29.
Fabel, Nicola Brüggemann und Werner Meyer schauten stumm auf den Mann hinunter, den ein Sektionsgehilfe in die Hauptleichenhalle gerollt hatte. Es sah nach einem Zeichen von Respekt aus: einem Moment des Schweigens. In Wirklichkeit jedoch taten sie nur das, was sie als Polizisten gelernt hatten: Sie nahmen sich einen Moment Zeit, um den Körper zu betrachten, zu prüfen und einzuschätzen. Um den Tod eines Menschen aus einer neuen Perspektive zu beurteilen.
Die Leiche auf der Rollbahre war schmächtig und bleich; die Rippen drangen durch die Haut, und die Oberarme wirkten mager. Trotz der Stoppeln an seinem Kinn glich der Tote eher einem Jungen als einem Mann. Er hatte vier nun blutlose Löcher im Schädel, zwei über dem Haaransatz und zwei darunter, die sich in seine breite Stirn bohrten. Fabel bemerkte eine dunkle Sprenkelung auf der hellen Haut: Schmauchspuren von einem aus der Nähe abgegebenem Schuss. Er war auf den Knien, dachte Fabel. Wahrscheinlich hat er um sein Leben gefleht.
Eine größere, hässlichere Wunde klaffte unter seinem Kiefer, wo eine der Kugeln ausgetreten war. An der linken Brustseite befand sich eine dunkelgrüne Tätowierung, die wie eine kleine umgekehrte Schleife aussah.
»Dies sind offenbar die sterblichen Überreste von Harald Jaburg«, sagte Werner mit einer Miene, die anzudeuten schien, dass er etwas Saures gegessen hatte. »Wir haben seinen Personalausweis in seiner Jeanstasche gefunden. Erwerbslos. Dreiundzwanzig Jahre alt.«
»Ich hätte ihn für jünger gehalten«, sinnierte Fabel und wandte sich an Brüggemann. »Unsere Arbeitsbelastung scheint exponentiell zu wachsen. Ich glaube, ich werde dein Angebot annehmen.« Er ignorierte Werners prüfenden Blick.
»Er hat eine Tätowierung auf der Brust«, sagte Brüggemann. »Direkt über dem Herzen. Eine Art Symbol.«
»Das ist mir nicht entgangen«, erwiderte Fabel. »Es erinnert mich an den kleinen griechischen Buchstaben Gamma.« Er drehte die Unterarme der Leiche um und musterte die Innenseite. »Keine Stichspuren.«
»Auf mich wirkt er nicht wie ein Altphilologe«, sagte Werner.
»Nein …«, stimmte Fabel zu. »Auf mich auch nicht. Haben wir seine Adresse?«
»Billbrook. Wir haben die Schutzpolizei hingeschickt«, erläuterte Werner. »Mein Gott, Jan, wenn das so weitergeht, werden wir einen Fischkutter anheuern müssen, um all die Leichen aus der Elbe zu holen.«
»Das würde niemals genehmigt werden«, sagte Brüggemann. »Ich glaube, wir haben unsere EU-Quote schon überschritten.«
»Und ob«, bekräftigte Fabel. »Werner, ich weiß, du hast viel um die Ohren, und ich habe Anna in Meliha Yazars Wohnung zurückgelassen, aber ich möchte, dass Henk und du auch diesen Fall weiterverfolgt. Lasst seinen Namen durch den Computer laufen und redet mit der Abteilung Organisierte Kriminalität. Dies sieht nach einem Drogenmord aus, aber er scheint mir kein User gewesen zu sein. Erkundige dich, ob sie eine Bande kennen, die das Symbol Gamma als Symbol verwendet.«
»Okay, Jan. Aber er erinnert mich noch weniger an ein Bandenmitglied als an einen Altphilologen.«
»Vielleicht war er ein kleiner Fisch«, sagte Brüggemann. »Jemand, der verdächtigt wurde, ein Betrüger oder Spitzel zu sein. Aber ich finde auch, dass er nicht dem Typ entspricht.«
Der Sektionsgehilfe kam mit einem festen Plastikbeutel zurück. Er ließ ihn kurzerhand auf die Brust des Toten fallen. »Sie wollten seine Kleidung haben. Die ist für die Spurensicherung eingepackt worden. Noch feucht, deshalb sollten sie die Sachen schnell auspacken, bevor sie schimmelig werden.«
»Ein kleiner Sonnenschein«, sagte Werner sarkastisch, nachdem der Sektionsgehilfe wieder verschwunden war. »Wahrscheinlich ist es seine Arbeit, die ihn so fröhlich macht.«
Fabel las die Aufschrift des Etiketts, das an dem Beutel angebracht war, laut vor: »Schwarze oder dunkelgraue Kapuzenjacke. Schwarze oder dunkelgraue Jeans. Dunkelgrünes T-Shirt. Mit Nieten besetztes Lederarmband, rechtes Handgelenk. Uhr mit breitem Lederarmband, linkes Handgelenk. Halskette aus Metalllegierung mit Symbolanhänger …« Fabel schüttelte den Plastikbeutel und neigte ihn zur Seite. Obwohl eine erhebliche Menge öligen Wassers um die Kleidung schwappte, entdeckte er die Halskette. Wie er vermutet hatte, war auch der Anhänger eine Nachbildung des griechischen Buchstabens Gamma. »… dunkelrote, kurze Socken. Chopperstiefel aus schwarzem Leder. Lederbrieftasche mit Personalausweis, fünfundzwanzig Euro in Scheinen und weitere fünfzehn Euro in Münzen. Weiße Boxershorts.«
»Merkwürdig«, sagte Brüggemann. »Ich hätte ihn eher für einen Sliptyp gehalten.«
Fabel antwortete nicht, sondern zog sein Notizbuch hervor und blätterte ein paar Seiten zurück. Als er fand, was er gesucht hatte, beugte er sich über die Leiche und reichte Werner das geöffnete Büchlein. Dieser runzelte beim Lesen die Stirn.
»Nein«, sagte er und gab Fabel das Notizbuch zurück. »Du glaubst doch nicht etwa …« Er nickte zu der Leiche zwischen ihnen hinunter.
»Seine Kleidung entspricht genau der Beschreibung dessen, was der Fahrer des Motorrads getragen haben soll.«
»Die ist sehr verbreitet, Chef.«
»Redet ihr über den Brandstiftungsmord?«, wollte Brüggemann wissen.
»Wir brauchen eine Todeszeit für den Mann«, sagte Fabel. »Ich bin mir sicher, dass er nach dem Überfall im Schanzenviertel gestorben ist.«
»Soll ich mich immer noch mit der Organisierten Kriminalität in Verbindung setzen?«, fragte Werner.
Fabel nickte. »Es könnte trotzdem etwas anderes sein. Aber es gibt noch eine Fragestellung, der ich selbst nachgehen will.«
Diesmal hatte er nicht den geringsten Zweifel. Fabel war erst fünfzig Meter von Meliha Yazars Wohnung entfernt gewesen, als er glaubte, den großen VW Tiguan zu sehen, der hinter einem geparkten Lieferwagen ausscherte und sich in einem Abstand von vier oder fünf Autos in den Verkehr einfädelte. Aber dann hatte er ihn aus den Augen verloren, als er nach Eppendorf zur gerichtsmedizinischen Pathologie am Butenfeld gefahren war. Nachdem er die Leichenhalle verlassen hatte, war der VW jedoch wieder im gleichen Abstand hinter ihm aufgetaucht. Bisweilen schien es so, als müsse der andere Fahrer ihn überhaupt nicht im Blickfeld behalten. Zweimal, als der Geländewagen hinter einer Ecke außer Sicht war, hatte Fabel plötzlich eine andere Richtung eingeschlagen, um den VW dann nach ein paar Blocks wieder hinter sich zu entdecken.
Er fuhr weiterhin auf sein Ziel – den Hafen – zu. Der Verkehr war viel spärlicher geworden, und der VW konnte nicht mehr so leicht Deckung finden. Er war jetzt nur noch zwei Autos hinter ihm. Fabel rief mit seinem Handy im Präsidium an. Anna Wolff, die mittlerweile aus Meliha Yazars Wohnung zurückgekehrt war, meldete sich.
»Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht, Anna. Die gute ist, dass ich auf meine alten Tage noch nicht paranoid werde.«
»Der Verfolger? Bist du sicher?«
»Absolut. Ich bin gerade am Fischmarkt vorbeigekommen. Könntest du die Zentrale bitten, einen Streifenwagen an der Kreuzung Große Elbstraße, Kaistraße bereitzustellen. Dort ist es ruhig genug, um ihn anzuhalten und ein paar Worte mit dem Fahrer zu wechseln.«
»Das erledige ich sofort. Aber ich komme auch.« Sie legte auf, bevor Fabel etwas erwidern konnte. Er fuhr weiter nach Westen und stellte fest, dass der VW wieder verschwunden war. Der Fahrer hatte an der Ampel gehalten und offenbar die Gelegenheit genutzt, etwas mehr Distanz zwischen sich und Fabels Auto zu bringen.
Er war auf der St. Pauli-Hafenstraße, als er den VW drei oder vier Wagen hinter sich erneut entdeckte. Diese Leute waren geschickt. Oder ihnen wurde geholfen. Fabel fragte sich, was während seiner Besichtigung des Pharos an seinem Fahrzeug angebracht worden war.
Anna meldete sich. »Der Streifenwagen ist in Position.«
»Gut. Der Knabe ist mir immer noch auf den Fersen. Ich bin in der Hafenstraße. Könntest du die Schutzpolizisten wissen lassen, dass sie ihn anhalten sollen?«
»Klar. In ein paar Minuten bin ich selbst dort.«
Fabel legte auf und blickte in seinen Rückspiegel. Nun war nur noch ein Auto zwischen ihm und dem großen VW. Er glaubte, die Silhouetten von zwei Männern durch das getönte Glas erkennen zu können.
»Machen wir die Sache interessant«, flüsterte Fabel vor sich hin. Er erspähte eine schmale Kopfsteinpflastergasse, die von der Hauptstraße zu den Gebäuden am Flussufer und zum Kai führte. Dies war ein Zugang, den normalerweise niemand benutzen würde. Die Gegenfahrbahn war leer, und Fabel bog, ohne zu blinken, nach links ab, stieg auf die Bremse und rollte in eine Parkbucht am Wasserrand. Der Fahrer des Autos hinter ihm drückte wütend auf die Hupe, weil Fabel nicht geblinkt hatte. Auch der VW donnerte an der Gasse vorbei. Entweder meinte der Fahrer, nicht ebenfalls jäh abbiegen zu können, oder er versuchte Fabel davon zu überzeugen, dass er ihm nicht folgte.
Fabel rief Anna an. »Der Tiguan ist gerade an mir vorbeigefahren. Ich habe ihm keine Alternative gelassen. Sag den Schutzpolizisten, dass er zu ihnen unterwegs ist und dass sie ihn stoppen sollen. Ich werde direkt hinter ihm sein. Und wenn er anhält oder umkehrt, gebe ich dir Bescheid.«
Er hatte sich gerade auf seinem Sitz umgedreht, um auf die Hauptstraße zurückzusetzen, als ein Geländewagen auf ihn zuraste. Fabel hatte das Auto kaum zur Kenntnis genommen, als es auch schon an das Heck seines BMW knallte. Er wurde nach vorn geschleudert, um dann schmerzhaft von seinem Automatikgurt aufgefangen zu werden.
»Arschloch!«, brüllte er in den Rückspiegel. Er riss die Handbremse hoch und öffnete seinen Sicherheitsgurt. Was war geschehen? Der Geländewagen schien ein anderes Modell zu sein. Nicht dasselbe Auto, das ihm gefolgt war. Zwei Wagen?
Zumindest wurden die Dinge dadurch in einer Hinsicht erleichtert: Er konnte den Kerl wegen Fahrlässigkeit oder wegen Trunkenheit am Steuer festnehmen. Fabel drehte sich erneut um und sah den Geländewagen nach dem Aufprall zurückrollen. Dabei war das hässliche Geräusch knirschenden Metalls zu hören, und irgendetwas vom Heck seines BMW schepperte auf die Kopfsteine der Gasse. Nun sah er, dass es kein VW, sondern ein Landrover war.
Fabel streckte die Hand nach seinem Türgriff aus, als der Landrover das Heck seines Autos zum zweiten Mal rammte. Diesmal wurde er nicht vom Sitzgurt festgehalten und deshalb mit dem Brustkasten ans Lenkrad geschleudert, sodass ihm die Luft aus der Lunge wich. Keuchend rang er nach Atem. Sein Körper schien nach Sauerstoff zu schreien. Zwischen verzweifelten Atemzügen tastete er nach seinem Halfter mit der SIG-Sauer Automatik. Ein weiterer Aufprall. Die Dienstpistole hüpfte aus seinen bebenden Fingern und fiel in den Fußraum. Er wandte den Kopf: Der Landrover setzte rasch wieder zurück. Fabel fühlte sich durch den Sauerstoffmangel geschwächt. Ihm war speiübel, und sein Brustkasten schmerzte bei jedem Atemzug, aber er mühte sich, die Situation zu verstehen. Er streckte die Hand nach seinem Handy aus, als der Rückspiegel von der riesigen dunklen Masse des Landrovers gefüllt wurde, der das Heck des BMW zum dritten Mal rammte. Aber der Aufprall war ein anderer, diesmal brüllte der Motor des Geländewagens, als der Fahrer den Gashebel durchtrat.
Fabel begriff, was sich abspielte. Der Kerl versuchte, ihn vom Kai in den Fluss zu stoßen.
Instinktiv drückte er die Fußbremse bis zum Anschlag durch. Eine sinnlose Übung, wie er sofort einsah. Deshalb legte er hastig den Rückwärtsgang ein und leistete dem Landrover Widerstand. Es war ein ungleicher Kampf. Seine Reifen quietschten und qualmten, während sie sich ohnmächtig auf den glatten Kopfsteinen drehten.
Er musste aussteigen, bevor der BMW über den Rand geschoben wurde. Aber er befand sich auf der falschen Seite des Autos, auf der Wasserseite. Wild starrte er auf den Kühlergrill des Landrovers, der seinen Rückspiegel – und sein Universum – völlig ausfüllte. Fabel hatte gerade beschlossen, das Risiko eines Sprungs auf sich zu nehmen, als er sich plötzlich gewichtslos fühlte und begriff, dass sein Auto über den Rand gedrängt worden war.
Ein neuer Aufprall, doch diesmal schlug der BMW auf die Wasserfläche auf, und Fabel wurde in dem Metallkäfig seines Autos hin und her geworfen. Alles wurde dunkel, und er dachte einen Moment lang, er habe das Bewusstsein verloren, bis das Innere seines Wagens mit kaltem, öligem, dunklem Wasser volllief und er merkte, dass er auf den Boden der Elbe sank.