KAPITEL I
EUROPA IN DER LEGITIMITÄTSKRISE
Von der Lust am Selbstmord
Friedensnobelpreis für die Europäische Union hin oder her: Viele haben mitleidig die Stirn gerunzelt, andere davor gewarnt, manche mich ausgelacht, als sie hörten, dass ich dieses Buch schreiben will. Es liegt trotzdem hier vor Ihnen, weil meine Sorge täglich zunimmt – meine Sorge, dass wir drauf und dran sind, unsere Zukunft aufs Spiel zu setzen und einer merkwürdigen Lust am Selbstmord nachzugeben.
Die Vision von einem vereinten Europa ist uns verloren gegangen. Gewiss weiß auch ich, dass es eine hoffnungslose Utopie wäre, zu erwarten, dass das Vorhaben von heute auf morgen, sozusagen mit einem großen Schlag, vollendet werden könnte. Es gibt – um ein Lieblingswort unserer Bundeskanzlerin zu verwenden – in der Tat keine Alternative dazu, sich Schritt um Schritt (und entsprechend mühselig) an das große Ziel heranzuarbeiten. Das hat sogar etwas Gutes, weil es auf diese Weise möglich bleibt, Fehler, die unweigerlich vorkommen können, auch wieder zu korrigieren. Doch erfolgreich kann ein solcher Weg nur sein, wenn es eine Idee gibt, die allen Beteiligten als gemeinsames Ziel für ihr tägliches Handeln dient. Diese Idee, dieses Ziel ist nicht mehr zu erkennen. Offensichtlich hat niemand mehr den Mut und die Glaubwürdigkeit, uns überzeugend zu erklären, wohin die Reise zum Schluss führen soll. Ein Plädoyer für Europa: also verlorene Liebesmühe! Liegt das Kind nicht längst im Brunnen? Verbirgt sich nicht dahinter kaum mehr als eine naive Illusion, das Traumgespinst grauer Bürokraten und lebensfremder Politiker? Und noch mehr: Ist es nicht für verantwortungsbewusste Realisten – und das sind wir doch alle! – allerhöchste Zeit, endlich Schluss zu machen mit der sinnlosen Verschwendung unserer Steuergelder und unser Schicksal wieder in die eigenen Hände zu nehmen?
In der Tat: Was ist los mit Europa? Die Zusammenführung seiner Länder und Nationen galt über Jahrzehnte hinweg als stolzes Zukunftsprojekt. Allenfalls ein paar »Ewiggestrige« träumten noch von der Wiederkehr alter Zeiten, als man blind genug sein durfte, das Volk, dem man angehörte, gegenüber den Nachbarn für höherwertig zu halten. Eine ganze Generation junger Menschen hat sich für die Idee eines vereinten Europa begeistert, einer Unzahl von Menschen, denen ein entsetzlicher Krieg jegliche Hoffnung geraubt hatte, hat sie neue Zuversicht gegeben.
Doch jetzt? Wer kann schon den Alptraum vergessen, der seit der zweiten Hälfte des Jahres 2011, ausgelöst durch die griechische Krise, ganz Europa an den Rand einer epochalen finanziellen und wirtschaftlichen Katastrophe führte? Hat sich das nicht, wie vorherzusehen war, bald darauf mit Spanien und Italien fortgesetzt? Können wir nicht jeden Tag in den einschlägigen Leitartikeln nachlesen, dass der Euro, unsere gemeinsame Währung, demnächst vor dem Kollaps steht? Werden wir nicht gedrängt, die Griechen schleunigst aus dem Euro herauszuwerfen, um unser hart erarbeitetes Geld vor der Verschwendung zu retten?
Ist nicht die früher so großartige Vision inzwischen ins Nichts zerstäubt, ersetzt durch ein endloses Gefeilsche um nationale Interessen? Können einigermaßen normale Zeitgenossen – womöglich sogar die meisten der beteiligten Politiker selbst – noch die Mechanismen durchschauen, nach denen das Gebilde funktioniert? Sind die wohlhabenden Länder, an der Spitze wir Deutschen (denen man so leichtfertig ihre bewährte D-Mark weggenommen hat!), nicht inzwischen – trotz aller gegenteiligen Versicherungen (Zitat der Bundeskanzlerin: »Nicht, solange ich lebe!«) – mit den eigenen Steuergeldern zum Zahlmeister für chronische Pleitiers geworden?
Eines zumindest ist unübersehbar: Europa wird einer großen Zahl – wenn nicht gar der Mehrheit – seiner Bürgerinnen und Bürger zunehmend egal. Mehr noch, es fällt ihnen lästig. Zutiefst misstrauen sie den ewig wiederholten Beteuerungen der Herrschaften Merkel, Hollande, Barroso, Monti & Co., deren regelmäßige Küsschen-Begrüßungsarien haben sie gründlich satt! Und wer nicht im Wolkenkuckucksheim lebt, sondern wenigstens einigermaßen aufmerksam das Hü und Hott verfolgt, mit dem Angela Merkel im Wochenrhythmus ihre Grundsätze über die (vermeintlichen!) Grenzen deutscher Leistungs- und Leidensbereitschaft umzustürzen pflegt, muss ehrlich zugeben, dass da etwas dran ist.
Vielen von uns geht es immer noch sehr gut. Sie haben ein Haus und eine Familie. Auf ihr Bankkonto und ihr Vermögen ist Verlass. Sollte nicht eine neuerliche Finanz- und Wirtschaftskrise dazwischenkommen, die (womöglich gar als galoppierende Inflation) alle Werte vernichtet, wächst beides ebenso stetig wie erfreulich weiter an. Manche sind sogar so wohlhabend, dass sie ihre Kinder und Enkel in privaten Schulen und an renommierten Universitäten – wenn auch manchmal eher schlecht als recht – auf ihr späteres Leben vorbereiten lassen können. Der fortschreitende Abbau der Handicaps mit Hilfe teurer Golflehrer macht sie stolz. Für nicht wenige von uns sind Urlaubsreisen in ferne Gebiete der Erde fest eingeplant. An den Wochenenden trifft man sich mit Freunden zum Wandern oder beim Essen in einem guten Lokal. Alles zusammen, könnte man vorbehaltlos zufrieden sein – wäre da nicht der unverschämte Raubbau des Staates, der wie ein Moloch mit seinen ständig steigenden Steuern und Abgaben, getragen von einer ungebremst weiter ausufernden Bürokratie, allem Möglichen dient, nur nicht dem, wozu er eigentlich da ist.
Doch Gott sei Dank gibt es einen Ausweg, der einem bleibt: an sich selbst denken – und sonst nichts. Wir sind zu einer Republik der Egoisten geworden, zur Egorepublik Deutschland.
Dies eint die Wohlhabenden mit der großen Mehrheit, der es weniger gut geht. Seit Jahren wird uns durch die Kaste der Politikerinnen und Politiker – die wir dafür gewählt haben, dem gemeinen Wohl und nicht sich selbst zu dienen – immer mehr von unserem mühsam verdienten Geld aus der Tasche gezogen. Sie sichern sich damit ihre gut bezahlten Pfründe, mehr als das, sie machen uns das Leben schwer, indem sie ununterbrochen neue Regulierungen in die Welt setzen und damit unsere Freiheit weiter einengen. Anstatt für sichere Arbeitsplätze zu sorgen, verschwenden sie Geld für Prestigeobjekte, erfinden überflüssige neue Gesetze, deren Sinn und Zweck niemand versteht, gönnen sich selbst ein schönes Leben. Die junge Generation muss sich trotz der Mühen, die sie sich gibt, um in der Lehre oder an einer Hochschule gut ausgebildet zu werden, anstatt einer festen Anstellung allenfalls noch mit einem Zeitvertrag zufriedengeben. Offen bleibt dabei, ob man in einem Jahr arbeitslos sein wird oder zumindest an einen Ort umziehen muss, der einem rundum fremd ist. Anstelle des »Mehr Netto vom Brutto«, das man uns so vollmundig noch vor kurzem als Wahlmotto verkauft hat, bleibt unter dem Strich immer weniger in der Kasse. Diejenigen, die schon viele Jahre harter Anstrengungen in ihrem Berufsleben hinter sich haben, können sich gleichfalls nicht mehr sicher sein, wie ihre Zukunft aussieht. Werden sie ihren bescheidenen Wohlstand bis ins Alter bewahren können, oder laufen sie – wie so viele es bereits erlebt haben – Gefahr, eines Tages ihr Leben als Hartz-IV-Empfänger fristen zu müssen? Von der angeblichen Sicherheit unserer Renten ganz zu schweigen!
Nicht anders als die vermeintlichen Eliten, die sich darum sorgen, wie sie mithilfe schweizerischer Banken möglichst wenig Steuern zahlen müssen, scheinen also auch alle Übrigen gut beraten, zuerst einmal an sich selbst zu denken. Gedanken darüber, wie die Chancen der anderen, derjenigen, die bisher keinen Erfolg in ihrem Leben hatten, verbessert werden könnten, haben da bis auf weiteres keinen Platz. Handelt es sich bei den hie und da zu hörenden Appellen an den Gemeinsinn nicht ohnehin eher um Vorstellungen von Ewiggestrigen? Selbst wenn das früher anders gewesen sein sollte: Rapide wächst nun einmal die Zahl der Menschen, die eigentlich darauf rechnen durften, am Ende ihrer Lebensarbeit einen verlässlichen Ruhestand zu erleben, aber plötzlich nicht mehr wissen, wie es mit ihnen weitergehen soll. Was bleibt da noch übrig, als rechtzeitig die eigenen Ellenbogen auszufahren, anstatt irgendwelchen schönen Träumen von einer friedlichen, gerechten und nachhaltig gestalteten Zukunft nachzuhängen? Sind diejenigen jungen Menschen, die darauf hoffen, eines Tages ihre Ideale in die Tat umsetzen und die Welt verbessern zu können, nicht tatsächlich gut beraten, solche Hirngespinste so schnell wie möglich zu vergessen?
Der Fall scheint klar zu sein. Durchaus ehrenwert mag es ja gewesen sein, dass sich die Generation derjenigen, die das ganze Grauen des letzten Weltkriegs, das gegenseitige Zerfleischen der europäischen Völker am eigenen Leib erleben mussten, mit allen Kräften darum bemüht hat, eine wie auch immer geartete Wiederholung unmöglich zu machen. Gewiss war der Traum vom vereinten Europa, den Konrad Adenauer, Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl zusammen mit ihren Partnern dies- und jenseits der deutschen Grenzen geträumt haben, verständlich. Die Zeiten haben sich aber nun einmal grundlegend verändert. Das kommunistische System ist zusammengebrochen. Trotz der weiter andauernden kulturellen und sozialen Konflikte wächst die Welt unter dem unentrinnbaren Einfluss des Internets immer mehr zusammen. Wer nicht imstande ist, schnell und flexibel auf die täglich neu entstehenden wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen der Zeit zu reagieren, ist verloren. Da können auch wir Deutschen es uns wahrlich nicht mehr leisten, immer wieder auf die langsamsten Mitglieder in der Gruppe und auf deren unbewegliche Institutionen Rücksicht zu nehmen! Höchste Zeit also, zuallererst an uns selbst zu denken.
Hat nicht Hans Magnus Enzensberger, nun bestimmt eines rechts gerichteten Nationalismus unverdächtig, in diesem Sinne durchaus Recht damit, das »sanfte Monster Brüssel« für »die Entmündigung Europas« verantwortlich zu machen? Oder der Ökonomieprofessor Max Otte mit seiner Aufforderung, ohne weitere Verzögerung »den Euro zu stoppen«? Wäre also ein Ende mit Schrecken nicht allemal besser als ein Schrecken ohne Ende, der uns Deutsche doch bloß in den Abgrund ziehen würde?
Die Bundeskanzlerin pflegt zwar zu beteuern, dass das weitere politische und wirtschaftliche Zusammenwachsen Europas zur »deutschen Staatsräson« gehöre. Wie aber sieht für die einfache Frau und den einfachen Mann auf der Straße die nüchterne Wirklichkeit aus? Geht es nicht in Wirklichkeit um ein für niemanden mehr überschaubares Gewirr von 27 historisch, sprachlich, wirtschaftlich gänzlich verschiedenen, weder nach der Größe ihrer Bevölkerung noch nach deren Wohlstand wenigstens einigermaßen vergleichbaren Ländern? Beweist nicht der Erfolg billigster nationalistischer Parolen selbst in Ländern wie Finnland oder den Niederlanden, die traditionell der europäischen Einigung so zugeneigt waren, dass eine große Zahl ihrer Bürger an nichts anderes als an ihre eigenen Interessen denken?
Zumindest aus deren Sicht machen da schon wenige Stichworte deutlich, warum sich all die schönen Vorstellungen von einer echten Gemeinsamkeit der europäischen Nationen bisher als schiere Wunschträume, als leere Illusionen erwiesen haben.
Man hat uns gleich nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Systems weismachen wollen, dass es politisch zwingend sei, die endlich wieder frei gewordenen osteuropäischen Staaten – Polen, Ungarn, Tschechien, die Slowakei, Litauen, Estland, Lettland und Slowenien – nun ohne Verzug als Vollmitglieder in die Europäische Union aufzunehmen – ohne ernsthaft zu versuchen, zuerst einmal zu klären, ob sie auch die erforderlichen Voraussetzungen erfüllen Als Gegenleistung haben wir uns nur den ebenso zähen wie erbitterten Widerstand des unverändert amtierenden tschechischen Präsidenten-Hardliners Vaclav Klaus gegen jegliche Schritte zur Verbesserung der gesamteuropäischen Handlungsfähigkeit eingehandelt.
Oder auch die wütenden Blockaden eines zutiefst deutschfeindlichen Zwillingspaars an der Spitze von Staat und Regierung Polens – vom Rückfall der gewählten Mehrheit des ungarischen Parlaments in offensichtlich vordemokratische Verfassungsvorstellungen ganz zu schweigen.
Offenbar sind unsere Politikerinnen und Politiker aus solchen oder ähnlichen Erfahrungen nicht klug geworden. Im Eilschritt und entgegen allen Warnungen haben sie gleich danach die Türen Europas auch noch für Rumänien und Bulgarien geöffnet, wo doch schon der oberflächlichste Beobachter wissen konnte, dass diese Länder aufgrund ihrer kommunistischen Vergangenheit weder in wirtschaftlicher und politischer noch gar in gesellschaftlicher Hinsicht reif für eine Mitgliedschaft waren.
Und zu alledem auch noch das Euro-Abenteuer! Wo doch jeder weiß, dass die Griechen, nicht anders als die Portugiesen und – wollen wir ehrlich sein – natürlich letzten Endes auch die Spanier und Italiener nun einmal eine grundsätzlich andere Einstellung zu Arbeit und Disziplin haben. Wie konnte man nur auf die Idee kommen, diesen Südeuropäern die Stabilität unserer bewährten D-Mark zu opfern? Hätte man nicht vielmehr auf die Warnungen bewährter Experten hören müssen, dass das Abenteuer einer gemeinsamen Währung in eine Katastrophe führen werde, solange sich die beteiligtem Staaten nicht verbindlich auf die strikte Einhaltung einer sparsamen Wirtschafts- und Finanzpolitik festgelegt hätten? War es wirklich sinnvoll, den bis dahin bettelarmen Iren durch unsere Geschenke zu völlig unverdientem Wohlstand zu verhelfen? Klingt es da nicht überzeugend, wenn hochrangige, durch eigene unternehmerische Erfahrungen ausgezeichnete Persönlichkeiten sich nicht den Mund verbieten lassen und uns vorhersagen, wir würden unweigerlich demnächst fatalen Schiffbruch mit dem Euro erleiden, sollten wir solche Länder nicht schleunigst wieder aus dem Währungsverbund hinausschmeißen?
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Die Aufzählung ließe sich unschwer über viele Seiten fortsetzen. An der bitteren Schlussfolgerung würde das nichts ändern. Sie lautet, dass sich das Projekt eines in der Europäischen Union vereinten Europa mitten in einer grundlegenden Legitimitätskrise befindet. Abgesehen von der Selbstverständlichkeit, jederzeit nach Belieben an jeden beliebigen Strand in Urlaub fahren zu können, schert sich die weit überwiegende Mehrheit unserer Bürgerinnen und Bürger keinen Deut mehr um die Vorstellung von einem Europa, das seine globalen Interessen im Wettstreit mit unseren weltweiten Wettbewerbern gemeinsam und solidarisch verteidigen und durchsetzen muss – die sogenannte »Eurokrise« beherrscht das Geschehen, in der Politik wie den Medien, die Ängste der Menschen um ihr Erspartes rauben ihnen den Schlaf.
Um einen der überzeugendsten Anwälte einer Politik, die entschlossen ist, trotz aller Widerstände zäh und beharrlich an der Herkulesaufgabe eines weiter zusammenwachsenden Europa festzuhalten, den luxemburgischen Ministerpräsidenten Jean-Claude Juncker, zu zitieren: »Es verlangt … inzwischen mehr Mut, sich zu Europa zu bekennen, als europaskeptische Töne von sich zu geben.«
Eine zunehmende Zahl derjenigen, die lautstark danach rufen, endlich wieder an uns selbst zu denken, reagiert darauf mit gefährlich steigender Aggressivität. Sie schlägt sich nieder in den Wahlerfolgen alter rechtsreaktionärer oder neu entstandener politischer Parteien, die jegliche Übertragung nationalstaatlicher Souveränität an die Europäische Union als Teufelszeug denunzieren. Genauso erschreckend deutlich wird sie an den astrein populistischen, auf den Beifall der Stammtische zielenden Versuchen, die eigenen Grenzen zu den Nachbarstaaten, die vor noch nicht allzu langer Zeit unter großem Jubel gefallen waren, wieder zu schließen.
Billigste Sprüche weisen in eine ähnliche Richtung. Nicht selten versteckt sich dahinter nackte Eigensucht. Wenn etwa ein englischer Abgeordneter im europäischen Parlament meint, uns Deutschen weismachen zu sollen, dass der Erfolg einer deutschen Pkw-Marke auf dem chinesischen Markt weder größer noch geringer ausfallen würde, ob Deutschland nun einer sogenannten Europäischen Union angehört oder nicht, dann lugt hinter solcher Einfalt nichts anderes hervor als die traditionelle Phobie vieler Engländerinnen und Engländer gegenüber allem, was sich auf »dem Kontinent« abspielt. Und auch die legendäre Sottise des früheren amerikanischen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld, die sich hinter der abschätzig-arroganten Bezeichnung vom »alten Europa« verbarg, mag zwar in erster Linie die geistige Beschränktheit dieses famosen Würdenträgers belegen, dahinter hat sich aber vermutlich durchaus auch das Bestreben verborgen, die eigene Vormachtstellung in der Welt nicht durch das Heranwachsen eines potenziellen Rivalen namens Europa gefährden zu lassen.
In der Tat erfordert es vor einem solchen Hintergrund schon einigen Mut, sich gegen den Strom zu stellen und unmissverständlich eine entschlossene Weiterführung des europäischen Projekts anzumahnen. Dabei nimmt sich dieses Buch nicht heraus, der laufenden Diskussion eine zusätzliche pseudokluge Rechthaberei – oder das nächste Rezept für die »Rettung« des Euro – hinzufügen zu wollen. Jenseits aller feinsinnigen Gedankenspiele geht es darum, die sich täglich verschlechternde Stimmung sehr, sehr ernst zu nehmen.
Denn ohne ein vereintes Europa werden wir weder politisch noch wirtschaftlich im globalen Wettbewerb nicht nur mit den USA, sondern auch mit den immer schneller und entschlossener nach vorn drängenden Mächten des ostasiatischen Raums – an der Spitze China – oder auch mit Ländern wie Indien und Brasilien (und eines nicht allzu fernen Tages auch Afrika) bestehen können. Und wenn dies nicht gelingt, wird es irgendwann aus sein mit unseren Idealen des sozialen Ausgleichs, der Chancengerechtigkeit, der Verantwortung für das gemeine Wohl – und zum Schluss auch der Menschenrechte.
Gewiss mag da manches Mal die Einnahme einer Medizin verlockend erscheinen, die sich im täglichen Leben, und besonders in schwierigen politischen Situationen, verlässlich bewährt hat. Sie heißt »Aussitzen!« – und besagt im Klartext, einfach die Zeit verstreichen zu lassen und geduldig abzuwarten, bis der Wind wieder aus einer günstigeren Richtung weht. Für althergebrachte Segelschiffe war das nahezu zwangsläufig ein guter Rat. Die riesigen Schiffe, die heutzutage auf den Weltmeeren unterwegs sind, verlassen sich jedoch schon längst nicht mehr auf einen solchen Antrieb. Allesamt verfügen sie über leistungsstarke Motoren, die sie auch dann noch manövrierfähig halten, wenn sie in einen Orkan geraten – dem kein noch so starkes Segelschiff und keine noch so sturmerprobte Mannschaft standhalten könnte.
Wie den Segelschiffen wird es auch uns, den Europäern, ergehen, sollten wir uns treuherzig auf günstigere Winde verlassen und in der Zwischenzeit darauf vertrauen, dass wir geübte Segler sind. Schneller als gedacht könnten wir damit unwiederbringlich unsere Zukunft verspielen.
Wollen wir uns das wirklich antun? Wäre es nicht doch ratsamer, den Weg fortzusetzen, der allein dazu geeignet ist, uns in einer Welt zu behaupten, in der inzwischen ganz neue, bisher völlig ungewohnte Spielregeln gelten, Spielregeln, vor deren Härte viele von uns lieber ihren Kopf in den Sand stecken? Und könnten uns die damit verbundenen Mühen nicht sehr viel leichter fallen, wenn wir uns endlich wieder auf eine Vision besinnen, die daran erinnert, dass wir der Zukunft voller Selbstvertrauen entgegensehen dürfen, wenn es uns gelingt, sie in die Tat umzusetzen?
Europa: Der Begriff ist nicht gleichbedeutend mit der Beschneidung unserer individuellen Freiheiten, mit unsinnigen bürokratischen Lasten, mit den immer unverschämter werdenden Erpressungsversuchen durch griechische Taxifahrer oder deutsche Energieerzeuger – er steht für eine begeisternde Herausforderung. Wir können, wir werden sie bestehen, wenn wir es nur wollen. Nur eines setzt das zwingend voraus: Wir müssen sie gemeinsam angehen, mit der Bereitschaft, althergebrachte Überzeugungen auf den Prüfstand zu stellen, mit dem Mut und dem Selbstvertrauen, die sich aus dem Wissen ergeben, dass sich der Weg in eine gute Zukunft nur durch harte Opfer sichern lässt – und zugleich mit Begeisterung und Stolz auf das, was die Geschichte uns als ihr Erbe geschenkt hat!
Und zum Abschluss dieser Vorbemerkung noch ein Hinweis: Als überzeugter Mitbürger unserer freiheitlich organisierten Gesellschaft habe ich selbstverständlich gebührend Respekt vor der angesprochenen Vielfalt von Meinungen und Ansichten von Wissenschaftlern, Journalisten oder Literaten beiderlei Geschlechts (oder auch von den gewohnheitsmäßigen Teilnehmern an Talkshows) zum Thema dieses Buches. Das ändert freilich nichts daran, dass es sich im Kern nicht allein um eine Frage der Ökonomie, der Geschichte, der Kultur – oder der Medienwirksamkeit – handelt, sondern um ein zutiefst in der Politik angesiedeltes Thema. Die ganze Last der Verantwortung liegt damit zunächst einmal bei denjenigen, denen wir in demokratischer Wahl die Aufgabe anvertrauen, in unserem Namen politische Entscheidungen zu treffen.
Es ist und bleibt allemal einfach, sie dafür zu kritisieren – oder gar zu verdammen. Vergessen sollten wir jedoch nicht, dass es an uns selbst, an jeder und jedem von uns, ist und bleibt, wem wir diese Verantwortung durch unsere Stimmabgabe übertragen. Wie hat doch Winston Churchill gesagt: »Demokratie ist die Notwendigkeit, sich gelegentlich den Ansichten anderer Leute zu beugen« – und genau in diesem Sinne spricht dann auch alles dafür, schließlich und endlich Mut aufzubringen und uns alle im Rahmen einer Volksabstimmung zu fragen, ob wir bereit sind, einen solchen Weg mitzugehen.