KAPITEL I
EUROPA IN DER LEGITIMITÄTSKRISE
Von der Lust am Selbstmord
Friedensnobelpreis für die Europäische
Union hin oder her: Viele haben mitleidig die Stirn gerunzelt,
andere davor gewarnt, manche mich ausgelacht, als sie hörten, dass
ich dieses Buch schreiben will. Es liegt trotzdem hier vor Ihnen,
weil meine Sorge täglich zunimmt – meine Sorge, dass wir drauf und
dran sind, unsere Zukunft aufs Spiel zu setzen und einer
merkwürdigen Lust am Selbstmord nachzugeben.
Die Vision von einem vereinten Europa ist uns
verloren gegangen. Gewiss weiß auch ich, dass es eine hoffnungslose
Utopie wäre, zu erwarten, dass das Vorhaben von heute auf morgen,
sozusagen mit einem großen Schlag, vollendet werden könnte. Es gibt
– um ein Lieblingswort unserer Bundeskanzlerin zu verwenden – in
der Tat keine Alternative dazu, sich Schritt um Schritt (und
entsprechend mühselig) an das große Ziel heranzuarbeiten. Das hat
sogar etwas Gutes, weil es auf diese Weise möglich bleibt, Fehler,
die unweigerlich vorkommen können, auch wieder zu korrigieren. Doch
erfolgreich kann ein solcher Weg nur sein, wenn es eine Idee gibt,
die allen Beteiligten als gemeinsames Ziel für ihr tägliches
Handeln dient. Diese Idee, dieses Ziel ist nicht mehr zu erkennen.
Offensichtlich hat niemand mehr den Mut und die Glaubwürdigkeit,
uns überzeugend zu erklären, wohin die Reise zum Schluss führen
soll. Ein Plädoyer für Europa: also verlorene Liebesmühe! Liegt das
Kind nicht längst im Brunnen? Verbirgt sich nicht dahinter kaum
mehr als eine naive Illusion, das Traumgespinst grauer Bürokraten
und lebensfremder Politiker? Und noch mehr: Ist es nicht für
verantwortungsbewusste Realisten – und das sind wir doch alle! –
allerhöchste Zeit, endlich Schluss zu machen mit der sinnlosen
Verschwendung unserer Steuergelder und unser Schicksal wieder in
die eigenen Hände zu nehmen?
In der Tat: Was ist los mit Europa? Die
Zusammenführung seiner Länder und Nationen galt über Jahrzehnte
hinweg als stolzes Zukunftsprojekt. Allenfalls ein paar
»Ewiggestrige« träumten noch von der Wiederkehr alter Zeiten, als
man blind genug sein durfte, das Volk, dem man angehörte, gegenüber
den Nachbarn für höherwertig zu halten. Eine ganze Generation
junger Menschen hat sich für die Idee eines vereinten Europa
begeistert, einer Unzahl von Menschen, denen ein entsetzlicher
Krieg jegliche Hoffnung geraubt hatte, hat sie neue Zuversicht
gegeben.
Doch jetzt? Wer kann schon den Alptraum
vergessen, der seit der zweiten Hälfte des Jahres 2011, ausgelöst
durch die griechische Krise, ganz Europa an den Rand einer
epochalen finanziellen und wirtschaftlichen Katastrophe führte? Hat
sich das nicht, wie vorherzusehen war, bald darauf mit Spanien und
Italien fortgesetzt? Können wir nicht jeden Tag in den
einschlägigen Leitartikeln nachlesen, dass der Euro, unsere
gemeinsame Währung, demnächst vor dem Kollaps steht? Werden wir
nicht gedrängt, die Griechen schleunigst aus dem Euro
herauszuwerfen, um unser hart erarbeitetes Geld vor der
Verschwendung zu retten?
Ist nicht die früher so großartige Vision
inzwischen ins Nichts zerstäubt, ersetzt durch ein endloses
Gefeilsche um nationale Interessen? Können einigermaßen normale
Zeitgenossen – womöglich sogar die meisten der beteiligten
Politiker selbst – noch die Mechanismen durchschauen, nach denen
das Gebilde funktioniert? Sind die wohlhabenden Länder, an der
Spitze wir Deutschen (denen man so leichtfertig ihre bewährte
D-Mark weggenommen hat!), nicht inzwischen – trotz aller
gegenteiligen Versicherungen (Zitat der Bundeskanzlerin: »Nicht,
solange ich lebe!«) – mit den eigenen Steuergeldern zum Zahlmeister
für chronische Pleitiers geworden?
Eines zumindest ist unübersehbar: Europa wird
einer großen Zahl – wenn nicht gar der Mehrheit – seiner
Bürgerinnen und Bürger zunehmend egal. Mehr noch, es fällt ihnen
lästig. Zutiefst misstrauen sie den ewig wiederholten Beteuerungen
der Herrschaften Merkel, Hollande, Barroso, Monti & Co., deren
regelmäßige Küsschen-Begrüßungsarien haben sie gründlich satt! Und
wer nicht im Wolkenkuckucksheim lebt, sondern wenigstens
einigermaßen aufmerksam das Hü und Hott verfolgt, mit dem Angela
Merkel im Wochenrhythmus ihre Grundsätze über die (vermeintlichen!)
Grenzen deutscher Leistungs- und Leidensbereitschaft umzustürzen
pflegt, muss ehrlich zugeben, dass da etwas dran ist.
Vielen von uns geht es immer noch sehr gut. Sie
haben ein Haus und eine Familie. Auf ihr Bankkonto und ihr Vermögen
ist Verlass. Sollte nicht eine neuerliche Finanz- und
Wirtschaftskrise dazwischenkommen, die (womöglich gar als
galoppierende Inflation) alle Werte vernichtet, wächst beides
ebenso stetig wie erfreulich weiter an. Manche sind sogar so
wohlhabend, dass sie ihre Kinder und Enkel in privaten Schulen und
an renommierten Universitäten – wenn auch manchmal eher schlecht
als recht – auf ihr späteres Leben vorbereiten lassen können. Der
fortschreitende Abbau der Handicaps mit Hilfe teurer Golflehrer
macht sie stolz. Für nicht wenige von uns sind Urlaubsreisen in
ferne Gebiete der Erde fest eingeplant. An den Wochenenden trifft
man sich mit Freunden zum Wandern oder beim Essen in einem guten
Lokal. Alles zusammen, könnte man vorbehaltlos zufrieden sein –
wäre da nicht der unverschämte Raubbau des Staates, der wie ein
Moloch mit seinen ständig steigenden Steuern und Abgaben, getragen
von einer ungebremst weiter ausufernden Bürokratie, allem Möglichen
dient, nur nicht dem, wozu er eigentlich da ist.
Doch Gott sei Dank gibt es einen Ausweg, der
einem bleibt: an sich selbst denken – und sonst nichts. Wir sind zu
einer Republik der Egoisten geworden, zur Egorepublik
Deutschland.
Dies eint die Wohlhabenden mit der großen
Mehrheit, der es weniger gut geht. Seit Jahren wird uns durch die
Kaste der Politikerinnen und Politiker – die wir dafür gewählt
haben, dem gemeinen Wohl und nicht sich selbst zu dienen – immer
mehr von unserem mühsam verdienten Geld aus der Tasche gezogen. Sie
sichern sich damit ihre gut bezahlten Pfründe, mehr als das, sie
machen uns das Leben schwer, indem sie ununterbrochen neue
Regulierungen in die Welt setzen und damit unsere Freiheit weiter
einengen. Anstatt für sichere Arbeitsplätze zu sorgen, verschwenden
sie Geld für Prestigeobjekte, erfinden überflüssige neue Gesetze,
deren Sinn und Zweck niemand versteht, gönnen sich selbst ein
schönes Leben. Die junge Generation muss sich trotz der Mühen, die
sie sich gibt, um in der Lehre oder an einer Hochschule gut
ausgebildet zu werden, anstatt einer festen Anstellung allenfalls
noch mit einem Zeitvertrag zufriedengeben. Offen bleibt dabei, ob
man in einem Jahr arbeitslos sein wird oder zumindest an einen Ort
umziehen muss, der einem rundum fremd ist. Anstelle des »Mehr Netto
vom Brutto«, das man uns so vollmundig noch vor kurzem als
Wahlmotto verkauft hat, bleibt unter dem Strich immer weniger in
der Kasse. Diejenigen, die schon viele Jahre harter Anstrengungen
in ihrem Berufsleben hinter sich haben, können sich gleichfalls
nicht mehr sicher sein, wie ihre Zukunft aussieht. Werden sie ihren
bescheidenen Wohlstand bis ins Alter bewahren können, oder laufen
sie – wie so viele es bereits erlebt haben – Gefahr, eines Tages
ihr Leben als Hartz-IV-Empfänger fristen zu müssen? Von der
angeblichen Sicherheit unserer Renten ganz zu schweigen!
Nicht anders als die vermeintlichen Eliten, die
sich darum sorgen, wie sie mithilfe schweizerischer Banken
möglichst wenig Steuern zahlen müssen, scheinen also auch alle
Übrigen gut beraten, zuerst einmal an sich selbst zu denken.
Gedanken darüber, wie die Chancen der anderen, derjenigen, die
bisher keinen Erfolg in ihrem Leben hatten, verbessert werden
könnten, haben da bis auf weiteres keinen Platz. Handelt es sich
bei den hie und da zu hörenden Appellen an den Gemeinsinn nicht
ohnehin eher um Vorstellungen von Ewiggestrigen? Selbst wenn das
früher anders gewesen sein sollte: Rapide wächst nun einmal die
Zahl der Menschen, die eigentlich darauf rechnen durften, am Ende
ihrer Lebensarbeit einen verlässlichen Ruhestand zu erleben, aber
plötzlich nicht mehr wissen, wie es mit ihnen weitergehen soll. Was
bleibt da noch übrig, als rechtzeitig die eigenen Ellenbogen
auszufahren, anstatt irgendwelchen schönen Träumen von einer
friedlichen, gerechten und nachhaltig gestalteten Zukunft
nachzuhängen? Sind diejenigen jungen Menschen, die darauf hoffen,
eines Tages ihre Ideale in die Tat umsetzen und die Welt verbessern
zu können, nicht tatsächlich gut beraten, solche Hirngespinste so
schnell wie möglich zu vergessen?
Der Fall scheint klar zu sein. Durchaus
ehrenwert mag es ja gewesen sein, dass sich die Generation
derjenigen, die das ganze Grauen des letzten Weltkriegs, das
gegenseitige Zerfleischen der europäischen Völker am eigenen Leib
erleben mussten, mit allen Kräften darum bemüht hat, eine wie auch
immer geartete Wiederholung unmöglich zu machen. Gewiss war der
Traum vom vereinten Europa, den Konrad Adenauer, Willy Brandt,
Helmut Schmidt und Helmut Kohl zusammen mit ihren Partnern dies-
und jenseits der deutschen Grenzen geträumt haben, verständlich.
Die Zeiten haben sich aber nun einmal grundlegend verändert. Das
kommunistische System ist zusammengebrochen. Trotz der weiter
andauernden kulturellen und sozialen Konflikte wächst die Welt
unter dem unentrinnbaren Einfluss des Internets immer mehr
zusammen. Wer nicht imstande ist, schnell und flexibel auf die
täglich neu entstehenden wirtschaftlichen und politischen
Herausforderungen der Zeit zu reagieren, ist verloren. Da können
auch wir Deutschen es uns wahrlich nicht mehr leisten, immer wieder
auf die langsamsten Mitglieder in der Gruppe und auf deren
unbewegliche Institutionen Rücksicht zu nehmen! Höchste Zeit also,
zuallererst an uns selbst zu denken.
Hat nicht Hans Magnus Enzensberger, nun
bestimmt eines rechts gerichteten Nationalismus unverdächtig, in
diesem Sinne durchaus Recht damit, das »sanfte Monster Brüssel« für
»die Entmündigung Europas« verantwortlich zu machen? Oder der
Ökonomieprofessor Max Otte mit seiner Aufforderung, ohne weitere
Verzögerung »den Euro zu stoppen«? Wäre also ein Ende mit Schrecken
nicht allemal besser als ein Schrecken ohne Ende, der uns Deutsche
doch bloß in den Abgrund ziehen würde?
Die Bundeskanzlerin pflegt zwar zu beteuern,
dass das weitere politische und wirtschaftliche Zusammenwachsen
Europas zur »deutschen Staatsräson« gehöre. Wie aber sieht für die
einfache Frau und den einfachen Mann auf der Straße die nüchterne
Wirklichkeit aus? Geht es nicht in Wirklichkeit um ein für
niemanden mehr überschaubares Gewirr von 27 historisch, sprachlich,
wirtschaftlich gänzlich verschiedenen, weder nach der Größe ihrer
Bevölkerung noch nach deren Wohlstand wenigstens einigermaßen
vergleichbaren Ländern? Beweist nicht der Erfolg billigster
nationalistischer Parolen selbst in Ländern wie Finnland oder den
Niederlanden, die traditionell der europäischen Einigung so
zugeneigt waren, dass eine große Zahl ihrer Bürger an nichts
anderes als an ihre eigenen Interessen denken?
Zumindest aus deren Sicht machen da schon
wenige Stichworte deutlich, warum sich all die schönen
Vorstellungen von einer echten Gemeinsamkeit der europäischen
Nationen bisher als schiere Wunschträume, als leere Illusionen
erwiesen haben.
Man hat uns gleich nach dem Zusammenbruch des
sowjetischen Systems weismachen wollen, dass es politisch zwingend
sei, die endlich wieder frei gewordenen osteuropäischen Staaten –
Polen, Ungarn, Tschechien, die Slowakei, Litauen, Estland, Lettland
und Slowenien – nun ohne Verzug als Vollmitglieder in die
Europäische Union aufzunehmen – ohne ernsthaft zu versuchen, zuerst
einmal zu klären, ob sie auch die erforderlichen Voraussetzungen
erfüllen Als Gegenleistung haben wir uns nur den ebenso zähen wie
erbitterten Widerstand des unverändert amtierenden tschechischen
Präsidenten-Hardliners Vaclav Klaus gegen jegliche Schritte zur
Verbesserung der gesamteuropäischen Handlungsfähigkeit
eingehandelt.
Oder auch die wütenden Blockaden eines zutiefst
deutschfeindlichen Zwillingspaars an der Spitze von Staat und
Regierung Polens – vom Rückfall der gewählten Mehrheit des
ungarischen Parlaments in offensichtlich vordemokratische
Verfassungsvorstellungen ganz zu schweigen.
Offenbar sind unsere Politikerinnen und
Politiker aus solchen oder ähnlichen Erfahrungen nicht klug
geworden. Im Eilschritt und entgegen allen Warnungen haben sie
gleich danach die Türen Europas auch noch für Rumänien und
Bulgarien geöffnet, wo doch schon der oberflächlichste Beobachter
wissen konnte, dass diese Länder aufgrund ihrer kommunistischen
Vergangenheit weder in wirtschaftlicher und politischer noch gar in
gesellschaftlicher Hinsicht reif für eine Mitgliedschaft
waren.
Und zu alledem auch noch das Euro-Abenteuer! Wo
doch jeder weiß, dass die Griechen, nicht anders als die
Portugiesen und – wollen wir ehrlich sein – natürlich letzten Endes
auch die Spanier und Italiener nun einmal eine grundsätzlich andere
Einstellung zu Arbeit und Disziplin haben. Wie konnte man nur auf
die Idee kommen, diesen Südeuropäern die Stabilität unserer
bewährten D-Mark zu opfern? Hätte man nicht vielmehr auf die
Warnungen bewährter Experten hören müssen, dass das Abenteuer einer
gemeinsamen Währung in eine Katastrophe führen werde, solange sich
die beteiligtem Staaten nicht verbindlich auf die strikte
Einhaltung einer sparsamen Wirtschafts- und Finanzpolitik
festgelegt hätten? War es wirklich sinnvoll, den bis dahin
bettelarmen Iren durch unsere Geschenke zu völlig unverdientem
Wohlstand zu verhelfen? Klingt es da nicht überzeugend, wenn
hochrangige, durch eigene unternehmerische Erfahrungen
ausgezeichnete Persönlichkeiten sich nicht den Mund verbieten
lassen und uns vorhersagen, wir würden unweigerlich demnächst
fatalen Schiffbruch mit dem Euro erleiden, sollten wir solche
Länder nicht schleunigst wieder aus dem Währungsverbund
hinausschmeißen?
*
Die Aufzählung ließe sich unschwer über
viele Seiten fortsetzen. An der bitteren Schlussfolgerung würde das
nichts ändern. Sie lautet, dass sich das Projekt eines in der
Europäischen Union vereinten Europa mitten in einer grundlegenden
Legitimitätskrise befindet. Abgesehen von der
Selbstverständlichkeit, jederzeit nach Belieben an jeden beliebigen
Strand in Urlaub fahren zu können, schert sich die weit
überwiegende Mehrheit unserer Bürgerinnen und Bürger keinen Deut
mehr um die Vorstellung von einem Europa, das seine globalen
Interessen im Wettstreit mit unseren weltweiten Wettbewerbern
gemeinsam und solidarisch verteidigen und durchsetzen muss – die
sogenannte »Eurokrise« beherrscht das Geschehen, in der Politik wie
den Medien, die Ängste der Menschen um ihr Erspartes rauben ihnen
den Schlaf.
Um einen der überzeugendsten Anwälte einer
Politik, die entschlossen ist, trotz aller Widerstände zäh und
beharrlich an der Herkulesaufgabe eines weiter zusammenwachsenden
Europa festzuhalten, den luxemburgischen Ministerpräsidenten
Jean-Claude Juncker, zu zitieren: »Es verlangt … inzwischen mehr
Mut, sich zu Europa zu bekennen, als europaskeptische Töne von sich
zu geben.«
Eine zunehmende Zahl derjenigen, die lautstark
danach rufen, endlich wieder an uns selbst zu denken, reagiert
darauf mit gefährlich steigender Aggressivität. Sie schlägt sich
nieder in den Wahlerfolgen alter rechtsreaktionärer oder neu
entstandener politischer Parteien, die jegliche Übertragung
nationalstaatlicher Souveränität an die Europäische Union als
Teufelszeug denunzieren. Genauso erschreckend deutlich wird sie an
den astrein populistischen, auf den Beifall der Stammtische
zielenden Versuchen, die eigenen Grenzen zu den Nachbarstaaten, die
vor noch nicht allzu langer Zeit unter großem Jubel gefallen waren,
wieder zu schließen.
Billigste Sprüche weisen in eine ähnliche
Richtung. Nicht selten versteckt sich dahinter nackte Eigensucht.
Wenn etwa ein englischer Abgeordneter im europäischen Parlament
meint, uns Deutschen weismachen zu sollen, dass der Erfolg einer
deutschen Pkw-Marke auf dem chinesischen Markt weder größer noch
geringer ausfallen würde, ob Deutschland nun einer sogenannten
Europäischen Union angehört oder nicht, dann lugt hinter solcher
Einfalt nichts anderes hervor als die traditionelle Phobie vieler
Engländerinnen und Engländer gegenüber allem, was sich auf »dem
Kontinent« abspielt. Und auch die legendäre Sottise des früheren
amerikanischen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld, die sich
hinter der abschätzig-arroganten Bezeichnung vom »alten Europa«
verbarg, mag zwar in erster Linie die geistige Beschränktheit
dieses famosen Würdenträgers belegen, dahinter hat sich aber
vermutlich durchaus auch das Bestreben verborgen, die eigene
Vormachtstellung in der Welt nicht durch das Heranwachsen eines
potenziellen Rivalen namens Europa gefährden zu lassen.
In der Tat erfordert es vor einem solchen
Hintergrund schon einigen Mut, sich gegen den Strom zu stellen und
unmissverständlich eine entschlossene Weiterführung des
europäischen Projekts anzumahnen. Dabei nimmt sich dieses Buch
nicht heraus, der laufenden Diskussion eine zusätzliche pseudokluge
Rechthaberei – oder das nächste Rezept für die »Rettung« des Euro –
hinzufügen zu wollen. Jenseits aller feinsinnigen Gedankenspiele
geht es darum, die sich täglich verschlechternde Stimmung sehr,
sehr ernst zu nehmen.
Denn ohne ein vereintes Europa werden wir weder
politisch noch wirtschaftlich im globalen Wettbewerb nicht nur mit
den USA, sondern auch mit den immer schneller und entschlossener
nach vorn drängenden Mächten des ostasiatischen Raums – an der
Spitze China – oder auch mit Ländern wie Indien und Brasilien (und
eines nicht allzu fernen Tages auch Afrika) bestehen können. Und
wenn dies nicht gelingt, wird es irgendwann aus sein mit unseren
Idealen des sozialen Ausgleichs, der Chancengerechtigkeit, der
Verantwortung für das gemeine Wohl – und zum Schluss auch der
Menschenrechte.
Gewiss mag da manches Mal die Einnahme einer
Medizin verlockend erscheinen, die sich im täglichen Leben, und
besonders in schwierigen politischen Situationen, verlässlich
bewährt hat. Sie heißt »Aussitzen!« – und besagt im Klartext,
einfach die Zeit verstreichen zu lassen und geduldig abzuwarten,
bis der Wind wieder aus einer günstigeren Richtung weht. Für
althergebrachte Segelschiffe war das nahezu zwangsläufig ein guter
Rat. Die riesigen Schiffe, die heutzutage auf den Weltmeeren
unterwegs sind, verlassen sich jedoch schon längst nicht mehr auf
einen solchen Antrieb. Allesamt verfügen sie über leistungsstarke
Motoren, die sie auch dann noch manövrierfähig halten, wenn sie in
einen Orkan geraten – dem kein noch so starkes Segelschiff und
keine noch so sturmerprobte Mannschaft standhalten könnte.
Wie den Segelschiffen wird es auch uns, den
Europäern, ergehen, sollten wir uns treuherzig auf günstigere Winde
verlassen und in der Zwischenzeit darauf vertrauen, dass wir geübte
Segler sind. Schneller als gedacht könnten wir damit
unwiederbringlich unsere Zukunft verspielen.
Wollen wir uns das wirklich antun? Wäre es
nicht doch ratsamer, den Weg fortzusetzen, der allein dazu geeignet
ist, uns in einer Welt zu behaupten, in der inzwischen ganz neue,
bisher völlig ungewohnte Spielregeln gelten, Spielregeln, vor deren
Härte viele von uns lieber ihren Kopf in den Sand stecken? Und
könnten uns die damit verbundenen Mühen nicht sehr viel leichter
fallen, wenn wir uns endlich wieder auf eine Vision besinnen, die
daran erinnert, dass wir der Zukunft voller Selbstvertrauen
entgegensehen dürfen, wenn es uns gelingt, sie in die Tat
umzusetzen?
Europa: Der Begriff ist
nicht gleichbedeutend mit der Beschneidung unserer individuellen
Freiheiten, mit unsinnigen bürokratischen Lasten, mit den immer
unverschämter werdenden Erpressungsversuchen durch griechische
Taxifahrer oder deutsche Energieerzeuger – er steht für eine
begeisternde Herausforderung. Wir können, wir werden sie bestehen,
wenn wir es nur wollen. Nur eines setzt das zwingend voraus: Wir
müssen sie gemeinsam angehen, mit der Bereitschaft, althergebrachte
Überzeugungen auf den Prüfstand zu stellen, mit dem Mut und dem
Selbstvertrauen, die sich aus dem Wissen ergeben, dass sich der Weg
in eine gute Zukunft nur durch harte Opfer sichern lässt – und
zugleich mit Begeisterung und Stolz auf das, was die Geschichte uns
als ihr Erbe geschenkt hat!
Und zum Abschluss dieser Vorbemerkung noch ein
Hinweis: Als überzeugter Mitbürger unserer freiheitlich
organisierten Gesellschaft habe ich selbstverständlich gebührend
Respekt vor der angesprochenen Vielfalt von Meinungen und Ansichten
von Wissenschaftlern, Journalisten oder Literaten beiderlei
Geschlechts (oder auch von den gewohnheitsmäßigen Teilnehmern an
Talkshows) zum Thema dieses Buches. Das ändert freilich nichts
daran, dass es sich im Kern nicht allein um eine Frage der
Ökonomie, der Geschichte, der Kultur – oder der Medienwirksamkeit –
handelt, sondern um ein zutiefst in der Politik angesiedeltes
Thema. Die ganze Last der Verantwortung liegt damit zunächst einmal
bei denjenigen, denen wir in demokratischer Wahl die Aufgabe
anvertrauen, in unserem Namen politische Entscheidungen zu
treffen.
Es ist und bleibt allemal einfach, sie dafür zu
kritisieren – oder gar zu verdammen. Vergessen sollten wir jedoch
nicht, dass es an uns selbst, an jeder und jedem von uns, ist und
bleibt, wem wir diese Verantwortung durch unsere Stimmabgabe
übertragen. Wie hat doch Winston Churchill gesagt: »Demokratie ist
die Notwendigkeit, sich gelegentlich den Ansichten anderer Leute zu
beugen« – und genau in diesem Sinne spricht dann auch alles dafür,
schließlich und endlich Mut aufzubringen und uns alle im Rahmen
einer Volksabstimmung zu fragen, ob wir bereit sind, einen solchen
Weg mitzugehen.