GUTE NACHT

Rote Leuchtraketen über dem asiatischen Ufer, von der Straße herauf Pfeifen und Rufen und Autohupen, und laute Musik irgendwoher und Schüsseknallen – haben wir also doch gesiegt?

Eben noch waren die Straßen zum Fürchten leer und still, als ich nach Hause ging, nur bläuliches Geflimmer aus allen Fenstern, und in den Cafés Männer dicht gedrängt vor den Fernsehapparaten – das Spiel Galatasaray – Manchester liege in den letzten Zügen, dachte ich, und einmal mehr würden wir die Verlierer sein.

Draußen der Lärm wird lauter und lauter – wir haben wohl tatsächlich gesiegt! Allah sei Dank und dem deutschen Trainer auch, unsere türkische Ehre ist gerettet!

Obwohl: Swjatoslaw Richter hat mich mehr bewegt am heutigen Abend – der alte Hüne, wie er über die Bühne zum Flügel ging, als ob ihm ein Stock im maßgeschneiderten Smoking steckte, und seinem Nussknackerkopf ein so knappes Nicklächeln abzwang, dass das Geklatsche im randvollen Cemal Reşit Rey Saal schlagartig erlosch; aber dann sein Spiel! Die schwermütige Leidenschaftlichkeit, die von ihm aus- und in die Schubert-Sonaten überging, so zärtlich und schmerzhaft zugleich, dass es war wie – etwas wie Glück!

Draußen das Hupkonzert wird noch immer lauter. Autos rasen die steile Straße herauf, junge Männer hängen heraus, pfeifend, schreiend, Fahnen schwenkend, Rot-Gelb für Galatasaray.

Die ganze Stadt scheint, ohrenbetäubend wie das Tosen nun ist, wieder unterwegs zu sein; sogar die Schiffe tuten mit.

Stehend am Fenster sehe ich: Ein Passagierdampfer, unberührt vom allgemeinen Siegestaumel, legt ab jetzt; ein hell erleuchteter Koloss, der sich langsam dreht in der Stadtnacht, sein Widerschein auf dem dunklen Wasser und das aufschäumende Gestrudel am Heck. Nun nimmt er Fahrt nach Nordosten, bosporusaufwärts.

Es muss der russische sein, der drei Tage unterhalb von Tophane am Quai lag. Über Nacht wird er sie, die herkamen, um Geschäfte zu machen, übers Schwarze Meer zurückbringen. Sie, die mit vollen Taschen kommen und alles mitbringen, was nicht niet- und nagelfest ist, um es hier anzubieten, Plunder und Ramsch und manchmal Antikes, und die Frauen oft auch sich selbst, zehn Dollar die Stunde, nun kehren sie zurück; wieder mit vollen Taschen, voll von all dem, was Istanbul auch in Fülle zu bieten hat: Sportzeug, Spielzeug und Radios, Jogginganzüge und Nylonwäsche, Nylontaschen und Taschenrechner, um es weiterzuverkaufen in jenem Riesenreich, das einen fast achtzigjährigen Nachholbedarf hat für Derartiges.

Draußen der Lärm ist unvermindert –

Mein jubelndes Istanbul, kommst du denn niemals zur Ruhe?

Ich öffne eine Flasche türkischen Wein – ein Sieg ist ein Sieg, der muss gefeiert sein!

Auch wenn es ein kleiner ist gemessen an den Siegen, die ich diesem Land auch wünschen würde.

Ich gieße ein in ein altes türkisches Glas – Şerefe!

Ich trinke auf dieses Land!

Ich trinke auf diese Stadt!

Ich trinke auf das Leben in dieser Stadt!

Und auf den Sieg des Lebens trotz allem!

Und auf Swjatoslaw Richter trinke ich auch, weil er heute Abend so himmlisch gespielt hat, dass mir schien, es sei nicht menschenmöglich!

Weil er dir – ach! – mit seiner Musik an die verbotene Tür gerührt hat.

Noch immer gehen vereinzelt Leuchtraketen hoch, aber das Hupkonzert ebbt nun doch ab. Und durchs Fenster herein kommt Herbstkühle, mitsamt den ersten Braunkohlegerüchen – ja, der Winter ist nicht mehr weit. Aber noch hängt kein atemraubender Smog in den Straßen, und noch gießt es nicht so, dass Bäche die Gassen hinabstürzen, Müll und schmierigen Kohlenstaub mitreißend.

Und: Noch immer kann ich gehen in dieser Stadt, wohin ich will – falls ich will.

Nur eins kannst du nicht: aus deiner Haut heraus, falls sie dir zu eng ist oder zu blöd oder eben doch zu maßgeschneidert.

Nein – auch er, der Alte, legt sich jetzt hin, mag sein, auch er selig von der Musik und von Wein; und morgen, wer weiß, was wird, und wie der neue Tag in neuem Licht –

Mitte der Welt
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