11.
Als ich eintrat, erschraken beide. Claire fuhr hoch, und der alte Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, knallte auf den schmierigen Boden. Auch der junge Mann sprang auf.
Ich hatte mich geirrt, dass kein Licht brannte: Auf einer Kiste, die als Tisch benutzt wurde, stand eine Kerosinlampe, aber ihr Docht war so weit hinuntergeschraubt, dass sie nur trübes Licht abgab. Allerdings genügte der Schimmer, um zu erkennen, dass ich in eine Unterkunft blickte, die man nach einer kräftigen Renovierung durchaus als Bruchbude hätte bezeichnen dürfen. Auf einem niedrigen Feldbett in der Ecke lagen ineinander verdrehte Laken und ein großer Rucksack im Armeestil, und auf einer weiteren Kiste stand ein Primuskocher neben einem halben Dutzend ungeöffneter Konservenbüchsen. In einer anderen Ecke häuften sich leere Dosen und Flaschen. Man musste schon ziemlich große Angst haben, um sich so zu verstecken.
Den kecken, geschniegelten jungen Burschen mit der teuren Frisur auf dem Foto, das Sheila Gainsborough mir gezeigt hatte, erkannte ich kaum wieder. Sammy Pollocks dunkles Haar hing jetzt schlaff und fettig herunter, und schon mehrere Tage lang hatte kein Rasiermesser sein Kinn berührt. Er sah ungewaschen und müde aus. Andererseits hatte er es hier auch nicht gerade bequem. In seine Müdigkeit spielte jedoch etwas anderes hinein, das sein Gesicht stumpf machte und sich um seine Schultern schlang: die angespannte Erschöpfung eines Mannes auf der Flucht.
»Hübsch habt ihr’s hier«, sagte ich. »Alles Eigenleistung?«
Sammy schob eine Hand in die Jackentasche. »Hat Largo Sie geschickt?«
»Largo?«, fragte ich und lächelte. Ich beugte mich vor und drehte die Flamme der Kerosinlampe hoch. »Ist doch recht, oder? Ich schreibe einen Artikel für Schöner hausen und möchte mir eure Bleibe ein bisschen näher ansehen.« Als ich es tat, wurde mir bewusst, dass wir zu viert im Raum waren: ich, Claire, Sammy und ein drei viertel Meter hoher, sehr grüner, sehr orientalischer Dämon. Oder Drache. Oder Teufel. Was immer er war, er war ein hässlicher Hurensohn, so viel stand fest. Er grinste mich an, und zwischen Jadezähnen schlängelte sich seine lange Zunge hervor. Sammy bemerkte, wie ich die Statue beäugte.
»Nehmen Sie sie mit«, sagte er. »Sagen Sie Largo, er soll mich in Ruhe lassen. Ich gehe nicht zu den Bullen. Ich mache gar nichts. Nehmen Sie sie einfach mit und hauen Sie ab.«
»Danke für das Angebot«, sagte ich, »aber das Ding passt nicht zu meinen Vorhängen. Ich bin auch nicht wegen der Zimmerdekoration gekommen, sondern deinetwegen.« Was immer er in der Jacketttasche hatte, er umfasste es fester. Ich sagte: »Na, na!« und schüttelte den Kopf. »Denk nicht mal dran, Sammy. Du bist schon ein großer Junge, aber nicht so groß.«
»Wer sind Sie?«, fragte Claire und starrte mich mit großen, angsterfüllten Augen an.
»Schon gut, Claire. Ich bin der Kerl, der mit Ihnen über Sammy reden wollte. Seine Schwester, Sheila Gainsborough, hat mich engagiert, um ihn zu suchen. Sie macht sich Sorgen um ihn.«
Ihre Mienen hellten sich auf, und unglaubliche Erleichterung erfüllte die kleine, schmutzige Bauernkate; es war eine Erleichterung, als hätte jemand, unmittelbar nachdem die Titanic den Eisberg gerammt hatte, eine kleine Flotte Rettungsboote gefunden, von der zuvor niemand gewusst hatte. »Ich bin sicher, Paul Costello hat euch alles von mir erzählt«, fuhr ich fort. »Paul und ich haben ein kleines Schwätzchen gehalten, ehe er dir aus dem Rampenlicht folgte. Wo ist Costello eigentlich?«
Ich bekam meine Antwort umgehend. Jemand war so nett, sämtliche Lichter zu löschen, damit ich das Feuerwerk in meinem Kopf besser sehen konnte, als ich eins auf den Schädel bekam.
***
Ich erwachte in der Hölle. Zumindest war das mein erster Gedanke, nachdem mein Gesichtssinn wieder zueinander gefunden hatte. Der Dämon, zu dem ich hochsah, war nicht aus Jade geschnitzt. Er bestand aus einem viel härteren Material.
»Was ist passiert?«, fragte ich, obwohl ich wusste, dass Singer mir nicht antworten konnte. Er half mir auf. Ich war noch immer in dem Häuschen. Sammy, Claire und der kleine grüne Gott waren es nicht. An ihrer Stelle stand Twinkletoes McBride vor mir, geduckt wegen des niedrigen Kopfraums. Es sah aus, als stützte er das ganze Dach. Das wäre für ihn wahrscheinlich keine Herausforderung gewesen. Auch Willie Sneddon war anwesend. Er beäugte mich maliziös und zog an seiner Zigarette.
»Irgendwo ist hier ein Aschenbecher«, sagte ich, als Singer mich auf den Kistentisch sinken ließ. »Bloß keine Asche auf den Teppich. Ich hab gerade Frühjahrsputz gemacht.«
»Sie hören aber auch nie auf mit Ihrer Klugscheißerei, Lennox«, sagte Sneddon.
»In schwierigen Zeiten empfinde ich sie als tröstlich.«
Ich stützte den Kopf auf beide Hände und versuchte ihn stillzuhalten, damit das Pochen im Schädel aufhörte. Vorsichtig betastete ich meinen Hinterkopf. Die Haut war nicht aufgeplatzt, aber hinter meinem Ohr war ein halbes Ei verstaut, und es schmerzte höllisch. Man hatte mir mit einem Totschläger von hinten eins überzogen. Die Art von Hieb, mit dem man einen Mann ins Jenseits befördern kann. Weshalb das Ding auch Totschläger heißt. Ich stellte mir vor, wie er hinter mir durch die Luft pfiff, und als ich der imaginären Hand über den Arm und die Schulter weiter nach hinten folgte, blickte ich in Costellos Gesicht. Früher oder später erwischte ich Costello junior schon noch. Dann begann die Partysaison.
Ich sah zu Sneddon hoch und runzelte die Stirn; mich hatte plötzlich ein Gedanke getroffen. So etwas schien mir zur Gewohnheit zu werden. »Wie haben Sie mich gefunden?«
»Singer ist Ihnen ein Weilchen gefolgt. Im Stillen«, sagte Sneddon und grinste boshaft. »Das kann er gut, was im Stillen machen.«
»Warum haben Sie mich von Singer beschatten lassen?«
»Nennen Sie es Rückversicherung. Mir ging der Gedanke nicht aus dem Kopf, dass Sie vielleicht so was wie einen Interessenkonflikt durchleben.«
»Wie hat er ...«
»Er hatte jemanden bei sich. Tam. Hat er immer. Er hat Tam befohlen, zum nächsten Dorf zu fahren und mich anzurufen. Den Rest schreibt er mir auf. Er sagt, zwei Kerle und eine Schnepfe wären hier rausgeschossen, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Als Singer und Tam merkten, dass Sie nicht nachkamen, gingen sie rein und guckten nach. Sie glaubten, Sie wären tot.«
»Wie lange bin ich k.o. gewesen?«
»Eine Stunde. Wir sind gerade gekommen. Wir hatten Sie sowieso gesucht.«
»Ach?«, sagte ich. Dann sah ich Twinkletoes’ Gesicht. Der Ausdruck machte mir Sorgen. Jeder Ausdruck auf Twinkletoes’ Gesicht – außer einem Grinsen – machte mir Sorgen.
»Tut mir leid, Mr. Lennox«, sagte Twinkletoes. »Es ist wegen Davey.«
»Davey Wallace? Was ist mit ihm?«
»Der hat was auf die Fresse bekommen«, sagte Sneddon in einem Tonfall, der mir verriet, dass es ihm völlig gleichgültig war. »So richtig was auf die Fresse.«
»Er liegt im Southern General, Mr. Lennox«, sagte Twinkletoes mit traurigem Bariton. »Das ist einfach nicht richtig. Überhaupt nicht richtig. Das ist skan-da-lös. Jawohl, scheiß-skan-da-lös.«
»Kommt er wieder in Ordnung?«
Sneddon zuckte die Schultern.
»Wie ist es passiert?« Ich versuchte, mir den Nebel aus dem Kopf zu schütteln. Als es mir endlich gelang, sah ich Daveys eifriges, junges Gesicht vor mir. Was immer ihm zugestoßen war, ich war dafür verantwortlich. »Ich muss gehen.« Ich wollte aufstehen, aber die Erdanziehungskraft hatte etwas dagegen.
»Ich fahre Sie«, sagte Twinkletoes, als er mich auffing, als wäre ich ein Kind, das zum ersten Mal Rollschuh fährt.
»Mein Auto ...«, sagte ich schwach. »Es steht hinter der Kurve. An ein paar Bäumen.«
Singer wies schweigend auf sich und streckte die Hand aus. Ich gab ihm meine Autoschlüssel und nickte. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber in letzter Zeit wirkte sein Starren nicht mehr so lauernd.
***
Als wir das Krankenhaus erreichten, hatte der Himmel ein samtiges Purpur angenommen. Zu dieser Jahreszeit wurde es nie wirklich dunkel. Das Glasgower Southern General Hospital hatte als Kavalleriekaserne begonnen, wurde dann zum Armenhaus von Govan und schließlich als Irrenanstalt benutzt, ehe man es zur heutigen Verwendung umbaute. Irgendwie war es dem Gebäude gelungen, den Charme seiner vorherigen Inkarnationen beizubehalten, und seine gezackte viktorianische Architektur wirkte so anheimelnd wie Burg Frankenstein.
Die Korridore mit den Linoleumböden, über die wir gingen, waren still, und ich hörte auch keine fernen Schreie à la »Es lebt! Es lebt!« von den Porzellanfliesen der Wände widerhallen. Die streng einzuhaltenden Besuchszeiten waren zu Ende.
Eine Oberschwester, die noch abweisender wirkte als die Vorsteherin am Craithie Court, stellte sich uns in den Weg. Sie hatte die gleiche durchgezogene Augenbraue, aber bei ihr kam Haar auf der Oberlippe hinzu, das einen Schnurrbart zu bilden drohte wie bei Ronald Colman. Ich fragte mich, woher die Typen alle kamen, und sagte mir, dass Baron Frankenstein vielleicht doch einen Teilzeitjob angetreten hatte. Ich rechnete mit neuerlicher eisiger Zurückweisung, doch Sneddon verschaffte uns Einlass, indem er der Oberschwester unseren Sonderausweis reichte: ein hübscher neuer, knisternder, gefalteter Sonderausweis mit dem Bild Ihrer Majestät darauf. Oberschwester Karloff steckte sich den Zwanziger in die Schürze und entschwand den Korridor hinunter. Auf dem Linoleum quietschen ihre hässlichen flachen Schuhe.
Davey lag in einem Einzelzimmer. Ich nahm an, dass Sneddon dahintersteckte, und ich war ihm dankbar, auch wenn ich vermutete, dass es weniger aus Sorge oder Verantwortungsgefühl gegenüber Davey geschah, sondern vielmehr, um mich bei Laune zu halten, damit ich ihm wirklich alles berichtete, was ich herausfand.
Jemand hatte sich Davey sehr ausgiebig vorgeknöpft. Sein Kopf und sein Kiefer waren bandagiert, und sein Gesicht war eine groteske Maske, angeschwollen und aufgedunsen. Die Augen waren nur noch Schlitze zwischen dicken Polstern aus blau und rot geschlagenem Fleisch. Wie es aussah, war seine Nase gebrochen, aber zum Glück hatte jemand – vermutlich ein Krankenhausarzt – sich einigermaßen Mühe gegeben, sie zu richten. Seine Lippen waren aufgeplatzt, und seine Unterlippe war angeschwollen wie bei Maurice Chevalier, wenn er einen schlechten Tag hatte. In der Oberfläche sah ich eine Naht.
»Davey, hier ist Lennox. Wie geht es dir, mein Sohn?«
Davey drehte den Kopf zu mir. Seine aufgeblähten Lippen zuckten, und mir wurde klar, dass er zu lächeln versuchte. Diese Reaktion ließ Zorn in mir auflodern.
»Wer hat das getan, Davey?«
»Tut mir leid, Mr. Lennox. Ich hab Sie im Stich gelassen.« Daveys Stimme drang angestrengt durch zusammengebissene Zähne, und ich bemerkte, dass sein Kiefer mit Draht fixiert war, weil jemand ihn gebrochen hatte.
»Du hast niemanden im Stich gelassen. Wer war das?«
»Hab ich nicht gesehen. Hat sich von hinten an mich rangeschlichen und mir eins übergezogen. Als ich am Boden lag, haben sie auf mich eingetreten. Irgendwann war ich weg. Mehr weiß ich nicht, Mr. Lennox.«
»Gut, Davey. Du schonst dich jetzt. Noch irgendwas gebrochen?«
»Nur mein Kiefer ... und ein paar angeknackste Rippen. Der Doktor sagt, ich muss einen Schädel aus Stahl haben. Er glaubt nicht, dass ich bleibende Schäden habe.«
»Das ist gut, Davey. Wir haben dich im null Komma nichts wieder hier raus und auf den Beinen. Ich zahle dir einen Bonus.«
»Das brauchen Sie nicht, Mr. Lennox. Versprechen Sie mir nur, dass Sie mich wieder für sich arbeiten lassen.«
»Klar, Davey. Das mache ich ganz bestimmt.«
»Mr. Kirkcaldy hat mich besucht.«
»Bobby Kirkcaldy?«
»Aye. Er war es ja, der mich gefunden hat. Er hat den Krankenwagen gerufen und alles.«
»Hat er gesehen, wer dich überfallen hat?«
»Nein. Er kam erst später dazu.«
»Verstehe.«
»Ich hab mein Buch verloren«, sagte Davey durch den Drahtkäfig um seine Zähne.
»Welches Buch?«
»Das Sie mir gegeben haben, Mr. Lennox. Mein Notizbuch, wo ich alles drin aufgeschrieben hab.«
»Mach dir deswegen keine Gedanken. Ich finde es wahrscheinlich im Auto. Oder es liegt an der Stelle, wo es passiert ist, auf dem Boden. Es ist nicht wichtig.«
»Es tut mir leid.« Daveys Stimme klang jetzt, als käme sie aus großer Entfernung. Er gab ein leises, geistesabwesendes Stöhnen von sich.
»Ruh dich aus, Davey. Morgen bin ich wieder da und sehe nach dir.«
»Versprochen?«, fragte er und hörte sich an wie ein Kind. In diesem Moment fiel mir ein, dass er allein auf der Welt war. Keine Eltern. Keine Brüder oder Schwestern, von denen er wusste. Ein Barnardo-Waise, ganz auf sich gestellt. Der Gedanke entfachte meine Wut aufs Neue. Eine Wut, die sich in gerechten Anteilen gegen alle richtete, die Davey ins Krankenhaus gebracht hatten, und gegen mich, weil der Junge seine Prügel mir verdankte.
»Das verspreche ich, Davey. Ich komme dich morgen besuchen.«
***
Wir ließen Davey schlafen. Draußen auf dem Flur führte ich mit Sneddon ein Gespräch. Ich sagte ihm, er sollte Kirkcaldys Haus rund um die Uhr bewachen lassen. Ich bat ihn, seinen Leuten zu befehlen, die Augen nach Daveys Notizbuch offenzuhalten – mehr um den Jungen zu beruhigen als aus sonst einem Grund. In Anbetracht der Tatsache, dass Singer mir bis ins finsterste Renfrewshire gefolgt war, ohne dass ich ihn an meinen Rockschößen entdeckt hatte, schlug ich vor, dass Sneddon ihn nun Kirkcaldy beschatten ließ. Ich wollte den Hurensohn in die Finger bekommen, der Davey niedergeschlagen und zusammengetreten hatte, und Sneddon war noch versessener herauszufinden, was bei Kirkcaldy los war. Ihm war es egal, ob jemand zu Schaden kam; er hatte in Kirkcaldy investiert und wollte nicht, dass sein Geld blaue Flecken bekam.
Wir gingen durch die düsteren, porzellangefliesten Flure zurück zum Ausgang. Mein Kopf schmerzte fürchterlich, und das Schlingern in meinem Bauch verwandelte sich in ein unbarmherziges Stampfen. Ich ging zur Toilette und schaffte es gerade noch in die Kabine, ehe ich mich erbrach. Als ich nicht mehr würgte, beugte ich mich über ein Handwaschbecken und klatschte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Im Spiegel sah ich ein Gespenst mit dunkelblauen Schatten unter den Augen, die tief in einem bleichen Gesicht lagen. Kein Wunder, dass die Damenwelt mich so verdammt attraktiv fand. Die grelle Krankenhausbeleuchtung ließ die harten Kanten in meinem Gesicht hervortreten: die hohen Jochbeine und die gewölbte Stirn. Die schwach sichtbaren Narben auf meiner Wange, Souvenirs von der Begegnung mit einer deutschen Handgranate, traten deutlicher hervor. Ich strich mir das schwarze Haar mit den Händen zurück. Ein plastischer Chirurg hatte nach meinem Abenteuer mit dem deutschen Munitionswesen einiges zu tun bekommen und mich mit einer straffen Haut entlassen, die meine Züge hervorhob. Besonders von Frauen hörte ich oft, dass ich ein wenig wie Jack Palance aussah. Frauen schienen es zu mögen. Man hatte mir gesagt, ich hätte ein gut aussehendes Gesicht, aber es liege ein Hauch von Grausamkeit darin. Deshalb mochten sie es, und deshalb hasste ich es.
»Kommen Sie endlich?« Sneddon stand in der Tür des Waschraums.
»Klar«, sagte ich, schniefte und trocknete mir das Gesicht mit einem Papierhandtuch ab. »Ich komme. Ich habe noch Arbeit.«
Ich warf noch einen Blick auf das Gesicht im Spiegel; es kam mir vor, als sähe es nun ein wenig grausamer aus.
***
Singer fuhr mich im Atlantic zu meiner Bleibe. Auf halber Strecke musste ich ihn anhalten lassen, damit ich mich noch einmal übergeben konnte. Mir war schwindlig und schlecht, und ich hatte dieses Gefühl der Unwirklichkeit, wie es typisch ist für eine Gehirnerschütterung. Ich hatte nicht zum ersten Mal eins auf den Schädel bekommen, und wahrscheinlich würde es auch nicht das letzte Mal sein, auch wenn ein Arzt mich gewarnt hatte, mein Kopf habe schon so ziemlich alles weggesteckt, was ich ihm zumuten dürfe.
Gegen halb zwölf parkte Singer den Wagen vor Mrs. Whites Haus. Er half mir zur Tür. Ich dankte ihm, und er nickte: Wir waren richtige Busenfreunde geworden. Er ging zurück auf die Straße und stieg in den grünen Rover, mit dem Twinkletoes uns gefolgt war. Ich ging nicht sofort in meine Wohnung hoch. Aus der Wohnung der Whites drang kein Laut; deshalb war ich so leise, wie ich konnte, als ich Lornas Nummer wählte. Ich ließ es lange durchklingeln. Trotzdem kam niemand an den Apparat.
Ich ging hinauf und schenkte mir einen Whiskey ein. Das war ein Fehler: Vom ersten Schluck musste ich würgen. Ich sagte mir, dass ich mir am Morgen vermutlich doch den Kopf untersuchen lassen müsste; das war nichts Ungewöhnliches, aber diesmal war es nicht im übertragenen Sinne gemeint.
Vor dem Krieg, als ich noch ein Junge in New Brunswick gewesen war, hatte ich gut mit Bleistift und Pinsel umgehen können und ernsthaft überlegt, am College in Halifax ein Kunststudium zu beginnen. Dann kam mir der Krieg dazwischen. Tatsächlich aber konnte ich noch immer mit dem Bleistift umgehen, und ehe ich etwas anderes tat, nahm ich ein frisches Blatt Papier und einen Bleistift aus der Schublade der Anrichte, setzte mich an den Tisch und skizzierte aus dem Gedächtnis die Jadefigur in dem Bauernhäuschen, so gut es ging. Als ich fertig war, tat mir der Kopf noch mehr weh, aber ich war zufrieden mit meiner Zeichnung. Sie war nicht exakt, aber es war eher mein Gedächtnis als mein Können, was mich im Stich ließ.
Als ich fertig war, trank ich ein paar Schluck Leitungswasser, spritzte mir etwas davon ins Gesicht und drückte ein feuchtes Handtuch auf das halbe Ei hinter meinem Ohr. Ich musste mich wieder zusammenbekommen. Ich rasierte mich und zog mich um; mein Anzug trug die Spuren des Landlebens, und ich hatte das Bedürfnis, mich frisch zu fühlen. Ich trank noch mehr Wasser und schluckte diesmal damit mehr als die empfohlene Tageshöchstdosis Aspirin: Ein Magengeschwür war im Augenblick die kleinste meiner Sorgen.
Kurz vor Mitternacht war ich wieder auf der Straße, stieg vorsichtig in den Wagen und fuhr nach Pollockshields.
***
Als ich Lornas Haus erreichte, spielte Benny Goodman Stompin’ at the Savoy. Er stampfte so laut, dass ich ihn schon in der Einfahrt hörte. Die Haustür war nicht verschlossen, und ich trat ein. Von Maggie, Jack Collins oder irgendeinem anderen entfernten Mitglied der MacFarlane-Dynastie war keine Spur.
Lorna fand ich Wohnzimmer, wo sie zu der auf volle Lautstärke gedrehten Benny-Goodman-Schallplatte tanzte. In Lornas Fall hätte Goodman aber eher über das Schwanken als über das Stampfen im Savoy spielen sollen. Ich legte den Arm um Lornas Taille, führte sie zum Sofa und entdeckte den verborgenen Tanzpartner, den sie sich an die Brust gedrückt hatte. Behutsam löste ich das Glas mit Maltwhisky aus ihren Fingern und ließ sie aufs Sofa sinken.
»Na, hallo, Hübscher.« Mit den Dämpfen, die sie mir ins Gesicht hauchte, hätte man einen Düsenjet antreiben können. Sie lächelte mich auf blicklose, kühle Art an. An diese Art war ich gewöhnt, seit ich in Glasgow wohnte: Schottische Wildheit war ein Stück Handwerkskunst, durch Torf und Schafskot gefiltert und destilliert, bis es 57 Prozent hatte. »Lange nicht gesehen.«
Ich ging zum Plattenspieler und hob die Nadel aus der Rille. Benny hörte mit dem Stampfen auf. Ich hoffte, die Nachbarn hatten noch nicht die Polizei gerufen.
»Das hilft dir nicht, das weißt du, Lorna«, sagte ich und stellte den Scotch außerhalb ihrer Reichweite auf den Beistelltisch.
»Du auch nicht. Du hilfst überhaupt nicht viel, was, Lennox?« Sie drückte mir die Hände gegen die Brust, als wollte sie eine Last von sich stoßen. »Welchem glücklichen Umstand verdanke ich das Vergnügen deiner Gesellschaft?«
»Ich habe die Zeitung gelesen. Ich wollte sehen, wie es dir geht.«
»Na, jetzt hast du’s gesehen. Jetzt kannst du wieder abhauen.« Sie winkte mich mit einer hoheitsvollen Handbewegung davon.
»Erst wenn du nüchtern geworden bist, Lorna. Ich mache uns Kaffee.«
»Scheiß auf den Kaffee. Fick dich, Lennox.«
»Lorna, sei still. Ich habe den ganzen Tag versucht, dich zu erreichen. Mir war nicht klar, dass du so hart am Kater von morgen arbeitest. Ich hole dir ein Glas Wasser, während der Kaffee kocht.« Ich ging durch in die Küche, füllte den Wasserkessel und setzte ihn auf. Den Scotch schüttete ich ins Becken, spülte das Glas aus und brachte es Lorna mit Wasser gefüllt zurück. Sie musterte es geringschätzig, doch ich stellte es neben sie und wartete, bis sie es ganz geleert hatte.
»Es tut mir leid, Lorna. Ich hätte öfter herkommen sollen«, sagte ich und meinte es ernst. »Aber ich bin von ein paar Dingen aufgehalten worden. Unter anderem ging es um die Geschäfte, in die dein Vater verwickelt war. Ich dachte, ich finde etwas über seinen Tod heraus. Aber das ist jetzt unwichtig. Hat die Polizei mit dir über die Verhaftung gesprochen?«
Wieder winkte sie verächtlich ab. Diesmal wirkte es nicht so hoheitsvoll. »Sie haben mir ein Foto gezeigt und mich gefragt, ob ich den schon mal gesehen habe.«
»Und, hattest du?«
Sie schüttelte den Kopf. »Irgend so ein verdammter Zigeuner. Er muss Dad ein paar Mal von Shawfields nach Hause gefolgt sein, um seine Gewohnheiten kennenzulernen. Dann hat er ihm aufgelauert.«
»Hat die Polizei dir das gesagt?«
»Die Polizei hat mir gar nichts gesagt. Sie haben sich eine Weile mit Maggie unterhalten, und dann mit Jack.«
»Jack Collins?«
»Ja. Er gehört zur Familie«, sagte sie mit einem Laut, den ich als bitteres Auflachen deutete. Allerdings war im Moment alles an ihr bitter.
»Der Zigeuner muss eingebrochen sein und gewartet haben, bis ...« Sie begann zu weinen. »Daddy ...«
Ich legte den Arm um sie, doch sie löste sich von mir und wich zurück.
»Hast du was gegessen?«
Sie zuckte mit den Schultern. Ich ging wieder in die Küche, goss den Kaffee auf und machte Toast. Abermals musste ich ihren Widerstand überwinden, ehe sie den Kaffee trank und den Toast aß. Ich nahm mir ebenfalls einen Kaffee und konnte ihn sogar bei mir behalten. Das Aspirin linderte meine Kopfschmerzen wie ein Schmetterling, der versucht, mit seinem Flügelschlag eine Kanonenkugel wegzuschleifen.
Wir saßen eine Stunde lang nebeneinander, ohne etwas zu sagen, während ich sie mit Kaffee abfüllte. Schließlich kam, was kommen musste, und sie rannte zur Toilette. Als sie zurückkehrte, war sie grauweiß im Gesicht, und die zerlaufene Schminke erinnerte an abblätternde Farbe. Wir gaben wirklich ein schönes Paar ab. Ich brachte sie dazu, noch mehr Kaffee zu trinken. Allmählich lallte sie weniger, und ihr Hass auf mich verlor an Intensität.
»Warum haben die Bullen mit Jack Collins gesprochen?«, fragte ich schließlich.
»Wegen Dads Geschäften. Falls da eine Verbindung zu seinem Tod war. Er kannte fast jeden. So wie du.«
Ich ließ ihr den Seitenhieb durchgehen.
»Glaubt die Polizei, Collins wäre in die Sache verwickelt?«
Sie zuckte mit den Schultern, eine trunkene Gebärde. »Was weiß ich. Jack kann überhaupt nichts damit zu tun haben. Jack ist ein guter Junge ...«
Ich würde nicht mehr viel Sinnvolles aus ihr herausbekommen; deshalb führte ich sie nach oben in ihr Schlafzimmer. Ich legte sie aufs Bett, und sie packte mein Jackett beim Revers, zog mein Gesicht nahe zu sich heran und versuchte, mit dem Mund meine Lippen zu erreichen. Ich ließ sie sanft zurücksinken.
»Bleib bei mir, Lennox. Schlaf heute Nacht hier.«
»Okay«, sagte ich. Es war ein Reflex, so wie man mit dem Bein tritt, wenn einem der Arzt mit dem kleinen Gummihammer aufs Knie schlägt.
***
Maggie MacFarlane weckte mich. Ich sah blinzelnd zu ihr hoch. Es strömte einfach zu viel Sonne ins Zimmer, als meinem wunden Schädel guttat.
»Sie sehen schrecklich aus«, sagte sie. Kein Lächeln. Nur ein harter, kalter, starrer Blick.
Ich setzte mich vorsichtig auf. Wir waren im Wohnzimmer. Mein ärgerlicher Hang zur Ritterlichkeit hatte wieder zugeschlagen, und ich hatte auf dem Sofa kampiert. Um meine Galanterie zu relativieren: Ich glaube nicht, dass Lorna oder ich zu einem Tango in der Waagerechten fähig gewesen wären. Deshalb saß ich hier auf dem Sofa, beengt, mit Schmerzen und schlechter Laune. Ich blickte auf meine Anzughose: Sie hatte mehr Falten als ein achtzigjähriger Nepalese, und ich beglückwünschte mich zu dem klugen Entschluss, mich umzuziehen, ehe ich hierher gefahren war.
»Wo sind Sie gewesen?«, fragte ich und reckte mich.
»Was geht Sie das an?«
»Als ich gestern Nacht hier ankam, war Lorna sturzbetrunken. Ein bisschen stiefmütterlichen Beistand hätte sie gut brauchen können. Sie wissen, dass man einen Landfahrer wegen Mordes an Small Change verhaftet hat?«
»Natürlich.« Maggie blieb frostig, was stark von ihrem üblichen Gebaren abwich. »Die Polizei hat es mir gesagt. Also war es doch ein Raubmord.«
»Hat das jemand bezweifelt?«, fragte ich.
»Ich glaube, ich gehe lieber rauf und schaue nach Lorna«, wich Maggie der Frage aus.
»Ich gehe schon«, sagte ich und legte die Hand auf ihren Unterarm, zog sie aber rasch weg, als sie darauf blickte, als litte ich an Lepra. Und Schwarzwasserfieber. Und wäre Celtic-Fan. »Ich habe ihr versprochen, nach ihr zu sehen.« Während ich zur Tür ging, fragte ich über die Schulter: »Und was macht Ihr Stiefsohn? Oder Halbstiefsohn, ich bringe das immer durcheinander.«
»Wovon reden Sie?« Ich hörte Anspannung und Unsicherheit in ihrer Stimme und drehte mich zu ihr um.
»Der junge Jack Collins, der Hansdampf in allen Gassen. Ich nehme an, Sie sind vergangene Nacht bei ihm gewesen? Ich weiß, dass er Small Changes illegitimer Sohn ist.«
»Ich finde, Sie sollten sich um Ihren Kram kümmern und sich aus den Angelegenheiten anderer Leute heraushalten«, sagte Maggie. Ihre Worte waren hart, aber ihr Tonfall wurde weicher. Wie ein erfahrener Seemann, der das Ruder herumschwenkt, hatte sie begriffen, dass sie sich diesem Wind vorsichtig nähern musste. »Jack ist ein guter Junge, und er hat Small Change geliebt wie ...«
»Wie einen Vater?«, versuchte ich zu helfen.
»Ja, genau. Da geht nichts Unanständiges vor.«
»Wenn Sie es sagen«, erwiderte ich. Ich hatte für so etwas keine Zeit. »Ich sehe jetzt lieber nach Lorna.«
***
Der Anblick war nicht schön. Lorna hatte sich im Schlaf auf die Bettlaken erbrochen, und ich musste ihr auf die Beine und ins Bad helfen. Während sie sich wusch, zog ich ihr Bett ab. Bis ich sie so weit hatte, dass ich sie allein lassen konnte, verging eine Stunde. Sie weinte viel: die Scham des ungeübten Trinkers. Das sah man in Glasgow nicht oft.
Gegen zehn Uhr morgens kehrte ich in meine Wohnung zurück. Der Tag setzte zu einem tollen Anfang an: Als ich mich der Haustür näherte, kam Fiona White heraus. Sie betrachtete mich von oben bis unten, musterte meinen zerknitterten Anzug und mein wahrscheinlich ziemlich übel aussehendes Gesicht. Es hätte nichts genutzt, hätte ich ihr gesagt, dass ich keinen Kater, sondern eine Gehirnerschütterung hatte. Deshalb hob ich nur den Hut, als sie ohne ein Wort an mir vorbeiging.
Nachdem ich mich frisch gemacht hatte, fuhr ich nach Blanefield und klopfte an Kirkcaldys Haustür. Niemand war zu Hause; deshalb fuhr ich zur Boxhalle in Maryhill, wo er trainierte. Die Adresse, die Sneddon mir gegeben hatte, führte mich zu einem alten Kasten auf der Bantaskin Street: viel größer als seine Turnhalle im Untergeschoss, aber weniger raffiniert ausgestattet und viel verschwitzter. Auch Onkel Bert war da. Kirkcaldy war beim Sparring mit einem Partner, der einen gepolsterten Helm trug. Bert kam zu mir und zeigte sich zugänglicher denn je. Bei anderen Menschen hätte man sein Gebaren natürlich weiterhin als frostig empfunden, mit Tendenz zur Feindseligkeit.
»Wir haben gesehen, was mit Ihrem Jungen passiert ist«, sagte er durch die Nase. »Das war ’ne böse Sache. Bobby ist außer sich, weil der Junge für ihn sein Haus bewacht hat, als er vermöbelt wurde.«
»Danke«, sagte ich. »Und richten Sie Bobby meinen Dank aus, dass er ihn im Krankenhaus besucht hat. Wo waren Sie denn, als Bobby ihn fand?«
»Wir waren beide auf dem Heimweg. Wir kamen von hier. Der Junge lag neben dem Auto. Mein lieber Mann, die hatten ihm die Scheiße aus dem Leib geprügelt. Jemand muss ihn von hinten niedergeschlagen haben, und dann haben sie ihn zusammengetreten.«
»Vermuten Sie?«
»So sah es jedenfalls aus. Der arme Junge. Möchten Sie Bobby sprechen? Er kann Ihnen nicht mehr sagen, aber wenn Sie wollen, können Sie warten.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ist schon gut. Richten Sie ihm aus, dass ich hier war, um mich zu bedanken.«
»Mach ich.«
***
Es lief auf einen unproduktiven Morgen hinaus. Ich fuhr zu Jimmy Costellos Schuppen. Seine beiden Gorillababys, Skelly und Young, saßen an der Theke, als ich hereinkam, und beäugten mich voller Abscheu; an solche Blicke gewöhnte ich mich allmählich. Skelly trug noch die Spuren unseres Tänzchens neulich. Ich fragte Jimmy Costello, ob er von Paul gehört habe. Er antwortete, er habe nichts gehört, und ich sah ihm an, dass er die Wahrheit sagte.
»Warum fragen Sie?«, wollte er wissen. »Haben Sie einen Hinweis?«
»Nein, ich habe eine Beule am Kopf und bin mir ziemlich sicher, dass Ihr Söhnchen sie mir verpasst hat. Ich hatte Sammy Pollock gefunden, aber ich ließ meinen Rücken ungedeckt, wenn man das so sagen kann.«
»Warum sollte Paul so etwas tun?«
»Vielleicht ist er nicht überzeugt, dass ich wirklich nur Sammy suche. Wissen Sie etwas über eine gestohlene Jadestatue? So einen orientalischen Drachen oder Dämon?«
»Nein.«
Ich nahm an, dass es Costellos automatische Antwort war, wenn man ihn nach Diebesgut fragte, also setzte ich nach. »Hören Sie, Jimmy, es ist wichtig. Ich glaube, Paul und Sammy haben mehr abgebissen, als sie kauen können. Sie wissen also wirklich nichts über eine gestohlene Jadefigur?«
»Ich schwöre es, Lennox. Wenn Paul etwas darüber weiß, hat er mir nichts gesagt. Nicht dass es mich überraschen würde. Wir reden nicht viel miteinander.«
Ich unterhielt mich noch etwa eine halbe Stunde mit Costello. Als ich ging, bemerkte ich, wie Skelly mich wieder hasserfüllt anstarrte. Das Ei an meinem Kopf pochte heftiger als sonst, und mir kam der Gedanke, dass es vielleicht nicht Paul Costello gewesen war, der mir von hinten eins übergezogen hatte. Ich durchquerte den Raum und zog Skelly von seinem Barhocker. Sein treuer Gefährte wich vor mir zurück.
Ich entschied mich für ein diplomatisches Vorgehen. »Hast du ein Problem mit mir, Arschgesicht?«
»Ich bin’s nicht, der das Problem hat«, sagte Skelly und entwand seine Schneiderware meinem Griff. »Und ich will keinen Ärger.«
»Also habe ich ein Problem? Willst du das damit sagen?«
»Ich sage gar nichts. Ich will keinen Ärger.«
»Dann achte auf dein Benehmen in Gesellschaft Höherstehender, Freundchen.«
Er drehte sich mürrisch von mir weg. Zu kämpfen traute er sich nicht, aber das hieß noch lange nicht, dass er bei schwachem Licht nicht von hinten mit einem Totschläger hinlangen würde.
Ich überließ ihn seinem Schmollen und beachtete Jimmy Costellos ungeduldigen Blick nicht. Ich strapazierte mein Glück, das wusste ich, aber ich hatte Kopfschmerzen und war schlechter Laune. Jeder, mit dem ich zu tun hatte, log mir entweder was vor oder verschwieg mir etwas.
***
Versprochen ist versprochen. Während der Besuchsstunde am Mittag ging ich zu Davey ins Krankenhaus. Er freute sich, dass ich kam, aber ich merkte, dass er höllische Schmerzen litt. Mir ging es auch nicht viel besser. Wir sprachen, und ich scherzte mit ihm, und die ganze Zeit spürte ich, wie die alte dunkle Wut sich tief in meinen Eingeweiden immer mehr aufstaute.
Nachdem ich das Krankenhaus verlassen hatte, rief ich Sheila Gainsborough an und fragte sie, ob ich sie treffen könne, entweder in ihrer Wohnung oder in meinem Büro. Es sei wichtig, betonte ich, und nichts, worüber man am Telefon reden könnte. Ich drang zu ihr durch, und sie erklärte sich bereit, mich in ihrer Wohnung zu empfangen. Ich musste ihr jedoch eine Stunde lassen, in der sie noch etwas erledigen wollte. Sie gab mir den Namen eines Cafés um die Ecke und sagte, wir würden uns dort treffen. Das Dekorum war unnötig und fehl am Platze, aber ich war zu zerschlagen, um lange zu diskutieren.
Ich fuhr ins West End, entdeckte das Café auf der Byres Road und setzte mich an einen Fenstertisch. Das Café war italienisch, eine dieser Buden, wo sie eine ganze Oper inszenieren, um einem eine Tasse Kaffee zu machen mit einer zischenden Dampfmaschine, die sich anhört, als gehöre sie vor den Elf-Uhr-fünfzehn-Zug nach London. Wenigstens schmeckte der Kaffee.
Sheila Gainsborough kam fünf Minuten zu spät. Sie wirkte aufgeregt und entschuldigte sich für ihre Verspätung. Als sie das Kopftuch abnahm, tat jeder im Café so, als würde er sie nicht anstarren. Starren wäre nur weniger aufdringlich gewesen als die ungeschickt verhohlenen Blicke. Ein Kellner, der aussah, als wäre er frisch vom Schiff aus Neapel gestiegen, sich aber anhörte, als hätte er gerade die Fähre nach Renfrew verlassen, nahm ihre Bestellung auf.
»Sie haben Neuigkeiten?«, fragte sie gehetzt. Ihre Wangen waren gerötet, und trotz meiner miesen Stimmung und meiner Kopfschmerzen durchfuhr mich der Gedanke, wie schön es wäre, diese Wangen zum Erröten zu bringen.
»Wie ich schon am Telefon sagte, Miss Gainsborough«, antwortete ich ruhig, »sollten wir es in Ihrer Wohnung oder in meinem Büro besprechen. Ob es Ihnen passt oder nicht, Sie sind prominent, und in diesem Raum hier spitzen die Leute die Ohren. Woher wollen Sie wissen, ob nicht jemand ein Reporter ist oder ein Bulle?«
Sie stimmte zu, und wir tranken eilig und schweigend unseren Kaffee. Danach gingen wir das kurze Stück zu ihrer Wohnung. Die meisten Gebäude in der Nachbarschaft waren Mehrfamilienhäuser, dazu kamen einige Stadthäuser und hin und wieder eine Villa. Das Haus, in dem Sheila Gainsborough wohnte, bildete eine Unterbrechung der schmutzigen viktorianischen und gregorianischen Fassaden: ein Art-déco-Block, ungefähr dreißig Jahre alt. Eines der interessantesten Dinge an Glasgow war die Vielfalt und der Variantenreichtum seiner Architektur: viktorianisch, Slum, Art déco, Slum, modern, Slum ...
Das Haus hatte Klasse. Sheila führte mich in ein großes, helles Foyer, das einen glauben machte, man wäre in den Zwanzigerjahren gelandet. Ein livrierter Portier, der die Haltung eines alten Soldaten zeigte, vom Alter her allerdings eher gegen den Kaiser als gegen den Führer gekämpft hatte, begrüßte uns stramm, und wir nahmen den Aufzug ins oberste Stockwerk.
»Möchten Sie einen Drink?«, fragte Sheila, während sie ihre Handtasche und ihr Kopftuch auf einen Stuhl in der Diele fallen ließ. »Sie sehen aus, als könnten Sie einen brauchen.«
»Ich könnte einen brauchen, aber er würde mich wahrscheinlich aus den Schlappen hauen.« Ich ging ins Wohnzimmer. Die ganze Wohnung war sauber und ordentlich. Das Mobiliar gehörte, wie die Architektur, zum Art déco und war schlicht und geschmackvoll – auf die subtile Art, die einem verrät, dass einfach und geschmackvoll teurer ist. Das Wohnzimmer hatte ein großes Panoramafenster, das nur zwei weit auseinanderstehende, dünne weiße Pfosten unterbrachen. Man konnte über die Stadt, auf die Universität und auf Kelvingrove blicken.
»Bitte«, sagte Sheila und bot mir mit einer ungeduldigen Handbewegung Platz an. Ich setzte mich. Ich glaube, wenn Sheila Gainsborough mir befohlen hätte, aus dem Fenster zu springen, hätte ich ihr auf der Stelle gehorcht. Sie blieb stehen und verschränkte die Hände. »Geht es um Sammy?«, fragte sie besorgt.
Ich schüttelte den Kopf. »Sammy geht es gut. Ich habe ihn gestern Abend gesehen.«
»Gott sei Dank, er ist in Sicherheit ...« Tränen der Erleichterung ließen ihre Augen glänzen.
»Es tut mir leid, Miss Gainsborough, aber ich glaube nicht, dass er in Sicherheit ist. Ich habe ihn gestern Abend gesehen, und es geht ihm gut, aber er steckt in Schwierigkeiten. Und er hat große Angst.«
»Um Himmels willen! Warum haben Sie ihn dann nicht mitgebracht?«
»Weil mir jemand eins über den Schädel gegeben hat, sodass ich bewusstlos wurde. Sammy und seine Freundin – und sein schlagfertiger Freund – sind verschwunden, während ich die Schäfchen zählte.«
Ihr Gesicht fiel regelrecht in sich zusammen. Sie tat mir leid, aber ich hatte nicht viel, um die Sache in ein positives Licht zu rücken.
»Ich fürchte, dass Sammy sich in große Schwierigkeiten gebracht hat«, fuhr ich fort. »Etwas, das ihm über den Kopf gewachsen ist. Erinnern Sie sich an Paul Costello? Der Kerl, der in Sammys Wohnung aus und ein ging, wie es ihm passte?«
Sheila nickte.
»Ich vermute, dass es der junge Mr. Costello war, der mich bewusstlos geschlagen hat. Sie stecken zusammen drin. Was immer es ist.«
»Ich wusste, dass Sammy sich mit den falschen Leuten einlassen würde ...« Sie zeigte ein niedliches Stirnrunzeln. »Wo haben Sie ihn gefunden?«
»Er kampierte in einem verlassenen Bauernhaus mitten im Nirgendwo. Ich fand ihn nur, weil ich einem Mädchen Angst gemacht hatte, mit dem er zusammen ist – sie heißt Claire Skinner –, und ihr folgen konnte.«
»Er hat kampiert?« Ihre Augen glänzten noch mehr. »Und was tun wir jetzt?«
»Ich suche weiter nach ihm. Es könnte sein, dass er sich mit Ihnen in Verbindung setzt. Er sah hungrig und müde aus. Ich nehme an, er braucht Geld. Wenn er sich bei Ihnen meldet, müssen Sie es mir mitteilen. Ganz gleich, was er sagt, ich muss es wissen. Haben Sie verstanden?«
»Ja.«
»In diesem Bauernhaus habe ich etwas Merkwürdiges gesehen. Eine kleine Drachenstatue. Sie sah aus, als wäre sie aus Jade. Vom Aussehen her chinesisch. Sagt Ihnen das irgendetwas?«
Sie schüttelte den Kopf. »Glauben Sie, sie haben diese Figur gestohlen?«
»Da bin ich mir sogar sicher. Ich weiß nicht, ob sie deshalb glauben, der Teufel wäre ihnen auf den Fersen.«
»Wo können sie einen solchen Gegenstand gestohlen haben?«
»Weiß ich auch nicht. Aber vielleicht kenne ich jemanden, den ich fragen kann.«