Zalbar

Werden die Wolken aufbrechen?

Robert Lynn Asprin

Zalbar fuhr mit einem unterdrückten Fluch hoch, als ihn ein Vorübereilender so heftig anrempelte, daß ihm fast das Essen vom Schoß über die Kaimauer hinabrutschte, auf der er saß. Der Fremde verschwand eilig in der Menge, ohne den verärgerten Höllenhund überhaupt zu bemerken. Zalbar entspannte sich und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Er seufzte innerlich und schüttelte den Kopf.

Er würde sich künftig in seiner Mittagspause einen anderen ruhigen Platz zum Essen suchen müssen. Bisher waren die Anlegeplätze von der Morgenflut, wenn die Fischerboote ausliefen, bis zum Nachmittag, wenn sie zurückkehrten, fast menschenleer gewesen. Aber jetzt trafen vollbeladene Handelsschiffe der Beysiber ein, deren Waren zu einem guten Teil bereits auf den Schiffen feilgeboten wurden, und die Geschäftemacher, die hier auf günstigen Kauf aus waren, unterschieden sich kaum von der lärmenden, feilschenden Menge im Basar.

Normalerweise kümmerte sich Zalbar nicht um die politischen Machenschaften, die in Freistatt so undurchsichtig wie der Schlamm in einem abgestandenen Tümpel waren. Er hielt sich statt dessen an den Standpunkt des Berufssoldaten, nichts zu sehen. Er befolgte die Befehle, ohne nach Beweggründen oder Absichten derer zu fragen, die sie erteilten. In letzter Zeit tat sich jedoch einiges, über das er mehr und mehr ins Grübeln kam, weil es ihn in gewisser Weise auch selbst betraf.

Da war einmal der wachsende Reichtum der Stadt. Offenbar waren die Exil-Beysiber, die sich in Freistatt niedergelassen hatten, mit den Mächten in ihrer alten Heimat zu einer Art Frieden oder Übereinkunft gelangt, so daß der Handel über Freistatt als Haupthafen florieren konnte. Zusammen mit der neuen Bautätigkeit (die eine Stadtdurchquerung zu einem täglich neuen Abenteuer machte) brachte das Geld und Jobs nach Freistatt, wie es in den Tagen undenkbar gewesen wäre, als er in der Eskorte Prinz Kadakithis' hier eingetroffen war. Natürlich hatte das auch zur Folge, daß die Preise für alles, von Nahrungsmitteln bis Frauen, so in den Himmel schnellten, daß sein bescheidener Sold zwischen den Fingern zerrann.

Auffälliger noch waren die Zerfallserscheinungen in den Strukturen seines obersten Befehlshabers, des Rankanischen Reiches.

Zalbar war Kadakithis zugewiesen worden und hatte seither seine Befehle von den örtlichen Kommandanten erhalten. Die Befehlskette war in Freistatt über die Jahre immer verschlungener geworden. So gab es Einheiten, welche die Autorität des Prinzen unterliefen und ausschließlich den Befehlen aus der Hauptstadt verantwortlich waren. Jetzt nachdem Theron den Thron an sich gerissen hatte, war das Reich in einem Zustand, den selbst solche Leute wie Zalbar nicht mehr ignorieren konnten, die die Politik lieber anderen überließen.

Der Höllenhund konnte nur in purem Unglauben den Kopf schütteln, wenn er an die letzte Einsatzbesprechung dachte.

Die große Neuigkeit war gewesen, daß Theron das 3. Rankanische Kommando und die verbliebenen Einheiten der Stiefsöhne in die Hauptstadt zurückbeorderte, um sie zur Unterdrückung von Unruhen im Reich< einzusetzen. Noch mehr überraschte Zalbar allerdings die Diskussion, die dieser Ankündigung folgte.

Statt sich darüber Gedanken zu machen, wie die Ordnung in der Stadt mit so erheblich reduzierten Kräften aufrecht erhalten werden konnte, stiegen die Versammelten in die Niederungen einer Diskussion darüber hinab, ob die geforderten Einheiten dem Befehl des Kaisers überhaupt Folge leisten würden oder nicht! Und selbst jetzt waren kaum Anzeichen irgendwelcher Vorbereitungen für einen Aufbruch zu erkennen.

Für einen Berufssoldaten wie Zalbar war das undenkbar. Es war eine deutlichere Offenbarung des Machtverlustes des Kaisers als alles, was auf den Straßen und in den Kasernen geflüstert wurde. Und nun fügten sich auch andere kleine Beobachtungen und Unregelmäßigkeiten ins Bild und lenkten seine Gedanken und Überlegungen in eine Richtung, die er geflissentlich vermieden hatte.

Er wußte, daß von Freistatt seit geraumer Zeit keine Karawane mit Abgaben zur Hauptstadt aufgebrochen war, denn es waren keine Wachen dafür abkommandiert worden. Er hatte dem bisher keine Bedeutung beigemessen, sondern angenommen, daß das Reich gestattet hatte, daß diese Steuergelder für den Aufbau der Stadt verwendet wurden. Jetzt fragte er sich allerdings, ob der Prinz einfach entschieden hatte, die Gelder einzubehalten. Wenn Ranke nicht einmal mehr in der Lage war, die Steuern einzutreiben.

Offen zu diskutieren begann man darüber, als jemand in den Kasernen die Befürchtung äußerte, daß die zurückbeorderten Einheiten dazu ausersehen waren, als Steuereintreiber wiederzukehren. Aber das wurde von den übrigen Soldaten als Spinnerei abgetan. Wenn das wirklich ihr neuer Auftrag sein sollte, warum bekamen sie dann nicht ihre Befehle, solange sie noch hier waren, statt sie erst den weiten Weg in die Hauptstadt zu holen?

Nein, alles deutete darauf hin, daß das Reich selbst in großen Schwierigkeiten war und Freistatt den Rücken kehrte, um all seine Kräfte an die neuen, inneren Fronten zu werfen. Von vereinzelten Familien abgesehen, die auf fast marktschreierische Weise ihre Vorliebe für alles Rankanische bekundeten, war kaum noch ein Einfluß des Reiches auf Freistatt zu spüren - und der Rückruf der Truppen war nur ein letzter bestätigender Akt.

Und einigermaßen überrascht stellte Zalbar fest, daß er im Grunde weder den Prinzen noch sich selbst als Rankaner sah. Sie waren ein Teil dieser seltsamen Stadt geworden, die einen nicht mehr losließ. Freistatt war ihr Zuhause, war ihr Leben.

Ranke war nur ein Name, eine lästige ferne Realität, die sich nicht immer ignorieren ließ. Aber es wurde immer leichter.

Zalbar wurde bewußt, daß er sich in sinnlosem Grübeln verlor. Er stand auf und warf die Reste seines Mahls ins Wasser, in dem sich der wolkengraue Himmel spiegelte.

Frieden und Wohlstand hatten Einzug in Freistatt gehalten, dachte der Höllenhund, aber es war wie mit der Wolkendecke über der Stadt. Würde die Sonne durchdringen und die Stadt in Wärme und Licht hüllen, oder würden die Wolken dunkler werden und Sturm bringen?

Ein Soldat konnte nur beobachten und warten - und tun, was immer befohlen wurde.

Originaltitel: Introduction
Copyright © 1989 by Robert Lynn Asprin
Ins Deutsche übertragen von Hubert Straß