit schießen konnte. Doch da leuchtete die Säule in Jacks Hand schwach auf, und im nächsten Moment war das Loch wieder geschlossen.

Jack und Wizard tauschten einen Blick aus.

»Sieht nicht so aus, als würde man an diesen Fallen vorbeikommen, wenn man keine Säule besitzt.«

»Jedenfalls nicht so leicht«, stimmte Wizard zu.

Sie stiegen weiter die Treppen hinab, die sich hin und her wanden.

Auf jedem Absatz öffnete sich das radförmige Symbol der Maschine und schloss sich wieder, wenn es die Säule in Jacks Hand wahrnahm.

Immer weiter ging es hinunter.

Beim Hinabsteigen zählte Wizard die Stufen, bis sie endlich unten ankamen. Hier mündete die Treppe in einen großen, steinernen Torbogen, der imposant aufragte, über sechs Meter hoch. Dahinter nichts als vollkommene Finsternis.

Wizard hörte auf zu zählen: »267.«

Jack trat in den Torbogen und starrte ins Dunkel dahinter. Eine leichte Brise strich ihm übers Gesicht, kühl und frisch.

Er spürte, dass sich da vor ihm ein größerer Raum ausdehnte. Deshalb nahm er seine Leuchtpistole und feuerte in die Finsternis.

Nachdem er fünfzehn Leuchtkugeln abgeschossen hatte, stand er mit offenem Mund im Torbogen staunte nur noch.

»Diesen Anblick werde ich so bald nicht vergessen«, flüsterte er.

 

Der Maschinensaal

 

Der immerhin mehr als sechs Meter hohe Torbogen, in dem Jack stand, wirkte geradezu winzig klein im Vergleich zu dem Raum, der sich unter ihm auftat.

Das Tor stand auf dem Gipfel eines riesigen Berges aus lauter steinernen Stufen, es mussten fünfhundert oder mehr sein. Sie führten hinab in einen Saal mit ebenem Boden, der gut und gerne hundertdreißig Meter breit und hundertsiebzig Meter lang war. Die kolossale Treppe erstreckte sich über die gesamte Breite des Saales, von Wand zu Wand. Ein riesiges Gefälle aus exakt behauenen, rechteckigen Stufen.

Die Decke dieser mächtigen unterirdischen Halle wurde von einem schieren Wald herrlicher Säulen getragen, alle in der farbenprächtigen ägyptischen Bauart, die Kapitelle reich mit roten, blauen und grünen Lotosblättern verziert. Es mussten um die vierzig Säulen sein, die alle in geraden Reihen ausgerichtet waren.

»Genau wie der Tempel von Ramses II. in Karnak«, flüsterte Wizard.

»Vielleicht war der Ramsestempel eine Replik, die zu Ehren dieses Bauwerks errichtet wurde«, überlegte Zoe.

Jack stand am Ende der großen Treppe, und es kam ihm vor, als stünde er in der obersten Reihe eines Fußballstadions und blickte auf das Feld unter ihm.

Und da war noch etwas.

Der Saal unter ihnen besaß auf der dem Treppenberg gegenüberliegenden Seite keine Wand.

Streng genommen war da drüben - auf der anderen Seite der riesigen Treppe und jenseits des kunstverzierten Säulenwalds -sogar überhaupt nichts. Der glatte Boden des Saales hörte einfach an einer scharfen Kante auf. Das Ganze sah aus wie ein hundertsiebzig Meter breiter Balkon ohne Geländer oder eine Aussichtsplattform, die auf einen noch größeren, noch dunkleren Raum hinausging.

Weil Jack und die anderen beiden von ihrem Aussichtspunkt oben an der Treppe nicht erkennen konnten, was sich in diesem riesigen Raum verbarg, stiegen sie die Stufen hinab. In der gewaltigen Halle wirkten sie wie Ameisen.

Als sie die Hälfte der Stufen bewältigt hatten, sah Jack endlich, was sich in diesem noch größeren Raum befand.

»Wir brauchen mehr Leuchtmunition«, keuchte er.

 

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Der erste Eckpunkt der Maschine

 

Jack, Wizard und Zoe durchquerten den riesigen Saal, vorbei an dem Wald hoch aufragender Säulen, und erreichten schließlich die Kante, von wo man in eine noch größere unterirdische Höhle blicken konnte.

Ein monumentaler Abgrund tat sich vor ihnen auf, tief und schwarz und mindestens dreihundert Meter breit. Vor Jack lagen der unergründlichste Schlund und die tiefste Finsternis, die er je zu Gesicht bekommen hatte.

Und über dieser Kluft hing von der waagerechten Felsdecke eine kolossale, auf dem Kopf stehende Pyramide hinab! Ihre Form war makellos, und dem Aussehen nach hatte sie exakt dieselben Maße wie die Große Pyramide in Giseh. Sie sah aus, als sei sie noch vor der Antike entstanden, noch vor allem, was die Menschheit je zu bauen hatte hoffen können. Ihre Seiten funkelten in bronzefarbenem Glanz.

Jack fühlte sich an die Pyramide Inversée des Pariser Louvre erinnert, die bezaubernde umgedrehte Glaspyramide, die genau über einem kleineren Gegenstück hing. Berühmt geworden war sie durch den Erfolgsroman Sakrileg, der ihre Errichtung in einen freimaurerischen und gleichzeitig neuzeitlich-heidnischen Mythos gehüllt hatte.

Auch fielen Jack wieder die Hängenden Gärten von Babylon ein, die man in einer großen Höhle im Südirak in einen riesigen Stalaktiten hineingebaut hatte. Möglicherweise, überlegte er, waren auch die Hängenden Gärten als Hommage an dieses Bauwerk geschaffen worden.

Wie auch immer, jedenfalls erschien Jack der Saal, in dem er sich mit Wizard und Zoe befand und der ihnen eben noch so riesenhaft erschienen war, angesichts der unvorstellbaren Größe der Pyramide plötzlich zwergenhaft klein.

Wizard sagte: »Jack, Zoe, willkommen bei der Maschine.«

Jack sah auf die Uhr.

Es war 6:02. Das Jupiter-Äquinoktium war um 6:12. Sie lagen gut in der Zeit. Sein Funkgerät krächzte.

»Huntsman, lebt ihr noch da unten?«, fragte Pooh Bear besorgt.

»Wir sind drin. Wir haben die Maschine gefunden.«

»Sky Monster hat mich gerade angefunkt. Er hat eine große Wagenkolonne gesehen, die von Assuan aus hierher unterwegs ist. Über hundert Landfahrzeuge, sie folgen den Touristenbussen. «

»Voraussichtliche Ankunft?«, fragte Jack. »In einer Stunde, vielleicht auch früher.« Jack stellte einige Berechnungen an und meinte dann: »Bis dahin können wir weg sein. Gerade so.«

Während Jack in sein Funkgerät sprach, untersuchten Zoe und Wizard die Wände des Saales.

Sie waren geradezu übersät mit Abbildungen - Abertausenden prächtig und kunstvoll gearbeiteter Reliefs.

Einige wie das Kreisrätsel, das Bild der Maschine, und sogar eine Darstellung von Stonehenge erkannten sie wieder, aber andere waren ihnen vollkommen unbekannt.

 

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Rasch zog Zoe eine hochauflösende Canon-Digitalkamera hervor, schoss eine Serie von Fotos und versuchte dabei, so viele Bilder wie möglich einzufangen.

»Das ist Ur«, erklärte Wizard und deutete auf das zweitletzte Bild.

»Tatsächlich?«

»Es ist der Stadtplan der antiken Stadt Ur in Mesopotamien. Ur war berühmt für seine zwei befestigten Häfen, einen im Westen und den anderen im Norden. Auf diesem Relief kann man beide ganz genau erkennen. Vor dem Bau der Großen Pyramide war die Zikkurat von Ur das höchste Gebäude der Welt. Und wisst ihr, was das Wort >Ur< bedeutet?«

»Sag's mir.«

»Licht. Die Stadt des Lichts.«

An einem Ehrenplatz in der Mitte bedeckte eine große, polierte Tafel aus Obsidian die

Wand. All ihre Gravuren waren mit Gold eingefasst, und auch ihr verzierter Rahmen schien aus einem einzigen, rechteckigen Stück Gold zu bestehen.

 

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»Mein Gott, das sind die sechs Eckpunkte«, flüsterte Wizard. »Das Zeichen links, das immer wiederholt wird, das umgedrehte Dreieck über dem Rechteck, ist das ThothWort für >Ecke<. Diese Inschrift ist eine Beschreibung aller sechs Eckpunkte! Lily muss das unbedingt für mich übersetzen.«

Zoe machte mehrere Fotos von der Tafel, dann starrte sie in den unglaublichen Saal, der sie umgab, und die der Schwerkraft trotzenden Pyramide über dem Abgrund. »Wizard, wer hätte so etwas erbauen können?«, fragte sie. »Bestimmt nicht die Menschen der Antike. Nicht mal heute wäre die Menschheit zu so etwas fähig.«

»Das stimmt«, sagte Wizard. »Also wer? Außerirdische Besucher? Manche glauben das. Siebzig Prozent der Leute sind überzeugt, dass irgendwann einmal Aliens auf die Erde gekommen sind. Und wenn es sie gibt, dann haben sie ja vielleicht wirklich unseren Planeten besucht und diese Bauwerke erschaffen. Aber ich persönlich halte nichts von dieser Ansicht.«

»Was glaubst du denn?«

»Er glaubt, dass Menschen sie gebaut haben«, antwortete Jack, der herangetreten war und nun ebenfalls die Wände betrachtete. »He, das ist ja Ur.«

»Der Mensch?« Zoe zog die Stirn in Falten. »Aber du hast doch gerade selbst gesagt, dass die Menschen weder heute noch in der Antike... «

»Das habe ich in der Tat. Aber ich habe nicht ausgeschlossen, dass es eine Menschenrasse gegeben hat, die noch weit vor der Antike lebte.«

»Die Theorie von einer früheren Zivilisation«, fügte Jack an.

»Genau«, sagte Wizard. »Die Theorie, dass unsere hoch entwickelte Zivilisation nicht die erste ist, die auf diesem Planeten eine Blütezeit hatte. Im Verlauf von Äonen haben sich zwischen den Einschlägen von Asteroiden und Kometen und tödlichen Dunklen Sonnen immer wieder menschenartige Wesen über die sie umgebende Tierwelt

erhoben. Sie haben sich weiterentwickelt und sind dann ausgestorben, nur um Millionen Jahre später wieder aufzuerstehen.«

»Du glaubst, dass eine frühere menschliche Zivilisation all das hier erbaut hat?«, fragte Zoe.

»Ja. Eine hoch entwickelte menschliche Zivilisation, viel weiter entwickelt als wir heute. Ist dir nicht aufgefallen, dass alle Türen und Treppenstufen, die wir heute benutzt haben, sämtlich auf unsere Größe und Statur abgestimmt sind? Das ist kein Zufall. Wenn eine außerirdische Kultur auf Menschengröße angepasste Treppen bauen würde, das wäre ein Zufall. Nein, dieses Bauwerk, dieses wunderbare Bauwerk wurde vor langer, langer Zeit von Menschenhand erschaffen.«

»Von Menschen, die sich trotz all ihrer Errungenschaften nicht vor der Vernichtung schützen konnten«, hielt Zoe dagegen.

Wizard nickte und entgegnete: »In hundert Millionen Jahren kann eine Menge passieren. Ganze Spezies können in so einer Zeit miteinander verschmelzen, neu entstehen, sich weiterentwickeln und aussterben. Der moderne Homo sapiens dagegen ist erst 100 000 Jahre alt. Und zumindest haben die Menschen, die diese Maschine gebaut haben, ja versucht, sich vor der Rückkehr des Dunklen Sterns zu schützen.«

»Tut mir leid, dass ich unterbreche, Wizard, aber würdest du dir bitte mal das hier ansehen.« Jack war an den Rand des Abgrunds getreten und studierte durch ein Fernglas die riesige umgedrehte Pyramide.

Die Spitze der auf dem Kopf stehenden Pyramide befand sich auf gleicher Höhe mit der Plattform, auf der sie standen, allerdings etwa neunzig Meter weit weg.

»Die Spitze ist gar nicht vollkommen spitz«, sagte Jack und reichte Wizard das Fernglas. »Sie ist am Ende abgeflacht.«

»Wie bei der Großen Pyramide?«, fragte Zoe.

»Ungefähr so, nur kleiner. Viel kleiner«, antwortete Wizard. » Ungefähr so groß wie ...«, er warf einen Blick auf die Säule in Jacks Händen, »... wie das da.«

»Und wie kommen wir da rüber und setzen sie ein?«, wollte Zoe wissen.

»Vermutlich auf dieselbe Art, wie wir auch hier hereingekommen sind«, sagte Jack und deutete auf seine Füße.

Zoe folgte seinem Blick und sah, dass vor Jacks Stiefeln ein Bild der Maschine in den Marmorboden gemeißelt war. Auch hier hatten die abgebildeten Rechtecke Originalgröße.

Jack setzte die gereinigte Säule in die rechteckige Aussparung, die dem Abgrund am nächsten war.

Kaum hatte er sie eingefügt, da hörte man ein tiefes Poltern.

Aufgeschreckt wandte Jack den Kopf nach links und nach rechts, entdeckte aber keine Ursache für das lärmende Geräusch. Auch Wizard und Zoe nicht.

Und dann entdeckte Jack den Grund.

Direkt unter sich sah er eine große, schmale Brücke, die aus der Wand des Abgrunds hervorkam wie eine Zugbrücke, nur dass diese hier nicht nach unten abgelassen, sondern nach oben gezogen wurde. Eine lange Steinbrücke ohne Geländer.

Begleitet von heftigem Poltern, erhob sie sich weiter und weiter, bis sie mit einem lauten Rutntns! genau vor West zu liegen kam, eine lange, hervorspringende Steinzunge, die sich von seinen Füßen bis halb über den Abgrund und zur Spitze der herabhängenden Pyramide erstreckte. »Wie praktisch«, meinte Jack.

Jack West jr. hielt die gereinigte Säule umklammert und trat auf die Brücke hinaus, die vor dem Hintergrund der riesigen Halle, des Abgrunds und der kolossalen Pyramide absolut winzig erschien.

Der von nackten Felswänden umsäumte Abgrund unter ihm schien bodenlos zu sein, so als verschwinde er in unendlichem Schwarz.

Jack versuchte, nicht daran zu denken, und hielt, während er sich der riesigen bronzenen Pyramide näherte, die Augen unverwandt geradeaus gerichtet.

Wizard und Zoe verfolgten jeden seine Schritte.

Endlich erreichte Jack das Ende der Brücke und den Scheitelpunkt der hängenden Pyramide.

In diesem Moment war es 6:11.

Über der Wasseroberfläche des Sees krochen die ersten Strahlen des Sonnenaufgangs über den Horizont.

Alby hatte sein Teleskop auf die Spitze der pyramidenförmigen Insel gerichtet, direkt über die beiden schaukelnden Zodiacs hinweg.

Über sein Fernrohr gebeugt, rief er: »Gerade ist der Saturn hinter Jupiter aufgegangen! Die Lücke kommt... jetzt!«

Jacks Uhr rückte auf 6:12 vor.

Nach der ganzen Herrlichkeit des Saales mit seiner Treppe, der großen Pyramide und dem Abgrund fand er es jetzt geradezu seltsam, dass der Scheitelpunkt des riesigen Bauwerks von nahem betrachtet so klein war.

Plötzlich begann die Pyramide zu summen.

Es war ein dumpfes Brummen, eine tiefe, mächtige Vibration, die in der gesamten Höhle widerhallte.

Jacks Augen weiteten sich.

»Captain West«, meldete sich Alby über Funk. »Gerade hat der Titanaufgang begonnen. Sie haben jetzt noch etwa eine Minute Zeit, die Säule einzulegen.«

»Danke«, erwiderte Jack. »Irgendwie hatte ich schon das Gefühl, das es gleich losgeht.« Er stand jetzt am äußersten Ende der ausgeklappten Brücke, hoch über dem unermesslich tiefen Abgrund, und musterte die Spitze der summenden Bronzepyramide.

Wie er schon von der Plattform aus gesehen hatte, war das Ende der Pyramide nicht spitz, sondern abgeflacht. Das kolossale Bauwerk mündete in ein sehr kleines Rechteck, das kaum breiter war als eine Handspanne. Beinahe sah es so aus, als sei irgendwann der Schlussstein abgeschnitten worden.

In diesem rechteckigen Scheitelpunkt befand sich ein ebenfalls rechteckiges Loch, und Jack erkannte sofort, dass es die Größe seine Säule hatte.

»Wizard?«, fragte er in sein Funkgerät, »muss ich noch irgendwas wissen? Irgendein Ritual, das ich vollführen muss?«

»Nicht dass ich wüsste«, antwortete Wizard. »Schieb einfach nur die Säule in die Pyramide.« »Na dann ...«

Jack warf einen letzten Blick auf seine Uhr. Es war immer noch 6:12.

Hoch über dem bodenlosen Abgrund stehend und weit unter der Erdoberfläche, nahm er mit beiden Händen die gereinigte Säule und schob sie in die passende Aussparung der Pyramide.

Die Säule glitt in das Loch ...

... und rastete sofort ein. Fest arretiert steckte sie bis zur Hälfte in der Pyramide.

Sofort hörte das rätselhafte Brummen auf.

Stille.

Jack hielt die Luft an.

Bamm! Blitzartig leuchtete der durchsichtige Diamant, der in der Spitze der Pyramide steckte, auf und glühte in einem grellen Weiß.

Jack taumelte zurück und schirmte die Augen ab.

Das blendende weiße Licht erhellte die gesamte Höhle um ihn herum, und zum ersten Mal sah Jack, wie tief der Abgrund unter ihm tatsächlich war. Unvorstellbar tief fielen die nackten Felswände ab und verschluckten weit unten selbst das grelle Licht der Säule.

Plötzlich fuhr mit einem Donnerschlag ein mächtiger Lichtstrahl wie ein Laser aus der Säule in den schachtförmigen Schlund und jagte weiter bis hinunter zum Kern der Erde.

Jack konnte nicht viel erkennen, weil es einfach zu hell war.

Im nächsten Moment fuhr der Laser ebenso plötzlich, wie er herausgeschossen war, wieder zurück in die Säule, und im nächsten Moment war alles vorbei. Die Höhle wurde wieder von der Dunkelheit verschluckt - wenn man einmal von Jacks lächerlichen Leuchtpatronen absah.

Jack nahm die Hand von den Augen und spähte angestrengt hinauf zu der riesigen Pyramide. Ehrfürchtig bestaunte er die uralte Vorrichtung.

Dann erblickte er die Säule.

Ein Licht pulsierte in ihr, ein schwaches Leuchten pochte in ihrem flüssigen Kern.

Und dann erschien ganz langsam eine seltsame Schrift auf den gläsernen Außenflächen der Säule - weiße Schriftzeichen bedeckten sie über und über.

Jack erkannte die Schrift sofort.

Das Wort des Thoth.

Es war die geheimnisvolle Sprache, die man in Ägypten entdeckt hatte und die nur die Orakel von Siwa entziffern konnten: Lily und ihr Zwillingsbruder Alexander.

Jack fiel wieder ein, was die Belohnung für das Einsetzen der ersten Säule gewesen war.

Wissen.

Diese Schriftzeichen übermittelten irgendeine Weisheit. Eine höhere Weisheit.

Ein Wissen, für das manche Staaten bereit waren zu töten.

Er streckte den Arm aus und griff nach der Säule. Kaum hatte er sie berührt, da war ein leises klick zu hören und der Klammermechanismus der Pyramide entließ die Säule mit den leuchtend weißen Schriftzeichen in seine Hände.

Jack nahm sie in Augenschein und bemerkte sofort, dass am oberen Ende der Säule ein kleines, pyramidenförmiges Stück fehlte. Es war abgetrennt.

Voller Erstaunen hob er den Blick und sah, dass die große, auf dem Kopf stehende Pyramide jetzt wieder vollständig war. Irgendwann während des blendenden Lichtspektakels hatte sie sich ein Stück des Diamanten als Schlussstein genommen. Die Dreiecksform war wieder vollkommen.

»Na prima«, sagte Jack und blickte hinab auf das neue, pyramidenförmige Loch in seiner Säule.

»Wizard«, sprach er in sein Funkgerät, »das ist kein Hokuspokus.«

»Hab ich doch gewusst.«

Jack stopfte die leuchtende Säule in seinen Rucksack. »Na ja, alles in allem war es doch gar nicht so schwierig.«

»Stimmt, was für uns ja eher ungewöhnlich ist«, hob Wizard an, aber da brach die Funkverbindung auch schon ab und stattdessen ertönte ein lang anhaltendes Dröhnen.

Jacks Blut gefror zu Eis. Das hier war keine einfache Unterbrechung des Sprechkontakts, dann hätte er ein statisches Rauschen oder irgendwelches Gebrabbel gehört. Dieses Geräusch bedeutete etwas anderes.

Er wandte sich um und sah Wizard am Ende der Plattform stehen und mit nach oben gekehrten Handflächen die Arme in seine Richtung ausstrecken. Zoe winkte Jack hektisch heran.

Jack preschte zurück über die Brücke und hielt dabei seinen Rucksack wie einen Football unter den Arm geklemmt. Noch beim Laufen sprach er in sein Funkgerät: »Astro! Lily! Alby! Seid ihr noch dran?«

Keine Antwort.

Nichts als das monotone Dröhnen.

Jack erreichte Wizard und Zoe. Wizard starrte auf die Säule in seinem Rucksack, aber Zoe kam sofort auf ihn zu.

»Jack, unser gesamter Funkkontakt ist gerade zusammengebrochen. Hier ist noch jemand.«

Zu beiden Seiten der Zodiacs kamen sie aus dem Wasser. Es waren bewaffnete Männer in schwarzen Taucheranzügen und mit Sauerstoffgeräten. Sie fuchtelten mit ihren MP- 5-Maschinenpistolen herum.

Zwölf Froschmänner.

»Scheiße«, fluchte Astro. »Das sich bewegende Sonarsignal von eben war gar kein Krokodil. Das war ein Mann.«

»Maul halten«, befahl der Anführer der Froschmänner in beiläufigem Tonfall und perfektem Eton-Akzent. »Die Waffen runter und die Hände hoch!«

Astro und Pooh Bear gehorchten.

Britische Soldaten, dachte Astro. Vermutlich SAS oder Marine. Er fuhr herum und funkelte Iolanthe an, aber ihr Gesicht war eine Maske.

Die britischen Froschmänner kletterten in die Zodiacs. Wasser troff von ihren Taucheranzügen. Ihre Waffen glitzerten.

Instinktiv schob Pooh Bear Lily und Alby hinter sich.

Der Anführer trat zu Iolanthe und zog sich die Tauchermaske und das Kreislauftauchgerät ab. Er war jung und hatte ein vierschrötiges, pockennarbiges Gesicht. »Lieutenant Colin Ashmont, Madam, von den Royal Marines. Wir haben auf Sie gewartet und wie befohlen Captain Wests Funk abgehört, bis wir gehört haben, dass die Säule eingesetzt wurde.«

»Gute Arbeit, Lieutenant«, antwortete Iolanthe und ging hinüber zu den Froschmännern. »West ist mit zwei anderen unten. Mit dem alten Mann, den wir brauchen, und der Frau, die wir nicht brauchen.«

Während Ashmont den um seine Hüfte geschnallten Störsender ausschaltete, reichte Iolanthe ihm ihr Funkgerät.

Der Mann sprach ins Mikrophon: »Captain Jack West, hier sind die Royal Marines. Sie können nicht entkommen. Sie wissen es und wir wissen es. Bringen Sie die Säule raus!«

»Sie können mich mal«, kam die Antwort aus dem Funkgerät.

Ashmont lächelte. Dann blickte er Lily und Alby an und antwortete: »Bringen Sie uns die Säule, Captain, oder ich fange an, die Kinder umzubringen. Zuerst den Jungen.«

»In Ordnung. Wir kommen.«

Minuten später standen Iolanthe, Ashmont und drei seiner Männer in der an der Felseninsel angedockten Schleuse. Sie starrten in den schlauchartigen Tunnel, der voller Nilkrokodile war.

Am anderen Ende des Tunnels standen Jack, Zoe und Wizard.

»Schicken Sie den alten Mann mit der Säule raus«, rief Ashmont.

»Wie heißen Sie, Soldat?«, fragte Jack gleichmütig. »Ashmont. Lieutenant. Fünftes Marineregiment Ihrer Majestät.«

»Sie haben mein kleines Mädchen und ihren Freund bedroht, Lieutenant Ashmont. Ich werde dafür sorgen, dass Ihr Tod qualvoll wird.«

»Sie machen mir keine Angst, Captain West«, erwiderte Ashmont hochmütig. »Ich habe schon von Ihnen gehört, und ich kenne Ihre Sorte. Ein paar Leute halten Sie

vielleicht für gut, aber für mich sind Sie nur zügellos, undiszipliniert und rücksichtslos. Nichts weiter als ein wildes Tier aus den Kolonien, das man an einer kürzeren Leine hätte halten sollen. Und jetzt schicken Sie den alten Mann mit der Säule raus, sonst gebe ich den Befehl.«

Jack reichte Wizard seinen Rucksack, und der zwängte sich nun schon zum zweiten Mal an diesem Morgen durch den krokodilverseuchten Tunnel.

Wieder protestierten die Bestien grunzend, aber sie griffen nicht an.

Während Wizard durch den Tunnel kroch, rief Jack: »Iolanthe, Sie enttäuschen mich.«

»Tut mir leid, Huntsman«, antwortete sie. »Blut ist dicker als Wasser, besonders blaues Blut.« »Das werde ich mir merken.«

Schließlich tauchte Wizard am Ende des Tunnels auf und trat vor die drei schwer bewaffneten Royal Marines.

Ashmont entriss ihm den Rucksack, sah die leuchtende Säule darin und reichte ihn an Iolanthe weiter.

»Hoch, Alter!« Er wies mit dem Kinn zur Leiter, die nach oben zu den Booten führte. »Aber ...«, protestierte Wizard.

»Bewegung!«

Zögernd stieg Wizard die Leiter hinauf.

Iolanthe stand am Eingangsloch des Tunnels und spähte hinein. Am anderen Ende sah sie West und Zoe stehen. In ihrer Hand hielt sie die Säule und strich mit den Fingern an der neuen, pyramidenförmigen Kerbe.

»Viel Spaß in Ihrem Grabmal, Captain«, sagte sie.

Dann drückte sie das andere Ende der leuchtenden Säule in das zurückgefahrene Zeichen der Maschine am Eingang. Sofort schob sich das mannshohe Relief zurück an seinen ursprünglichen Platz und versiegelte mit einem dröhnenden Rumms den uralten Tunnel. Jack und Zoe waren eingeschlossen.

Iolanthe, Ashmont und die anderen Royal Marines kletterten zurück in die Zodiacs.

Als alle an Bord waren, öffnete Ashmont das Ventil der Andockschleuse, die sofort überflutet wurde und den Eingang des unterirdischen Tunnelsystems wieder mit Wasser füllte.

Dann stieß er Lily und Wizard in den ersten Zodiac und ließ Alby, Pooh Bear und den Amerikaner Astro auf dem zweiten zurück.

Untertänig wandte er sich an Iolanthe: »Was machen wir mit denen?«

»Wir behalten das Mädchen und den Alten. Die anderen brauchen wir nicht.«

»Sehr wohl«, knurrte Ashmont. Sofort fesselte er Pooh Bear, Astro und auch Alby mit Handschellen an ihren Zodiac und schnitt die Taue durch, die es an seinem Boot und der Insel hielten. Dann feuerte er - Paaf! Paaf! Paaf! - dreimal in die Luftkammern.

Beim Knall der Schüsse schrie Lily auf.

Sofort begann der zweite Zodiac Luft zu verlieren - und zu sinken. Pooh Bear, Astro und Alby hingen mit Handschellen daran fest.

Die vielen Krokodile, die in weitem Kreis um die beiden Boote gelauert hatten, kamen in Bewegung. Anders als die, die im kühlen Innern der Insel gelegen hatten, waren diese hier schon wach, beweglich und agil.

»Vielleicht habt ihr ja Glück und ersauft, bevor die Krokodile euch erwischen«, bemerkte Ashmont. »Wenn nicht, hoffe ich, dass euer Tod nicht zu schrecklich wird.« »Ihrer wird es hoffentlich sein, wenn er kommt«, gab Pooh Bear zurück. »Sie Bastard!«

»Alby!«, schrie Lily, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Alby selbst war wie versteinert. Er wandte sich hierhin und dorthin und beobachtete von seinem sinkenden Boot aus den weiten Ring der Krokodile.

»Auf Nimmerwiedersehen«, sagte Ashmont.

Dann gab er Gas und schoss mit seinem Zodiac über den Nassersee in den Sonnenaufgang hinein, zurück zum Landungssteg von Abu Simbel. Pooh Bear, Astro und Alby überließ er ihrem Schicksal.

Über die Seitenwände des sinkenden Zodiacs begann Wasser zu rinnen.

Alby stand in dem sinkenden Boot, an das er gefesselt war, und kam sich vor wie ein Passagier der Titanic. Er konnte den Untergang des Boots nicht verhindern und war dazu verdammt, sehr bald auf ihm zu sterben.

»Okay«, stieß Pooh Bear hektisch atmend hervor, »was würde Huntsman machen? Der hätte bestimmt einen zusätzlichen Sauerstofftank an seinem Gürtel baumeln, richtig? Oder ein Schweißgerät, mit dem er die Handschellen durchtrennen könnte.«

»Haben wir leider beides nicht«, gab Astro trocken zurück.

Pooh dachte an den kleinen Vorrat C-2-Plastiksprengstoff, den er in seinem Bartring versteckt hatte. Nein, der war zu stark für seine Handschellen. Er würde ihm auch die Hand abreißen.

Ganz in der Nähe peitschte ein Krokodil Wasser spritzend mit seinem Schwanz.

»Wie geht es dir, mein Junge?«, fragte Astro.

»Ich hab eine Heidenangst«, antwortete Alby.

»Mir geht's ähnlich«, gab Astro zurück.

Das Wasser drückte mittlerweile in Strömen über die Ränder des sinkenden Zodiacs. Das Boot sank jetzt schneller.

Das Wasser stand Alby bis zu den Knien und bald bis zu den Hüften.

Jeden Moment konnten sie jetzt untergehen.

Plötzlich hörte Alby hinter sich ein heftiges Platschen und wirbelte herum, gerade noch rechtzeitig, um ein riesiges Krokodil zu sehen, das aus dem Wasser geschossen kam und nach seinem Kopf schnappte. Im selben Moment krachte ein donnernder Schuss, und das Krokodil fiel mitten im Satz zurück und wälzte sich zuckend im Wasser. Astro hatte es genau ins Auge getroffen.

»Verfluchte Scheiße«, keuchte Alby. »O mein Gott, mein Gott...«

Das Wasser stand ihm mittlerweile bis zur Brust.

Das Boot war fast vollständig untergegangen und neigte sich im Wasser gefährlich zur Seite.

Pooh Bear kämpfte sich an Albys Seite vor. Er riss sich die Taucherbrille herunter und gab sie Alby, obwohl sie an kein Sauerstoffgerät angeschlossen war. »Hier, zieh die an. Vielleicht gewinnst du dadurch ein bisschen Zeit. Tut mir leid, Junge. Tut mir wirklich leid, dass ich nicht mehr für dich tun konnte.«

Dann strömte ein letzter Wasserschwall in das zerstörte Boot, der Zodiac füllte sich endgültig mit Wasser und ging unter.

Pooh Bear, Astro und Alby nahm er mit hinab.

Unter Wasser.

Alby hielt die Luft an. Er spürte, wie der Zodiac ihn am Handgelenk nach unten zog. Während er durch trübe Schwaden nach unten glitt, konnte er noch mit Mühe die Felseninsel ganz in seiner Nähe ausmachen.

Jenseits seines Sichtfeldes lauerten irgendwo die Krokodile und beobachteten den hinabgleitenden Zodiac.

Schließlich traf der Zodiac wie in Zeitlupe auf dem Grund auf und wirbelte Schlick hoch. Eines der Krokodile schwamm heran.

Vorangetrieben von seinem mächtigen Schwanz, glitt es durch das Wasser und hielt auf Alby zu. Mit gähnendem Maul kam es näher. Alby schrie unter Wasser, ein lautloser Schrei, während das Krokodil auf ihn zuschoss und ...

... plötzlich innehielt.

Jäh bremste es ab, zehn Zentimeter vor Albys Kopf.

Sein fletschendes Gebiss war unmittelbar vor Albys aufgerissenen Augen, und erst da sah er, dass in seinem Unterkiefer ein riesiges Kampfmesser steckte - Pooh Bears Kampfmesser.

Mit seiner freien Hand hatte Pooh Bear ausgeholt und es dem Biest gerade noch rechtzeitig in den Kiefer gerammt.

Dann aber sah Alby die Augen des großen Mannes. Sie waren weit aufgerissen und blutunterlaufen. Er hatte keine Luft mehr. Dieser Stoß, so schien es, war Pooh Bears letzte Tat auf Erden gewesen. Man konnte zusehen, wie die Kraft ihn verließ.

Von der anderen Seite kam ein zweites Krokodil heran, wieder griff es Alby an, die kleinste Beute. Diesmal wusste Alby, dass es keine Rettung mehr gab. Pooh war erledigt, und Astro war zu weit weg.

Das Krokodil glitt auf ihn zu, öffnete sein Maul und schoss heran.

Alby ging die Luft aus, und Helden waren auch keine mehr da. Er schloss die Augen und wartete auf das Ende.

Aber das Ende kam nicht.

Weder ein plötzlicher Schmerz noch ein Biss.

Alby öffnete die Augen und sah Jack West in einem Taucheranzug, wie er mit dem riesigen Krokodil rang, im Wasser herumwirbelte und kämpfte. Das Krokodil bäumte sich auf und schnappte nach ihm.

Und dann schob ihm plötzlich jemand einen Atemregler in den Mund, und Alby atmete herrliche Luft. Neben ihm schwebte Zoe im Wasser, auch sie hatte eine Tauchausrüstung an.

Schnell schwamm sie zu dem leblosen Pooh Bear und schob ihm den Atemregler in den Mund. Sofort kam er wieder zu sich. Zoe schwamm zu Astro.

Jack kämpfte indessen weiter mit dem Krokodil, in einem Strudel von Luftblasen wirbelte er mit ihm im Wasser herum.

Plötzlich sah Alby, wie das Krokodil fest in Jacks Hand biss -und nur Sekunden später, dass Jack seine Hand einfach wieder aus dem Maul des riesigen Ungeheuers hervorzog.

Und gerade als Alby wieder eingefallen war, dass Jacks linke Hand ja aus Metall war, da sah er, wie der Kopf des Krokodils unter Wasser explodierte und sich in einen roten Schleier verwandelte. Als es zubiss, hatte Jack offenbar eine Handgranate in seinem Maul gelassen.

In diesem Moment durchtrennte Zoe mit einem Schuss Albys Handschelle und danach die von Pooh Bear und Astro. Dann war Jack da und teilte mit ihm seine Atemluft und brachte Alby wieder zur Oberfläche zurück, der irgendwie noch am Leben war.

Gemeinsam durchbrachen sie die Wasseroberfläche und schwammen auf die Felseninsel zu. Jack schob Alby aus dem Wasser und den steilen Fels hoch, bis er sicher auf dem flacheren Ufer liegen konnte.

Als Nächstes wurden Pooh Bear und Astro hochgeschoben, am Ende dann Zoe. Jack behielt dabei die Krokodile im Auge, aber glücklicherweise waren die meisten damit beschäftigt, den Körper ihres nunmehr kopflosen Artgenossen aufzufressen.

Jack lag auf der Insel und schnappte nach Luft.

»Wie sind ... wie sind Sie rausgekommen?«, fragte Alby.

»Im Eingangstunnel lagen Krokodile«, antwortete Jack. »Sie sind durch einen anderen Eingang am anderen Ende hereingekommen, eine schmale Felsspalte, die vermutlich irgendwann einmal durch ein Erdbeben entstanden ist. Da sind wir raus.«

Jack stützte sich auf seinen Ellbogen und starrte zurück auf den See. »Sind sie nach Abu Simbel zurückgefahren?«

»Ja«, sagte Alby.

»Haben sie Lily mitgenommen?«

»Und Wizard. Sind Sie wütend, Mr. West?«

West spannte die Kiefermuskeln an. »Wütend ist nicht annähernd der richtige Ausdruck für das, was gerade in mir vorgeht, Alby.« Er schaltete sein Funkgerät ein. »Vulture? Scimitar? Könnt ihr mich hören?«

Das Funkgerät blieb still. Keine Antwort.

»Ich wiederhole! Vulture, Scimitar! Seid ihr noch am Landungssteg?«

Wieder kam keine Antwort. Stille im Äther.

Jack fluchte. »Wo zum Teufel sind sie denn hin?«

Zur selben Zeit erreichte Lieutenant Colin Ashmont in dem geraubten Zodiac den Landungssteg nicht weit von den großartigen Statuen von Abu Simbel. Er wurde flankiert von zwei kleineren Schnellbooten, die sie mitten auf dem See aufgeblasen hatten und die nun die restlichen elf Mitglieder seiner Marineeinheit an Bord hatten. Gerade kam auf einem Parkplatz nicht weit vom Landungssteg der erste Konvoi von Touristenbussen an.

Reisende aller möglichen Nationalitäten strömten aus den Bussen - Deutsche, Amerikaner, Chinesen und Japaner - und streckten sich und gähnten.

Ashmont stieß Lily und Wizard aus dem Zodiac und brachte sie zu zwei in der Nähe geparkten weißen Suburban-Transportern mit abgetönten Fenstern. Iolanthe ging raschen Schrittes vor, sie war ganz auf die Aufgabe konzentriert und trug Wests Rucksack mit der Säule darin.

Während Lily und Wizard zu den beiden britischen Suburbans geführt wurden, näherten sich aus dem nächststehenden Bus einige Reisende.

Es waren typisch japanische Touristen, vier ältere Männer, denen Nikon-Kameras vom Hals baumelten. Sie trugen immense Kamerawesten und Sandalen mit weißen Socken. Einer der Japaner rief Ashmont zu: »Halloo Sir! Entschuldigen bitte. Wo Statuen?« Ashmont, der mittlerweile über seinem Taucheranzug ein T-Shirt trug, ignorierte den Mann und ging einfach an ihm vorbei.

Lily wollte den Japanern etwas zurufen, wollte schreien ...

... aber dann sah sie, dass der erste Japaner Ashmont nicht aus den Augen ließ und offenbar etwas vorhatte. Und sie begriff, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmte.

Die vier japanischen Touristen hatten sich jetzt im Halbkreis um Ashmonts Wagen und sein Team gestellt.

Mit wild klopfendem Herzen starrte Lily auf ihre Gesichter. Alles was sie sah, waren stählerne Augen und entschlossene Mienen.

Dann erhaschte sie einen Blick auf den Unterarm eines der japanischen Männer ... und bemerkte eine Tätowierung. Eine Tätowierung, die sie schon einmal gesehen hatte. Es war das Tattoo einer japanischen Fahne über einem japanischen Schriftzeichen.

»Tank ...!«, rief sie aus. »O nein, nein ... Wizard, wirf dich zu Boden!«

Sie sprang auf den verblüfften Professor zu, umklammerte seine Beine und warf ihn um. Im selben Moment öffnete der japanische »Tourist«, der Ashmont am nächsten stand, seine Kameraweste, und zum Vorschein kamen sechs Stangen C-4 an seiner Brust. Dann drückte der freundliche ältere Herr auf einen Knopf in seiner Hand und explodierte.

Vier schockierend heftige Druckwellen fuhren durch die Luft, während alle vier japanischen Selbstmordattentäter sich einfach in eine Gischt aus Rauch, Feuer und Körperteilen verwandelten.

Im Umkreis von zwanzig Metern flogen sämtliche Scheiben aus den Autos und ließen Glasscherben herabregnen.

Ashmont wurde von der Explosion am heftigsten erwischt. Mit enormer Wucht wurde er gegen die Seite seines Suburban geschleudert und fiel zu Boden wie eine Stoffpuppe.

Drei seiner Männer, die den japanischen Selbstmordattentätern am nächsten gestanden hatten, waren sofort tot. Die anderen wurden in sämtliche Richtungen geschleudert. Iolanthe hatte weiter weg gestanden und war so von der Wucht der Explosion nicht ganz so stark getroffen worden. Sie wurde von der Druckwelle lediglich fünf Meter weit zurückgeschleudert, fiel hart auf die Erde, wobei sie sich den Kopf anschlug und bewusstlos liegen blieb.

Lily, die über Wizard zu Boden gegangen war, spürte, wie eine glühende Hitzewelle ihr über den Rücken strich, so als hätte ihr jemand einen Schlag auf die nackte Haut versetzt. Sie roch etwas Verbranntes, aber die Empfindung hielt nicht lange an, denn im nächsten Moment wurde sie ohnmächtig.

Der Einzige, der den Angriff vollkommen unbeschadet überstanden hatte, war Wizard, weil Lily ihn im letzten Moment umgeworfen und ihn so aus dem Wirkungsfeld der Explosion geschleudert hatte.

Mit klingelnden Ohren hob er den Kopf und sah Lily auf sich liegen. Ihre Bluse hatte Feuer gefangen!

Wizard wand sich unter ihr hervor und erstickte rasch mit seiner Jacke die Flammen. Dann hob er Lilys leblosen Körper hoch und stand fassungslos mitten in einem Gemetzel: Rauch, zertrümmerte Autos und die blutigen Überreste von Ashmonts Royal Marines.

Dann ein kreischender Schrei! Wizard wirbelte herum.

Die echten Touristen bei den echten Touristenbussen hatten die entsetzlichen Explosionen mitangesehen. Voller Angst, dass dies ein terroristischer Anschlag war wie der, der sich im Jahre 1997 am Totentempel der Hatschepsut ereignet hatte, stürzten sie zurück in ihre Busse.

Wizard blickte sich um, und sein Blick blieb an Iolanthe und dem Rucksack hängen, der neben ihr auf dem Boden lag.

Mit Lily im Arm hastete er zu der bewusstlosen Iolanthe und schnappte sich den Rucksack mit der Säule darin. Dann schwang er sich in einen von Ashmonts Suburbans, warf den Motor an und raste davon.

» Sky Monster! Sky Monster!«, brüllte Wizard in sein Funkgerät, während er von Abu Simbel in Richtung Süden jagte. Der Empfang war gut. Offenbar war Ashmonts Störsender durch die Selbstmordattentäter zerstört worden.

» Wizard! Wo habt ihr denn gesteckt? Seit zwanzig Minuten versuche ich schon, Kontakt zu euch zu bek... «

»Sky Monster, alles ist schiefgegangen!«, würgte Wizard ihn ab. »Die Briten haben uns überrumpelt, und dann sind sie selbst überrumpelt worden! Jetzt ist Lily bewusstlos, Jack in dem Schrein eingeschlossen und Alby, Pooh Bear und Astro hat man den Krokodilen im See zum Fraß vorgeworfen. Ach, der arme Alby ... «

»Alby geht es gut«, meldete sich eine andere Stimme. Jacks Stimme.

Rasch umrundete Jack die Pyramideninsel bis zur anderen Seite, immer am Uferstreifen entlang. Die anderen folgten ihm.

»Er ist bei mir. Pooh, Astro und Zoe auch. Wir sind alle in Sicherheit. Was ist passiert, Wizard?«

Wizards Stimme meldete sich: » Vier Männer, Japaner. Sie haben sich am Anlegesteg direkt neben Ashmonts Fluchtwagen in die Luft gesprengt. Es war ein Hinterhalt. Sie hatten auf uns gewartet. Beinahe schien es, als wollten sie die Säule zerstören. Ich sitze jetzt in einem der britischen Fluchtwagen und bin unterwegs nach Süden, weg von der Stadt.«

»Was ist mit Iolanthe und der Säule?«

»Sie ist zu Boden geschleudert worden, also habe ich mir die Säule geschnappt. Keine Ahnung, ob sie tot ist oder nicht.«

»Okay«, sagte Jack. »Ich will, dass ihr so weit wie möglich von hier wegfahrt, an einen Ort, wo Sky Monster euch aufgabeln kann. Sky Monster, Stretch! Ihr müsst uns ein Boot runterwerfen, damit wir zurück an die Küste kommen und uns mit Wizard treffen können ... «

Sky Monster meldete sich: »Ahm, Huntsman, ich fürchte, das wird kaum möglich sein.« Hoch im Himmel kreiste Sky Monster über Abu Simbel und spähte hinab auf den Nassersee und den Highway, der von Norden aus zur Stadt führte. Stretch saß neben ihm auf dem Kopilotensitz und sondierte ebenfalls die Landschaft unter ihm.

»Das will ich dir ja schon die ganze Zeit sagen«, fuhr Sky Monster fort. »Deshalb habe ich ja auch versucht, Kontakt zu euch zu kriegen. Die zweite Fahrzeugkolonne, die wir eben gesehen haben, ist jetzt nur noch drei Kilometer von der Stadt weg. Nähert sich schnell von Norden und besteht nicht aus Touristenbussen. Die Busse sind nur Tarnung. Es ist ein Militärkonvoi: Geschützfahrzeuge, gepanzerte Jeeps, Humvee-Gelan- defahrzeuge und Truppentransporter. Schätze, es ist die ägyptische Armee. Jemand hat ihnen einen Tipp gegeben. Treffen in etwa vier Minuten in der Stadt ein.«

Sky Monster und Stretch beobachteten den aus Norden kommenden Highway, ein dünnes schwarzes Band in dem eintönigen Gelb der Wüste.

Dort unten raste der Konvoi heran.

Angeführt wurde er von Touristenbussen, die eine Staubwolke hinter sich herzogen, in der sich Dutzende von Militärfahrzeugen. Lastwagen, Humvees und Jeeps mit Maschinengewehrlafetten verbargen. Alles in allem umfasste der Konvoi etwa fünfzig Fahrzeuge und ungefähr hundert Mann. »Verdammt beschissene Lage«, keuchte Sky Monster.

»Na schön. Der Plan bleibt der gleiche«, sagte Jack. »Wizard, du gibst Gas. Sieh zu, dass du da wegkommst, nimm den Highway und fahr in Richtung sudanesischer Grenze. Da kann dich Sky Monster irgendwo aufgabeln. Wir schlagen uns durch, so gut es geht, und versuchen zu euch zu stoßen.«

»Okay«, gab Wizard zweifelnd zurück.

Sky Monster sagte: »Achtung, Huntsman! Ich schicke dir zwei Pakete runter. Vorzeitige Weihnachtsgeschenke sozusagen. «

Jack blickte von seiner Felseninsel auf und sah die dunklen Umrisse der Halicarnassus im Morgenhimmel herankommen.

Dann sah er, wie die große 747 kaum dreißig Meter über dem See beidrehte. Als sie über ihn hinwegflog, fiel etwas an einem Fallschirm aus der hinteren Laderampe. Schnell schwebte es nach unten und landete mit einem lauten Klatschen etwa fünfundzwanzig Meter vor Jacks Felseninsel im Wasser.

Sobald es auftraf, warf das Ding seine Außenhaut ab und blies sich rasch auf - und entpuppte sich als ein brandneuer Zodiac mit Außenbordmotor.

»Frohe Weihnachten«, sagte Jack.

Wenige Momente später jagten er und die anderen in Richtung Westufer über den Nassersee.

Wenige Kilometer südlich der kolossalen Säulen von Abu Simbel erreichten sie an einer entlegenen Fischer-Anlegestelle das Ufer.

Kaum war der Zodiac an einen altersschwachen Steg geglitten, da fiel an einem zweiten Fallschirm eine Palette aus der Halicarnassus und landete kaum mehr als hundert Meter vor ihnen sanft im Wüstensand.

Auf der Palette stand ein kompakter Landrover vom Typ Freelander mit Allradantrieb. Er war von allem überflüssigen Ballast befreit und für militärische Zwecke umgerüstet worden.

Die Briten hatten ihn auf Mortimer Island an die Halicarnassus übergeben.

Am Steuer saß Stretch.

»Mitfahrgelegenheit gefällig?«

 

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Mit durchdrehenden Reifen fuhr der kleine Allrad-Geländewagen los.

Jack saß neben Stretch auf dem Beifahrersitz. Auf der Rückbank saßen zusammengequetscht Astro, Alby, Pooh Bear und Zoe inmitten eines Stapels an Waffen und Predator-Raketenwerfern, die Stretch mitgebracht hatte.

Jack versuchte es noch einmal auf dem Funkgerät. »Vulture! Scimitar! Bitte melden!« Keine Antwort. Eigentlich hatten die beiden den Anlegesteg bewachen sollen, aber als Wizard über den Selbstmordanschlag berichtet hatte, hatte er sie nicht erwähnt. Es sah so aus, als hätten sich die zwei unerlaubt von der Truppe entfernt.

Der kleine Freelander schoss durch den Wüstensand und wir 186

belte hinter sich eine Staubwolke auf. Sein Ziel war der asphaltierte Highway, der nach Süden führte.

Als sie ihn erreicht hatten, konnten Jack und die anderen die Jagd mit eigenen Augen beobachten. Weit vorn Wizards einsamer weißer Suburban und dahinter der Konvoi der Armee mit Bussen, Jeeps, Lastwagen und Humvees.

»Egal, was sonst passiert, auf jeden Fall müssen wir die gereinigte Säule sicher hier rausbekommen. Das Wissen, das auf ihr steht, ist unbezahlbar.«

»Wie wäre es damit, uns sicher hier rauszubekommen?«, fragte Stretch.

»Die Einzige, die zählt, ist Lily. Wir anderen sind zweitrangig. Auch wenn wir selbst nicht wegkommen, Lily müssen wir rausschaffen. Sie ist wichtiger als all wir anderen.« Er warf Stretch einen bekümmerten Blick zu. »Tut mir leid, Kumpel.«

»Gut zu wissen, welche Rolle ich in dieser Sache spiele.«

Jack deutete mit dem Kinn nach vorn. »Siehst du den letzten Bus da, der hinter den anderen Fahrzeugen zurückhängt?«

»Ja.«

»Den will ich.«

Wizard fuhr wie ein Wahnsinniger.

Er umklammerte das Steuer des gestohlenen Suburban und warf nervöse Blicke abwechselnd in drei Richtungen: auf die Straße vor ihm, den Konvoi und den Beifahrersitz, in dem Lily leblos hing und bei jeder Unebenheit der Straße durchgeschüttelt wurde. Sie hatte die Augen geschlossen, ihr Gesicht war mit blutigen Kratzern bedeckt.

Die Verfolger holten auf, sie füllten schon den gesamten Rückspiegel. Zwei furchterregend aussehende Humvees mit aufmontierten Geschütztürmen waren kurz davor, links und rechts zu dem Suburban aufzuschließen.

»Sky Monster«, brüllte Wizard, »wo bist du?«

»Hier!«

Wumm!

Ohne Vorwarnung donnerte die gewaltige schwarze Unterseite der Halicarnassus dicht über das Dach von Wizards Wagen hinweg und setzte vor ihm auf dem Highway auf. Dabei klappte die hintere Laderampe herunter, direkt vor Wizards dahinrasendem Wagen.

» Okay. Ich bremse jetzt ein bisschen! Sieh zu, dass du an Bord kommst!«, schrie Sky Monster.

Mit 130 Stundenkilometern rollte die große schwarze 747 über den Wüstenasphalt, dem Fahrzeugpulk auf dem Highway voran.

Wizard gab Vollgas.

Der Suburban machte einen Satz und schoss direkt auf die weit offene Laderampe des Jumbos zu.

In diesem Moment eröffneten die beiden Humvees das Feuer.

Funken sprühend schlugen überall im Suburban und im Flugzeug Kugeln ein, selbst im Innern des Frachtraums.

Das Rückfenster und die Seitenfenster des Suburban zersplitterten. Wizard duckte sich und hielt sich eine Hand vors Gesicht.

Doch er hielt weiter Kurs auf die Rampe der Halicarnassus.

Der Suburban fing an zu schleudern und auszubrechen, aber Wizard hielt das Steuer fest umklammert. Noch einmal drückte er das Gaspedal voll durch und machte einen Satz auf die Laderampe hinauf. Er traf sie optimal und flog in den hinteren Frachtraum der Hali, wo er mit voller Wucht in die Trennwand krachte.

Ruckartig kam der Suburban zum Stehen. Sie waren geborgen.

»Mein Gott, ich hab's geschafft!«, rief Wizard aus.

»Mensch Wizard, du hast's geschafft!«, erwiderte Sky Monster. »Mann, ich dachte schon, du würdest uns um einen Meter verfehlen! War ein gutes Rennen, Fangio ...«

Wizard wandte sich zu Lily um und sah, dass ihre Augen sich ein wenig öffneten. »Hallo, meine Kleine. Schön, dass du wieder wach ... «

Ein heftiger Ruck ihres Wagens unterbrach ihn. Einer der ägyptischen Humvees war hinter ihnen die Rampe hochgeschossen und in sie gekracht!

Wizard wurde nach vorn geschleudert, doch sofort drehte er sich um und sah den Eindringling.

Seine Instinkte waren sofort hellwach.

Er legte den Rückwärtsgang ein und drückte aufs Gas.

Der Suburban machte einen Satz zurück und krachte in den Humvee. Er schickte ihn wieder die Rampe hinunter und aus dem Flugzeug, zurück ins Sonnenlicht, wo der unglückselige Geländewagen mit angezogenen Bremsen auf die Straße traf, umkippte und sich mehrfach überschlug.

»Sky Monster«, funkte Wizard aus dem Frachtraum, »zieh die Rampe hoch, und dann los!«

»Alles klar, Wiz.«

Die Triebwerke der Hali heulten auf, als Schub für den Start aufgebaut wurde. Gleichzeitig hob sich die Laderampe, und durch die sich langsam schließende Lücke beobachtete Wizard den hinterherjagenden Konvoi, eine Phalanx schwer bewaffneter Fahrzeuge.

Als die Rampe etwa zur Hälfte geschlossen war, sah er, wie sich der Konvoi plötzlich teilte und einem Geländewagen Platz machte, der nach vorn raste: einem Humvee mit einer aufmontierten Geschützlafette.

Der Humvee feuerte, und eine einzelne Rakete schoss aus dem Rohr. Wizard riss die Augen auf bei dem Gedanken, dass die Rakete in den Frachtraum krachen und dort explodieren könnte, aber stattdessen drehte sie zur Seite ab und schoss aus Wizards Blickfeld.

Daneben. Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

Doch schon im nächsten schrecklichen Moment wurde ihm klar, dass der Schuss nicht danebengegangen war.

Denn da hörte er, wie eines der beiden Steuerbord-Triebwerke der Hali getroffen wurde.

Es war kein schlechter Treffer. Die Rakete krachte in das äußere Steuerbord-Triebwerk der Halicarnassus und ließ es in tausend Stücke explodieren. Nun zogen sie eine dicke Rauchfahne hinter sich her.

»Verflucht noch mal!«, schrie Sky Monster, während er alle möglichen Schalter umlegte, um die Treibstoffzufuhr zu unterbrechen. Er kappte alle Leitungen, damit sich das Kerosin nicht an dem explodierten Triebwerk entzündete und bis zu den Tanks in den Tragflächen vordrang.

Aus dem Cockpitfenster warf er einen Blick nach Steuerbord. Vom Triebwerk waren nur noch verbeultes Metall und Rauch zu sehen. Er würde es absprengen müssen. Ein Start war immer noch möglich, aber mit nur drei Treibwerken würde er erheblich schwieriger werden. Sie brauchten eine längere Startbahn.

Der Schaden war angerichtet.

Das Flugzeug wurde langsamer.

Und der Konvoi war ihnen auf den Fersen.

Ein unglaublicher Anblick!

Ein 747-Jumbo, der über einen verlassenen Wüstenhighway raste und von einer Horde Militärfahrzeuge verfolgt wurde, von Humvees, Jeeps, Trucks und Bussen, die alle mit weit über 100 Stundenkilometern dahinrasten. Wie eine Rotte Hyänen, die einen verwundeten Wasserbüffel zur Strecke bringen wollte.

Als er in Schlagdistanz war, griff der Konvoi an.

Natürlich war ihre erste Maßnahme, auf die Reifen der Hali zu schießen, doch das große Flugzeug besaß Radkästen aus Kevlar, die sie schützten. Die Kugeln prallten einfach ab.

Deshalb verlegten sich die Jäger auf eine andere, heimtückischere Strategie.

Der erste Truck schoss vor und brachte sich unter die linke Tragfläche der Hali. Dort wurde die Plane abgeworfen, und zum Vorschein kam eine Gruppe bis an die Zähne bewaffneter ägyptischer Elitesoldaten.

Ohne Umschweife machten sie sich daran, das Flugzeug nach Standardmethode zu erstürmen. Sie sprangen auf das Dach der Fahrerkabine und hievten sich von dort auf den tiefsten Punkt der Tragfläche, der Stelle, wo sie mit dem Rumpf der Halicarnassus verbunden war.

Hilflos verfolgte Sky Monster aus dem Cockpit das Geschehen. »Oh verdammt, verdammt, verdammt!«

Er wechselte zum Fenster auf der anderen Seite und sah, wie ein Bus randvoll mit Soldaten unter die Steuerbord-Tragfläche einschwenkte. Auch dort kletterten Männer durch eine Luke auf das Dach und bereiteten sich auf die Erstürmung der Tragfläche vor.

»Scheiße noch mal!«

Wizard hatte mit Lily das Cockpit erreicht. »Was ist los?«

»Wir haben Triebwerk vier verloren, und jetzt kommen sie über die Tragflächen an Bord!«, gab Sky Monster zurück. »Und dagegen können wir gar nichts machen! Sie sind wie Flöhe, die ich nicht abschütteln kann.«

»Du musst was unternehmen ...!«

»Wizard! Ich weiß nicht, wie viele Piloten schon mal in so einer Lage gewesen sind. Ich geb mir Mühe, okay?« »Können wir abheben?«

»Ja, aber dafür brauche ich eine verdammt lange Startbahn.« Wie wild lenkte Sky Monster die Halicarnassus abwechselnd nach links und rechts.

Die Soldaten draußen auf der Tragfläche taumelten, versuchten auf den Beinen zu bleiben und Halt zu finden, wo es nur ging. Einer fiel schreiend von der Tragfläche auf die Straße.

Bald jedoch hatten sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden, und aus dem Bus unter der Steuerbord-Tragfläche kamen noch mehr Soldaten.

Die Halicarnassus schoss über den Wüstenhighway, konnte aber nicht abheben. Und sie wurde belagert.

Im Cockpit entfaltete Wizard umständlich eine Karte. »In vier Kilometern kommt ein gerades Autobahnstück, etwa drei Kilometer lang. Danach geht es bis zur sudanesischen Grenze durch die Berge, und es kommen nur noch Kurven.«

»Dann ist das eben unsere Startbahn«, knurrte Sky Monster.

»Unsere einzige Startbahn.«

Immer wieder spähte Sky Monster nervös aus dem Steuerbordfenster. »Wizard, traust du dir zu, das Ding ein paar Minuten lang zu steuern?«, fragte er und stand abrupt auf.

»Steuern?« Wizard wurde blass. »Ich kann noch nicht mal besonders gut Auto fahren, Sky Monster.«

»Dann hast du ja jetzt Gelegenheit zu üben. Hier, pass mal auf. Ich zeige dir, wie ...« Etwa anderthalb Kilometer hinter dem verzweifelten Kampf um die Hali zuckelte der letzte Bus der ägyptischen Armee gemütlich an dem ihm zugewiesenen Platz in der Kolonne. Alle an Bord verfolgten gespannt die spektakulären Ereignisse weiter vorn.

Es fiel ihnen überhaupt nicht auf, dass der kleine Freelander-Landrover, mittlerweile mit Pooh Bear am Steuer, hinter ihnen auf den Highway abbog. Auch bemerkten sie nicht, dass er sich bis an ihre hintere Stoßstange heranschlich. Und ebenso wenig, dass drei Gestalten - West, Astro und Stretch - auf die Motorhaube des Freelanders kraxelten und danach die an der Rückseite des Busses befestigte Leiter hinaufkletterten.

Dann tänzelten die drei kleinen Gestalten über das Dach des dahinrasenden Busses. Kurz machten sie Halt, um zwei von Astros Betäubungsgranaten durch eine Luke zu werfen.

Schon im nächsten Moment waren alle Insassen bewusstlos, und der Bus begann über den Asphalt zu schlingern. Auf dem Bauch liegend griff West nach unten und entriegelte die Sicherheitssperre an der Vordertür des Busses. Dann schwang er sich hinein, gefolgt von seinen beiden Waffenbrüdern.

Im Bus zerrte West, der jetzt eine Atemschutzmaske trug, den bewusstlosen Fahrer vom Fahrersitz und übernahm das Steuer.

Er spähte auf die Straße vor ihm. Vor dem Konvoi sah er die beschädigte Halicarnassus, aus ihrer rechten Tragfläche waberte Rauch, und nahe am Rumpf lungerten zu beiden Seiten die Feinde.

Astro kontrollierte den Rest des Busses. Überall waren Kämpfer in sich zusammengesackt, alle einfache Soldaten.

»Sie gehören zur ägyptischen Armee«, sagte er und zerrte an der Uniform eines der Männer.

»Wie in vielen afrikanischen Ländern kann man auch die ägyptische Armee manchmal anheuern«, erwiderte Jack. »Wenn man genügend Kohle und die richtigen Kontakte hat, kann man sich für ein oder zwei Tage gleich vor Ort ein paar Schläger mieten. Die Frage ist: Wer bezahlt diesmal für diese Dienstleistung der Ägypter? Und jetzt ist es, glaube ich, an der Zeit, dass wir mal die Straße freiräumen und diese Mistkerle von unserem Flugzeug runterholen. Stretch, die Windschutzscheibe da brauche ich nicht mehr.«

Stretch trat vor und feuerte aus seiner Maschinenpistole eine Garbe in die Windschutzscheibe. Sie zerbarst und war im nächsten Moment verschwunden. Wind schlug ihnen entgegen.

»Gentlemen«, sagte West und zog seine Atemschutzmaske herunter, »auf die Reifen.« Während der Fahrtwind in den Bus fegte, gab West Vollgas und beschleunigte den Bus auf über 140 Stundenkilometer. Während Stretch und Astro aus der zerschossenen Windschutzscheibe auf die Hinterreifen der anderen Busse feuerten, raste West durch den Konvoi.

Mit lautem Knall platzten die Reifen der anderen Busse. Die Fahrer waren darauf nicht gefasst, und die Busse fingen wie verrückt an zu schlingern, kamen von der Fahrbahn ab und landeten auf dem Sandstreifen. West raste an ihnen vorbei, immer weiter nach vorn.

Nachdem sie vier Busse erledigt hatten, bemerkte man in einem der ägyptischen Humvees, dass sich in dem Bus hinter ihnen Feinde befanden, und das Turmgeschütz wurde in Jacks Richtung gedreht. Gerade noch rechtzeitig erwischte Stretch den Geländewagen mit einer Predator. Der Humvee explodierte und hob komplett von der Straße ab, bevor er sich überschlug und in den Sand rollte.

Ein anderer Jeep bemerkte sie und wendete sein Geschütz, doch West rammte ihn mit dem Bus und schickte ihn schleudernd wie ein Spielzeug von der Fahrbahn.

»Pooh Bear!«, schrie er in sein Funkgerät. »Bleibt hinter uns! Wir schirmen euch ab, bis wir die Laderampe der Hali erreicht haben.«

»Roger!«, gab Pooh Bear am Steuer des Freelanders zurück.

Zoe und Alby neben ihm spähten nach vorn auf Jacks erbeuteten Bus und die feindliche Fahrzeugkolonne davor.

Sie waren jetzt nur noch etwa sechzig Meter hinter der Halicarnassus, auf der sie etwa ein Dutzend Gestalten ausmachen konnten, sechs auf jeder Seite. Sie hatten sich an den Notausgängen versammelt. Noch vier Busse und ein paar Humvees befanden sich zwischen ihnen und der fliehenden 747. All diese feindlichen Fahrzeuge hatten sich mittlerweile unter den Tragflächen des Flugzeugs versammelt.

Über Funk hörten sie Jack aus dem erbeuteten Bus zu ihnen sprechen: »Sky Monster, melde dich! Du musst uns die hintere Rampe runterlassen!«

Doch seltsamerweise gab Sky Monster keine Antwort.

In ebendiesem Moment gelang es den ägyptischen Soldaten auf der linken Tragfläche der Halicarnassus, den Notausgang zu öffnen. Sie rissen die Luke auf. Wumm!

Durch eine volle Schrotladung wurde der erste ägyptische Soldat von den Beinen geholt.

Alle anderen brachten sich in Deckung. Wie ein Berserker stand Sky Monster in der Luke und lud eine zwölfkalibrige Remington durch, bereit für den nächsten Schuss. »Runter von meinem Flugzeug, ihr Mistkerle!«, brüllte der bärtige Neuseeländer. Ohne dass er es bemerkt hätte, baumelte der Ohrhörer seines Funkgeräts nutzlos an seinem Ohr. Als Sky Monster sich vom Cockpit nach hier vorgekämpft hatte, war er ihm herausgefallen.

Wizard steuerte zur selben Zeit vorn im Cockpit das dahinrasende Flugzeug. Er konnte es nicht wirklich, aber im Moment war irgendeiner am Steuerknüppel immer noch besser als gar keiner.

» Verdammt!«, fluchte Jack. »Ich kriege keine Verbindung zu Sky Monster. Wie soll ich da die Laderampe aufkriegen!«

Aus seinem dahinjagenden Bus heraus starrte er auf die Halicarnassus und überlegte, auf welche Weise er sonst an Bord kommen könnte. Da lehnte sich Astro vor und fragte: »Kann ich einen Vorschlag machen?«

Dabei holte er eine ungewöhnliche Waffe aus seinem Halfter und reichte sie Jack. Sekunden später standen Jack und Astro erneut auf dem Dach ihres dahinrasenden Busses. Diesmal allerdings konzentrierten sie sich auf die mächtige Heckflosse der Halicarnassus, die unmittelbar über ihnen schwebte.

Astro hielt seine seltsame Waffe in der Hand.

Es war ein Gerät, das ausschließlich die Elitetruppe des United States Marine Corps benutzte, die Force Reconnaissance Marines: ein Armalite MH-12 A Maghook.

Die Maghook sah aus wie eine zweiläufige Maschinenpistole, doch tatsächlich handelte es sich um einen Enterhaken, der zusammen mit einem fünfzig Meter langen Polyäthylenkabel per Druckluft abgefeuert wurde. Durch seinen klauenförmigen Ankerhaken konnte man ihn entweder wie einen klassischen Enterhaken oder als Magnethaken einsetzen. Sein hochleistungsfähiger Magnetkopf hielt an jeder glatten Metalloberfläche. Die A-Variante war eine Neuentwicklung und kleiner als der ursprüngliche Maghook, nicht größer als eine große Pistole.

»Ich habe schon von den Dingern gehört, aber noch nie eins gesehen«, sagte Jack. »Sollte man immer dabeihaben«, gab Astro zurück und feuerte den Maghook auf die Heckflosse der Halicarnassus ab. Mit einem kleinen Knall wie bei einer Reifenpanne schoss der Magnethaken durch die Luft und zog das Kabel hinter sich her.

Der Haken knallte gegen die hohe Heckflosse der Hali - und hielt. Sein Magnet saugte sich an die große, stählerne Finne und saß fest.

»Gut festhalten!«, erklärte Astro, reichte West den Maghook und drückte auf einen Knopf, auf dem RETRACT stand.

Sofort wurde Jack vom Dach des dahinrasenden Busses gefegt und von dem kraftvollen Bandspuler nach oben gezogen.

Er erreichte die Höhe der Heckflosse der Halicarnassus und schwang sich auf die ebenen Seitenflossen. Als er sicher auf dem Flugzeug war, machte er den Maghook los und wollte ihn wieder Astro zuwerfen, damit der nachkommen konnte.

Doch Astro erhielt keine Chance mehr, Jack zu folgen, denn in diesem Moment wurde sein Bus seitwärts von einem der ägyptischen Reisebusse gerammt. Ein heftiger Schlag, der Astro von den Beinen und beinahe sogar vom Dach holte.

Stretch, der am Steuer saß, lenkte nach rechts und starrte im nächsten Moment in die grimmigen Augen des Fahrers im anderen Bus.

Der Fahrer hob eine Glock-Pistole und zielte auf Stretch.

Als Antwort zog Stretch einen Predator-Raketenwerfer heraus, hielt ihn wie eine Pistole und feuerte.

Die Predator durchschlug das Fenster seiner Automatiktür und bohrte sich in den gegnerischen Bus. Eine Sekunde später leuchtete im neben ihm fahrenden ägyptischen Bus ein gleißender Lichtblitz auf, bevor das Fahrzeug wie ein Knallfrosch in tausend Stücke flog.

In der Halicarnassus bewachte Sky Monster die offene Backbordluke. Der Wind zerrte an ihm, doch er hielt seine Schrotflinte ruhig und würde auf jeden schießen, der es wagte, seinen Kopf durch die Luke zu stecken.

Ohne Vorwarnung huschten auf dem Backbordflügel zwei Soldaten an ihm vorbei. Sky Monster feuerte, traf aber nicht, weil sie zu schnell waren. Eine Sekunde lang fragte er sich, was sie vorgehabt hatten, aber die Positionsverlagerung hatte ihnen nichts eingebracht. Dann plötzlich wurde ihm klar, dass es sehr wohl etwas gebracht hatte:

Sie hatten seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

Praktisch im selben Moment wurde die Luke auf der Steuerbordseite aufgestoßen und von ägyptischen Nahkampfspezialisten gestürmt.

Noch mehr heftiger Wind schlug in die Kabine.

Erst einer, dann zwei und dann drei Soldaten drangen mit schussbereiten AK-47- Sturmgewehren ein, bereit, den vollkommen schutzlosen Sky Monster zu durchsieben.

Peng! Peng! Peng!

Eine Salve von Schüssen hallte durch die Kabine.

Sky Monster rechnete damit, im nächsten Moment in dem Feuerhagel zusammenzubrechen, doch stattdessen waren es die Eindringlinge, die zu Boden gingen, ihre Körper von Kugeln durchsiebt.

Während sie noch fielen, wirbelte Sky Monster herum und sah dann, wer sie erschossen hatte: Jack. Er stand auf der Backbordtragfläche, seine Desert Eagle rauchte. Offenbar hatte er von hinten über Sky Monsters Schulter geschossen.

Sky Monster stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, während Jacks Augen vor Entsetzen groß wurden. »Achtung, Monster!«

Verunsichert wirbelte Sky Monster herum und sah, dass einer der drei am Boden liegenden Ägypter zwar getroffen, aber nicht tot war. Jetzt schnellte in seiner blutigen Hand urplötzlich eine Pistole hoch, mit der er ihn aus nächster Nähe aufs Korn nahm. Der Ägypter betätigte den Abzug - doch da sauste wie aus dem Nichts ein brauner Schemen an ihm vorbei und im nächsten Moment war die Waffe des Ägypters weg.

Es war Horus.

Jacks kleiner Falke, der während des Einsatzes in Abu Simbel an Bord der Hali geblieben war. Jetzt hatte er dem Angreifer die Waffe aus den blutigen Fingern geschnappt.

Jack marschierte an Sky Monster vorbei und beförderte den geschockten Ägypter mit einem Tritt aus der Steuerbordluke. Plötzlich herrschte Stille in der Kabine, eine kurze Ruhepause.

Horus landete auf Jacks Schulter und hielt ihm die Pistole des Ägypters hin. »Gut gemacht, mein Vögelchen«, sagte Jack, trat zurück zu Sky Monster und steckte ihm den Ohrstöpsel des Funkgerätes zurück ins Ohr. »Wenn du dich hier unten rumtreibst, wer sitzt dann am Steuerknüppel?«

»Wizard.«

»Wizard kann sich kaum auf einem Fahrrad halten«, gab Jack zurück. »Marsch zurück nach oben, du musst uns die hintere Rampe aufmachen. Wir müssen die anderen an Bord holen. Ich bewache hier unten die Eingänge.«

»Warte, Jack, ich muss dir noch was sagen. Wir haben bald keine freie Strecke mehr. Mit nur drei Treibwerken brauchen wir zum Abheben eine längere Startbahn, und der Abschnitt, der jetzt vor uns liegt, ist unsere letzte Chance.« »Wie lange noch, bis wir da sind?«

»Höchstens noch ein paar Minuten. Jack, was soll ich machen, wenn ... wenn bis dahin nicht alle an Bord sind?«

»Wenn es dazu kommt, dann schaffst du Wizard, Lily und die Säule hier raus. Das hat oberste Priorität«, entgegnete Jack ernst und schlug Sky Monster auf die Schulter. »Aber vielleicht bleibt dir diese Entscheidung ja erspart.«

»Roger«, sagte Sky Monster und stürzte die Treppe hoch zurück aufs Oberdeck. Nachdem ihr erster Versuch fehlgeschlagen war, verdoppelten die Ägypter nun ihre Anstrengungen, die 747 zu erstürmen. Zwei weitere Busse schwenkten hintereinander fahrend unter die rauchende rechte Tragfläche der Halicarnassus ein und spuckten Männer aus, die über die Dächer der beiden Busse liefen und dann auf die Tragfläche sprangen. Dort wartete Jack schon auf sie.

Er hockte halb hinter der Lukenklappe verborgen mitten im heftigen Wind und feuerte ohne Unterlass auf die heranstürmenden Soldaten.

Aber kaum hatte er einen Mann niedergestreckt, erschien an seiner Stelle ein anderer. Lange würde er nicht mehr durchhalten können. Ein schneller Blick über die Schulter, und er sah, dass der Highway ein Stück weiter vorn eine Kurve beschrieb. Dahinter lag ... die lange Gerade.

Ihre letzte Fluchtgelegenheit.

Jetzt heißt es schnell handeln, Jack ...

Über ihm schlugen Kugeln in die Luke ein, und er sah die nächste Welle ägyptischer Angreifer auf sich zurollen. Zu seinem Entsetzen stellte er fest, dass die Neuen leichte Schutzschilde trugen, denen ähnlich, die Polizisten bei Ausschreitungen trugen. Sogar Augenschlitze hatten sie.

Was für ein Mist!

Peng!

Jack feuerte und der erste Angreifer, der sich auf der Tragfläche blicken ließ, wurde mitten durch den Schlitz ins Auge getroffen.

Das läuft total aus dem Ruder, dachte Jack.

Er schaute auf die Straße hinter ihnen, und ein verzweifelter Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit.

Der Feind hatte Verstärkung bekommen ...

... und zwar in Gestalt sechs amerikanischer Apache-Helikopter, die, aus Richtung Abu Simbel kommend, niedrig über den Highway donnerten. Während sie durch die dunstige Hitze dröhnten, kam unter ihnen eine neue Armada von Militärfahrzeugen heran, dieses Mal amerikanische Wagen.

»Schätze, jetzt wissen wir, wer hier die Rechnung zahlt«, keuchte Jack, als der führende Hubschrauber auch schon zwei Hellfire-Raketen in seine Richtung abfeuerte. »Sky Monster!«

Sky Monster stürzte ins Cockpit der Halicarnassus und rutschte auf den Pilotensitz. Dabei drückte er schon auf den Knopf LOADING RAMP OPEN.

Sofort schwenkte die Laderampe der Halicarnassus auf und schlug Funken stiebend auf die Fahrbahn, die unter ihnen dahinraste.

Dann brüllte Jack in sein Ohr: »Sky Monster! Gegenmaßnahmen einleiten! Schnell, schnell, schnell!«

Sky Monster hieb auf einen Knopf mit der Aufschrift CHAFF DECOYS, und im selben Moment sprangen aus dem Schwanz der Hali so etwas wie Feuerwerkskörper und schössen hoch in die Luft.

Die erste Hellfire-Rakete verfehlte eine der Blendraketen und explodierte weit über der dahinrasenden Halicarnassus, ohne Schaden anzurichten.

Die zweite Rakete, die durch die Blendraketen zwar irregeführt, aber nicht endgültig abgelenkt war, schoss direkt an ihnen vorbei und schlug neben der rechten Tragfläche der 747 auf der Straße ein. Das gesamte Flugzeug erzitterte heftig, und zwei Busse der ägyptischen Spezialeinheit, die die Tragfläche belagerten, wurden beinahe getroffen.

Es herrschte das totale Chaos.

Mitten in diesem Hexenkessel nahmen das Flugzeug und seine Verfolger noch einmal eine Kurve und bogen auf den letzten geraden Straßenabschnitt auf ägyptischem Boden ein.

Überall war nun der Teufel los.

Sky Monster brüllte in sein Funkgerät: »Leute, was immer ihr vorhabt, macht es bald, weil uns die Startbahn knapp wird.«

Stretch nahm in seinem Bus hinter der Halicarnassus gerade die letzte Kurve, da sah er, wie ein dritter ägyptischer Bus mit Männern auf dem Dach sich unbemerkt unter die rechte Tragfläche des Flugzeugs schob.

»Pooh Bear!«, funkte Stretch an den Freelander hinter sich. »Du musst allein auf die Rampe kommen! Ich muss mich um den Bus da kümmern.«

»Alles klar«, antwortete Pooh Bear.

Stretch scherte nach links aus und gab Gas. Pooh Bears Freelander war jetzt nur noch zehn Meter hinter der mittlerweile offenen Laderampe der Halicarnassus.

Mit Vollgas rammte Stretchs Bus seinen Gegner, worauf dieser in wildes Schleudern geriet. Die Reifen des feindlichen Busses rutschten vom Asphalt auf den Sand des Seitenstreifens, wo sie vollends die Bodenhaftung verloren und außer Kontrolle gerieten. Der gesamte Bus kippte spektakulär um und überschlug sich mehrere Male in einer riesigen Rauch- und Staubwolke.

Im Freelander mit Zoe und Alby drückte Pooh Bear das Gaspedal voll durch und beschleunigte, seine Augen waren auf die Laderampe der Hali fixiert.

Der kleine Freelander sauste über den Highway und holte zum Flugzeug auf, da rief Alby plötzlich: »Pass auf!« Gerade noch rechtzeitig riss Pooh Bear das Steuer herum und entging so dem kamikazeartigen Angriff eines Humvees von rechts.

Der Humvee verfehlte sie nur um Zentimeter, schoss über den Fahrbahnrand und jagte in den Sand.

»Danke, Kleiner!«, rief Pooh Bear.

In dem Moment klingelte Zoes Mobiltelefon. Da sie dachte, es sei Wizard oder einer der anderen, antwortete sie mit: »Was gibt's?«

»Oh, hallo«, meldete sich am anderen Ende eine angenehme weibliche Stimme. »Sind Sie das, Zoe? Hier ist Lois Calvin, Albys Mutter. Ich wollte nur mal anrufen und hören, wie es so geht auf der Farm.«

Zoe erbleichte. »Lois! Äh, hallo! Hier ist alles ... prima.«

»Ist Alby da?«

»W ... was?«, stammelte Zoe und versuchte immer noch die Absurdität dieses Anrufs zu verarbeiten. Schließlich reichte sie das Telefon einfach an Alby weiter. »Es ist deine Mutter. Sei bitte diskret.«

Eine Rakete sauste über sie hinweg.

»Mom?«, meldete sich Alby.

Die andere Hälfte der Unterhaltung verstand Zoe nicht, sie hörte nur, wie Alby sagte: »Wir sind mit dem Jeep zur Pferdekoppel im Osten unterwegs ... ich hab totalen Spaß... nein, nein, wir haben nie Langeweile ... Lily geht's gut... mache ich ... ja, Mom ...ja doch, Mom ... in Ordnung, Mom, tschüs!«

Er beendete das Gespräch und reichte das Telefon zurück.

»Gut gemacht, Kleiner«, meinte Zoe.

»Meine Mutter würde die Motten kriegen, wenn sie wüsste, wo ich gerade bin«, antwortete Alby.

»Meine auch«, knurrte Pooh Bear und brachte den Freelander direkt hinter die Halicarnassus. Schon wollte er die Rampe hochschießen, da wurden sie - Paaf! - mit voller Wucht von links getroffen. Noch ein Humvee, den keiner von ihnen bemerkt hatte.

Der Freelander wurde heftig nach rechts geschleudert und hielt nun nicht mehr auf die Rampe der Halicarnassus zu. Stattdessen drückte der Humvee ihn krachend in die Seite eines der beiden Busse, die die Steuerbord-Tragfläche des Flugzeugs angriffen.

»Mist!«, schrie Pooh Bear.

An der rechten Tragfläche kämpfte Jack immer noch gegen heranstürmende ägyptische Soldaten an. Er feuerte wie wild, während Horus nicht weit weg in der Luft schwebte. Da sah er, wie unter der Tragfläche der dahinrasenden 747 plötzlich der Freelander auftauchte. Der kleine Geländewagen wurde von einem viel größeren Humvee gegen einen der ägyptischen Busse gedrückt.

Seltsamerweise galt Jacks erster Gedanke Lilys Freund Alby. Lilys treuem Freund, der immer noch in dem Freelander saß. Und plötzlich tauchte irgendwo in Jacks Kopf die Gewissheit auf, dass Albys Schicksal mit dem von Lily verknüpft war, dass er sie irgendwie stützte, ihr Kraft gab. In diesem Moment wusste Jack, dass er nicht zulassen durfte, dass dem Jungen etwas zustieß. Zoe und Pooh Bear konnten auf sich selbst aufpassen, aber nicht Alby.

Jack handelte.

»Bis später, Vögelchen«, sagte er zu Horus. »Wenn du mir irgendwie Rückendeckung geben kannst, wäre ich dir sehr verbunden.«

Genau in diesem Moment versuchten zwei weitere ägyptische Elitesoldaten, die Steuerbord-Tragfläche zu erklimmen. Beide trugen sie Schutzschilde. Im selben Moment preschte Jack aus seiner Deckung auf die Tragfläche und erschoss beide durch die Augenschlitze. Im Vorbeilaufen schnappte er sich von einem der Toten seinen Schutzschild, dann sprang er hinunter auf das Dach des ersten ägyptischen Busses, der unter der Tragfläche fuhr.

Dort warteten nicht weniger als sieben ägyptische Elitekämpfer auf ihn.

Für einen Sekundenbruchteil waren sie geschockt, ihn zu sehen - ein Einzelner griff sie allein an?

In diesem Moment schoss Horus auf sie herab, seine Krallen schlugen zu, rissen dem ersten Soldaten drei tiefe Wunden ins Gesicht und brachten den zweiten aus dem Gleichgewicht.

Das gab Jack die Sekunde, die er brauchte, denn er hatte nicht vor, sich lange auf dem Dach aufzuhalten. Mit dem Schutzschild in der Hand drehte er sich schnell um und sprang von der Vorderkante direkt vor die Windschutzscheibe. Noch beim Fallen befestigte er den Magnetkopf von Astros Maghook vorn am Dach. Vor der Windschutzscheibe des dahinrasenden Busses schwang er sich nach unten und erschreckte den Fahrer zu Tode. Noch weiter hinunter, und kurz bevor er auf der dahinschießenden Fahrbahn aufkam, schob er den Kevlar-Schild unter sich wie ein kleines Surfbrett.

Im nächsten Moment war er unter der Stoßstange des riesigen Busses verschwunden. Rücklings auf dem Schild liegend, glitt er unter dem Bus von vorn nach hinten, wobei er sich an dem Kabel des Maghook festhielt.

Unterwegs umklammerte er seine Desert Eagle und feuerte in jedes wichtige Fahrzeugteil, das er entdecken konnte: die Achsen, die Elektronik, die Bremsschläuche und die Flüssigkeitsbehälter. Und kaum war er hinter der rückwärtigen Stoßstange zum Vorschein gekommen, fing der Bus wie wild an zu schleudern, geriet vollkommen außer Kontrolle und kam von der Fahrbahn und dem Flugzeug ab.

Jacks Rutschpartie war aber noch nicht vorbei.

Der zweite ägyptische Bus, der Poohs Freelander einklemmte, war direkt hinter dem ersten hergefahren. Jetzt ließ Jack sich auf seinem Schild unter ihn gleiten.

Während er unter den zweiten Bus verschwand, drückte er auf einen Knopf am Maghook, und das Kabel rollte sich schnell auf.

Jetzt glitt Jack frei unter dem zweiten Bus dahin. In kaum einem Meter Entfernung sah er die wirbelnden Reifen des Freelanders und dahinter die größeren Räder des Humvees. Mit einer Hand feuerte er seitlich zwischen den Rädern des Freelanders hindurch auf die Reifen des Humvees - und traf.

Sofort geriet der Humvee außer Kontrolle und schlingerte weg -doch eine Sekunde zuvor waren noch zwei ägyptische Soldaten auf den Freelander gesprungen und attackierten nun Pooh Bear.

Obwohl Pooh Bear gegen die zwei Männer ankämpfte, gelang es ihm, den Freelander von dem Bus wegzuziehen. Noch einmal nahm er die hintere Laderampe der Halicarnassus ins Visier. Sie war jetzt unmittelbar vor ihm.

Zoe lehnte sich nach vorn, um Pooh gegen die zwei Angreifer beizustehen, doch in dem Moment geriet der Freelander ins Schleudern. Wenn sie jetzt Vollgas gaben, würden sie gegen eine der Streben der Rampe krachen und elendig zerschellen.

Auch Pooh Bear hatte das offenbar erkannt. Er hielt die beiden Männer umklammert, die ihn angriffen, und für einen kurzen Moment traf sich sein Blick mit dem von Alby und Zoe.

»Seht zu, dass ihr hier wegkommt«, blaffte er.

Und noch bevor sie ihn abhalten konnten, sprang Pooh Bear von dem rasenden Freelander und riss die beiden überrumpelten ägyptischen Soldaten mit.

Sich überschlagend und durcheinander wirbelnd kamen sie zusammen auf der Fahrbahn auf, wobei Pooh dafür gesorgt hatte, dass seine Angreifer die Hauptwucht des Aufpralls abbekamen.

Alby wandte sich ruckartig um und sah, wie sie auf dem Highway zurückblieben, während Zoe auf den Fahrersitz kletterte und das Steuer nahm. Sie hatten jetzt freie Fahrt bis zur Laderampe.

Zoe drückte das Gaspedal durch.

Mit Karacho traf der Freelander auf der Rampe auf, machte einen Satz hinauf in den Laderaum und schlitterte in den weißen Suburban, der dort bereits stand. Aber sie waren drin. Sie waren gerettet.

Jack, der immer noch unter dem zweiten ägyptischen Bus auf seinem Schild dahinglitt, hatte von dort unten gesehen, wie Pooh Bear und seine beiden Angreifer zurück auf die Straße geschleudert wurden. Und er hatte auch gesehen, wie der Freelander in den Frachtraum der Hali geschossen war.

Plötzlich nahm ihm etwas die Sicht. Es war die Flanke eines Busses, der direkt neben ihm fuhr. Seine Vordertür stand offen.

Jack riss seine Waffe hoch - da erkannte er Astro in der Tür des Busses. »Jack!« Bäuchlings lag er auf den Stufen. »Jack! Gib mir deine Hand!«

Eine halbe Minute später zerrte Astro Jack unter dem ägyptischen Bus hervor und in das erbeutete Fahrzeug, an dessen Steuer immer noch Stretch saß.

Kaum hatte er Jack hochgehievt, heftete Astro geschickt eine magnetische Sprengkapsel an den ägyptischen Bus und brüllte: »Weg hier!«

Stretch hatte sie gerade in eine sichere Entfernung manövriert, da ging die Ladung auch schon los und die gesamte Seite des ägyptischen Busses wurde einfach weggesprengt.

Plötzlich hörte Jack in seinem Ohrhörer Sky Monsters Stimme: »Huntsman! Wo zum Teufel steckst du? In etwa zehn Sekunden muss ich beschleunigen, sonst können wir nicht abheben!«

Jack starrte in Richtung des vorausdüsenden Flugzeugs, und ihm wurde schlagartig klar: Es war zu weit weg. Er, Stretch und Astro würden es nie und nimmer rechtzeitig erreichen.

Im nächsten Moment wurde seine Aufmerksamkeit abgelenkt von einem dumpf widerhallenden Wumm! Er wirbelte herum und sah eine weitere Hellfire-Rakete über den Highway heranzischen, dem fliehenden Flugzeug hinterher.

»Monster!«, schrie er. »Wir kriegen euch nicht mehr!«

»Was?«

Auch Stretch und Astro hatten mitgehört und warfen einander einen Blick zu.

Dann kam Lilys Stimme über den Äther: »Nein, Daddy! Wir warten auf euch ...«

»Nein, mein Schatz. Ihr müsst sehen, dass ihr wegkommt. Wir finden uns schon wieder, Lily, das verspreche ich dir. Aber glaub mir bitte, ihr müsst jetzt verschwinden. Wir sind nicht so wichtig wie ihr. Ihr müsst überleben! Du, Zoe, Wizard und Alby. Ihr müsst unsere Mission fortsetzen, die zweite Säule finden und sie in den zweiten Eckpunkt einsetzen. Ruft euch die Zwillinge zu Hilfe. Das ist jetzt eure Mission. Ich liebe dich. Und jetzt los, Sky Monster!«

Er schaltete das Funkgerät aus und wandte sich zu Stretch: »Halt den Bus an.«

Stretch, der jedes von Jacks Worten mitbekommen hatte, warf ihm einen fragenden Seitenblick zu.

»Stell dich quer. Über die ganze Straße. Jetzt!«, kommandierte Jack.

Stretch gehorchte und brachte den Bus schlitternd und quietschend mitten auf dem Highway zum Stehen. Die Fahrbahn war komplett blockiert.

Die Halicarnassus donnerte über den Asphalt davon und verschwand, immer schneller werdend, im Dunstschleier.

»Und jetzt, meine Herren«, sagte Jack, »nehmt die Beine in die Hand.«

Jack, Stretch und Astro stürzten aus dem Bus, rannten quer über die Fahrbahn und hechteten in den Sand. Im nächsten Moment wurde der Bus von der heranzischenden Rakete getroffen, die für die Halicarnassus bestimmt gewesen war.

Der Bus explodierte in einem einzigen Feuerball, eine Rauchsäule stieg wie ein Pilz in den Himmel, und überall regneten verbeulte Metallteile herab.

Bedeckt von Sand, Blut und Schweiß, blickte Jack hoch und sah, wie die Halicarnassus gen Süden strebte und immer kleiner wurde, bis sie sich schließlich langsam und mühselig in den Himmel erhob, angetrieben nur noch von drei Triebwerken.

Innerhalb nur einer Minute kam zeitgleich ein halbes Dutzend amerikanischer Humvees rutschend um ihn herum zum Stehen. Über ihnen patrouillierten die sechs Apache-Helikopter in der Luft und lösten einen kleinen Sandsturm aus.

Jack rappelte sich hoch, ließ die Waffen fallen und legte die Hände hinter den Kopf. Da marschierte auch schon der erste Kämpfer, ein amerikanischer Elitesoldat, auf ihn zu und schlug ihm wortlos seinen Gewehrkolben ins Gesicht. Im nächsten Moment sah Jack nur noch schwarz.