KAPITEL VI
ALLE REDEN VON DER GLOBALISIERUNG, KEINER WILL SIE VERSTEHEN
Unser Thema ist, wie gesagt, schon unzählige Male durch die Mühlen der Analysen und Kommentare gemahlen worden. Dieses Buch erhebt keinen Anspruch, dem etwas grundlegend Neues hinzuzufügen. Vielmehr geht es um eine ganz einfache, schlichte Sorge – hinter der sich freilich eine Herausforderung verbirgt, wie es sie noch nie gegeben hat. Auf den Punkt gebracht: Wir leben nicht mehr, wie früher einmal, in einer kleinteilig zerstückelten Welt. Wie es sich gehört, gibt es auch dafür ein passendes Zitat von Goethe. Wollte man zu seiner Zeit ein Geschehnis kennzeichnen, das einen nicht unmittelbar berührte, sprach man von »weit hinten in der Türkei«. Seit dem Ende des sogenannten Kalten Krieges und dem durch das Internet gekennzeichneten Siegeszug der Digitalisierung ist die ganze Welt aber inzwischen, ob man es wahrhaben will oder nicht, tatsächlich zu einem Dorf zusammengewachsen – und es ist allerhöchste Zeit, dass wir uns klar machen, was das tatsächlich bedeutet, anstatt es kurzerhand zu verdrängen oder nur noch darüber nachzudenken, wenn sich überraschende Katastrophen – wie etwa das Reaktorunglück im japanischen Fukushima – ereignen.
Auch diese Feststellung ist nicht neu. Seit der furchterregenden Erfahrung der spätestens seit 2008 sichtbar gewordenen weltweiten Finanzkrise und der sich anschließenden Schuldenkrise mancher europäischer Staaten hat sie uns jedoch zum ersten Mal handgreiflich vor Augen geführt, dass es für niemanden mehr das »weit hinten in der Türkei« gibt. Was von den meisten über ein paar kurze Jahre hinweg eher als nettes Wortspiel empfunden wurde, ist inzwischen knallharte Realität. Sie trifft jede und jeden von uns unmittelbar am eigenen Leibe. Nicht nur für Europa, für unsere ganze Erde gilt: Es gibt kein Ereignis mehr, dem wir in schöne Blütenträume entfliehen könnten – und wer nicht aufpasst, kann in tödliche Gefahr geraten.
Dabei sollte niemand übersehen, dass wir Deutschen das bevölkerungsreichste Mitgliedsland in der Europäischen Union sind, dass wir unverändert über eine erfolgreich florierende Wirtschaftskraft verfügen und dass wir – von den allzu vielen außenpolitischen Fehlentscheidungen der jetzigen Bundesregierung einmal abgesehen – zu den verlässlichsten und hoch respektierten Mitgliedern in der Familie der freiheitlich-demokratischen Völker zählen. Das alles ändert jedoch nichts daran, dass auch wir, sollten wir allein auf uns gestellt bleiben, in diesem neuen Zeitalter einer umfassenden Globalisierung nichts als ein kleiner Zwerg im Wettbewerb mit schon vorhandenen oder deutlich heranwachsenden Riesen sind: unsere schrumpfende, gerade noch um die 80 Millionen zählende Bevölkerung gegenüber den mehr als anderthalb Milliarden Chinesen, schon bald kaum nennenswert weniger Indern, deutlich über 300 Millionen US-Bürgern und dem in Südamerika mit riesigen Schritten nach vorn drängenden Brasilien. Wenn wir Deutschen da unseren Kindern und Kindeskindern auch nur die kleinste ernst zu nehmende Chance lassen wollen, in Zukunft erfolgreich weiterbestehen zu können, wären wir schlecht beraten, uns von dem lästigen Weg zu einem geeinten Europa zu verabschieden. Nein: es wäre tödlich, sich einzubilden, dass wir die Herausforderungen der neuen Zeit alleine schultern könnten.
Klar: Es gibt genug Menschen in unserem Land, die nach ein paar Gläsern Bier oder Wein zu dem Schluss kommen, dass an dem ganzen Elend mit Europa bloß die unfähigen Politikerinnen und Politiker schuld seien. Würde man – so meinen sie – nur endlich einmal auf sie hören, käme doch niemand ernsthaft auf die Idee, unser Geld an die faulen Griechen zu verplempern. Und auch die weit überschätzten Chinesen werden, so weiß man an den Stammtischen, schon noch sehen, wo es endet, wenn sie sich erdreisten wollen, ihr kommunistisch beherrschtes Land einem offenen Wettbewerb auszusetzen. Die Inder oder Brasilianer: Denen haben wir es ja auch bisher schon gezeigt, wenn sie versucht haben, zu uns aufzuschließen. Und dass wir trotz aller Unkenrufe weder die Amerikaner noch gar die Japaner oder Koreaner ernsthaft zu fürchten haben, das zeigt schon ein Blick auf die Automobilindustrie im Allgemeinen und Volkswagen im Besonderen: Alle anderen hecheln uns doch hoffnungslos hinterher.
Zwar mag es sein, dass eine Studie der OECD uns Deutschen erst kürzlich vorausgesagt hat, wir würden in wenigen Jahren nicht mehr mit den neuen Konkurrenten mithalten können. Doch liegt nicht gerade da der Hase im Pfeffer? Wer, bitte schön, kann ernsthaft bezweifeln, dass die sonstigen Europäer nichts als unnütze Bremsklötze für uns Deutsche sind, die wir schleunigst wieder loswerden sollten – ganz im Sinne von Weltbeglückern wie Hans-Olaf Henkel und seinen Mitstreitern: Teilt doch wenigstens den Euro auf, in die Währung der ordentlichen, fleißigen, disziplinierten und ehrlichen Nordeuropäer (mit Deutschland an der Spitze) auf der einen, eine andere (falls gewünscht gemeinsame) Währung für die – angesichts ihrer nationalen Eigenheiten nicht für eine gleichberechtigte Mitgliedschaft »bei uns« qualifizierten – Rest-Europäer auf der anderen Seite.
Toll! Doch wie wäre es, wenn wir dem nüchternen Verstand die Ehre gäben und uns die Realitäten dieser Welt ansähen, anstatt uns mit benebeltem Geist solchen Spinnereien auszuliefern? Zuallererst: Wie – und warum – konnte es eigentlich geschehen, dass die ursprüngliche europäische Begeisterung umgeschlagen ist in ein allgemeines Desinteresse, ja zum Teil sogar in aktiven Widerstand? Sind die Versuche, die Vereinigung Europas voranzubringen, zu langweilig geworden, zu bürokratisch? Haben sich die Verantwortlichen auf eine Vorstellung von Europa eingelassen, die nur daraus besteht, dass uns die Pleitiers unser hart erarbeitetes Geld aus der Tasche ziehen? Oder sind die weltweiten Probleme so erdrückend geworden, dass die tägliche Sorge um die eigene Zukunft alle sozusagen »übergeordneten«, nicht durch die Zwänge des Augenblicks ausgelösten Projekte – wie eben Europa – zweitrangig erscheinen lässt?
Längst ist es schon die dritte nach Kriegsbeginn geborene Generation von Europäerinnen und Europäern, deren Erfahrungen, deren Anliegen und deren Weltbild das Geschehen prägen, deren Träume, deren Lebensziele und deren materielle Interessen ihr Wahlverhalten bestimmen. Für die meisten von ihnen ist es selbstverständlich, frei in der Welt umherreisen und leben zu können, wo es ihnen gefällt. Die Achtung der Menschenrechte durch alle sich als demokratisch verstehenden Staaten nehmen sie ebenso fraglos für sich in Anspruch wie das Recht auf freie Meinungsäußerung. Für diejenigen, die das Glück haben, Bürgerin oder Bürger eines Landes zu sein, das der Europäischen Union angehört, scheint zudem keine ernsthafte Notwendigkeit erkennbar zu sein, warum sie sich allzu viele Gedanken über die weitere Entwicklung machen oder sich gar dafür besonders einsetzen sollten. Wenn nötig, entzieht sich ja so etwas ohnehin dem eigenen Einfluss, wird durch irgendwelche abgehobenen Politiker oder gar in den geheimen Zirkeln von Finanzhaien und Spekulanten entschieden …
Weit größer noch dürfte die Zahl derjenigen sein, die ganz andere Sorgen haben, weil sie um ihre Zukunft bangen müssen. Obwohl gut ausgebildet, können sie sich in keiner Weise darauf verlassen, dass ihnen irgendwann einmal das Glück eines sicheren Arbeitsplatzes beschieden sein wird. Andere, die bereits eine Familie gegründet haben, stehen gar von heute auf morgen vor einer ungewissen Zukunft, weil sie plötzlich arbeitslos sind. Was schert sie da die Zukunft Europas?
Noch wieder andere gibt es, aus deren Sicht die Vorstellungen der vorangegangenen Generationen ohnehin durch eine neue Wirklichkeit überholt sind. Man hat ihnen beigebracht, dass jeder seines Glückes eigener Schmied sei. Sie haben gelernt, dass nur die eigenen Ellenbogen zählen, wenn man im Leben vorankommen will. Rücksichtnahme auf andere, ob es die weniger Erfolgreichen, die Benachteiligten oder ob es gar Rivalen sind, ist da allemal hinderlich. Und ganz besonders gilt das für noch so blumig daherkommende Appelle, die eigenen Interessen zugunsten irgendwelcher scheinbar inhaltslosen Seifenblasen wie des »gemeinen Wohls« hintanzustellen.
Und dann gibt es die im Grunde hoffnungsfroh stimmende wachsende Zahl derjenigen, die sich im Sinne des Wortes (und der so auflagenstarken Aufforderung des liebenswerten Stéphane Hessel) »empören« – und dafür auf die Straße gehen. Es sind die jungen Menschen, die über Wochen hinweg die Puerta del Sol in Madrid besetzt gehalten haben, um gegen die Allmacht der Finanzwelt zu protestieren, es sind die Anhänger der »Occupy«-Bewegung mit ihrem Aufstand gegen die verachtenswerte Unmoral des Profit- und Bonusdenkens an den Börsen der Welt und in den Management-Etagen der Großunternehmen. Sie träumen von einer Gesellschaft, der es gelingt, sich auf allgemeinverbindliche Regeln von Moral und Anstand zu besinnen, sind bereit, dafür zu kämpfen und Opfer auf sich zu nehmen. Zugleich haben sie jegliches Vertrauen in die bestehenden Parteien und deren führende Persönlichkeiten verloren. Genau wie die sich in manchen europäischen Ländern ausbreitenden »Piraten« stimmen sie alle darin überein, dass in der ganzen freiheitlichen Welt neue politische Strukturen geschaffen werden müssen, um mit den Problemen der Gegenwart und Zukunft fertig werden zu können. Begeisterung für gemeinsame Ideale: Sie ist bei vielen dieser jungen Menschen vorhanden, nicht anders als bei all denen, die das Wunder des »arabischen Frühlings« ausgelöst haben. Wieso scheinen diese Ideale mit denen von der Vereinigung Europas nichts zu tun zu haben? Wieso nur gelingt es den politisch Verantwortlichen nicht, hier einen Zusammenhang herzustellen und die Frage zu stellen: Wie wollen wir zukünftig in Europa leben?
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Wer könnte ernsthaft die Augen vor diesen auseinanderstrebenden Entwicklungen verschließen? Vor einem solchen Hintergrund kann der Verlust der Erinnerungsfähigkeit an die eigene Geschichte sehr wohl zur Folge haben, dass kritische geschichtliche Situationen im Handumdrehen in ein katastrophales Ende münden. Deswegen sind wir gut beraten, uns noch ein wenig genauer an die bisherigen Bestrebungen zur europäischen Vereinigung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu erinnern. Wir können daraus erkennen, was alles falsch gemacht wurde – und warum wir Selbstmord begehen würden, sollten wir uns nicht dazu aufraffen, mit frischem Mut auf dem begonnenen Weg weiter voranzuschreiten.
Im Zusammenhang mit dem Ringen um die Einführung des Europäischen Währungssystems (EWS) war schon die Rede von einer grundsätzlichen Kontroverse. Sie drehte sich darum, ob die Einführung einer gemeinsamen Währung dauerhaft erfolgreich bleiben könne, wenn nicht zuvor in den beteiligten Ländern eine einheitliche Wirtschafts- und Finanzpolitik der beteiligten Länder durchgesetzt würde – oder ob umgekehrt erst eine gemeinsame Währung eine solche politische Einigung erzwingen könne. Dieser Streit sollte sich in den eingeweihten Kreisen von Professoren, Bankern und Journalisten noch über mehr als ein Jahrzehnt fortsetzen. Trotz der erwähnten grundsätzlichen Zielsetzung von Helmut Kohl beruhte freilich die 1992 im Vertrag von Maastricht beschlossene Ablösung der nationalen Währungen durch den Euro auf dem zweiten Modell: Von der Einführung einer einheitlichen Wirtschafts- und Finanzpolitik blieb nicht mehr übrig als eine vage Absicht für die fernere Zukunft.
Auch in einem für das europäische Projekt so wichtigen Land wie Frankreich ist der Streit bis heute nicht entschieden. Bezeichnend dafür ist die Wertung der im Dezember 2011 in Brüssel gefassten, angeblich grundlegend wichtigen Beschlüsse der Staats- und Regierungschefs durch ein bekanntes französisches Wirtschaftsjournal. Es meinte, das »föderale Europa« sei damit »zurückgestutzt auf ein Europa der Nationen«, die EU-Kommission habe in Zukunft nur noch »technische Aufgaben« wahrzunehmen und das Europaparlament sei nicht einmal erwähnt worden.
Sollte diese Wertung tatsächlich zutreffen, würde das gewiss eine grundlegend neue Weichenstellung bedeuten – nach rückwärts! Es liefe auf das Wiedererwachen einer Einstellung hinaus, die durchaus den ursprünglichen Vorstellungen von de Gaulle entsprechen würde. Hätten Giscard und Schmidt offen und ehrlich ihre innere Überzeugung kundgetan, wäre sie bei ihnen beiden womöglich gleichermaßen auf gewisse Sympathie gestoßen. Denn ich vermute, dass sie es gar nicht so ungern gesehen hätten, wenn die grundlegenden politischen Entscheidungen eines vereinten Europa auch weiterhin allein den beteiligten Staats- und Regierungschefs vorbehalten geblieben wären. »Kaminrunden« im stillen Kämmerlein und kleinsten Kreis waren für sie die einzigen Instrumente, die auf die Dauer Erfolg versprechen. Freilich wäre dann in der Tat die Verantwortung der sonstigen europäischen Gremien – wie der Europäischen Kommission oder der ohnehin aus ihrer Sicht eher überflüssigen Ministerräte – auf »technische Aufgaben«, nämlich die Vorbereitung oder nachvollziehende Durchführung der gefassten Beschlüsse, beschränkt worden.