Kapitel 5

Die Bedeutung des Rauchens in der individuellen Geschichte

Pubertätsabenteuer und -riten

So wie das Rauchen kollektiv seine Hauptimpulse in den schwierigen Zeiten des Umbruchs und Einbruchs von Neuem erhalten hat, beginnt es auch individuell meist in jenen schwe­ren Zeiten, wenn die Kindheit endgültig zu Ende geht und das Neue mit der Pubertät verunsichernd hereinbricht. Das Alte hat mit den Spielen der Kinderzeit seinen Reiz verloren, das Neue ist aber noch nicht recht greifbar und steht so nicht als neuer Halt zur Verfügung.

Ganz ähnlich mag es den zu Hause gebliebenen Männern des 16. Jahrhunderts gegangen sein. Die Alte Welt war ausgereizt, die Neue zwar schon bekannt, aber für sie doch nicht erreich­bar. Über den Tabak konnten sie wenigstens symbolisch ein we­nig Anteil nehmen. Etwas Ähnliches erlebte Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Alte Welt, das sogenannte Tausend­jährige Reich, hatte sich in Trümmer aufgelöst, und die Neue, mächtige Welt, Amerika, war unerreichbar fern. Aber sie hatte in Gestalt ihrer Soldaten Botschafter als Befreier gesandt. Kein Wunder, da avancierten ihre blonden Zigaretten geradezu zum Status­symbol, ja für einige Zeit zum einzig verlässlichen Zahlungsmittel. Über die Zigaretten der Neuen Welt ließ sich gleichsam auch an ihr Anteil nehmen. Dafür nahm man einiges in Kauf. Männer bückten sich demütig nach den weggeworfenen Kippen der Befreier, Mädchen lagen ihnen für ein paar Ziga­retten zu Füßen. So wurden die blonden Zigaretten zu einem Zeichen des Neuen und bekamen das Prestige der Stärke. Der Weg, um an sie heranzukommen, war jedoch zumindest für die Deutschen in allen Punkten einer der Demütigung und eine Demonstration ihrer Schwäche. In Wirklichkeit war man selbst eben kein Weltumsegler, Eroberer oder Befreier; die Zigarette war lediglich ein Ersatz für dieses berauschende Gefühl.

Die beginnende Pubertät bringt den Heranwachsenden in eine ganz ähnliche Situation. Zu gern möchte man das Neue, das sich da sachte ankündigt, schon im Griff haben, möchte auch groß sein und die neue Welt des Erwachsenseins mit Sieben­meilenstiefeln erobern. Wie nahe liegt es da, ersatzweise zu den Attributen dieser Welt zu greifen, um an ihr Anteil zu nehmen. Die konkreten Attribute der neuen kommenden Zeit – etwa die reife Sexualität des Geschlechtsverkehrs, Erwachsenenri­tuale wie das Autofahren und die Verantwortung des Erwach­senseins – sind noch unerreichbar und oft angsterfüllt; an symbolische Wahrzeichen wie Papas Zigaretten oder Mutters Schminke traut man sich schon eher heran. Von der Erwachsenenwelt werden diese Symbole allerdings eifer­süchtig gehütet, was sie nur noch spannender und verlocken­der macht. Dadurch kommen auch noch die bereits erwähnten Abenteurer- und emanzipatorischen Aspekte hinzu.

Durch die Verbote der Erwachsenen bekommt das Rauchen erst jenes verruchte Flair, ähnlich wie die Sexualität, um die es ja ei­gentlich ginge, würde man sich nur trauen. Je strenger die Ver­bote, je drastischer die Warnungen und abschreckenden Hinwei­se auf Risiken, umso verlockender aber die verbotene Frucht der Erwachsenenwelt. Ein normaler Jugendlicher kümmert sich in dieser Zeit nicht ein bisschen um Risiken, die in der Zeit des Älterwerdens liegen. Im Gegenteil, er ist ja, wie der Märchenheld, aus­gezogen, das Fürchten zu lernen, und so wird sein Griff zur ver­botenen Zigarette nur noch zwingender, die Tat noch verwegener – bringt sie ihm doch mehr Prestige. Dieser letzte Punkt ist nicht zu unterschätzen. Unter den Gleichaltrigen, den Mitgliedern der eigenen Clique, geht es jetzt vor allem um Status, und der wird im Wesentlichen über Imponiergehabe angestrebt. Die Bewunde­rung der Geschlechtsgenossen, aber vor allem des anderen Ge­schlechts, muss erobert werden. So ist jetzt auch die Zeit der se­xuellen Prahlereien, der ersten berauschenden Alkoholversuche und anderer Eindruck machender »Mutproben«.

Interessant in diesem Zusammenhang sind Untersuchungen aus verschiedenen Ländern, die unisono bestätigen: Schlechte Schü­ler rauchen besonders häufig. Dieser Zusammenhang dürfte weniger ein ursächlicher sein als vielmehr ein weiterer Hinweis darauf, wie sehr es sich hier um eine Gruppe mit besonders krassen Imageproblemen handelt, deren Imponiergehabe auch vor der Schule nicht haltmacht. Man stellt sich als viel größer und mächtiger hin als selbst die Erwachsenen in verbalen An­gebereien oder konkreten Heldenstücken, dabei möchte man doch nur ein bisschen erwachsen wirken!

Wie sehr die Nachahmung der heimlich bewunderten, nach außen aber bekämpften Eltern eine entscheidende Rolle für die Rau­cherkarriere spielt, ist auch statistisch belegbar. Die Kin­der von rauchenden Eltern werden mit signifikant höherer Wahrscheinlichkeit selbst zu Rauchern als die von nichtrauchenden. Ganz praktisch haben rauchende Eltern natürlich auch wenig argumentative Handhabe gegen ihre rauchenden Sprösslinge. Außerdem werden sie aus der eigenen Verunsicherung her­aus auch die der Kinder und damit auch deren Bedürfnis zu rau­chen besser verstehen. Tatsächlich hat die Rebellion der Kinder, soweit sie sich in Richtung Rauchen bewegt, auch nichts wirk­lich Beängstigendes für die Eltern. Im Gegenteil gefährdet das Rauchen nicht die Autorität der Vorgesetzten, sondern erhält sie eher, wie wir am Beispiel der Soldaten sahen. Der entstan­dene Aggressionsstau und Überdruck richtet sich gegen einen selbst und nicht nach draußen. Im Übrigen enthält das Rauchen der Pubertierenden neben dem Element der Auflehnung gegen die bestehenden Verbote auch ein sehr konformistisches Element. Schließlich wollen die Kinder letztlich so werden wie die Erwach­senen, sie ringen lediglich mit Anpassungsschwierigkeiten.

Wie wenig es in dieser Zeit beim Rauchen um Genuss geht, son­dern viel mehr um Bearbeitung der Selbstunsicherheit durch Imitation der Gestik und des Gehabes von Erwachsenen, zeigen wie­der die ersten Erfahrungen. Aggressiver Hustenreiz, Schwindel und Durchfall verraten den »Schiss«, der in dieser Zeit liegt. Wer »die Hosen nicht so voll« hat und einen harmo­nischen Einstieg in die Sexualität findet, hat bessere Chancen, dem Rauchen zu entgehen. Jedenfalls ließ sich aus vielen Psy­chotherapien dieser Eindruck gewinnen. Es würde auch gut je­ner anderen Erfahrung entsprechen, dass wirkliche Aben­teurer nicht rauchen, sondern nur die verhinderten.

Bei den sexuellen Abenteurern dürfte das sehr ähnlich sein. Tatsäch­lich sind Raucher dann auch später weniger potent, im Gegen­satz zum Image, das die Werbung ihnen baut. In Wirklichkeit ist sexuelle Potenz ganz offensichtlich von ei­ner guten Durchblutung abhängig, und gerade diese ist bei Rauchern problematisch. Laut Hammer klagen 64 Prozent der Raucher über Impotenzerscheinungen. In Extremfällen kann es nicht nur zum Raucherbein, dem Absterben dieses Gliedes aufgrund von Mangeldurchblutung, sondern auch zum Raucherpenis, dem Absterben jenes anderen Gliedes, kommen. Andererseits hatte sich schon gezeigt, wie Rauchen orale Bedürfnisse befriedigt – ebenso wie Küssen, Daumenlutschen und Es­sen – und somit orale sexuelle Erfahrungen ersatzweise kom­pensieren kann. Unterstützt wird diese Argumentation von jenen katholischen Priestern des 18. Jahrhunderts, die ihren hohen Tabakkonsum trotz Verbots mit der nützlichen Abnah­me der geschlechtlichen Begierden rechtfertigten. Interessant ist hier auch, wie sehr sie vor allem zum Schnupfen neigten und diese Gewohnheit sich bei ihnen am längsten und intensiv­sten hielt. Wir erinnern uns an die Schwierigkeiten der Kirchenleitung mit während der Messe schnupfenden Priestern und die entsprechenden vergeblichen Erlässe und Bullen.

Im Volksmund ist die Beziehung zwischen Nase und männli­chem Glied gut bekannt: »Wie die Nase des Mannes, so sein Johannes.« Hier lässt sich eine Brücke schlagen von den schnupfenden Priestern zu den pubertieren­den Nasenbohrern. Beide bearbeiten ihr Thema ersatzweise am selben hochsymbolischen Organ und haben dadurch of­fen­bar Erleichterung auf jenen tabuisierten unteren Ebenen menschlicher Wirklichkeit. Warum sonst sollte Nasenbohren so unschicklich sein? Und warum sonst würde das Nasenbohr-Ritual so hartnäckig beibehalten und mit solcher Lust voll­führt? Jene Spezialisten, die die erbohrten schleimigen Früch­te ihres Genusses anschließend spielerisch auf den Lippen be­wegen, offenbaren den symbolischen Vorgang der Selbstbefriedi­gung noch weitgehender.

So dürfte das Zigarettenrauchen am Anfang vor allem der Selbstbestätigung und dem Aufbau eines künstlichen Erwach­senenimages dienen. Später wird es durchaus auch für Jugendli­che eine Ersatzbefriedigung oraler Lust sein, nachdem die ersten Angst­reaktionen überstanden sind. Unübersehbar ist, wie die körperlichen und seelischen Angstzustände zu Be­ginn des Abenteuers tatsächlich überwunden werden. Die ebenso ferne wie ge­fährliche Erwachsenenwelt schützt sich gewissermaßen gegen unbefugte, nicht zugelassene Eindringlinge; und die Jugendli­chen bestehen die Probe, ihr Körper gewöhnt sich an die neue Welt, und psychisch gelingt es ihnen zunehmend besser, sich ih­ren Gesetzen anzupassen.

Allein schon in diesen Formulierun­gen springt die Ähnlichkeit zu Pubertätsriten sogenannter Pri­mitiver ins Auge. Tatsächlich ist wohl das Rauchen für viele Ju­gendliche solch ein Ersatzritual geworden. Dieser Gedanke bietet sich vor allem an, wenn wir uns erin­nern, wie Rauchen ursprünglich auch aus einem Ritual ent­standen ist, das sich erst im Laufe der Zeit profanierte. Später werden wir sehen, wie sehr es diesen Bezug gerade in unserer in Bezug auf Rituale äußerst unbewussten Zeit immer wieder belebt. Wir glauben heute, ohne Rituale auszukommen, und haben sie aus dem Bewusstsein gedrängt, ohne sie damit allerdings aus der Wirklichkeit verbannen zu können. Wie alles andere lassen sich Rituale wohl beiseite-, aber nicht aus der Welt schaffen. Tatsäch­lich sind sie für das Leben und die Entwicklung sehr wichtig. So leben viele Ri­tuale im Unbewussten weiter und führen im wahrsten Sinne des Wortes ein Schattendasein. Gerade dort, wo wir Modernen uns vor ih­nen besonders sicher fühlen, stehen sie in vollster Blüte, wie et­wa in der hochtechnisierten Medizin. Pubertätsrituale zeichneten sich immer durch eine gewisse Ge­fährlichkeit aus, bewachten sie doch die Schwelle zu jener viel mächtigeren Wirklichkeit der Erwachsenenwelt. Der hier herr­schenden Verantwortung und Verpflichtung auf die Gesetze des Stammes musste sich der Jugendliche in verschiedensten Mut­proben erst würdig und gewachsen erweisen. Im Allgemeinen gingen solche Mutproben auch nicht ohne symbolische Verlet­zungen ab. Das neu in die Gemeinschaft aufgenommene Mit­glied musste seinen Tribut in Form einiger Blutstropfen oder auch der abgeschnittenen Vorhaut bezahlen. Ähnlich wie der heutige Jugendliche seine Raucheinweihung mit Husten, Übel­keit und Erbrechen bezahlt. Für die archaischen Völker bedeu­tete dieser Schritt ebenfalls ein Spiel mit dem Feuer, das meist auch eine symbolische Rolle bei der Einweihung spielte, bringt es doch Licht in einen vorher dunklen Bereich. Die betroffenen Jugendlichen hatten auch ebenso viel »Schiss« vor dem Neuen wie die heutigen, jedenfalls erzählen die entsprechenden Berich­te davon. Die teuer bezahlten Narben wurden anschließend zu Zeichen der neuen Würde.

Bei den Indianervölkern waren die Neuen nun auch zugelassen zu den Ritualen der Er­wachsenenwelt, beispielsweise auch zum Ritual des Rauchens der Friedenspfeife. Allerdings hatten sie durch ihre Initiation viele Vorteile gegenüber heutigen Jugendlichen. Die Einbettung in den rituellen Rahmen des ganzen Lebens ließ sie mit der Einweihung ganz automatisch aller Anerkennung und Rechte des Erwachsenenstatus teilhaftig werden. Niemand, weder ihr Volk noch sie selbst, hatte von nun an den geringsten Zweifel an ihrem Erwachsensein, und ganz natürlich waren sie auch zu all den damit verbundenen Pflichten fähig. Sie mussten nicht noch beweisen, nun Krie­ger zu sein, sondern demonstrierten es ganz selbstverständ­lich aus dem ihnen in der Initiation zuteilgewordenen neuen Selbstverständnis heraus. Wie viel schwerer sind diese Schritte für moderne Jugendliche, und wie wenig Hilfe bekommen sie in dieser Hinsicht durch die letzten Reste der Pubertätsriten, die sich noch in Firmung (lat.: Stärkung, Festigung) und Konfir­mation (lat.: Bestärkung) erhalten haben.

Anthropologen beschreiben vielfach, wie in einer Gesellschaft, die ihren Jenseitsbezug verliert, der Genuss in den Vordergrund tritt. Beispielhaft dafür stehen die Ägypter und Griechen, die Römer, aber auch unsere eigene Kultur. Ein heutiger Jugendlicher muss sich in Ermangelung äußerer Anleitung selbst einwei­hen, und die neue Religion des Genusses liefert ein entsprechendes Genussritual, wenn sie auch vor den eigentlichen Genuss die für Einweihungen typischen Ängste und Schrecken bei der er­sten Zigarette stellt. Für den Pubertierenden unserer Zeit ist es ein echtes Spiel mit dem Feuer, das es als letztes der vier Elemen­te zu erobern gilt. Erde, Wasser und Luft standen ihm für seine Spiele längst zur Verfügung, nun geht es um das gefährlichste der Elemente, das die Erwachsenen – wie die antiken Götter – am längsten für sich behalten wollen. Tatsächlich muss es ihnen, wie in der Mythologie von Prometheus und Loki, erst abgejagt, um nicht zu sagen gestohlen werden, und auch hier drohen drastische Strafen. »Messer, Schere, Gabel, Licht sind für kleine Kinder nicht!« Will man kein kleines Kind mehr sein, ist jetzt die Zeit gekommen, sich das Licht zu erobern. Der mangelhafte rituelle Rahmen, die fehlende Hilfe aus der zu erobernden Erwachse­nenwelt, die Behinderung statt der helfenden Hand belasten den Jugendlichen in seiner Unsicherheit und erschweren ihm drastisch den vorgezeichneten Weg.

Wo immer Eltern eine einfühlsame Initiation in die Er­wachse­nenwelt vornehmen, werden die Probleme dieser Übergangszeit gemil­dert, und die Jugendlichen finden leichter Halt auf der neuen Lebensebene. Geschehen kann das zum Beispiel durch die rechtzeitige Einweihung in den Umgang und das Spiel mit dem konkreten und später dem sexuellen Feuer oder etwa auch das rituelle Rauchen einer ersten gemeinsamen Zigarette. Vor allem in rechtzeitiger sexueller Aufklärung bis hin zu den Möglichkeiten der Ekstase liegt eine große Chance. Untersuchungen ergeben, je un­beholfener und bewusstloser die Umgebung mit Pubertätsproblemen umgeht, desto sicherer landen betroffene Jugendliche bei Zigaretten.

Echte Einweihung ist niemals Selbsteinweihung und bedarf immer der von der anderen Seite gereichten Hand. Insofern sind Jugendliche, die ganz auf sich selbst und ihr eigenes Ri­tual angewiesen waren, einfach nicht richtig eingeweiht in die neue Welt des Erwachsenseins. Sie werden damit auch nicht selbstsicher in dieser Welt agieren und leben können, fehlt ih­nen doch die Billigung von höchster Stelle. Mit der Abschaf­fung der Götter müssen die Eltern notgedrungen deren schwe­re Aufgabe mit übernehmen. Ist die religio, die Rückverbindung zur jenseitigen Welt, noch intakt, kommt es übrigens nachweislich seltener zum Ausweg ins Rauchen.

Zusammenfassend lässt sich sagen: In der Pubertät be­gin­nendes Rauchen ist ein Zeichen von Verunsicherung, man­gelhaftem Selbstwertgefühl und der Schwierigkeit, mit dem Neuen umzugehen. Der Verdacht liegt nahe, dass diese Proble­me bei vielen Rauchern auch später weiterbestehen. Hinweise dafür sind zahlreich, wie etwa die Werbung zeigt, deren Hauptthema der Aufbau eines entsprechen­den Images für die Raucher ihrer Marke ist. Wer ein verlässliches Bild von sich und seinem Wert hat, braucht sich kein frem­des Pseudoimage zimmern zu lassen.

Anbandeln und andere Versuche, Halt zu finden

Wenn wir dieser Spur weiter folgen und uns dem Thema Selbstsicherheit im späteren Leben widmen, können uns die schon be­rührten Bereiche orales Verlangen und das Thema »Halt finden« wei­terhelfen. Das Kleinkind erlebt seine Welt ganz natürlich über Mund und Bauch, weshalb beide auch eine zentrale Rolle in seinem Erleben spielen. Jeder seelische oder körperliche Schmerz wird von ihm in den Bauch projiziert und mit Schreien quittiert. Das Nuckeln bzw. Saugen ist ein von Geburt an vorhandener Reflex, und das Baby sucht und findet seinen Halt und Lebensinhalt mit dem Mund. Wenn ihm Nuckeln an Brust oder Flasche nicht mehr ausreicht, wählt es oft den Daumen zur frühesten Form von Selbstbefriedigung. Später bekommt es noch den Schnuller und beginnt erst dann allmäh­lich, sich mit den Händen die nähere Umwelt zu erobern, aller­dings am liebsten an der sicheren Hand der Mama. Die Hände gewinnen nun an Bedeutung, auch wenn das Schmu­sen im­mer noch wichtig bleibt. An allem möglichen Interessanten wird weiterhin gelutscht, und Belohnungen nehmen im Wesent­lichen weiter den Weg über die orale Sphäre, etwa in Form von Süßigkeiten.

Erst mit der Pubertät kommt eine endgültige Phase der Ablösung. Das orale Verlangen wird allmählich von der Genitalität, der reiferen ge­schlechtlichen Sexualität, abgelöst. Der wesentliche Halt sollte nun weniger von den Eltern kommen als vermehrt von eigenen Inhalten und Interessen außerhalb des Elternhauses. Wenn in dieser Phase ein so deutlicher Rückfall auf die orale Sphäre ge­schieht, wie es beim Rauchen der Fall ist, sprechen Psychologen von einer Regression. Ein Verhalten wie das Saugen und Nuckeln, das eigentlich überholt ist, wird verstärkt wieder auf­genommen. Vom reflexhaften Nuckeln des Neugeborenen führt eine direkte Kette über Daumenlutschen, Schnul­lern, Na­schen, Ablutschen und Anknabbern aller möglichen Schreib-Werkzeuge (oder Fingernägel) eigentlich zum Schmusen und Küssen, wird aber beim Raucher und besonders beim Kettenrau­cher wieder in reflexhaftes Nuckeln an seiner »Lutsche«, wie manche entlarvenderweise die Zigarette nennen, zurückgeführt.

Eine Regression ist immer ein Zeichen mangelnden Ver­trauens zur nächsten Ebene, in unserem Fall dem Selbstständig- und Unabhängigwerden. Der Schritt von der Mundbezogenheit zur Mündigkeit wird nicht getan. Unfähig dem Neuen zu vertrauen, kehrt man zu der alterprobten Si­cherheit des Saugens zurück und nuckelt sich durchs Leben. Der Raucher ersetzt auf diese Weise die direkte Kontaktauf­nahme und den direkten Genuss über die Schleimhäute der Lip­pen beim Küssen durch die weniger ängstigende indirekte Kon­taktaufnahme über die Lunge, unser zweites Kontaktorgan. Den Lippenkontakt zu der weniger gefürchteten schlanken, blonden (Zigarette) gewährleistet das Rauchen im Übrigen eben­falls. So wird aus dem seelisch tiefgehenden, körperlich harm­losen Kusskontakt der seelisch oberflächliche, körperlich tiefge­hende Rauchkontakt. Der verbindliche physische Kontakt wird durch den unverbindlichen Luftkontakt ersetzt, bei dem das wässrige weibliche Seelenelement nicht mehr zum Zuge kommt bzw. durch das harmlosere männliche Luftelement ersetzt wird. Erst viel später wird im Schleim der Raucherlunge dann wieder deutlich, worum es eigentlich gegangen wäre, nämlich um ein wässrig-seelisches Thema.

Für die mit der weiblichen Natur eng verbundenen Indianer ist der Schleim ein Symbol lebensspendender Kraft. An die Stelle von seelischem Austausch mit einem geliebten Partner ist das Ausspucken des lebendigen Schleimes getreten, wodurch der Raucher anstelle von Nähe und Zuneigung Abwehr und Ekel ge­gen sich schafft. Hier wird gut deutlich, wie ein unbehandeltes Symptom mit der Zeit immer weiter eskaliert. Dadurch steigt die Chance, doch noch Aufmerksamkeit zu erregen und Behandlung zu erfahren. Küssen wird also durch Rau­chen vertreten, und wir haben den klassischen Fall einer Symptombildung vor uns, bei der ja fast immer seelisch Unange­nehmes auf die körperliche Ebene verschoben wird, auch mit all den Nachteilen, die die spätere Symptomentwicklung im Körper mit sich bringt.

Beim Raucher kommt erschwerend hin­zu, dass die Chance auf erfüllende Kusskontakte auch zukünftig nicht gerade rosig ist, stinken die Raucher doch so manchem in Form des sich schnell entwickelnden üblen Mundgeruchs. Auf der Ebene der Haltsuche an der Zigarette sieht das Ergebnis für den Raucher letztlich auch nicht viel besser aus. Überspitzt ausgedrückt könnte man es folgendermaßen zusammenfassen: statt an der Hand von Mama die eigene Zigarette in der eigenen Hand wie Papa! Da aber die Zigarette, selbst wenn sie immer zur Hand ist – worauf Raucher peinlichst achten – und viel­leicht sogar niemals ausgeht, doch keine echte Sicherheit und keinen wirklichen Halt bietet, werden die Unsicherheit und Haltlosigkeit vieler Raucher immer wieder, sozusagen zwischen den Zeilen, deutlich.

Betrachten wir einige typische Rauchsituationen. Etwa die Par­ty, auf die man eingeladen ist, ohne die anderen Gäste zu ken­nen. Zuerst einmal unterstützt einen hier die Zigarette. Da man die Situation nicht so schnell in den Griff bekommt, kommt rechtzeitig der Griff zur Zigarette. Jetzt kann man sich schon mal einfach zu den anderen Rauchern gesellen, schließlich ist man ja auf ihren Aschenbecher angewiesen. Oder man organi­siert sich selbst einen Ascher, setzt sich irgendwo hin und bietet den Umsitzenden ebenfalls eine an. Schon ist das Eis gebro­chen, und das übliche Raucherspiel nimmt seinen Lauf. Man bekommt im Gegenzug Feuer angeboten und beginnt in trauter Verbundenheit zu qualmen. Selbst wenn die oder der andere ab­lehnt, bleibt immer noch die Frage »Stört es Sie?« mit allen sich daraus für ein Gespräch bietenden Möglichkeiten. In jedem Fall ist die eigene Unsicherheit überspielt und der Raucher in die Runde integriert. Selbst wenn all das nicht klappt, tut man dennoch den Gastgebern einen Gefallen, schließlich ist man we­nigstens beschäftigt.

Damit sind die Vorteile des sozialen Rauchens aber noch längst nicht erschöpft. Neben der Solidarität, die gemeinsames Rau­chen schafft und die, wie jede Gemeinsamkeit, zwischen­menschliche Hemmungen abbaut, ist es auch eine Möglichkeit, seine Rücksicht zu zeigen, wenn man jemanden, der einem be­sonders am Herzen liegt, demonstrativ vor dem eigenen Qualm schützt oder sogar seine Bereitschaft signalisiert, die Zigarette auszudrücken, sobald sich jemand »Empfindliches« gestört zeigt. Damit unterstreicht man auch gleich noch die eigene Här­te, denn man selbst lässt sich natürlich von so einer Lappalie nicht stören. Aber der Stärkere gibt eben nach und demonstriert seine Gutwilligkeit.

Mit dem Anbieten zeigt man auf sehr einfache Art Freundlich­keit und in manchen Fällen auch mehr. Bietet man jemandem vom anderen Geschlecht sein Feuer an oder fragt gar: »Können Sie mir (Ihr) Feuer geben?«, so ist das symbolisch schon eine ganze Menge und doch sozial völlig abgesichert. So schützt die Zigarette den Unsicheren idealerweise vor Gesichtsverlust beim Flirt. Tatsächlich scheint das gesellschaftliche Empfinden die Kontaktprobleme des Rauchers auch zu kennen und entschuldigend zu decken. Wie anders ist es zu erklären, dass es Rauchern als Einzigen erlaubt ist, so mit der Tür ins Haus zu fal­len und mit ihrer Zigarette sich selbst so unverblümt anzu­bieten. Man stelle sich vor, ein gesunder nicht rauchender Mann würde eine ebensolche Frau mit den platten Worten anspre­chen: »Darf ich Sie an meinem Feuer teilhaben lassen?« Solche Plattheiten sind tabu für Gesunde und den Rauchern wohl nur in Kenntnis ihrer Hemmungen und vielleicht auch aus dem Wis­sen um ihr besonders dringendes Bedürfnis nach echtem Kon­takt gestattet.

Soweit Rauchen übrigens primär zum Flirten oder, wie man in Bayern sagt, zum »Anbandeln« benutzt wird, kann man ihm zugutehalten, wie sehr es hier im Dienste des Zurückfindens auf den richtigen Weg steht.

Ursprünglich war das pubertäre Rauchen gerade eine Flucht aus der beängstigenden Kontaktsituation. Wenn es nun zum Kontaktieren genutzt wird und damit vielleicht zu einer befriedigenderen oralen Erfahrung führt, ist es immerhin ein Selbstheilungsversuch. Wie begierig die Raucher nach sol­chen Heilungsversuchen verlangen, kann man auf jeder Party beobachten: Die Luft ist wie im tiefsten Indianerland erfüllt von Rauchzeichen, die, wie alle Signale der Körpersprache, aus der sicheren Deckung heraus abgegeben werden können und nicht den Mut offener verbaler Signale erfordern. Aber nicht nur beim Flirt, auch in manch anderer Hinsicht können das Bewegungsritual und die Mimik des Rauchens helfen, die eige­ne Nervosität bis hin zur Erregung zu überspielen. Während ein Nicht­raucher in vergleichbarer Situation vielleicht nervös am Rock­saum zupft oder gar Fingernägel kaut, hat der Raucher sein Spielzeug immer dabei und kann sich sozusagen mit Feuerzeug, Schachtel und Zigarette freispielen. Nägel beißen, was ja nichts anderes als das Stutzen der eigenen Krallen, unserer stammes­geschichtlichen Aggressionswerkzeuge ist, hat er sowieso kaum nötig, da ihm mit dem Rauchen eine sozial viel anerkann­tere Möglichkeit zur Verfügung steht, seinen Überdruck abzu­lassen bzw. seine aggressiven Regungen zu kastrieren. In psycho­therapeutischen Anamnesen erfährt man – wohl aus diesem Grund – nicht selten, wie häufig Nagelbeißen anlässlich der Pubertät gegen Rauchen ausgetauscht wird.

Zur Not, wenn das Spiel der Gesten nicht ausreicht, von der ei­genen Unsicherheit abzulenken, kann sich der Raucher immer noch hinter seinen selbstgewebten Rauch­vorhang zurückzie­hen. Aber nicht nur Unsicherheit und Unbeholfenheit kann er kompensieren, sondern sogar Sicherheit und Lässigkeit demon­strieren und so eine fast perfekte Selbstdarstellung bieten. Die Zigarette gibt ihm nicht nur Halt und Haltung, einen Schutz­schild aus Rauch, sondern auch ein Flair des Geheimnisvollen, Besonderen, auf jeden Fall Individuellen. Fast jeder Raucher entwickelt seine eigene Art zu rauchen, baut seine Identität dar­auf auf und macht sie zu seinem Markenzeichen, während er in Wirklichkeit doch nur für ein fremdes Markenzeichen steht. Mit kritischem Verstand und Symbolverständnis darf man all diese Gesten und Verhaltensregeln nicht betrachten, sonst stößt man schnell auf den schattigen Gegenpol. So wie das Image zwar ein aufwendiges, aber doch nur geborgtes ist, sind Höflichkeit und Rücksichtnahme des Rauchers doch eher das Angebot, eine Dreistigkeit zu unterlassen. Er verzichtet sozusagen darauf, die anderen anzustänkern. Selbst die Freigebigkeit beim Zigarettenanbieten bekommt einen Beigeschmack, wenn man die hil­fesu­chenden Versuche, Kontakt aufzunehmen, darin erkennt. Letztlich zeigt sich dem, der auf diese Art beobachten kann, im Rauchverhalten viel von der Persönlichkeit – wie in jedem Ver­haltensmuster.

Und so kommen neben den für die meisten Rau­cher typischen auch sehr unterschiedliche und vielfältige Züge und Muster zum Vorschein. Natürlich steckt hinter nervösen, saugenden Zügen ein gieriger Zug, während einzelne große, ru­hige Züge eher einen großzügigen Zug enthüllen. Selbst die Hal­tung der Zigarette lässt sich sehr weitgehend deuten, wenn wir an jene Extreme denken, wo die Glut sozusagen in der eigenen Hand verborgen wird, oder die umgekehrte Situation, wenn die Zigarettenhand locker nach hinten kippt und die empfindliche Stelle des Handgelenks entblößt. Der erste Fall spricht eben von der zurückgenommenen, versteckten Glut, während im zweiten Fall die Bereitschaft offenbar wird, sich noch weitgehender zu entblößen und zurücksinken zu lassen. Doch wollen wir diese Spezialfälle wieder zugunsten jener häufigen Muster verlassen, die sehr viele Raucher angehen, und das Party-Thema mit einem letzten Rückblick beenden.

Es war ein netter Abend mit oberflächlichem Geplänkel statt tiefgehender Konversation, hübsche kleine Häppchen wurden gereicht, die den Hunger nicht wirklich stillen konnten und auch nicht sollten, es wurde ein bisschen getanzt und gescherzt und ein bisschen geflirtet und dazwischen geraucht. Tiefe Be­gegnung war genauso wenig Thema wie echte Sättigung, es roch erst ein bisschen nach Liebe, aber dann gab es doch keine, nur Schall (Party-Smalltalk) und viel Rauch (um nichts).

Nehmen wir nach dem Partybeispiel das einer Besprechung oder Diskussion. Hier kommen die sozialen Raucher besser zum Zug als die oralen. Viele der Partymuster bewähren sich auch hier, doch haben Diskussionsraucher zusätzlich noch ihre besonderen Tricks. So können sie mit Hilfe ihrer Rauchutensi­lien ganz spielerisch und nebenbei ihr Territorium am gemein­samen Tisch abgrenzen. Das harmlose Spielzeug entlarvt sehr deutlich die scheinbar geheimen Absichten. Wie die sprichwört­lichen Sandkastenspiele der Militärs werden hier mit wenigen Figuren Pläne abgebildet, und der aufmerksame Beobachter sieht so schon frühzeitig, wann der rauchende Feldherr den nächsten Ausfall plant und gegen wen der sich richten wird. Und sogar Distanz lässt sich rauchend ausdrücken. Wem man mehrmals den Rauch ins Gesicht geblasen hat, der versteht ohne allen Symbolbezug die Zeichen des Augenblicks und wird sich überlegen, ob er gegen diesen üblen Gegenwind antreten will. Andererseits werden Zigaretten auch benutzt, um Zeit und Si­tuationen ein- und abzugrenzen. Die dringend benötigte Ziga­rettenpause ist eine Möglichkeit, jederzeit ein Gespräch ab- oder doch wenigstens zu unterbrechen. Mit einer letzten Ziga­rette lässt sich alles Mögliche abschließen, und schließlich kann man sich jemandem für eine Zigarettenlänge zuwenden. Ande­rerseits lassen sich aus der Untergebenenposition lästige oder gar peinliche Pausen mit Rauchen oder Zigarettengefummel überbrücken und damit Entspannung vortäuschen, wo das Ge­genteil herrscht. Die Pausenzigarette wie die Zigarettenpause sind dabei sozial so fest etablierte Begriffe, was vor Unterstellungen der Wahrheit relativ gut schützt. So lässt sich, bevor man offensichtlich völlig sinnlos herumsitzt, doch etwas so Pseudosinnvolles tun, wie die eigene Asche zu entsorgen. Und wer schon wenig zu sagen hat, kann wenigstens genügend vielsagend blauen Dunst verbreiten. Ja, nach einer gewissen Zeit kann man sich sogar schulterklopfend bescheini­gen, die anderen hielten sich alle im eigenen Dunstkreis auf. So wird der Glimmstängel zur sozialen Balancierstange, die Halt gibt, weil man sich daran tatsächlich festhalten kann, und die zugleich Möglichkeiten zu einer gewissen Darbietung liefert. Nebenbei und weniger erwünscht zeigt sich al­lerdings auch, was für ein kleines Licht man die ganze Zeit über zu bieten hat.

Machtwolken statt Machtworte

Neben der wieder deutlich gewordenen Möglichkeit, die eigene Befangen­heit geschickt zu überspielen, verraten die angeführten Bei­spiele noch eine andere Möglichkeit, die Zigarette und ihre Accessoires einzusetzen: die Ausübung von Macht. Neben dem Ersatz für echte Selbstsicherheit und wirkliche Liebe kann die Zigarette offenbar auch Ersatz für echte Macht und Auto­rität bieten. Dieses Thema dringt in letzter Zeit im­mer mehr in den Vordergrund in dem Maße, wie Rau­cher seit gut 100 Jahren erstmals wieder auf massiven Widerstand stoßen. Bei Auseinandersetzungen zwischen Rauchern und Gesundheits­aposteln in Büros und Schlafzimmern, Flugzeugen und Zügen geht es manchmal heiß her, seit sich die Nichtraucher immer be­wusster als solche fühlen und brüsten. Erst kürzlich kam es, bei entsprechen­der Gelegenheit, in München zum »Fenstersturz«: Als ein Nichtraucher seinen typischerweise frierenden rauchenden Zimmerkollegen daran hindern wollte, das Fenster zu schlie­ßen, wurde er aus selbigem geworfen und erheblich ver­letzt.

An sich ist die Machtsituation sehr eindeutig geklärt. So wie der Laute dem Stillen natürlich überlegen ist, ist es der Raucher dem Nichtraucher. Das war im Mikro- und Makrokosmos schon immer so. Was nützt etwa den Skandinaviern ihr strenger Um­weltschutz, wenn der Dreck munter aus England angeflogen kommt? Oder was hilft den gefahrenbewussten Österreichern, dass sie ihr technisch vorbildliches Atomkraftwerk schließen, wenn in allernächster Nähe die viel unsichereren tschechischen oder slowakischen vor sich hin strahlen? Den Rauchern schlägt aber inzwischen eine massive Parteinahme der politischen Obrigkeit entgegen, die froh ist, an ihnen ein Exempel nach dem anderen zu statuieren und Entschlossenheit vorzutäuschen.

Nachdem sich über 100 Jahre lang kaum jemand ernsthaft am Rauch gestört hat, ist es nun beinahe weltweit wieder so weit. Und diesmal kommt der Druck nicht nur von oben, sondern von allen Seiten. In S- und U-Bahnen, Schu­len und Ämtern, Flugzeugen, in Taxis und Fabrikhallen sieht es längst düster aus für den blauen Dunst, und für die Zukunft muss man sogar ganz schwarzsehen, nachdem nun auch noch Restaurants schon tabu sind und Raucher in kleine käfigartige Dunsträume verwiesen werden.

Die Gegner haben sich mächtig formiert und die Zeichen stehen auf Sturm. Vielleicht gelingt es diesem Buch, etwas mehr Verständnis für die Raucher zu schaffen und sie als das zu sehen, was sie im Wesentlichen sind: Abhängige, Selbstunsichere, Ängstliche und erwachsen spielende Unreife, Menschen also, die es eher schwer mit sich selbst haben, statt es anderen böswillig schwermachen zu wollen. Selbst wenn sie sich ausnahmsweise noch einmal mit Gestank bemerkbar machen oder gar durchset­zen statt mit sachlicher Autorität, bleiben sie doch im Allgemei­nen bedauernswerte Opfer ihrer eigenen Schwäche.

Es sind wirklich nur wenige innerhalb einer verschwindend kleinen Minderheit, die aus ihrer Schwäche und Unsicherheit über die Kompensation hinaus ein Machtinstrument machen, mit dem sie ande­re absichtlich und nach Belieben drangsalieren. Ein Trick kommt ihnen dabei zugute: Sie machen ihr Problem zum Allgemeinproblem, und irgendwie haben sie auch recht damit, denn schließlich stinken ja alle und alles – und nicht nur sie selbst. Stinken allerdings tun sie im übertragenen Sinne nur den ande­ren, und das ist ihr strategischer Vorteil. Scheinhei­lige Suggestivfragen enthüllen diese Situation. Was eigentlich eine Bitte sein müsste, wird von diesen Rauchern in eine selbst­verständliche Feststellung umgemünzt: »Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich rauche!!?« Oder: »Es stört Sie doch nicht, wenn ich rauche!!?« Wer darauf antwortet: »Aber selbstverständlich!«, wird staunend erleben, wie sicher sich der Raucher mit seiner Strategie fühlt und wie selbstverständlich er trotzdem anfängt zu rauchen. Ein deutliches, wenn auch sehr veraltetes Bild dieses Rauchertyps ist der gewichtige Kapitalist, dessen Frack sich über dem überdimensionalen Bauch spannt, dessen Daumen locker hinter die Hosenträger gespreizt sind, wobei die Rechte noch die Zigarre hält, während aus Mund und Nase dicke Rauchwolken quellen. Gerade jener Typ also, dem wir im 19. Jahrhundert begegnet waren, als er sich und seiner Zigarre zum Durchbruch verhalf, und der sich um die Jahrhundertwende be­reits wieder anschickte, zusammen mit seinem Markenzeichen zu verschwinden bzw. die Form zu wandeln. Beide mussten ziemlich ab­specken, um im nächsten Jahrhundert in ihren schlan­keren Versionen noch erfolgreicher zu werden. Natürlich braucht es eine ganze Menge Ehrlichkeit, sich einzu­gestehen, wie mit Rauchen Macht und Druck ausgeübt wird. Als Nächstes gilt es dann zu erken­nen, wo der sich im Rauch ersatzweise entladende Macht­anspruch eigentlich hinzielt, wo der eigene Willen so wenig zum Zuge kommt, dass er sich Zug um Zug in Form von Rauchwolken durchzusetzen versucht?

Selbstbelohnung und Selbstbefriedigung

Weitere typische Gelegenheiten, wo Zigaretten auftauchen, sind Situationen, in denen eigentlich Belohnungen fäl­lig wären. Hier haben Raucher Gelegenheit, jederzeit selbst korrigierend ein­zugreifen, wenn die Umwelt die fällige Belohnung verweigert. Zigaretten sind ein immer ver­fügbarer sinnlicher Genuss, in der Symbolik direkt in einer Linie mit den Süßigkeiten der Kindheit. Das Urprinzip der Venus lässt grüßen. Unter diesem Muster finden sich häufig Raucher, die erst abends, nach getanem Tagewerk, zum Glimmstängel greifen und sich selbst ein Licht anzünden.

Wo das Hauptmotivation zum Rauchen ist, ließe sich fragen, warum es ei­gentlich niemand anderen gibt, der einem die notwendigen Be­lohnungen zukommen lässt, und warum man sich so häufig selbst und wofür belohnen muss. Vielleicht ist Selbstbelohnung schon zur Gewohnheit oder gar Sucht geworden. Im Leben sol­cher Raucher ist ein hohes Maß an Unzufriedenheit zu vermuten. Der entscheidende Punkt ist natürlich, ob es drei oder dreißig solcher Selbstbefriedigungen während des Tages gibt. Außerdem verrät der Rauchschwer­punkt, wann das größte Defizit an Zuwen­dung besteht: am Morgen, nach der Arbeit, nach dem Essen oder abends?

Es gibt noch eine Fülle von Situationen, die besonders häufig zur Zigarette greifen lassen, und ebenso viele seelische und so­ziale Gründe dahinter. Oft bedürfen sie auch gar keiner weite­ren Deutung: Wenn etwa ein Raucher sagt, die Zigarette sei sein einziger Freund, fehlen ihm eben echte Freunde, und die Zi­garette enthüllt in ihrer Ersatzfunktion genau diesen Fehler. Ähnliches gilt, wenn sie als eine Art Schutzgeist empfunden wird. Nur spielt hier noch der religiöse Bezug mit herein. Weitere Gründe für Zigaretten sind sowohl Anregung und Konzentrationshil­fe als auch paradoxerweise Beruhigung, Entspannung und die Möglichkeit abzuschalten, wie es sich aus der ebenfalls paradoxen Wirkung des Nikotinmoleküls ergibt. Hier ist auch Raum für die Ver­dauungszigarette, die »schlankmachende Zigarette« und die »Schweig­samkeitszigarette« .