Neuntes Kapitel
DIE
VERLIESE
DES INNOZENZ
wiederentdeckt
1
Die wöchentliche Pressekonferenz in der Sala d'Angeli im Vatikan ging langweilig zu Ende wie an den meisten Donnerstagen. Nicht einmal fünfzig Journalisten waren der Einladung von Padre Mikos Vilosevic, einem jugoslawischen Geistlichen, der das vatikanische Presseamt leitete, gefolgt. Die übrigen in Rom akkreditierten Pressevertreter wußten, daß Vilosevic nichts zu sagen hatte, weil alles, was hinter den Leoninischen Mauern ablief, ohnehin höchster Geheimhaltung unterlag.
So wäre auch diese Pressekonferenz, bei der es in der Hauptsache um die mögliche Seligsprechung einer südamerikanischen Nonne ging, die ihre Sozialarbeit in den Slums von Rio vor sieben Jahren mit dem Leben bezahlt hatte, in keiner Weise erwähnenswert gewesen, hätte nicht Desmond Brady, Leiter des Rom-Büros des US-Senders NBC und für gewöhnlich gut unterrichtet über alle Interna des Vatikans, abschließend die Frage gestellt: »Padre, was ist dran an den Gerüchten, daß seine Heiligkeit an einer neuen Enzyklika arbeite?«
Vilosevic' Antwort kam knapp und kühl: »Davon ist mir nichts bekannt. Ich bedauere.«
»Sie soll den Namen tragen ›Tides Evangelii‹.« Brady ließ nicht locker.
Der Hinweis versetzte die anwesenden Journalisten in Unruhe. Wieder einmal schien sich zu bewahrheiten, daß der Amerikaner aus Atlanta über allerbeste Kontakte im Vatikan verfügte, die, so wurde gemunkelt, bis ins Vorzimmer des Papstes reichten.
Vilosevic hatte gehofft, die Angelegenheit mit einer knappen Antwort aus der Welt zu schaffen, doch nun wurde er auch von den übrigen Journalisten bedrängt, und als Verteidiger seiner angeblichen Unwissenheit machte er nicht die beste Figur.
»Meine Herren«, sagte Vilosevic, »Sie alle kennen die Auffassung der Kirche, nach der alle die katholische Lehre betreffenden Angelegenheiten Sache der Kirche sind und nicht Sache der Öffentlichkeit.«
Das veranlaßte Cesare Bonato von der italienischen Nachrichtenagentur ANSA zu dem Zwischenruf »Chiacchierone!«, was soviel wie ›Schwätzer‹ bedeutet und ihm, hätte Vilosevic die Bemerkung verstanden, eine ernsthafte Rüge eingebracht hätte; so aber fügte er dem Schimpfwort die Frage hinzu, ob er, Vilosevic, damit andeuten wolle, daß die Angelegenheit päpstlicher Geheimhaltung unterliege, was im Sprachgebrauch der Kurie die oberste Geheimhaltungsstufe darstellt.
Ungehalten und mit einem Anflug von Gekränktsein erwiderte der vatikanische Beamte: »Es gibt keine Enzyklika, und deshalb kann sie auch nicht päpstlicher Geheimhaltung unterliegen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.«
Damit war eigentlich das Ritual der allwöchentlichen Pressekonferenz im Vatikan beendet, und Vilosevic und seine beiden Assistenten, zwei junge Kapläne, der eine aus Rom, der andere ein Veroneser, schickten sich an, das weißgedeckte Podium (in der katholischen Kirche geht nichts ohne Podium) zu verlassen, da rief Bonato laut, daß seine Stimme auch in der allgemeinen Aufbruchstimmung nicht zu überhören war: »Padre Vilosevic, die Tatsache, daß Sie eine Enzyklika seiner Heiligkeit in Abrede stellen, bedeutet aber wohl nicht, daß es dies nicht gibt?«
Bonatos verklausulierte Sprechweise reizte zum Schmunzeln, aber sie entsprach genau der Diktion, deren sich päpstliche Beamte mit Vorliebe bedienen. Vilosevic kannte Bonato, und er wußte um dessen Sachverstand in Kirchenfragen, der nur einem eigen ist, der selbst einmal kurz davor stand, Priester zu werden, bevor die Versuchung in Gestalt einer Frau an ihn herantrat. Deshalb eilte Vilosevic auf Bonato zu in der Hoffnung, das folgende Gespräch unter vier Augen abwickeln zu können; doch kaum standen sich die beiden gegenüber, da wurden sie von den übrigen Journalisten umringt wie Jesus und Philippus vor der wunderbaren Brotvermehrung.
»Was wollten Sie damit sagen?« fragte Vilosevic nervös.
»Nun ja«, erwiderte Bonato mit jener Freundlichkeit, die geeignet ist, den äußeren Anschein ins Gegenteil zu verkehren, »wir alle kennen die Politik der Geheimhaltung des Vatikans als besondere Lebensform, und diese macht unsere Arbeit nicht gerade einfach.«
»Sie hören von mir alles, was ich weiß!« beteuerte Vilosevic, aber in seinen unsicheren Augen war zu erkennen, daß er selbst nicht überzeugt war von seiner Rede.
»… was Ihnen zu sagen erlaubt ist!« korrigierte Desmond Brady den Padre. »Und das ist nicht viel hinter einer Mauer des Schweigens.«
In wenigen Augenblicken schlug die Stimmung um. Gereiztheit machte sich breit, und der Padre blickte hilfesuchend zu seinen Assistenten; doch die schienen nicht weniger ratlos, wie der Situation zu begegnen sei. Vor allem Brady versetzte sie in Angst, ein äußerst kritischer Journalist, der schon einmal in einem Bericht die vatikanische Geheimhaltungspolitik gegeißelt und behauptet hatte, weder Nazis noch Kommunisten sei es gelungen, sich mit einem so dichten Schleier von Geheimnissen zu umgeben wie die Kurie in Rom. Aber Geheimnisse lassen sich nicht aus der Welt reden, sie lassen sich nur aus der Welt schweigen, und so fand Bradys Behauptung innerhalb der leonischen Mauern keinen Widerhall, nicht einmal Worte der Anklage; jene verpuffte wie Weihrauch beim Te deum.
Vilosevic sah Brady herausfordernd an: »Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich habe mich doch klar ausgedrückt – im Gegensatz zu Ihnen, Padre Vilosevic. Aber«, füge er betont freundlich hinzu, »mein Vorwurf richtet sich nicht gegen Sie persönlich, das wissen Sie, aber das Staatssekretariat und das Heilige Offizium sollten sich vielleicht einmal daran erinnern, in welcher Zeit wir leben.«
Cesare Bonato wollte es damit bewenden lassen, und er machte eine Bemerkung, die geeignet ist, jedem Papisten Schamröte ins Gesicht zu treiben: »Es wäre nicht die erste Enzyklika, die, obwohl für die Gläubigen verfaßt, diese nie erreicht. Ich denke nur an Pius XI.«
Die Bemerkung traf Padre Vilosevic hart wie der Schlag eines Boxers. Vilosevic suchte mit den Augen den Ausgang, aber die Journalisten hatten ihn umringt; an ein Entkommen war nicht zu denken. Der Padre, Brady und die meisten anderen wußten, worauf Bonato anspielte: Pius XI. hatte 1938 eine Enzyklika Humani Generis Unitas vorbereitet, die nie veröffentlicht wurde. Die Umstände, warum sie nie herausgegeben wurde, blieben ungeklärt, klar ist nur, daß der päpstliche Erlaß mit dem Thema Rassismus und Antisemitismus für jene Zeit von großer Bedeutung gewesen wäre.
Auf diese Weise in die Enge getrieben, ging Vilosevic zum Angriff über, er attackierte Bonato: »Vielleicht sind Ihre Kontakte zur Kurie besser als die meinen. Was wissen Sie über die neue Enzyklika? Das würde mich interessieren.«
Vilosevic' ironisch gemeinte Bemerkung war dazu angetan, den Unwillen der übrigen Journalisten zu wecken, und es kam zu einem Durcheinander, in dessen Verlauf sich herausstellte, daß lange schon wilde Gerüchte im Umlauf waren über ein neu entdecktes Pergament aus der Zeit des Jesus von Nazareth, dessen Übersetzung vom Heiligen Offizium unter Verschluß gehalten werde wie die Weissagungen des Malachias, deren Inhalt bekannt ist, die jedoch noch kein gewöhnlicher Mensch zu Gesicht bekommen hat.
»Alles Gerüchte!« rief Vilosevic zornig, und im Zorn schwoll auf seiner Stirn eine senkrechte Ader von dunkler Farbe, die seinem Aussehen etwas Dämonisches verlieh. »Nennen Sie mir die Quelle Ihrer Informationen, dann will ich mich gerne für Sie einsetzen und eine offizielle Stellungnahme erwirken!«
Brady lachte hämisch. Kein Journalist der Welt nennt, so er über vertrauliche Informationen verfügt, seinen Informanten, denn das bedeutet das Ende dieser Nachrichtenquelle. Auch Bonato hatte für den Pressemann des Vatikans nur ein mitleidiges Lächeln übrig. Doch die so in Gang gekommene Diskussion machte deutlich, daß jeder der anwesenden Journalisten von der seltsamen Unruhe gehört hatte, die sich seit geraumer Zeit im Vatikan breitmachte. Allerdings wußte ein jeder vom Hörensagen einen anderen Grund. Ein spanischer Radiokorrespondent sprach von einer schweren unheilbaren Krankheit seiner Heiligkeit; der Kolumnist des ›Messagero‹ wußte gar, daß sich das dritte Geheimnis der Prophezeiungen von Fatima auf furchtbare Weise erfüllt habe (ohne freilich den Grund der Furchtbarkeit zu kennen); der römische SPIEGEL-Korrespondent glaubte zu wissen, der Zölibat werde noch in diesem Jahr fallen; und Larry Stone von ›Newsweek‹ wollte gar von einem Massenaustritt der südamerikanischen Bischöfe aus der Kirche wissen – eine Spekulation, die, trotz der Ernsthaftigkeit Stones, in heftigem Gelächter unterging.
Vilosevic nutzte die unverhoffte Heiterkeit, um sich aus der Sala d' Angeli zu drängen, er raffte seine Soutane, eine Haltung, die einen Padre äußerst unwürdig erscheinen läßt, aber sich trefflich eignet, seinen Schritten größere Weite und infolgedessen ihm eine höhere Geschwindigkeit zu verleihen. In dieser Haltung hastete Vilosevic den langen, steinernen Korridor entlang zu der Marmortreppe, die zum dritten Stock des Apostolischen Palastes führt, wo hinter hohen weißen Türen, die alle bis auf eine von innen verschlossen sind, der Kardinalstaatssekretär residierte.
2
Mit Felici, dem Kardinalstaatssekretär, einem gütigen alten Mann mit kurzen weißen Haaren und zitternden Händen – er führte sein Amt schon unter drei Päpsten –, pflegte Vilosevic ein vertrauensvolles Verhältnis, man kann auch sagen, Vilosevic war sein Gefolgsmann; aber diese Gefolgschaft machte ihn gleichzeitig zum Feind für Kardinal Berlinger, den Leiter des Heiligen Offiziums, der die andere Hausmacht innerhalb des Vatikans anführte. In Berlinger und Felici begegneten sich Erde und Feuer: Berlinger, der Konservative, unnachsichtig gegenüber jeder Neuerung oder Erneuerung, und Felici, ein liberaler, progressiver Kardinal, der schon vor dem letzten Konklave als papabile galt, dem aber, wie er selbst zu sagen pflegte, die Schuhe des Fischers eine Nummer zu groß erschienen.
Nachdem Vilosevic zwei hintereinanderliegende Vorzimmer mit Wandteppichen und spärlichem, dunklen Mobiliar durchquert hatte – als Vorzimmerdamen fungieren im Vatikan ausnahmslos schwarzgekleidete Padres –, trat er mit einer Verbeugung in den überheizten Raum, wo Felici hinter einem endlos breiten Schreibtisch mit Aktenstößen und Papier hervorlugte.
»Herr Kardinal!« rief Vilosevic von weitem (eine andere Anrede als diese duldete Felici nicht). »Herr Kardinal, Sie müssen etwas tun. Die Journalisten haben von irgend etwas Wind bekommen. Ich weiß nicht mehr, wie ich sie bändigen soll. Manche von ihnen wissen mehr als ich selbst – jedenfalls habe ich den Eindruck.«
Mit einer freundlichen Geste verwies der Kardinal den Presseamtsleiter auf einen rot bezogenen Stuhl mit hoher Lehne, der in gebührendem Abstand von seinem Schreibtisch einsam auf einem riesigen Teppich stand. »Immer der Reihe nach«, mahnte Felici, und dann gebrauchte er eine Redewendung, über die im Vatikan gespöttelt wurde, weil der Alte sie in keinem Gespräch ausließ: »– und mit Distanz!«
»Sie haben leicht reden, ›mit Distanz‹«, ereiferte sich Vilosevic, »mich haben fünfzig Presseleute bestürmt und mit den abenteuerlichsten Gerüchten konfrontiert, ausgehend von einer Enzyklika, die in Vorbereitung und von großer Bedeutung für die Kirche sei.«
Felici zeigte Gelassenheit: »Jede Enzyklika ist von fundamentaler Bedeutung für die heilige katholische Kirche. Warum nicht diese?«
»Also dürfen wir nun mit einer Enzyklika rechnen? Frage eins: Wann? Frage zwei: Welchen Inhalts?«
»Ich habe nicht gesagt, daß eine Enzyklika in Vorbereitung ist, Padre Vilosevic. Ich habe nur angedeutet, wenn eine Enzyklika in Vorbereitung wäre, so hätte sie dieselbe fundamentale Bedeutung wie alle, die bisher veröffentlicht wurden.«
»Herr Kardinal!« Vilosevic rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »So kommen wir doch nicht weiter! Ich habe nun einmal, bei Gott und allen Heiligen, dieses Presseamt inne, ich bin das Sprachrohr des Stellvertreters, die Journalisten erwarten zu Recht von mir eine Erklärung. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern, daß seit Monaten im Vatikan Unruhe um sich greift, aber keiner weiß warum, niemand redet darüber. Kein Wunder, wenn wilde Gerüchte im Umlauf sind! Eben wurde ich damit konfrontiert, die südamerikanischen Bischöfe planten einen Massenaustritt aus der Kirche.«
»Sie haben hoffentlich sofort dementiert, Vilosevic!«
»Nichts habe ich. Ich habe zu den absurden Behauptungen geschwiegen, und ich werde solange dazu schweigen, bis ich eine Erklärung von höherer Stelle erhalte. Wer weiß, vielleicht ist etwas dran an dieser Behauptung?«
»Lächerlich!« zischte Felici und erhob sich von seinem Schreibtisch. Er verschränkte die Hände auf dem Rücken, trat an eines der hohen Fenster und blickte auf den Petersplatz, der um diese Jahreszeit verlassen dalag; selbst die weißen Marmorfiguren auf den Kolonnaden des Bernini, die für gewöhnlich in den Himmel leuchteten wie Fackeln in der Nacht, verbreiteten Melancholie.
»Dem Herrn sei Dank«, begann Felici, ohne seinen Blick von dem Fenster zu wenden, »dem Herrn sei Dank, daß diese Angelegenheit nicht mir obliegt, sondern dem Leiter des Heiligen Offiziums, Kardinal Berlinger.«
Von der Seite konnte Vilosevic sehen, daß Felicis Gesicht einen Anflug von Schadenfreude zeigte, als er den Namen nannte. Schließlich kam der Kardinal auf Vilosevic zu. Der erhob sich, und als sich beide ganz nahe gegenüberstanden, sagte Felici bedächtig: »Ich möchte, da Sie mein Freund sind, Sie mit der Wahrheit konfrontieren, die die Ursache ist für die Unruhen innerhalb der Kurie. Aber, Bruder in Christo, geben Sie mir Ihr Wort, daß Sie Stillschweigen darüber bewahren werden – bis höhere Weisung kommt. Diese Wahrheit ist bitter für unsere Kirche, und manche, die sie kennen, vertreten die Ansicht, sie könnte diese Wahrheit nicht überleben – deshalb die Unruhe.«
»Bei Gott und allen Heiligen, worum geht es?«
»Wie es scheint, müssen wir uns damit abfinden, daß Matthäus, Markus, Lukas und Johannes nicht die einzigen Evangelisten sind. Wie es scheint, gibt es ein fünftes Evangelium, das Evangelium nach Barabbas. Man hat es in einem koptischen Grab entdeckt, und Jesuiten der Gregoriana sind gerade dabei, es zu übersetzen.«
»Ich verstehe nicht!« wandte Vilosevic ein. »Ein fünftes Evangelium bedeutete doch nur eine Stärkung für die Lehre der heiligen Mutter Kirche.«
»Ja, gewiß, aber nur, wenn es die Texte der vier anderen stützte.«
Vilosevic wurde kleinlaut: »Und das tut es nicht?«
Felicis Schweigen nahm die Antwort vorweg. »Im Gegenteil«, erwiderte der Kardinal, »es deckt die Schwächen der vier Evangelien auf, die in der Hauptsache darauf beruhen, daß Matthäus, Markus, Lukas und Johannes die Dinge, über die sie schrieben, nur vom Hörensagen kannten. Barabbas hingegen, der Urheber des fünften Evangeliums, war ein Zeitzeuge. Er schreibt, als habe er unseren Herrn Jesus gekannt, und bei ihm lesen sich große Teile der neutestamentarischen Überlieferung ganz anders.«
»Herr Jesus!« Vilosevic holte Luft. »Herr Jesus!« wiederholte er und fuhr fort: »Wer ist dieser Barabbas?«
»Das ist die Frage. Manzoni von der Päpstlichen Universität arbeitet fieberhaft daran. Er hat die besten Leute seines Ordens zusammengezogen, aber – so behauptet er – die entscheidenden Textstellen in bezug auf den Urheber des Evangeliums sind entweder zerstört, oder sie fehlen. Das Pergament wurde nämlich, bevor man seine Bedeutung erkannte, in Teilen verkauft, und es ist schwer, die einzelnen Fragmente wieder aufzufinden und zusammenzufügen.«
»Aber«, wandte Vilosevic verzweifelt ein, »es gibt doch eine ganze Reihe apokrypher Evangelien, die allesamt als Fälschungen entlarvt worden sind. Wer sagt, daß ausgerechnet dieses Evangelium echt ist?«
»Sowohl die Naturwissenschaftler als auch Bibelwissenschaftler und Koptologen kommen zu demselben Ergebnis: Der Text ist echt.«
»Und was ist der Inhalt?«
Der Kardinal ging zum Fenster zurück und blickte hinaus, aber er sah nicht den Petersplatz und nicht die Kolonnaden, er blickte ins Leere und antwortete: »Ich weiß es nicht, ich weiß nur, daß der Satz: ›Du bist Petrus, der Fels, und auf diesem Felsen will ich meine Kirche bauen‹, in dem ganzen fünften Evangelium nicht vorkommt. Wissen Sie, was das heißt, Vilosevic, wissen Sie es?« Felici wurde laut, und seine Augen wurden feucht: »Das bedeutet, daß alles hier um uns herum unsinnig ist. Sie, ich und Seine Heiligkeit und eine Dreiviertelmilliarde Menschen haben ihren Glauben verloren!«
»Herr Kardinal!« Vilosevic trat auf Felici zu. »Herr Kardinal, mäßigen Sie sich, ich bitte Sie im Namen aller Heiligen.«
»Aller Heiligen!« entgegnete Felici bitter. »Auch die können Sie vergessen.«
Der Padre sank auf seinen Stuhl nieder und vergrub sein Gesicht in den Händen. Er konnte es einfach nicht fassen, was der Kardinal gerade berichtet hatte.
»Vielleicht verstehen Sie jetzt die Unruhe, Padre, von der die Kurie erschüttert wird«, bemerkte Felici.
Und Vilosevic antwortete entschuldigend: »Ich habe das alles nicht gewußt, Eminenza, ich hatte wirklich keine Ahnung.«
Da fuhr der Kardinal wütend dazwischen: »Ihre ›Eminenza‹ können Sie sich sparen! Hören Sie! Gerade jetzt …«
Der Padre nickte ergeben. Nach einer endlos scheinenden Pause, in der Felici unbewegt aus dem Fenster starrte, begann Vilosevic vorsichtig: »Wenn Sie die Frage gestatten, Herr Kardinal, wie viele Mitwisser hat diese Entdeckung?«
»Das ist nicht die Frage«, erwiderte der Kardinal. »Die Entdeckung an sich ist allgemein bekannt, jedenfalls was die Wissenschaft betrifft. Koptologen und Altphilologen wissen seit langem von einem Pergamentfund in der Nähe von Minia. Aber weil die Grabräuber, denen das Pergament in die Hände fiel, ihren Schatz des größeren Profits wegen in einzelnen Stücken verkauften, konnte kein wissenschaftliches Institut das Pergament einer textkritischen Analyse unterziehen. Insofern ist der Inhalt weitgehend unbekannt geblieben. Anfang der fünfziger Jahre jedoch muß irgendein Wissenschaftler Verdacht geschöpft haben; denn zu dieser Zeit zeigten mit einem Mal verschiedene Leute Interesse an dem Pergament und begannen, Fragmente aufzukaufen.«
»Wußte die Kurie davon?«
»Einer der Aufkäufer war Kardinal Berlinger, der dem Heiligen Offizium vorsteht. Er schickte Emissäre aus mit der Maßgabe, jedes Stück zu jedem Preis für die Vatikanischen Museen zu gewinnen. Die Leute wußten selbst nicht, worum es sich bei den Pergamenten handelte; sie hatten nur den Auftrag, sie um alles in der Welt herbeizuschaffen.«
»Und ist das Vorhaben geglückt?«
»Zu einem gewissen Teil, Padre.«
»Aber das bedeutet doch …«
»… daß Manzoni über einen beträchtlichen Teil des fünften Evangeliums verfügt.« Und nach einer Pause bemerkte der Kardinal: »Ich weiß, was Sie jetzt denken, Padre. Ich sehe es Ihnen an den Augen an, Sie denken, wenn sich das Pergament zu einem Teil im Besitz der Kirche befindet, dann könnte die Kirche dieses Pergament oder zumindest jene Passagen, die für sie eine Gefahr bedeuten, heimlich verschwinden lassen. Das denken Sie doch, Padre!«
Vilosevic nickte. Er schämte sich und murmelte: »Gott möge mir verzeihen!«
»Sie müssen sich nicht schämen«, entgegnete Felici, »ich selbst hatte den gleichen Gedanken, und ich bin nicht das einzige Mitglied der Kurie, das so dachte, als es davon erfuhr. Die Sache hat nur einen Haken, Padre.«
»Einen Haken?«
Felici nickte heftig: »Ausgerechnet die wichtigsten Teile des Pergamentes befinden sich nicht im Besitz Manzonis. Berlinger ist es nicht gelungen, jene Fragmente zu erwerben, in denen Barabbas über sein Verhältnis zu unserem Herrn Jesus berichtet oder in denen Jesus über die Zukunft seiner Jünger spricht.«
»Merkwürdig«, sagte Vilosevic nachdenklich. »Das kann doch kein Zufall sein!«
»Natürlich nicht«, antwortete Felici, »das ist mit Sicherheit kein Zufall.«
Vilosevic sprang auf. »Es gibt also noch andere Interessenten an dem fünften Evangelium.«
»Ihre Vermutung ist richtig, Padre.«
»Die Kirche soll erpreßt werden?« Vilosevic trat neben Felici ans Fenster. Er nahm dieselbe Haltung ein wie der Kardinal.
»Das ist denkbar, aber bisher gibt es keine Forderungen. Ich glaube auch nicht, daß irgend jemand aus dieser Sache Geld machen will, ich glaube vielmehr, daß unsere Heilige Mutter Kirche gedemütigt werden soll.«
»Mein Gott!« rief Vilosevic fassungslos, und in seiner Ratlosigkeit schlug er ein heftiges Kreuzzeichen. »Wer hat ein Interesse, sich an der Heiligen Mutter Kirche zu vergreifen?«
Der Kardinal hob die Schultern. »Die Leute Berlingers haben zwei Gruppen ausfindig gemacht. Beide bekriegen sich im Kampf um die Kirche bis aufs Blut, beide sind Fanatiker, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Motiven, und beide scheinen nicht nur über Abschriften jener vier Fünftel zu verfügen, die Manzoni mit den Jesuiten erarbeitet; es gibt Anzeichen, daß sie sogar über die fehlenden Fragmente verfügen, daß sie also im Besitz der vollen Wahrheit sind.«
»Was sind das für Leute?«
»Die eine Gruppe ist ein gefährlicher Eliteorden, fern aller Glaubensinhalte und unter dem Kommando eines wahnsinnigen Hermaphroditen, der sich als Wiedergeburt des Sängers Orpheus sieht. In der anderen Gruppe haben sich islamische Fundamentalisten zum Ziel gesetzt, die Heilige Mutter Kirche zu unterwandern und in die Knie zu zwingen. Eine Clique ist so gefährlich wie die andere, denn beide gehen mit unvorstellbarem Fanatismus ans Werk, die Orphiker – so nennt sich der Orden – aus intellektuellem Standesdünkel, die Fundamentalisten aus religiösem Sendungsbewußtsein. Beide Parteien verfügen über ein Netz von über die Welt verstreuten Anhängern und Kommandozentralen, von denen niemand so recht weiß, wo sie sich überhaupt befinden. Angeblich beherrschen die Orphiker ein Kloster im Norden Griechenlands, während die islamischen Fundamentalisten aus dem persischen Ghum gesteuert werden. Geld spielt bei beiden keine Rolle; deshalb haben sie nicht nur alle verfügbaren Fragmente des Pergaments erworben – oft für aberwitzige Summen –, sie haben auch die bedeutsamsten Wissenschaftler aufgekauft und, wenn diese sich nicht freiwillig zur Mitarbeit bereit erklärten, Gewalt angewendet, sie entführt oder durch Todesdrohungen eingeschüchtert.«
»Und diese Leute sind in der Lage, das fünfte Evangelium so auszuwerten, daß es gegen die Kirche angewendet werden kann?«
»Padre, das ist keine Frage. Einige der namhaftesten Experten auf den Gebieten der Koptologie und Bibelwissenschaft, die es auf der Welt gibt, sind in den vergangenen Jahren von einem Tag auf den anderen verschwunden. Sie haben ihre Familien zurückgelassen und ihre Karriere. Das ist kein Zufall. Orphiker wie islamische Fundamentalisten träumen von der Weltherrschaft, und der Islam hat uns vorgemacht, daß ein Buch mit 114 Suren in der Lage ist, die Welt zu verändern. Ein Buch, das vom Umfang ziemlich genau dem des Neuen Testamentes entspricht und mit unterschiedlichsten Mitteln rekonstruiert wurde. Denn es ist ungewiß, ob der Koran bereits zu Lebzeiten des Propheten Mohammed aufgezeichnet wurde. Die Überlieferung sagt, die weitverstreuten Aufzeichnungen seien erst wenige Jahre nach Mohammeds Tod zusammengetragen worden. Bruchstücke des Textes wurden auf Lederstücken, Steintafeln, Palmrippen, Holzbrettchen, den Schulterblättern von Kamelen und auf Pergament gefunden und zu einem Ganzen zusammengefügt. Es wird diesen Leuten keine Schwierigkeit bereiten, das fünfte Evangelium zu rekonstruieren und für ihre Zwecke einzusetzen.«
Vilosevic ging zu seinem Stuhl zurück und schüttelte nur immer wieder den Kopf. Dann fragte er: »Und Sie kennen den Text dieses Barabbas-Evangeliums?«
»Nein«, antwortete der Kardinal, »keiner kennt den ganzen Wortlaut; zum einen, weil er nur in Bruchstücken existiert, zum anderen, weil Professor Manzoni selbst diese Bruchstücke unter Verschluß hält, damit keiner der Übersetzer Einblick in das Ganze erhält. Die Geschichte lehrt, daß einem Jesuiten immer mit Mißtrauen zu begegnen ist.«
Der Padre zeigte sich irritiert von den Worten des Kardinalstaatssekretärs, und bei anderer Gelegenheit hätte er sie kaum unwidersprochen gelassen, aber in dieser Situation war die Diskussion über die Kirchentreue des Jesuitenordens zweitrangig. »Warum dann die Furcht vor dem fünften Evangelium«, erkundigte er sich unsicher, »wenn noch niemand den Text gelesen hat?«
»Manzoni hat ihn gelesen«, erwiderte Felici, »er kennt einen großen Teil davon, Berlinger kennt Bruchstücke und ich ebenso.« Der Kardinal, der bisher mit dem Blick zum Fenster gesprochen hatte, begann nun in dem großen Raum auf und ab zu gehen. Er war äußerst nervös, als er fortfuhr: »Dem gläubigen Christenmenschen nennen die vier Evangelisten acht Ereignisse als Grundlage seines Glaubens: Jesus ist empfangen vom Heiligen Geist – er ist geboren von der Jungfrau Maria – er hat gelitten unter Pontius Pilatus – er wurde gekreuzigt – er ist gestorben – er ist zu den Toten hinabgestiegen – er ist am dritten Tag auferstanden – er ist zum Himmel aufgefahren.«
»Herr Kardinal! Wozu diese Aufzählung?«
Felici ging auf den im Stuhl sitzenden Vilosevic zu. Er faßte ihn an den Oberarmen, schüttelte ihn wie einen Schlafenden, der endlich aufwachen soll, und rief mit erregter Stimme: »Weil dieser Barabbas alle diese Ereignisse in Abrede stellt! Wissen Sie, was das bedeutet, Padre? Wissen Sie es?«
Vilosevic nickte.
3
Aus dem Vorzimmer drang Stimmengewirr, und nach kurzer Zeit erschien der Sekretär in der Tür und kündigte das Erscheinen seiner Eminenz, des Leiters des Heiligen Offiziums, Kardinal Berlinger, an. Er hatte noch nicht ausgesprochen, als der rotgekleidete Berlinger, gefolgt von drei Monsignori in wallenden Soutanen, in den Raum stürmte und, noch bevor er das Wort an Felici richtete, den anwesenden Vilosevic mit abfälligem Blick musterte, als wollte er sagen: Verschwinden Sie, aber schnell. Vilosevic machte auch Anstalten, sich zu entfernen, aber der Kardinalstaatssekretär kam ihm zuvor und sagte: »Bleiben Sie ruhig hier, Padre«, und an Berlinger gewandt: »Er ist in alles eingeweiht. Eminenza, Sie müssen kein Blatt vor den Mund nehmen.«
Berlinger zog die Augenbrauen hoch, um anzuzeigen, daß er diese Entscheidung mißbilligte, doch für Diskussionen war nicht länger Zeit. Wenn Berlinger den weiten Weg zurücklegte von der außerhalb der Kolonnaden gelegenen Piazza del Sant'Uffizio, wo er in einem Gebäude herrschte, das eher einem Verteidigungsministerium glich als der kirchlichen Behörde für Glaubensfragen, dann mußte das einen triftigen Grund haben. Vor allem die Begleitung dreier Monsignori seiner Behörde, die Berlinger selbst stets nur als Congregatio zu bezeichnen pflegte, eine Kurzform für Congregado Romanae et Universalis lnquisitionis, so wie sie unter Paul III. vor vierhundert Jahren zur Bekämpfung des Protestantismus ins Leben gerufen wurde, verlieh seinem Erscheinen noch größere Bedeutung.
Die Monsignori nahmen, ihre Soutanen sorgsam glättend wie drei modebewußte Damen, auf einer Stuhlreihe an der den Fenstern gegenüberliegenden Wand Platz. Ebenso Vilosevic. Dann ergriff Berlinger mit seiner unangenehm hohen Stimme das Wort: »Die Spreu macht nicht einmal vor den Leoninischen Mauern halt«, rief er voll Empörung. Wie stets bedurfte seine Redeweise der Interpretation; denn Berlinger hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, in biblischen Worten und Gleichnissen zu sprechen, was den Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofes der Apostolischen Signatur, Kardinal Agostini, zu der ironischen Bemerkung veranlaßte, das Neue Testament habe durchaus seine Qualitäten, aber sprachlich sei Berlinger besser.
Als Spreu bezeichnete Berlinger alle Menschen, die nicht dem rechten Glauben anhingen, wobei sich die Frage, was unter dem rechten Glauben zu verstehen sei, nicht stellte. Berlinger berichtete, die Schweizer Garde habe einen Hochstapler festgenommen, der sich als Priester verkleidet in das Geheimarchiv des Vatikans eingeschlichen und versucht habe, die Riserva zu betreten, die geschlossene Abteilung, deren Inhalt nur den Päpsten zur Kenntnis gelangen darf. Er habe sich in der Nacht einschließen lassen und während dieser Zeit versucht, das Schloß, das den geheiligten Zugang zu den Geheimnissen der Christenheit verschließt, zu erbrechen. Zwar habe das Schmiedewerk aus der Zeit Pius VII. dem Eindringling getrotzt, bis Gardisten, durch den verursachten Lärm aufgeschreckt, den falschen Priester festnahmen; nun aber stellte sich die Frage, wer dieser Mann war und welches Motiv ihn zu seinem Handeln bewog. Doch der Mann schwieg. Es scheine ein Deutscher zu sein.
»Ich befürchte …«, begann Felici.
»Ich glaube«, fiel Berlinger ihm ins Wort, »wir befürchten beide das Gleiche. Es scheint ein Zusammenhang zu bestehen zwischen dem Einbruch und – horribile dictu – dem fünften Evangelium.«
Felici nickte: »Das dachte ich. Wer ist dieser Mann, und wo befindet er sich jetzt?«
Berlinger blickte zur Seite, als schiene er gehemmt, weiterzusprechen. »Ich möchte Sie unter vier Augen sprechen«, sagte er leise.
Felici und Berlinger erhoben sich, sie gingen zum vorderen Fenster und steckten die Köpfe zusammen. Berlinger murmelte: »Sie kennen die Verliese Innozenz X. unter dem Cortile Ottagono?«
»Ich habe davon gehört. Es heißt, Innozenz habe sie unter dem Einfluß seiner Schwägerin Olimpia Maidalchini errichten lassen, um die Familie seines Vorgängers Moffeo Barberini mundtot zu machen.«
»Das ist vortrefflich ausgedrückt, Eminenza, wirklich vortrefflich.« Berlinger kicherte in sich hinein.
»Soviel ich weiß, sind die Verliese des Innozenz seit drei Jahrhunderten zugemauert!«
»Das schon«, antwortete Berlinger verlegen, »aber das bedeutet ja nicht, daß man diese Verliese nicht öffnen könnte, wenn Bedarf vorhanden ist.«
Felici trat einen Schritt zurück, er bekreuzigte sich flüchtig und rief, daß es alle hören konnten: »Berlinger, Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Sie das Verlies haben öffnen lassen, um …«
Da trat Berlinger dem Amtsbruder entgegen und preßte ihm die flache Hand auf den Mund: »Pssst!« sagte er. »In nomine Domini, schweigen Sie, Eminenza.«
»Sie sind wahnsinnig!« fauchte Felici nun leise. »Wollen Sie den Eindringling bei lebendigem Leib einmauern?«
»Es ist schon geschehen«, sagte Berlinger leise. »Oder wollen Sie ihn der römischen Polizei übergeben, damit er verhört wird und auspacken kann, warum er in das vatikanische Geheimarchiv eingedrungen ist. Wollen Sie die Verantwortung übernehmen?«
Felici faltete die Hände und blickte zu Boden, als wollte er beten, aber der Schock war zu groß, er bestürmte Berlinger: »Wer weiß von der Geschichte?«
»Drei in diesem Raum – außer uns.« Er warf den Monsignori einen Blick zu, den diese jedoch nicht erwiderten. Sie starrten betont teilnahmslos zu Boden. »Und Gianni, der die Maurerarbeit verrichtete«, fügte der Kardinal hinzu.
»Wer ist Gianni?«
»Unser Faktotum, ein frommer und gutmütiger Mensch, der jede Arbeit verrichtet, die man ihm aufträgt.«
»Aber er wird früher oder später auspacken und berichten, welche grauenvolle Arbeit man von ihm verlangt hat!«
Berlinger schüttelte den Kopf: »Das weiß Gott der Herr zu verhindern.«
»Wie meinen Sie das, Herr Kardinal?«
»Gianni ist stumm und taub.«
»Er wird sich auf andere Art verständlich machen!«
»Man wird ihm nicht glauben. Alle wissen, daß der Mann verrückt ist.«
Felici wankte zu seinem Schreibtisch. Er ließ sich in seinen Stuhl fallen und zog ein großes weißes Taschentuch aus seinem Ärmel, dann wischte er über sein rotes Gesicht. Die anderen sahen, wie er ratlos den Kopf schüttelte, den Kopf schüttelte, als könne, als wolle er nicht begreifen, was er soeben gehört hatte. Schließlich sprang er auf, trat auf Berlinger zu, der noch immer am Fenster stand, und brüllte, wie man es noch nie von ihm gehört hatte: »Berlinger, schaffen Sie mir diesen Gianni herbei. Er soll sein Werkzeug mitbringen. Wir treffen uns in fünf Minuten vor den Verliesen des Innozenz!«
Berlinger war noch nie, nicht einmal auf dem Priesterseminar in Regensburg, so angebrüllt worden. Er erschrak zu Tode über die unerwartet laute Stimmgewalt Felicis; er wollte noch etwas sagen, aber der Kardinalstaatssekretär kam ihm zuvor und rief: »Und beten Sie zu Gott, daß der Delinquent noch am Leben ist.« Im Gehen, während er Berlinger vor sich herschob, als wäre dieser der Angeklagte, sagte er: »Ich dachte, die Inquisition hat im vorigen Jahrhundert ihre Tätigkeit eingestellt.«
4
Das Gesicht des Mannes, das in dem Mauerloch zum Vorschein kam, zeigte keine Regung. Mit zusammengekniffenen Augen starrte der Fremde in das grelle Licht der Handlampe, mit der Felici die Arbeit des taubstummen Gianni beleuchtete. Er hatte wohl mit dem Leben abgeschlossen, und die unverhoffte Rettungsaktion mußte ihm wie ein Traum erscheinen.
Vilosevic ging dem Taubstummen zur Hand. Berlinger und die drei Monsignori des Heiligen Offiziums standen abseits. Keiner sagte ein Wort. Als das Loch in der Mauer groß genug war, um hindurchsteigen zu können, trat Kardinal Felici vor und streckte dem Gefangenen die Hand entgegen. Erst jetzt erkannte er, daß der Mann an den Händen gefesselt war. Felici warf Berlinger einen Blick zu, aber der sah zur Seite.
Langsam schien der Gefangene zu begreifen, daß der Kardinal gekommen war, um ihn zu befreien. Über sein Gesicht huschte ein ungläubiges, beinahe verlegenes Lächeln, und während er sich durch das Mauerloch zwängte, stammelte er: »Ich … ich will alles erklären.«
»Auf einmal will er alles erklären!« rief Berlinger hämisch aus dem Hintergrund.
Felici machte eine unwillige Handbewegung und erwiderte: »Sie sollten besser schweigen, Herr Kardinal, denn für Ihr Verhalten gibt es keine Rechtfertigung.«
»Ich fordere ein Verhör ex officio!« geiferte Berlinger. »Er soll seine Hintermänner nennen, ich will Namen, ich fordere restlose Aufklärung!«
Der Gefangene wiederholte seine Beteuerung: »Ich will alles erklären!«
Dann nahm Felici dem Mann die Fesseln ab, und die drei Monsignori führten ihn über Treppen und Korridore, auf denen sie sicher sein konnten, daß ihnen niemand begegnete, zum Heiligen Offizium.
Das Verhör im zweiten Stock des Gebäudes an der Piazza del Sant'Uffizio geriet zur Inquisition wie jede heimliche Zusammenkunft von mehr als zwei Purpurträgern im Vatikan. Berlinger hatte ein halbes Dutzend Würdenträger, die mit dem fünften Evangelium befaßt waren, unter päpstlicher Geheimhaltung zusammengerufen (wie es stets bei besonders brisanten Fällen geschieht, etwa bei jenem Fall einer levitierenden Nonne aus der unmittelbaren Umgebung seiner Heiligkeit, die in religiöser Verzückung die Röcke raffte und frei über dem Boden zu schweben begann – ein Fall für den Exorzisten, weil, wie die Naturwissenschaften sagen, dies wider die Natur und somit von Dämonen herbeigeführt ist).
Hinter einem schmalen, langen Tisch saßen aufgereiht die drei Monsignori, Kardinalstaatssekretär Felici, der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofes der Apostolischen Signatur Kardinal Agostini, der Leiter des päpstlichen Geheimarchivs Monsignore della Croce, der Leiter des Heiligen Offiziums Kardinal Berlinger, Monsignore Pasquale, der Privatsekretär seiner Heiligkeit, Professor Manzoni von der Päpstlichen Universität, Vilosevic, der Leiter des Vatikanischen Presseamtes, und ein Prälat als Protokollführer. Auf dem Tisch brannten zwei hohe, dünne Kerzen. Davor hatte der Angeklagte Platz genommen. Wie in allen vatikanischen Amtsräumen roch es aus unerfindlichen Gründen nach Bohnerwachs.
Nach Anrufung des Heiligen Geistes, die jeder Handlung des Heiligen Offiziums vorausgeht, begann Berlinger mit hoher, schneidender Stimme: »Nennen Sie Ihren Namen!«
Der Gefragte erschien klein und unscheinbar, er setzte sich gerade aufrecht und antwortete laut, aber mit zitternder Stimme: »Mein Name ist Professor Dr. Werner Guthmann.«
»Deutscher?«
»Ja. Ich bin Professor für Koptologie.«
Murmeln unter den Purpurträgern.
»Ich habe das alles nicht freiwillig getan!« beteuerte Guthmann.
Berlinger streckte dem Angeklagten den Zeigefinger entgegen: »Sprechen Sie nur, wenn Sie gefragt sind! – Was haben Sie im päpstlichen Geheimarchiv gesucht?«
»Ein Beweisstück!«
»Ein Beweisstück wofür?«
»Ein Beweisstück dafür, daß der Kirche das Evangelium des Barabbas seit Jahrhunderten bekannt ist.«
Die Kardinäle, Monsignori und Padres zeigten deutliche Unruhe, sie rutschten auf ihren Stühlen umher wie Märtyrer auf glühendem Rost. Berlinger warf Felici einen verstohlenen Blick zu, als wollte er sagen: Habe ich es nicht geahnt? Wir sind nicht die einzigen, die von dem fünften Evangelium Kenntnis haben. Dann stellte er Guthmann die Frage: »Sie glauben also zu wissen, daß im päpstlichen Geheimarchiv ein fünftes Evangelium aufbewahrt wird, das die Kirche unter Verschluß hält.«
Guthmann hob die Schultern: »Das wird vermutet; als sicher gilt nur, daß ein Beweisstück im Geheimarchiv aufbewahrt wird.«
Neugierig beugte sich Monsignore della Croce, der Leiter des Geheimarchivs, über den Tisch und sagte fragend: »Man hat eine Kamera bei Ihnen gefunden, aber der Film war leer.«
»Ja«, erwiderte Guthmann, »meinen Auftraggebern hätte es genügt, eine Fotografie des Beweisstückes zu erhalten.«
»Und worum handelt es sich bei dem Beweisstück?«
»Um ein Relief aus dem Titusbogen, das, als man seine Bedeutung erkannte, von Papst Pius VII. beseitigt wurde.«
Manzoni beugte sich zu Berlinger hinüber und flüsterte ihm etwas zu, das die übrigen nicht verstanden. Dann fuhr er fort: »Nennen Sie Ihre Hintermänner. Und wagen Sie nicht zu lügen!«
»Ich habe das alles nicht freiwillig getan«, wiederholte Guthmann. »Sie haben mich mit Drogen gefügig gemacht. Eine Frau – Helena – war ihr Werkzeug, ohne es zu wollen. Sie haben angekündigt, mich zu töten, wenn ich nur ein Wort über meine Auftraggeber verliere.« Guthmann sprang auf: »Ich will die ganze Wahrheit berichten, aber ich bitte Sie, schützen Sie mich. Der Vatikan ist der einzige Ort auf der Welt, an dem sich jemand sicher fühlen kann, der in den Augen der Orphiker versagt hat.«
»Orphiker, sagten Sie?« erkundigte sich Felici.
Da nickte Guthmann heftig. »Die Orphiker sind ein Geheimorden, der sich die Weltherrschaft zum Ziel gesetzt hat, und sein erstes Ziel ist die Beseitigung der Kirche …«
»Danke, danke, Professor«, bremste Felici den Angeklagten, »wir wissen Bescheid.«
Guthmann blickte den Kardinal fragend an, aber Berlinger kam Felici mit seiner Antwort zuvor: »Sie dachten wohl, Sie hätten es im Vatikan mit Armen im Geiste zu tun?«
Die übrigen schmunzelten wissend und stolz. Nur Manzoni blieb ernst, er war totenblaß.
»Ich ahnte es schon lange«, bemerkte er in das lange Schweigen, »wir hatten mit Losinski eine Laus im Pelz.« Und an Guthmann gewandt: »Sie haben doch Padre Losinski gekannt, den polnischen Jesuiten?«
»Losinski?« Guthmann dachte nach: »Ich kenne keinen Losinski, und einen Jesuiten schon gar nicht; aber das hat nicht viel zu sagen. Ich lebte erst kurze Zeit bei den Orphikern.«
»Das ist«, entgegnete Berlinger, während er die Augen zusammenkniff, daß nur noch ein Strich übrig blieb, »eine erstaunliche Feststellung, wenn man bedenkt, mit welch verantwortungsvoller Aufgabe Sie betraut wurden.«
»Ich weiß. Ich war auch nur ein Lückenbüßer, wenn Sie so wollen, denn der Mann, der ursprünglich mit dieser Aufgabe betraut war, hat dem Orden den Rücken gekehrt, und das ist in den Augen der Orphiker todeswürdig. Ich habe gehört, er sei in einem Pariser Irrenhaus an Herzversagen gestorben. Aber daran will ich nicht glauben. Ich weiß, daß die Männer mit den mythologischen Namen über Leichen gehen, und gewiß stehe auch ich schon auf ihrer Todesliste.«
Felici schaltete sich ein: »Wie hieß der Mann?«
»Vossius. Er war Professor für Komparatistik und ist auf dem Umweg über Michelangelos Tagebücher auf das Barabbas-Geheimnis gestoßen.«
»Und gibt es noch andere Mitglieder dieses Ordens, die sich mit dem fünften Evangelium befassen?«
»Wie soll ich das wissen!« erwiderte Guthmann. »Es gehört zu den Praktiken der Orphiker, daß keiner von der Arbeit des anderen Kenntnis hat. Das fördert den Ansporn, glauben sie. Ein jeder soll sich von jedem kontrolliert fühlen – ein teuflisches System teuflischer Menschen.«
»Mir ist nur eines nicht klar«, wandte Felici ein. »Wenn die Orphiker das Ziel verfolgen, unsere Heilige Mutter Kirche zu zerschlagen, und wenn sie das fünfte Evangelium besser kennen als wir, die Männer der Kurie, warum haben sie dann bisher noch keinen Gebrauch davon gemacht?«
»Das will ich Ihnen sagen, Herr Kardinal. Dafür gibt es einen triftigen Grund.«
Berlinger wurde ungeduldig: »So reden Sie schon, in Gottes Namen!«
»In dem Pergament, dessen Teile über die ganze Welt verstreut waren, gibt es eine einzige Stelle, in der der Evangelist Barabbas seine Identität preisgibt. Und eben dieses Fragment befindet sich nicht im Besitz der Orphiker.«
»Deo gratias!« sagte Monsignore della Croce leise vor sich hin, eine unpassende Bemerkung – wie Berlinger fand –, die zeigte, daß der Leiter des päpstlichen Geheimarchivs von dem Fall keine Ahnung hatte. Berlinger zog die dünnen Augenbrauen hoch, warf dem Monsignore einen verächtlichen Blick zu und zischte: »Si tacuisses!« – eine nicht seltene Redensart in der Kurie, obwohl heidnischen Ursprungs. Dann sagte er an Guthmann gewandt: »Aber die Orphiker kennen natürlich den Aufenthaltsort dieses Dokuments und haben nichts unversucht gelassen, um seiner habhaft zu werden.«
»So ist es, Herr Kardinal«, antwortete Guthmann.
»Und mit Erfolg?«
Guthmann blickte zu Boden. Er fühlte gleichsam die Augen der Kardinäle und Monsignori auf sich gerichtet. In dem großen, kahlen Raum herrschte atemlose Stille, als er antwortete: »Es tut mir leid, aber das vermag ich nicht zu sagen. Das Original befand sich im Besitz einer Deutschen, die wohl versucht hat, möglichst viel Geld daraus zu machen. Sie kannte nicht einmal den Inhalt des Pergaments; aber je mehr Leute Interesse daran bekundeten, desto eigensinniger wurde sie. Zuletzt begegnete ich ihr in der Ordensburg der Orphiker, wo sie vorgab, über alles Bescheid zu wissen – über das fünfte Evangelium, über Barabbas, alles.«
»Halten Sie das für möglich?« fragte Berlinger unruhig.
»Ich kann es mir nicht vorstellen. Woher sollte sie diese Informationen gehabt haben?«
»Ihr Name?«
»Anne von Seydlitz.«
5
Guthmann wurde in einen entfernt liegenden Raum, eine Art Archiv, gebracht, in dem Tausende Buste in Sachen wider die kirchliche Lehre gestapelt waren: Verfahren wegen Übertretung und Mißachtung kirchlicher Gesetze, Irrlehren, Blasphemie und unerlaubte Reformationsversuche, die mit Bann oder Exkommunikation verfolgt worden waren wie die Bewegungen der Katharer und Waldenser. Guthmann wurde von zwei Gardisten bewacht; dabei dachte der Professor nicht im Traum daran zu fliehen.
Die Kongregation des Heiligen Offiziums indes beriet, was nach der neuen Sachlage geschehen solle, und dabei vertraten die Herren Kardinäle und Monsignori die unterschiedlichsten Auffassungen, die, wie überhaupt die ganze Anhörung, ex officio protokolliert wurde, und ein jeder redete nach seiner Eigenart.
Für Felici, den Alten, war die Endzeit der Kirche gekommen, hoffnungslos. Er verglich Rom mit der Hure Babylon und zitierte aus der Offenbarung des Johannes, wo der Engel mit mächtiger Stimme ruft: »Sie ist gefallen, sie ist gefallen, die große Stadt. Sie wurde zur Behausung für Dämonen, zum Schlupfwinkel für jeglichen unreinen Geist und zum Schlupfwinkel für jegliches unreine und verabscheuungswürdige Federvieh.« Eine Chance für die heilige Mutter Kirche erkannte er nicht mehr.
Dem wollte sich Kardinal Agostini, der oberste Richter der Kurie, keinesfalls anschließen. Die Kirche, argumentierte er einsichtig, habe größere Krisen als diese überstanden. Sie habe die Reformation des Doktor Luther mit einer Gegenreformation beantwortet, und sie habe Zeiten überstanden, in denen zwei Päpste an verschiedenen Orten um die Vorherrschaft kämpften und jeder den anderen als Teufel bezichtigte. Warum sollte sie nicht diese Krise überstehen.
Kardinal Berlinger stimmte dem mit der Maßgabe zu, die Kurie dürfe nicht den Dingen freien Lauf lassen und warten, was auf sie zukomme. Sie müsse vielmehr selbst die Initiative ergreifen und um ihren Fortbestand kämpfen, das heißt, sie müsse mit allen Mitteln versuchen, selbst in den Besitz des ketzerischen Pergamentfragments zu gelangen.
Dem gegenüber gab der Leiter des Geheimarchivs, Monsignore della Croce, zu bedenken, ob der Text des in Umlauf befindlichen fünften Evangeliums nicht schon vernichtend genug sei für die Lehre der heiligen Mutter Kirche, so daß alle Bemühungen von vornherein zum Scheitern verurteilt sein müßten.
Nur einer behielt seine Meinung für sich und schwieg beharrlich: Professor Manzoni von der Gregoriana. Er hielt den Blick auf den blankpolierten Tisch gerichtet, und es schien, als wäre er mit seinen Gedanken weit fort.
Auf Berlingers Frage, ob Seine Heiligkeit in vollem Umfang informiert sei und wie er dem Problem gegenüberstehe, gab Monsignore Pasquale zu verstehen, daß Seine Heiligkeit die Informationen aus dem Munde des Herrn Kardinalstaatssekretärs mit großer Bestürzung und ebensolcher Demut entgegengenommen habe, was bei seinem angegriffenen Gesundheitszustand äußerst bedenklich sei. Seine Heiligkeit verweigere seit geraumer Zeit jede Nahrungsaufnahme, und der Leibarzt sei zu künstlicher Ernährung mittels Infusionen übergegangen. Er spreche nur noch selten und wenn, dann ganz leise, wie sich die Herren in den letzten Tagen hätten selbst überzeugen können. Sein psychischer Zustand müsse als depressiv bezeichnet werden. In dieser depressiven Haltung habe seine Heiligkeit den Entschluß gefaßt, ein Konzil einzuberufen …
Vilosevic hüstelte nervös.
Berlinger sprang auf. Er starrte Pasquale an, als habe dieser soeben eine furchtbare Eröffnung gemacht, dann wandte er sich dem Kardinalstaatssekretär zu und fragte leise: »Eminenza, haben Sie das gewußt?«
Felici nickte stumm und blickte verlegen zur Seite.
Da polterte Berlinger los, und seine unangenehme Stimme hallte gellend durch den Raum: »Vermutlich wissen bereits alle davon, die Wächter in den Vatikanischen Museen, die Küster von San Pietro und die Volontäre beim ›Osservatore Romano‹, nur dem Leiter des Heiligen Offiziums ist davon nichts bekannt.«
»Es ist noch keineswegs offiziell«, versuchte Felici den Kardinal zu beschwichtigen, »ich selbst habe es auch nur in einem vertraulichen Gespräch mit Seiner Heiligkeit erfahren.«
6
Berlinger lümmelte auf seinem Stuhl, stützte den rechten Ellenbogen auf dem Tisch auf und preßte die geballte Faust gegen die Stirn. In seinem Hirn ging alles durcheinander, doch das vorherrschende Gefühl war Wut. Er hätte erwartet, daß er in einer Situation wie dieser, die unmittelbar in seinem Einflußbereich lag, als erster von dem Vorhaben des Papstes informiert worden wäre, er und nicht der Kardinalstaatssekretär.
Minutenlang flackerten seine Gedanken um dieses Problem, und auch die anderen Anwesenden wagten nicht, den schmerzhaften Zorn Berlingers zu stören. Endlich unterbrach dieser die lähmende Stille, nachdem er sich die Augen mit dem Ballen seiner rechten Hand ausgewischt hatte: »Und was ist das Ziel dieses Konzils?« Er sah Felici herausfordernd an, als wollte er sagen: Du kennst doch sicher die Antwort, mit dir hat Seine Heiligkeit gewiß darüber gesprochen.
Felici blickte unsicher in die Runde, ob ihm niemand die Antwort abnehmen könne, aber von den anderen zeigte keiner eine Reaktion, so daß der Kardinal antwortete: »Darüber wurde nicht gesprochen; aber wenn Seine Heiligkeit angesichts der Lage ein Konzil einberuft, dann …« Er stockte.
»Dann?« hakte Berlinger nach. Alle Augen richteten sich auf Felici.
»Dann kann es sich nur um ein Konzil handeln, das die Auflösung der heiligen Mutter Kirche zum Ziel hat.«
»Miserere nobis.«
»Luzifer!«
»Penitentiam agite!«
»Fuge, Idiot!«
»Ketzer!«
»Gott sei uns armen Sündern gnädig!«
Wie ein Käfig voller Narren brüllten Kardinäle und Monsignori durcheinander, erkannten, angesichts des drohenden Endes, weder Freund noch Feind, schrien nur und beschimpften sich gegenseitig auf unflätigste Weise, ohne erkennbaren Grund.
Der Grund lag in ihren Seelen verborgen und in ihrem Verstand, der dieser Eröffnung und den zu erwartenden Folgen einfach nicht gewachsen war. Ihre Welt, in der sie hervorragende Plätze einnahmen, drohte zu zerbrechen. Nicht einmal ein Heiliger war einer solchen Situation gewachsen, geschweige denn ein Monsignore.
Allmählich verebbte das Geschrei, das eher einer Kneipe in Trastevere angemessen gewesen wäre als dem Heiligen Offizium, und einer nach dem anderen fand den Verstand wieder. Sie schämten sich wohl voreinander, und keiner wagte, das Gespräch wieder aufzunehmen, obwohl es viel zu sagen gegeben hätte im Angesicht der Niederlage. Aber wenn die Zeiten schlecht waren für die Kirche, gab es im Vatikan immer mehr Feinde als Diener Gottes.
»Vielleicht«, begann einer der Monsignori aus der Begleitung Berlingers, »vielleicht hat uns der Herr diese Prüfung auferlegt, vielleicht hat er es so gewollt, wie er verraten werden wollte in Gethsemane. Vielleicht will er uns strafen für unsere Hoffart.«
Der Kardinal fiel ihm ins Wort: »Ach was, Hoffart! Dummes Gerede. Ich kenne keine Hoffart und Felici nicht und nicht Agostini.«
Der Monsignore schüttelte den Kopf. »Ich meine nicht die Hoffart des einzelnen, ich denke an die Hoffart der Institution. Unsere Heilige Mutter Kirche spricht seit jeher mit einer Omnipotenz, die einem frommen Christenmenschen Angst einflößt. Hat uns der Herr nicht Demut gelehrt? Das Wort Macht kam kein einziges Mal über seine Lippen.«
Bei den anderen verursachten die einfachen Worte des Monsignore Nachdenken. Nur Berlinger, der soeben noch resigniert über den dunklen Tisch gehangen hatte wie ein Betrunkener, richtete sich auf und nahm eine drohende Haltung ein: »Sie wissen, Bruder in Christo«, fistelte er in verächtlichem Tonfall, »eine Bemerkung wie diese ist dazu angetan, Ihren Fall vor der Congregatio zu behandeln.«
Da wurde der Monsignore laut, und der aufgeregte Redeschwall, in der er seine Erwiderung vorbrachte, ließ vermuten, daß er noch nie im Leben mit einem Kardinal in diesem Ton gesprochen hatte. »Herr Kardinal«, sagte er, »Sie scheinen noch immer nicht begriffen zu haben, daß die Zeit vorbei ist, in der Andersdenkende auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Sie werden es sich in Zukunft wohl gefallen lassen müssen, eine andere Meinung als die Ihre zur Kenntnis zu nehmen.«
Die beiden anderen Monsignori ließen blitzschnell ihre Hände in den weiten Ärmeln ihrer Obergewänder verschwinden, ein Vorgang, der auf kuriose Art dem Verschwinden der Küken unter den Federn der Glucke ähnelt, und sie suchten wohl auch Schutz in dieser Haltung, weil sie das Strafgericht des Kardinals fürchteten; aber zu ihrer Verwunderung geschah nichts. Berlinger wirkte geschockt, daß sich ein Monsignore überhaupt erkühnte, dem Leiter des Heiligen Offiziums auf diese provokante Weise zu begegnen.
Agostini, von Amts wegen mit der Schlichtung von intellektuellen Streitfällen befaßt, versuchte die Wogen zu glätten, indem er in die Debatte warf: »Meine Herren, mit Einzelgefechten ist hier niemandem gedient. Wir werden jede einzelne Seele brauchen im Kampf gegen unsere Feinde – wenn es überhaupt noch eine Chance gibt.«
»Chance?« Der Kardinalstaatssekretär lachte bitter, es klang kauzig aus dem Mund des Achtzigjährigen.
Agostini wandte sich Felici zu: »Eminenza, Sie glauben nicht mehr an unsere Chance?«
Der Gefragte verdrehte die Augen, als machte er sich lustig über diese Frage: »Wenn bereits die Posaunen erschallen, die das Jüngste Gericht ankündigen, dann wird es auch Ihnen nicht mehr gelingen, den Termin zu verschieben, Bruder in Christo!«
Während der Diskussion war einer auffallend still geblieben, der Jesuit Professor Manzoni. Das widersprach seiner sonstigen Art; aber seine Zurückhaltung war weniger auf Ergriffen- oder Betroffenheit zurückzuführen als auf die Tatsache, daß er die Situation besser kannte als alle anderen und daß der Jesuit bereits einen teuflischen Entschluß gefaßt hatte. Jedenfalls verfolgte er die Diskussion mit einer gewissen Gleichgültigkeit, wie sie für gewöhnlich Philosophen eigen ist. Wären die Kardinäle und Monsignori nicht so erregt gewesen und in jener Endzeitstimmung, dann hätte ihnen auffallen müssen, daß Manzoni das Geschrei seiner Mitbrüder insgeheim belächelte.
Manzoni lächelte auch, als Kardinal Berlinger in rührender Einfalt zu bedenken gab, ob sie nicht angesichts der ernsten Lage den wundertätigen Kapuziner Padre Pio aus dem fernen Apulien herbeizitieren sollten, einen Mann mit thaumaturgischen Kräften und der Gabe der Bilokation. Padre Pio trage seit über vierzig Jahren die Wundmale unseres Herrn, stehe also in nichts dem heiligen Franz von Assisi nach; im Gegenteil, während Franz den Umgang mit Tieren pflegte und ihre Sprache verstand, kämpfe Pio des Nachts mit dem größten Untier, dem Teufel, und er werde stets am Morgen schreiend und blutüberströmt in seiner Zelle aufgefunden wie ein Krieger nach grausamer Schlacht.
Hinter Barabbas, dem Urheber jenes fünften Evangeliums, könne sich doch nur einer verbergen, Luzifer. Vielleicht sei es dem apulischen Padre gegeben, diesen Luzifer und sein gottverdammtes fünftes Evangelium zu besiegen – so sagte der Kardinal.
»Mein Gott!« kommentierte Felici diesen gedanklichen Alleingang seines Amtsbruders. Mehr sagte er nicht.
Darauf entgegnete Berlinger wütend: »Herr Kardinal, wenn Sie der Realität des Übernatürlichen skeptisch gegenüberstehen, dann leugnen Sie wohl auch die Existenz des Teufels, und wenn Sie Luzifer leugnen, dann – gestatten Sie mir den Hinweis – stehen Sie außerhalb dieser unserer heiligen Mutter Kirche.«
Da sprang der alte Felici auf, er wollte sich über Kardinal Agostini hinweg auf Berlinger stürzen, aber bevor es dazu kam, erhob sich Agostini, ein Hüne von Mann, und drückte die Kampfhähne zur Seite. Während Felici ein Kreuzzeichen schlug und die Hände faltete, verwendete Berlinger unendlich viel Zeit, um zwei Knöpfe seiner Soutane, die in der Erregung aufgesprungen waren, zuzuknöpfen.
Manzoni erhob sich umständlich und sagte: »So, meine Brüder, kommen wir nicht weiter. Aber geben Sie mir vier oder fünf Tage Zeit. Vielleicht löst sich das Problem ganz von selbst.«