Kapitel 4

Die Deutung des Rauchens aus seiner Geschichte heraus

Eroberungssucht und ihre Kehrseite

Die beste Möglichkeit, aus dem Rauchen etwas für den eigenen Lebensweg zu machen, scheint uns, es ehrlich von allen Seiten zu betrachten. Seine Gegner und Anhänger haben oftmals bei­de recht, doch kommt es darauf nicht an. Aber Wertung führt uns nicht weiter, lediglich das Bewusstsein für die eigenen Mo­tive, zu rauchen oder nicht zu rauchen, es zu verteidigen oder zu bekämpfen, kann weiterbringen. Rauchen ist mit Si­cherheit ein Symptom, und Abhängigkeit ist ein Symptom mit Krankheitswert. Aber militantes Nichtrauchen ist ebenso Sym­ptom, obendrein eines, das das gleiche Problem verrät. Als Krankheitssymptom wollen wir das Rauchen folglich auch be­handelt sehen, und damit steht dem Raucher das gleiche Anrecht zu wie jedem anderen Kranken: Er verdient es, mit seinem Problem ernst genommen zu werden, und ebenso Mitgefühl und Schutz vor Angriffen. Sonst werden Kranke auch nicht für ihre Symptome beschimpft und moralisierend niedergemacht. Wenn wir die Symptome in ihrem Ausdruck ernst nehmen, können sie Stufen auf dem Weg werden. Sie zu bekämpfen wird dagegen, wie die Geschichte zeigt, nichts bringen. Die eigentliche Aufgabe heißt sogar, sie lieben zu lernen, denn dann können wir an ihnen am besten wachsen. So wie wir auch am meisten wachsen, wenn wir unsere Feinde lieben lernen, wie Christus das fordert. Und betrachten wir nicht Symptome oft ge­nug als Feinde, als unsere inneren Feinde? Diese inneren Feinde aber spiegeln die äußeren und sind uns Aufgabe auf dem Lebensweg, an beiden gilt es gleichermaßen zu wachsen.

Ein wichtiger Schritt zur Deutung eines Symptoms ist die Betrachtung des Zeitpunktes seines Auftretens, am besten des ersten Auftretens, und anderer wichtiger Ereignisse, die in die­sen Zeitraum fielen. So haben wir mit unserem Ausflug zu den Kindertagen des Rauchens schon eine wichtige Vorarbeit gelei­stet.

Das erste Auftreten des Rauchens bei uns hängt offensichtlich mit der Entdeckung und anschließenden Ero­berung der Neuen Welt zusammen. Damals wurde ganz Europa von Abenteuerlust erfasst, und viele Menschen spürten diese Sehnsucht nach der Ferne, den geheimnisvollen Duft der großen, weiten Welt. Nun waren es aber zahlenmäßig sehr wenige, die die wirklichen Reisen in die Neue Welt unternehmen konnten, den allermei­sten fehlten wohl Gelegenheit und Mut. Für sie, die Zu Hause Gebliebenen, mussten die Mitbringsel der Abenteurer, die Kolonialwaren, den Duft der weiten Welt ersatzweise verbrei­ten. Und nichts war dazu geeigneter als der Tabak, auf den da­mals nicht zufällig die wundervollsten Eigenschaften projiziert wurden. Durch Tabakrauchen ließ sich wenigstens ein wenig Anteil nehmen an Abenteuer und Mut der Weltumsegler. Im Tabak-Aroma spürte man gleichsam die bestandenen Gefah­ren und Mutproben mit – bequem zurückgelehnt im heimi­schen Lehnstuhl. Der Rauch, der sich so frei in den phanta­stischsten Figuren schwebender Leichtigkeit erging, spiegelte wohl etwas wider von dem, was einem auf der anderen Seite der Weltkugel entging, dort nämlich, wo die eigentliche Entwick­lung weiterging, von der man selbst ausgeschlossen blieb. Ganz ähnlich wie wohl der Rauch den Indianern die andere Seite der Wirklichkeit, die der Götter, spiegelte, die auch ihnen wichtiger als die eigene war und doch verborgen blieb. Allerdings durchschauten die Menschen des 16. Jahrhunderts dieses Spiel mit Projektionen im Gegensatz zu den bewusst damit umge­henden indianischen Schamanen nicht einmal im Ansatz. Das ist bis heute so geblieben.

Noch immer sind es dieselben Illusionen, mit denen die Zigarettenwerbung arbeitet, noch immer muss der Rauch von Zigaretten den ewig zu Hause Sitzenbleibenden, Mutlosen den Duft der großen, weiten Welt ersetzen. Der Geruch von Abenteuer wird auch heute durch Rauchillu­sionen ersetzt, und Schwaden bläulichen Rauches spiegeln dem typischen Büromenschen auf ihrem phantasievollen Weg in die Schächte der Klimaanlage die Freiheit und Ungebundenheit der weiten Welt.

Hier zeigt sich ein Aspekt des Rauchens, und natürlich ist nicht jeder Raucher davon betroffen und automatisch ein feiger Stubenhocker. Diejenigen allerdings, die die Abenteuermarken bevorzugen, sollten vorsichtig mit vorschneller Abwehr sein. Denn auch in so kleinen Dingen wie der Lieblingsmarke zeigt sich sehr viel Ehrliches. Das Symptom ist per Definition ein Schattenanteil und zeigt gegenpolige ungeliebte Dinge. Rauchende Abenteurer sind eher unecht, sonst müssten sie nicht ersatzweise zu Aben­teurerzigaretten greifen; aber sie wären es zu gern, wenn sie sich nur trauten!

Plötzlich mit einer unangenehmen Wahrheit konfrontiert zu werden, das löst verständ­licherweise Widerstand und Abwehr aus. So lässt sich dieses Phänomen sogar auf dem Weg zu mehr Eigenehrlichkeit benutzen, denn je mehr Entrüstung und Abwehr eine Deutung hervorruft, desto sicherer liegt hier der Hund begraben. Eigen­blindheit ist nichts Böses, sondern etwas Selbstverständliches. Für seinen eigenen Schatten ist jeder Mensch zuerst einmal blind, und es bedarf einer Menge Mutes, Licht ins eigene Dunkel zu bringen, für den Abenteuerraucher offensichtlich eine doppelt schwere Herausforderung. Das Thema »Eroberung einer neuen Welt« wollen wir damit fürs Erste verlassen, wobei wir, wenn es um die Eroberungen in der Welt der Erotik geht, dort­hin zurückkehren müssen.

Angst und Haltlosigkeit im großen und im alltäglichen Kleinkrieg

Dem Lebenslauf des Rauchens konnten wir auch entnehmen, dass der Pest eine große Rolle bei seiner Verbreitung zukam. Die Angst vor dem Schwarzen Tod ist eine der Grundängste des Menschen geblieben. Bis heute haben die Kinder Angst vor dem Schwarzen Mann. Und wer sollte sich hinter diesem ver­bergen, wenn nicht Gevatter Tod. Auch moderne Erwachsene zieht dieses Thema ungebrochen in seinen Bann, wie etwa am Erfolg von Filmen wie »Halloween« und ähnlichen Grusel­epen zu sehen ist. Wann immer diese Grundangst nicht kon­frontiert, sondern verdrängt wird, sinkt sie in den Schatten und begegnet uns draußen in der Projek­tion. Durch Flucht und Verdrängung lässt sich keinem Thema, schon gar keinem Urthema, entkommen. So hatte auch die Flucht ins Rauchen aus Pestangst etwas Makabres, wenn wir an die moderne Karikatur denken, die den Tod mit Zi­garette in der Knochenhand zeigt und deren Bildunterschrift lautet: »Rauchen macht schlank«. Dem, was sie gerade ängst­lich meiden wollten, kamen schon die damaligen Raucher gerade na­he, dem Tod. Dieses große Thema zeigt sich hier sogar am gleichen Körperschauplatz: Lun­genpest und Lungenkrebs begegneten sich. Die Lunge aber ist nach der Haut unser zweites Kontaktorgan,6 und ihre Erkran­kung auf den Tod zeigt uns damals wie heute ein nicht bewäl­tigtes, in den Schatten gesunkenes Kommunikationsproblem, das sich erst auf der Körperbühne wieder zeigen und ausleben kann.

Von einigen Medizinern wird uns heute eine enorme Zunahme an Lungenkrebserkrankungen vorausgesagt, und das wieder­um könnte auf eine Parallele zwischen beiden Zeiträumen hin­weisen. Der Schwarze Tod der Lungenpest markierte sehr dra­stisch ein Kommunikationsproblem am Umbruch zur Neuzeit. Möglicherweise ist unser Kommunikationsproblem, das sich in den vielfältigen Lungenerkrankungen von der Bronchitis bis zum Lungenkrebs spiegelt, ebenso ein Markstein am Übergang zu einer neuen Zeit, die als »New Age« schon längst am Ho­rizont geortet wurde und sich nun in den Träumen von einem neuen Zeitalter, beginnend mit dem Jahr 2012, widerspiegelt.

Auf jeden Fall können wir feststellen, wie Rauchen neben Angst auch ein Kommunikationsproblem abbildet. Auch darauf werden wir zurückkommen, sobald wir die vielfältigen Möglichkeiten betrachten, über Rauchen in Kon­takt zu kommen, »anzubandeln«, um eigene Kom­mu­ni­ka­tionsprobleme wie Unsicherheit und Hemmungen zu überspie­len. Vorerst mag der Verdacht genügen, Raucher hätten Kontaktprobleme und seien eher ängstliche Zeitgenossen. Dass dies wiederum dem von der Zigarettenwerbung gemalten Rau­cherbild so diametral widerspricht, mag anzeigen, wie richtig diese Fährte ist.

Ein weiterer Förderer des Rauchens ist uns im Krieg begegnet. Das hat sicher auch wieder mit der Angst zu tun, die Menschen in Kriegszeiten erfasst. Angst ist Enge (lat. angustus = eng); Menschen machen sich eng, ziehen sich in ihre nächsten Grenzen zurück, um all den lauernden Gefahren kein Ziel zu bieten, und werden dadurch gerade verletzbar. Auch im Körper ziehen sich die Blutgefäße zusammen, und das Blut, Symbol des Lebens, flieht nach innen. Die Randbezirke des Kör­pers werden vernachlässigt, die (Haut-)Grenzen geschlossen. Wir spüren es daran, wie kalt uns wird, und sagen auch: »Mir läuft ein kalter Angstschauder über den Rücken.« – »Ich habe kalte Füße bekommen« steht neben seiner konkre­ten Bedeutung sogar synonym für »Angst bekom­men«.

Natürlich ist die Mangeldurchblutung der Extremitäten nicht gerade sinnvoll in Angstsituationen, denn um sich der Gefahr zu stellen, bräuchte es gerade belebte Füße und Beine, und selbst zur Flucht sind wir auf deren Lebendigkeit und damit Durchblu­tung angewiesen. Der Körper zeigt uns hier, was wirklich mit uns los ist: Wir stellen uns eben nicht, sondern haben uns in unser In­nerstes verkrochen, sind für gar nichts von draußen mehr offen. Durch Zittern – vor Kälte oder Angst gleichermaßen – versucht der Organismus, noch ein wenig Wärme zu produzieren und uns am Leben zu halten. Denn würden Angst und/oder Kälte unbegrenzt zunehmen, müssten wir vor Angst (Schreck) oder Kälte sterben bzw. erfrieren. In solch unangenehmen Angstsituationen greifen Raucher mit Vorliebe zur Zigarette. Die Angstmomente des täglichen Lebens sind dabei genauso wirksam wie jene des Krieges. Der Griff zur Zigarette soll die Si­tuation erleichtern, aber wie schon im Fall der Pest bewirkt er ge­nau das Gegenteil. Mit jedem Zug werden die Gefäße noch enger gestellt, die Mangeldurchblutung nimmt weiter zu und ver­schlechtert die Situation.

Es ist bekannt, wie sehr Raucher zu Durchblutungsstörungen wie Raucherbein oder Herzinfarkt neigen. Chronisch kalte Füße und Hände sind der erste Schritt dorthin. Darüber hinaus machen sie ehrlich, zeigen sie doch, wie Raucher tatsächlich ständig kalte Füße in des Wortes Doppelsinn haben. Ein schon vertrautes Muster: Anstatt sich die Angst einzugestehen, flieht der Raucher zur Zigarette, und die rettet ihn nicht, sondern macht seine Situation noch deutlicher und damit ehrlicher.

Einen überdeutlichen Hinweis in diese Richtung gibt die erste Zigarette im Leben. Von ihr bekommt man neben Schwindel und Übelkeit oft auch Schiss, was nur ein ordinäreres Wort für Angst ist. So zeigt schon die erste Zigarette, wie viel Rauchen mit Angst und üblem Schwindel zu tun hat. Man will wer weiß wie erwachsen dastehen, und der unange­nehm ehrliche Körper zeigt, was für ein Schwindel das ist. Bevor man sich’s versieht, hat man gar »die Hosen voll«.

Die Angst ist aber nur ein Charakteristikum des Krieges, andere liegen in den frei werdenden Aggressionen und der herrschen­den Haltlosigkeit, der Verunsicherung aller bisherigen Werte und dem totalen Mangel an Genuss. Ohne Zweifel entladen sich in jedem Krieg die Aggressionen auf allen Seiten, und ohne Zweifel wird von Soldaten besonders stark geraucht. Wir kön­nen vermuten, dass Rauchen in dieser Situation nicht nur ein, wie wir gesehen haben, vergeblicher Ableitversuch für die Angst ist, sondern auch ein Ventil für aufgestaute Aggressionen und ein Versuch des Soldaten, in einer Zeit ohne Werte und Halt bei der Zigarette wenigstens symbolisch Halt zu finden. Hinzu kommt die prinzipielle Tendenz zu Haltlosigkeit bei Soldaten, wie sich bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten in Schläge­reien, Vergewaltigungen, Plünderungen, Alkohol­orgien und anderen Exzessen zeigt. Tatsächlich sollen Soldaten sogar haltlos sein, werden mit Vorsatz gefügig gemacht, und schon während ihrer Ausbildung wird ihnen mit Absicht das seelisch-geistige Rückgrat gebrochen. Umso gerader und aufrechter muss das physische beim Exerzieren gezeigt werden. Soldaten sollen nicht mitdenken, sie sollen gehorchen und funktionieren, und das wird ihnen beim Drill des Exerzierens, Strammstehens usw. beigebracht. Sie sollen ihre In­dividualität weitgehend aufgeben, weswegen sie, in gleiche Bewegungsmuster gezwungen, mit Einheitshaarschnitt versehen, in Uniformen (= gleiche Form) ge­steckt werden. Auch ihre moralische Haltlosigkeit ist militärisch erwünscht, müssen sie doch von einem Moment zum anderen auf Befehl Verbrechen wie Mord und Totschlag begehen, die bis­her als gänzlich tabu galten.

Wer innerlich so haltlos gemacht bzw. zumindest in seinen Wertgefühlen verunsichert ist, greift leicht nach jedem Strohhalm, wenn er nur Halt verspricht. Und die Zigarette verspricht diesen Halt. Dass der letztlich natürlich Illusion bleibt, versteht sich von selbst. Wie sollte dieses kleine mit Tabakschnipseln ge­füllte Papierröhrchen äußeren oder inneren Halt geben? Jedoch die Illusion genügt anfangs, und da mag es schon viel sein, immer eine Zigarette im Griff zu haben, wenn man sonst gar nichts im Griff hat. Wo alle anderen verlässlichen Anhaltspunkte so fern liegen wie im Schützengraben, kann man sich wenigstens je­derzeit an seinem Glimmstängel festhalten.

So ist die Zigarette auch hier wieder Er­satz – Ersatz für echten Halt; und der Raucher kann sich fra­gen, inwiefern er mit dem Rauchen seine Haltlosigkeit symbo­lisch bearbeitet und sich vorspiegelt, die Dinge im Griff zu ha­ben, während es in Wirklichkeit nur der Sargnagel ist. Für den im Schützengraben liegenden Landser mag das glim­mende Ende seiner Zigarette auch den Funken Hoffnung spie­geln, der immer bleibt; nur eine glimmende Hoffnung zwar, aber doch ein Lichtpunkt in der Finsternis und Ausweglosigkeit seiner Lage. Am liebsten lässt er dieses Licht gar nicht mehr aus­gehen, als symbolisiere es wirklich das Leben. Viele wurden hier zu Kettenrauchern, und darin liegt wieder ein eindrucksvolles Bild – die Kette der glimmenden Lichtpunkte, die niemals ausge­hen, wie das Ewige Licht in der Kirche, und anzeigen: Hier ist noch Leben. Tatsächlich haben auch heute Kettenraucher von sich ein Bild besonderer Lebendigkeit und Aktivität, sie nei­gen dazu, diese Zigarettenkette als Stütze und Hilfe bei ihrem gewaltigen Tagespensum anzusehen. Das viel näher liegende Bild des Kettenhundes, der da im wahrsten Sinne des Wortes ab­hängig und unfrei am Gängelband zappelt, übersehen sie lieber. Kein Wunder, ist es doch ihr Schattenthema und damit viel ehrlicher und unangenehmer. Wieder sind Lebendigkeit und Akti­vität die Wunschvorstellung, und die Wahrheit liegt im Gegen­pol, in der fesselnden Kette der Abhängigkeit und der Angst vor der eigenen Hilflosigkeit.

Zum Thema Aggressionsentladung mag der Schlüssel auch schon in der Sozialisation zum Soldaten liegen. Bei der Art der Ausbildung, der zwangsweisen Entwurzelung durch die Einberufung, der Entmündigung und Reduzierung aller Persönlichkeitsrechte muss Aggression im Überfluss vorhanden sein, von der auf den Feind projizierten ganz zu schweigen. Diese aufgestaute Aggression dürfte sich in den unzähligen Zigaretten ent­laden, über die Soldaten »Dampf ablassen«. In der Tat gehört die Zigarette wie das tägliche Brot zu je­der Soldatenration auf beiden Seiten der Front. Als ein ameri­kanischer General, dessen Division lange auf ihren Einsatz war­ten musste, von einer aufgeregten Reporterin gefragt wurde, was sie jetzt am dringendsten bräuchten, antwortete er: »1. Zigaretten, 2. Zigaretten, 3. Zigaretten!«

Selbst in Friedenszeiten hat das Militär den Effekt, jungen Soldaten neben dem lichten Anspruch von Zucht und Ordnung auch die Schattenseiten Rauchen, Saufen und Fressen näherzubringen. Das Problem wird auch bei der deutschen Bundeswehr deutlich: Da müssen zum Beispiel Züge der Bahn vor auf dem Rückweg in die Kasernen betrunken randalie­renden Wehrpflichtigen geschützt werden. Ein Gutteil der Wehrpflichtigen kommt durch den Drill zu Übergewicht und Zi­garettenabhängigkeit statt in Form und verliert die ursprüngli­che Motivation für Studium und Beruf. Auch insofern ist der überfällige und nun vollzogene Abschied von der Wehrpflicht kein schmerzlicher. Bei allen medizinischen Untersuchungen zeigt sich, wie selten psy­chosomatische Erkrankungen bei kämpfenden Frontsol­daten auftreten – im Vergleich zu den Soldaten in der Etappe. Das wird regelmäßig von Wissenschaftlern dahingehend interpretiert, Frontsoldaten hätten alle Möglichkei­ten, ihre Aggressionen im Kampf auszuleben und ihrer Angst Ventile in konkreten Taten zu schaffen. Die überwältigen­de Masse der Soldaten kämpft aber auch im Krieg nicht, son­dern wartet darauf oder langweilt sich oder ist mit routinemä­ßigen Nachschubproblemen befasst und hat so kaum Ventile für Aggressionen.

Dass ein Zusammenhang zwischen Aggressionsstau und Rau­chen besteht, legt schließlich auch das zeitliche Zusammenfal­len von Massenindustrialisierung und massenhaftem Zigaret­tenkonsum nahe. Seit die Schlote rauchen, rauchen auch die Menschen wie die Schlote. Mit der Dampfmaschine wurden die Menschen fähig, den unter Druck gesetzten Dampf für sich ar­beiten zu lassen. Aber dabei gerieten auch sie selbst immer mehr und massenhaft unter Druck und Dampf; und so, wie ihre Dampfmaschi­nen über Ventile verfügten, um den Überdruck abzulassen, brauchten auch die Arbeiter, die unter zunehmendem Druck an ihnen schufteten, Ventile, um ihren Überdruck und gestauten Dampf loszuwerden. Die Zigarette entwickelte sich hier zum idealen Ventil, um – im wahrsten Sinne des Wortes – bei jeder »notwendigen« Gelegen­heit Dampf abzulassen. Dampfmaschinen sind inzwi­schen längst überholt, aber der Druck in unserem Leben ist noch größer geworden. So sind Zigaretten als Überdruckven­tile notwendig wie je. Der Medizinsoziologe von Troschke7 formulierte vor nicht zu langer Zeit, unsere Gesellschaft könne sich aus ebendiesem Grunde gar kein Rauchverbot leisten. »Das Un­zufriedenheitspotenzial würde beträchtlich ansteigen, wenn wir das Zigarettenrauchen wirklich ersatzlos abschaffen könnten. Die Zigarette gehört zu den für die moderne Gesellschaft unver­zichtbaren Beruhigungs- und Anpassungsdrogen …«

Es bleibt festzustellen, das Rauchen scheint ein Weg zu sein, aufgestaute Aggression über den Körper abzudampfen. Der Verdacht liegt nahe, Raucher hätten Probleme, mit ihrer Aggression fertigzuwerden bzw. sie zur richtigen Zeit ein­zusetzen. Wie später noch vonseiten der Medizin zu erfahren sein wird, richten sie mit dem Rauchen aber die Aggressionen gegen sich selbst. Das stabilisiert wohl die Gesellschaft, ruiniert aber im selben Atemzug die eigene Gesundheit. Wie sehr ihnen das alles stinkt, zeigen sie nachdrücklich, indem sie alles vollstinken und -stänkern. Typischer Raucheratem und Husten, mit dem sie morgens schon den neuen Tag begrü­ßen, verraten, wie es in ihnen aussehen mag. Sie husten sozusagen schon dem gerade beginnenden Tag etwas. So wer­den die Aggressionen, die herausdrängen, zwar unüberhörbar, aber Chef oder Partner, denen sie eigentlich gelten, sind noch nicht gezwungen, sie auf sich zu beziehen. In diese Richtung ist auch die hohe Anpassungsbereitschaft, die immer wieder bei Rauchern zu finden ist, einzuordnen. Nach außen brav, lassen sie es in der eigenen Lunge brodeln. Die chronische Entzündung der Bronchien ist das körperliche Abbild des chroni­schen Konfliktes, in dem der Raucher lebt. Sich ihm offen zu stel­len dürfte der Mut fehlen, und so tobt der Krieg ersatz­weise in der Brust. Bild und Ablauf einer Entzündung entsprechen tatsächlich bis in die Einzelheiten einem Krieg.

Selbst die Sprache verwendet identische Worte: Kriege und Konflikte entzünden sich genau wie Gewebe und Organe. Erreger erregen die Truppen des Körpers, provozieren Abwehrreaktionen und liefern sich Gefechte mit An­tikörpern; Fresszellen stürzen sich in Kamikaze-Manier auf angrei­fende Antikörper, weiße Blutkörperchen bilden Abwehrwälle und kesseln die Gegner ein Der anfallende Kriegsschrott wird jeden Morgen ausgehustet und enthüllt die Spuren der unentwegt vor sich hin schmorenden Auseinandersetzung. Ein Raucher lebt also in einem chronischen Kriegszustand, ver­gleichbar einem Stellungskrieg. Der Schauplatz ist seine Lunge, das Kommunikationsorgan. Er hat offensichtlich nicht den Mut, sich seine Aggressivität einzugestehen und in die notwen­dige Auseinandersetzung mit seiner Umwelt einzubringen. Dies ist verständlich, und wir hatten gesehen, wie sein Mut und seine Abenteuerlust sich auf Spiele mit den phantasievollen Rauchwolken des blauen Dunstes beschränken.

Ersatz für orale Liebe und Emanzipation

Als letztes Charakteristikum des Krieges wollen wir noch den fast vollkommenen Mangel an Genuss auf seine Beziehung zum Anstieg des Rauchens untersuchen. Heraklit formulierte: »Der Krieg ist der Vater aller Dinge.« Nun braucht es offensichtlich neben einem Vater auch eine Mutter. Der Gegenpol des Krieges8 wäre der Frieden, Gegenspielerin des Kriegsgottes Mars die Liebes- und Frie­densgöttin Venus. In Kriegszeiten scheint tatsächlich nur Mars zu regieren. Andererseits hatten wir schon anfangs dargelegt, wie nichts wirklich verschwinden kann. Wenn also ein­mal ein Pol der Wirklichkeit extrem in den Vordergrund rückt und sein Gegenüber scheinbar aus der Welt drängt, finden wir diesen Gegenpol mit Sicherheit im Schatten wieder. Und tat­sächlich begegnet uns das Urprinzip Venus im Krieg überall im Schatten. Die von ihren Familien und Frauen weit entfernten Soldaten fallen bei jeder Gelegenheit – und oft sogar vergewaltigend – über die Frauen im Feindesland her. Auch darin spiegelt sich Venus – nur eben von ihrer Schattenseite. Oder aber Venus übernimmt das Regiment in den Bordellen, die wie Pilze aus dem Boden schießen, wo immer Soldaten verweilen. Neben der sexuellen Liebe fallen auch alle oralen Bedürfnisse unter das Venusprinzip; und da zum Küssen so selten Gelegenheit ist, das Essen meist nicht reicht, sie sich zum Daumenlutschen aber zu erwachsen fühlen, wird bei jeder Gelegenheit getrunken oder geraucht. Das Nuckeln an der Zigarette ist ein ganz wesentlich orales Stimulans und mit Sicherheit kein Zeichen von Männlichkeit, wie sich noch deutlicher zeigen wird. Aber es ist die für alle am Krieg beteiligten Soldaten einfachste Methode, zu Genuss zu kommen, dem Alkohol weit überlegen, da besser dosier- und transportierbar. Außerdem ist ein rauchender Soldat eher bes­ser einsetzbar. Er beruhigt seine Ner­ven, tut damit etwas gegen die Angst, kann seinen Überdruck situationsadäquat ablassen und hat immer wieder eine Freundin an der Hand oder gar zwischen den Lippen. Darüber hinaus re­duziert die Zigarette den Hunger – und sogar den sexuellen –, er­laubt sie doch, das entsprechende Prinzip auf ihrer Ebene zu le­ben. Alkohol wäre dagegen viel problematischer, von einer wirk­lichen Freundin ganz zu schweigen.

Bleibt festzustellen, wie viele Raucher auch ein orales oder ein Ve­nusproblem haben – je süchtiger sie saugen, desto deutlicher wird dies. Raucher zeigen rauchend, wie wenig ihre oralen Genussbedürf­nisse über andere Wege befriedigt wer­den. Dieses chronische Unbefriedigtsein wird besonders deutlich, wenn sie keinen Zigarettennachschub bekommen. Viel­fach versuchen sie dann, sich über einen der anderen Venuswege Befriedigung zu verschaffen, und stürzen sich beispielsweise auf Essen und Trinken. Steht die Zigarette nicht mehr im Dienst der aggressi­ven Überdruckableitung, kann es natürlich sein, dass sie explo­dieren und ihrem Stau über diesen Weg Luft verschaffen. Bei an­deren kommt in solch einer Situation ihre ganze uneingestandene Angst zum Ausdruck, und sie werden von Nervosität um­getrieben. Tatsächlich kann jede Entzugssituation sehr deutlich und ehrlich zeigen, wo der Schwerpunkt des Problems liegt.

Als letztem Punkt aus der Geschichte des Rauchens wollen wir uns noch jenem häufig auftauchenden Zusammenhang mit emanzipatorischen Bestrebungen zuwenden. Tatsächlich war die Verfolgung des Rauchens oft deshalb so hart und brutal, weil die Raucher mit ihren Dunstwolken auch ganz offensiv politi­sche Ziele verbreiteten. In Russland und der Türkei formierte sich der Widerstand in den Kaffeehäusern, wo hauptsächlich ge­raucht wurde. In Preußen war die Zigarre ein Symbol der Bürger­potenz und der Auflehnung gegen die Obrigkeit. Peter der Gro­ße blies mit Tabakrauchwolken den Mief aus seinem Reich und Verunsicherung in den Klerus. Der hatte schon frühzeitig den Rachen des Rauchers zum Höllenschlund erklärt, wohl wegen der ähnlichen Rauchentwicklung in beiden Fällen. Die deut­schen Revolutionäre von 1848 kämpften unter anderem gegen das Rauchverbot.

Noch heute ist die Zigarette vor allem für auf­strebende Karrierefrauen ein Zeichen der Macht und Eroberung bisher männlicher Privilegien. Der entsprechende Nachholbe­darf zeigt sich in der rasanten Zunahme des Zigarettenkonsums unter jungen Frauen und Mädchen. Auch die Studentenbewegung von 1968 zeich­nete sich durch eine enorme Rauchentwicklung aus, wobei au­ßer Schall und Rauch wenig von ihr blieb. All diesen Be­wegungen war das Gegen-die-Autorität-»Anstinken« gemein­sam, und tatsäch­lich ist das Anblasen mit Tabaksqualm ein äußerst aggressives Vorgehen, nur das Anspucken mit Kauta­bak könnte noch herabsetzender sein. Dieses Phänomen blieb al­ler­dings eine rein amerikanische Sitte. Als die Engländer einmal einen ihrer Könige zur Hinrichtung führten, bliesen sie ihm tat­sächlich Tabaksqualm, den er hasste, ins Gesicht.

Alle diese Erhebungen zeigen, wie sehr Rau­chen in der Rolle der Ersatzfunktion blieb und niemals echte Au­torität ersetzen konnte, solange es beim »Stänkern« blieb. Wo viel Qualm ist, muss durchaus kein großes Feuer sein, im Gegen­teil, ein starkes Feuer entwickelt meist gar nicht viel Rauch. Die Rauchrevolutionen verliefen dann auch häufig nach dem Mot­to: »Viel Rauch um nichts.« Die Affinität vieler Aufständischer zum Rauchen mag sich auch aus ihrer oft extrem gefährlichen Si­tuation erklären, die Verunsicherung und Angst mit sich brach­ten. Als wir jedenfalls der Studentenrevolution stundenweise die Glimmstängel entzogen, wurden die Pausen plötzlich wichtiger als die ganze Diskussion. Auch wurde die Angst sichtbar vor dem frischem Wind, den wir in die Universität und von da aus in die Welt bringen wollten, wenn sich tatsächlich ein bisschen frischer Wind in den Qualm der Diskutierstuben gemischt hatte. So lässt sich feststellen, dass offenbar viele Raucher einen emanzipatorischen Anspruch in sich tragen, der jedoch häufig den Weg durch den dichten Qualm nicht findet. Wie sehr sie die­sen Anspruch auch nötig haben, wollen wir uns im Folgenden an­sehen.

6 Detailliertere Informationen und Ableitungen zu dieser Art von Bedeu­tungszuordnung von Organen und auch Krankheitssymptomen finden sich in meinem Buch Krankheit als Symbol (C. Bertelsmann, München 2008).

7 Jürgen von Troschke: Das Rauchen. Genuss und Risiko. Birkhäuser, Basel 1987.

8 Eine ausführliche Ableitung der Parallelen zwischen Entzündung und Krieg findet sich in meinem Buch Krankheit als Sprache der Seele (Goldmann Arkana, München 2007).