5. Kapitel

Alle hatten sie ihren Spaß beim Tanz im Wollschuppen. Junge und nicht mehr ganz so junge Leute waren über fünfzig Meilen geritten, um an dem alljährlichen Fest auf Springfield teilzunehmen. Da so viele Scherer zugegen waren, die sich nach den langen, harten Wochen entspannen wollten, herrschte akuter Frauenmangel. Viele junge Damen betrachteten dies jedoch als ausgesprochenen Vorteil und strömten jedes Jahr um diese Zeit von weither in die Häuser ihrer Freunde und Verwandten, die in der Nähe der Brodericks lebten. Andere nutzten die Gelegenheit zu einem Verwandtschaftsbesuch bei Bewohnern von Springfield oder den Verwaltern und Aufsehern seiner Außenposten, die Austin unterstanden. Letztere führten in ihren weitverstreuten Cottages ein einsames Leben und empfingen jeden Besucher mit offenen Armen. Zudem hatten junge Damen, die nach Springfield reisten, meist keine Mühe, Freundinnen als Mitreisende zu gewinnen, denn diese Veranstaltung rangierte auf der Skala wichtiger Feste gleich hinter Weihnachten. Romantik lag in der Luft.

Victor hatte zunächst vorgeschlagen, die Besucherzahl im Rahmen zu halten, weil sie mit der Bewachung der Grenzen alle Hände voll zu tun hatten, doch als die ersten Gäste eintrafen, war diese Idee vergessen. Die Menschen erwarteten Gastfreundschaft, und Austin hatte nicht vor, mit dieser Tradition zu brechen. Mit Nachdruck stellte er klar, daß er trotz seiner Behinderung keineswegs ein Invalide war. Sein einziges Zugeständnis bestand darin, allein zu speisen, da ihm das Essen ohne fremde Hilfe noch immer Schwierigkeiten bereitete.

Er hielt im Salon Hof und begrüßte die Gäste, sprach selbst zwar nicht viel, hörte aber mit Vergnügen den Gesprächen um ihn herum zu. Seine alten Freunde leisteten ihm nur zu gern Gesellschaft. Entgegen den Anweisungen des Arztes und ohne Charlottes mißbilligende Blicke zu beachten, trank er einige Gläser Whisky, die seine Stimmung noch weiter hoben.

Er mußte sich eingestehen, daß die Feiern zum Saisonende, die er insgeheim gefürchtet hatte, wohl nicht gar so schlimm werden würden. In dunklen Stunden hatte er Angst davor gehabt, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, ein bedauernswerter Schatten seiner selbst, der sich nur mit allergrößter Mühe verständlich machen konnte. Der so vieles nicht mehr tun konnte …

Doch er hatte sich seiner veränderten Lage angepaßt, ließ sich von einem Zimmer ins nächste tragen. Zum Glück zeigten sich seine alten Freunde, die sich mit Frauen und Töchtern auf Springfield eingenistet hatten, keineswegs peinlich berührt oder herablassend, sondern plauderten angeregt mit ihm und machten Witze. Sie bezogen ihn in ihre Gespräche ein und verhielten sich insgesamt besser als seine eigene Familie, die ständig so viel Aufhebens um ihn machte. Diese Männer hatten schon Schlimmeres erlebt. Sie wußten, daß er nicht sterben würde, daß er noch viele Jahre vor sich hatte, und sprachen daher über ganz normale Dinge mit ihm, anstatt ihn andauernd mitleidig zu fragen, wie er sich denn fühle.

Nur einmal hätte er sich beinahe zum Narren gemacht, dachte Austin, als seine Frau ihm an diesem Abend beim Ankleiden half. Kurz vorher war Victor mit ihm im Rollwagen zum Grillplatz gefahren, wo sich alle Gäste versammeln sollten.

Austin war sehr eigen, wenn es um das Springfield-Barbecue ging. Das Rindfleisch mußte erstklassig sein, die Tranchiertische sollten in angemessener Nähe stehen, die Serviertische in einer langen Reihe aufgebaut und die Bierfässer unter den Akazien gelagert werden. Jedes Detail mußte stimmen …

Victor machte sich auf die Suche nach einem bequemen Stuhl, von dem aus sein Vater die Vorbereitungen überwachen konnte, und ließ ihn zu diesem Zweck oben auf dem Rollwagen zurück.

Austin wartete geduldig. Er kam in letzter Zeit nur selten aus dem Haus und genoß den Anblick des Grillplatzes in der hereinbrechenden Dämmerung.

Da kam ein fremder Scherer vorbei und entdeckte den Mann, der mit herabhängenden Beinen und schlaffem Arm auf dem Rollwagen saß. Er berührte Austin an der Schulter, nickte ihm freundlich zu und sagte lächelnd: »Alles klar, Kumpel?«

Dann ging er weiter.

Diese unaufdringliche Freundlichkeit, die frei war von jeder Herablassung, die Ermutigung mit einer kleinen Geste, deren Bedeutung Austin nur ermessen konnte, weil er sich in der lakonischen Männerwelt des Busches auskannte, rührten ihn so, daß ihm Tränen übers Gesicht liefen. Er konnte sie gerade noch wegwischen, bevor Victor mit dem Stuhl zurückkehrte. Du sentimentaler, alter Narr, schalt er sich selbst bei der Erinnerung daran. Dennoch wußte er, daß die Tränen nicht ihm selbst und seinem Los gegolten hatten, sondern den Männern, die er liebte, jenen hart arbeitenden, trinkfesten, ehrlichen Männern, in seinen Augen die besten Kerle der Welt. Dieser Abend würde der schönste sein, den sie je auf Springfield gefeiert hatten.

Das Barbecue wurde zu einem rauschenden Erfolg. Danach spielten Fiedeln und Akkordeon zum Tanz auf. Man hatte den Wollschuppen leergeräumt, der geölte Boden war zum Tanzen wie geschaffen. Austin thronte in einem riesigen Sessel auf einer Empore, was ihm ausnehmend gut gefiel. Wenigstens würde ihm an diesem Abend nichts entgehen.

Es war das Fest aller Feste. Austin trank seinen Whisky und beobachtete erfreut die Tänzer. Das Verhältnis von Männern zu Frauen betrug eins zu fünf. Die Musiker gaben den jungen Burschen Gelegenheit, auch ohne Partnerin zu tanzen, und stimmten einen Reel an.

Dieser Rundtanz galt als Höhepunkt des Wollschuppen-Balls von Springfield. Die jungen Männer in der Blüte ihrer Jahre gaben ein herrliches Bild ab. Manche hatten die Daumen in die Hosenträger gehakt und führten die komplizierten Schritte aus; andere bevorzugten die keltischen Rundtänze; die Mutigsten unter ihnen hüpften und sprangen unter donnerndem Applaus über den Tanzboden. Auf einmal bemerkte der Boß jedoch, daß irgend etwas fehlte.

Was hatte er übersehen? Was war ihm entgangen?

Der beste Scherer erhielt von ihm eine Flasche Whisky und eine Geldprämie; der alte Bursche, der zweiter geworden war, bekam ebenfalls eine Flasche. Die Ballkönigin, ein hübsches Mädchen aus Toowoomba, wurde mit einer Blumengirlande und einer großen Schachtel Pralinen bedacht. Als der Tanz weiterging, suchte Austin erneut nach der Quelle seiner Unruhe.

Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag. Er wandte sich an Charlotte, die neben ihm saß. In diesem Moment trat jedoch der alte Jock Walker, Connies Großvater, zu ihnen. Er war ein exzentrischer Gauner, dem man nicht über den Weg trauen konnte, aber Austin mochte ihn. Er mußte mindestens achtzig sein und bestand noch immer auf seinem verblichenen Kilt und den abgetragenen Schnallenschuhen.

Er füllte sein Whiskyglas aus Austins Karaffe und goß seinem Gastgeber auf dessen Wink hin ebenfalls nach.

»Tolle Party, Charlotte«, bemerkte er grinsend. »Hast dich wieder einmal selbst übertroffen, meine Liebe.«

»Vielen Dank, Jock. Freut mich, daß du dich gut amüsierst.«

»Das tue ich doch immer, Mylady. Leider bricht es einem echten Schotten wie mir das Herz, wenn er zu alt für all diese hübschen Mädchen wird.«

Austin stieß einen kurzen Lacher aus. »Du hast Schottland nicht mal von weitem gesehen.«

Diese Neckereien besaßen inzwischen Tradition zwischen ihnen, und Jock verstand ihn sofort, obwohl Austin die Worte nicht deutlich artikulieren konnte.

»Ich kann dir versichern, ich habe die alte Heimat erst mit zwanzig Jahren verlassen«, widersprach Jock. »Auf einem prächtigen Segler.«

»Wohl eher in Ketten.«

Ohne darauf einzugehen, sah Jock zu Charlotte hin. »Würdest du ein Tänzchen mit mir wagen?«

»Vielen Dank, aber ich glaube nicht …«

Amüsiert drängte ihr Mann: »Na los, geh schon.« Charlotte war eine schlechte Tänzerin, und Jock galt als Berserker der Tanzfläche; sie würden ein interessantes Paar abgeben.

»Hocherfreut!« sagte Jock und ergriff ihre Hand. Austin sah sich nach Victor und Rupe um, konnte sie in der Menge aber nicht entdecken. Dann betrachtete er prüfend die Türen des Wollschuppens, die mit Bändern und Girlanden aus Gummibaumblättern geschmückt waren. Normalerweise drängten sich dort die Schwarzen aus dem Lager, die sich das Fest nie entgehen ließen, doch heute abend war nicht einer von ihnen zu sehen.

Austin war beunruhigt. Erst jetzt fiel ihm auf, daß er auch beim Barbecue keinen Aborigine gesehen hatte. Da die Schwarzen von Springfield, die nicht auf der Farm wohnten und arbeiteten, noch im Stammesverband lebten, wurden sie zwar nicht offiziell eingeladen, tauchten aber stets im Hintergrund auf. Nach dem Essen wurden die Reste, sogar die verkohlten Rindsknochen, zu einem abseits stehenden Tisch gebracht, an dem sich die Schwarzen daran gütlich tun konnten. Meist blieb mehr als genug für sie übrig, da Austin die Aborigines von Beginn an als Esser einplante.

Sie fanden das große Fest ebenso aufregend wie alle anderen, doch heute abend hatten sie sich nicht eingefunden. Ob bei ihnen vielleicht jemand gestorben war? Die aufwendigen Trauerrituale wären durchaus ein Grund für ihr Fernbleiben. Schließlich entdeckte er Victor und winkte ihn zu sich.

»Wo sind die Schwarzen?«

Victor antwortete mit einem Achselzucken. Offensichtlich hatte auch er ihre Abwesenheit bemerkt, wollte seinen Vater jedoch nicht beunruhigen.

»Wo stecken sie?«

»Ich weiß es nicht.«

»Was geht hier vor?« Wenn er wütend war, fiel ihm das Sprechen noch schwerer. »Finde es gefälligst heraus!«

»Ich sehe morgen nach ihnen.«

»Sofort!« forderte Austin. Dann erspähte er auf der Tanzfläche Spinner, den Mischling, der bei ihnen als Viehhüter arbeitete. Normalerweise hätte er lächelnd zugesehen, wie sich der junge Mann in Sonntagskleidern und glänzend polierten Stiefeln beim Tanz versuchte. Er zählte lautlos die Schritte mit, die ihm irgend jemand mühsam beigebracht haben mußte, und sah nicht die Damen, sondern seine Füße an. Diesmal schickte Austin jedoch Victor sofort zu ihm. Der Junge wirkte nicht allzu traurig über diese Unterbrechung seiner tänzerischen Bemühungen. Austin sprach jedes Wort langsam und sorgfältig aus. »Wo ist die ganze Horde? Was ist los?«

Spinner tat es weh, seinen geliebten Boß so zu sehen, und ein betrübter Ausdruck trat in seine dunklen Augen. Zudem war er verärgert, weil die ganze Horde verschwunden war, ohne ihm etwas zu sagen. Andererseits freute es ihn, da sie ihm mit ihrem heimlichen Verschwinden zu verstehen gegeben hatten, daß er für sie eindeutig zu den Weißen gehörte.

Doch er konnte dem Boß gegenüber nicht zugeben, daß er keine Ahnung von ihrem Verbleib hatte. Er war am späten Nachmittag ins Lager gegangen, um seine neuen Kleider vorzuführen, die er beim Tanz der Weißen tragen wollte, doch zu seiner Verwunderung hatte er den Ort verlassen vorgefunden. Die Feuer waren erloschen, die Hütten standen leer, nicht einmal ein Kochtopf war übriggeblieben. Das Lager war in geisterhafte Stille getaucht, als habe jemand seine Bewohner weggezaubert. Spinner erschauderte, als er bemerkte, daß der einzige wertvolle Besitz des Stammes fehlte: der hohe, geschnitzte Totempfahl, der Aufschluß gab über ihren besonderen Platz in der Traumzeit. Noch niemals hatten sie ihn von seinem Platz entfernt. Angeblich hatte das Totem die Emu-Leute-am-Fluß seit Anbeginn der Zeit beschützt. Nun war es verschwunden.

Spinner war verängstigt davongelaufen.

»Der Boß hat dich etwas gefragt«, drängte ihn Victor.

»Ach ja, sind auf Wanderschaft gegangen, Boß.«

»Alle?« fragte Victor ungläubig. »Das ist aber ungewöhnlich. Warum sind sie denn alle gleichzeitig gegangen?«

Spinner suchte nach einer plausiblen Erklärung. »Sie mußten alle gehen, Boß. Totemzeit. Das große Totem mußte zu heiligen Orten gehen, um mit Geistern zu reden.« Er sah, daß sie über den Totempfahl Bescheid wußten, und improvisierte weiter. »Altes, altes Gesetz aus Traumzeit. Alte Männer müssen reden, junge Männer machen besondere Zeremonie mit. Großes Korrobori weit draußen im Busch.« Er grinste. »Ich wette, sind wirklich sauer, weil sie Fest verpassen. Müssen aber Wanderung machen, weil sonst böse Geister kommen.«

»Wohin sind sie denn gegangen?« erkundigte sich Victor.

»Wo findet dieses große Korrobori statt?«

Spinner gab sich betont gleichgültig. »Im Busch. Langer Weg, glaube ich. Kommen dann zurück. Sind bestimmt für nächstes Fest wieder da«, erklärte er grinsend.

»Vielen Dank«, sagte Victor höflich. Der Junge war in Gnaden entlassen.

»Ich will verdammt sein«, murmelte Austin vor sich hin. »So etwas habe ich ja noch nie gehört.«

»Sie gehen oft auf Wanderschaft.«

»Gewöhnlich bleiben aber Wachen im Lager zurück, damit die bösen Geister es nicht heimsuchen. Und diesen Totempfahl haben sie noch nie von der Stelle bewegt.«

Austin bemerkte, daß er unverständlich vor sich hin gebrabbelt hatte. Er verbarg sein Unbehagen, indem er Victor wegschickte und seine Frau beobachtete, die sich mit Jocks phantasievollen Hopsereien abmühte.

Als sie wiederkam, sagte Austin zu ihr: »Wo ist Black Lily? Ich habe sie heute noch nicht gesehen.«

»Ich weiß es nicht. Sie ist nicht zum Fest erschienen.«

»Hausmädchen auch nicht?« fragte er knapp.

Charlotte seufzte. »Ich wollte dich nicht beunruhigen. Die Schwarzen haben das Lager verlegt, und die dummen Mädchen sind mitgegangen. Ausgerechnet heute. Die können morgen was erleben, das sage ich dir! Wir kommen zwar ohne Black Lily zurecht, wo so viele starke Männer im Haus sind, doch die Hausmädchen sind eigentlich unentbehrlich. Im Grunde sollte ich alle drei entlassen. Louisa war so nett, der Köchin zur Hand zu gehen. Sie hat wirklich schwer geschuftet. Auch die Damen haben mit angepackt und ihre Zimmer selbst aufgeräumt, aber es war doch alles sehr lästig.«

Austin seufzte. Das Lager verlegt? Wohin? Er war eher geneigt, Spinners Erklärung zu glauben. Die Horde war auf Wanderschaft gegangen. Morgen würde er Rupe losschicken, um das Lager in Augenschein zu nehmen. Nur schade, daß sie gerade jetzt aufgebrochen waren und dem Fest damit etwas von seinem Glanz genommen hatten. Er sah es gern, wenn sie lachten und sich über die feiernden Weißen lustig machten.

Jock kam wieder, angelockt vom schottischen Whisky. Er schenkte sich nach und beugte sich dann verschwörerisch zu Austin hinunter. »Ich gebe dir einen guten Rat, Kumpel. Ich habe schon viele Schlaganfälle erlebt. Das beste ist, du übst vor einem Spiegel sprechen.« Er lachte glucksend. »Laß dich aber nicht dabei erwischen, sonst halten sie dich für eitel.«

Er richtete sich auf und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Die Musiker griffen gerade wieder zu ihren Instrumenten. »Meinst du, ich sollte mich mal der Ballkönigin erbarmen und ihr ein Tänzchen schenken?«

»Klar.« Austin lachte und drängte ihn zur Eile. Dann lehnte er sich zurück. Vielleicht sollte er allmählich ins Haus zurückkehren. Der Tanz würde sich bis zum Morgengrauen hinziehen, und der Sessel wurde ihm allmählich zu hart.

 

Am Spätnachmittag des folgenden Tages brachen die Scherer zum nächsten Einsatz auf. Manche ritten, andere fläzten sich auf der Ladefläche eines alten Brauereiwagens. Auch die Hausgäste packten ihre Sachen.

Rupe kam in Begleitung einiger Viehhüter angeritten, um Victor Bericht zu erstatten.

»Keine Spur von den Schwarzen. Ein anderes Lager haben wir auch nicht gefunden. Sie sind einfach im Busch verschwunden, der ganze Haufen. Meinst du, Spinner sollte ihre Spur verfolgen?«

»Spinner könnte nicht mal eine Herde Bullen am hellichten Tag verfolgen. Na ja, wenn sie auf Wanderschaft gegangen sind, werden sie eine Weile fortbleiben. Schick ein paar Burschen zum Aufräumen ins Lager. Bei der Gelegenheit können wir endlich den ganzen Müll verbrennen.«

 

Einige Stammesangehörige waren wütend, weil Moobuluk ausgerechnet diesen Tag für ihren Aufbruch gewählt hatte. Sie wollten nicht auf das Fest verzichten, aber er blieb hart, da er ein Zeichen setzen und die Gaben des weißen Mannes zurückweisen wollte.

Sie überquerten den Fluß und zogen nach Westen, wanderten über Ebenen und Hügel und sammelten unterwegs Nahrung. Allmählich fanden sie Gefallen an dieser Wanderung, die sie Schritt um Schritt von ihrem angestammten Lager fortführte. Viele Tage später tauchten sie aus dem Schutz der Hügel auf und mußten erneut flaches Land durchqueren. Sie trotteten immer weiter in Richtung Norden, still und entschlossen. Die Männer schwärmten aus, um auf die Jagd zu gehen; Frauen, die Babies in Beuteln auf dem Rücken trugen, hatten genug mit Gehen zu tun, andere suchten die Umgebung nach Nahrung ab; Kinder schritten tapfer voran und wurden dann und wann auf den Schultern getragen. Die Stammesältesten bildeten die Nachhut.

Nur Minnie war noch immer nicht von dieser Idee überzeugt. Sie verstand natürlich, daß die anderen Kinder aus Sicherheitsgründen weggebracht werden mußten, doch sie selbst wäre lieber auf Springfield geblieben und hätte dort auf Bobbos Rückkehr gewartet. Nioka gelang es schließlich, sie von Moobuluks Weitsicht zu überzeugen; er würde spüren, wenn die Jungen nach Hause kämen, und sie zurückführen. Dennoch konnte kein Argument Minnies Kummer vertreiben. Sie vermißte Bobbo einfach zu sehr.

»Denkst du etwa, Jagga fehlt mir nicht? Ich fühle mich ganz elend, wenn ich nur an ihn denke, aber im Lager würden wir die Kinder ebenso vermissen. Wir verlassen sie doch nicht; wenn es an der Zeit ist, holen wir sie zu uns. Wenn du dich so quälst, wirst du noch krank. Was soll Bobbo denn von dir denken, wenn er nach Hause kommt und dich ganz dünn und schwach vorfindet?«

Ungestört zogen sie über Weideland und blühende Äcker. Als sie jedoch die Grenze zum Territorium der Baruggam erreichten, schlugen sie ihr Lager auf und warteten traditionsgemäß auf die Erlaubnis, ihr Land zu betreten. Einige der Jüngeren hielten dieses Ritual zwar für überflüssig, da die Weißen schließlich auch nicht um Erlaubnis fragten, doch die Älteren bestanden auf dieser Respektsbezeugung.

»Solange man uns noch läßt«, fügten sie düster hinzu.

Moobuluk schätzte, daß sich ihr Ziel ungefähr hundertfünfzig Meilen nördlich ihres früheren Lagers befand, eine gute Entfernung. Dann tauchten Angehörige des Waka Waka-Clans auf und luden sie ein, sich mit ihnen an einem großen See inmitten des Waldes niederzusetzen.

Moobuluk stellte die Ältesten vor. Nach eingehender Diskussion entschied man, daß die beiden Clans die Vorzüge des entlegenen Tales zwischen den Gipfeln der hohen Bergkette im Osten miteinander teilen konnten. Grundlegende Differenzen aufgrund von unterschiedlichen Totems oder Wertvorstellungen bestanden nicht zwischen ihnen, und auch das Volk der Waka Waka lebte zerstreut. Die Neuankömmlinge wurden freundlich aufgenommen, und man plante zur Begrüßung ein großes Korrobori.

Der alte Mann wartete, bis sich alle eingerichtet hatten, und zog dann weiter, da ihn wichtige Aufgaben zum Badjala-Volk riefen, das in einem herrlichen Regenwald an der Küste lebte. Darüber hinaus gehörte auch eine ausgedehnte Insel zum Territorium. Sie waren ziemlich aggressiv und standen den kriegerischen Stämmen des Nordens nahe, konnten jedoch auf ihn als Schlichter bei den üblichen Problemen, die innerhalb eines Clans entstanden, nicht verzichten. Schon einmal hatten sie ihn in ihren schnellen Kanus auf die Insel gebracht. Moobuluk, der Landmensch, war begeistert gewesen. Dort, in dem tiefen klaren Wasser, hatte er auch zum ersten Mal die Korallenriffe erblickt und die prächtigen Fische, die durch ihre lautlose Welt glitten.

Er freute sich schon auf seinen nächsten Besuch.

 

Nach dem Aufbruch von Scherern und Gästen kehrten auf Springfield für gewöhnlich wieder Ruhe und Alltag ein, doch diesmal lag eine gewisse Spannung in der Luft. Austin wirkte gereizt. Er versuchte seine Gefühle zu analysieren, mit dem einzigen Ergebnis, daß seine Sorge wuchs. An der Oberfläche war alles wie sonst. Die Schur war problemlos verlaufen, das Wetter den frisch geschorenen Schafen freundlich gesonnen und der Wollertrag versprach alle bisherigen Rekorde zu brechen.

Er vermißte Black Lily, doch mit diesem Verlust mußte er allein fertig werden. Vor dem Rasierspiegel trainierte er wiederholt die Bewegungen von Kiefer und Lippen. Charlotte und Louisa hatten nach dem Verschwinden der Hausmädchen alle Hände voll zu tun, was ihm nur recht war. Außerdem konnte ihnen ein bißchen Hausarbeit gar nicht schaden. Die Abwesenheit der Schwarzen nagte an ihm, obwohl er sich sagte, daß Wanderungen nichts Ungewöhnliches waren. Er fragte sich, ob der plötzliche Aufbruch etwa mit dem alten Moobuluk zusammenhing, der sich seit Wochen in der Gegend herumgetrieben hatte.

Außerdem hingen die verfluchten Landgesetze mit ihren endlosen Änderungsanträgen wie ein Damoklesschwert über ihm. Den Brief des Bankdirektors hatte er keineswegs vergessen. Seine Gäste schienen nicht weiter besorgt zu sein angesichts dieser Situation. Er hatte Jock mit seinem Nachbarn Jimmy Hubbert über die Gesetzesvorlage sprechen hören, und der hatte sie als undurchsetzbar abgetan. Also hatte Austin den Mund gehalten und die Warnung des Bankdirektors einer Überreaktion zugeschrieben.

Eigentlich hatte er nach wie vor alles unter Kontrolle und sollte sich lieber auf die Stärkung seiner Muskeln konzentrieren, anstatt sich Sorgen über ungelegte Eier zu machen. Die schlechte Nachricht traf ihn ohne Vorwarnung.

Da er tagsüber wenig Energie verbrauchte und ohne Lilys anstrengende Massagen und die Gehversuche mit ihr auskommen mußte, litt Austin unter Schlafstörungen, konnte es kaum erwarten, bis die Morgendämmerung einsetzte und das Haus zu neuem Leben erwachte. Also ging er dazu über, seinen Tagesrhythmus umzugestalten. Er setzte sich über Charlottes Einwände hinweg und ließ sich von Victor um fünf Uhr wecken, duschen und ankleiden. Gegen sechs frühstückte er gemeinsam mit seinen Söhnen, und danach führte er mit Rupes Hilfe seine Übungen durch.

Es funktionierte ganz gut, doch Rupe war eben nicht Black Lily. Er hielt die Übungen anscheinend für Zeitverschwendung.

»Du bist einfach zu faul«, knurrte Austin. »Hilf mir aufstehen, ich muß das Bein belasten …«

Er wußte, daß Victor seine diesbezüglichen Pflichten ernster nahm als sein Bruder, doch um diese Zeit war er draußen unabkömmlich. Außerdem konnte Rupe ruhig auch einmal etwas für seinen Vater tun.

Das einzige Problem bei diesem frühen Aufstehen war, daß ihm die Tage, die er untätig zubringen mußte, noch länger wurden. Nach der Aufregung der letzten Wochen empfand Austin dies als besonders quälend. Um seine Schlaflosigkeit zu bekämpfen, weigerte er sich, sich tagsüber schlafen zu legen. Er versuchte sich mit den Zeitungen abzulenken, die Charlotte auf einer niedrigen Bank gestapelt hatte. Austin war nie ein großer Leser gewesen und hatte nur selten einen Blick in die Brisbane Courier Mail geworfen, weil sie sich eher an Stadtleute richtete und zudem voller Gesellschaftsklatsch war, den er verabscheute. Den Damen hingegen schien das Blatt zu gefallen, und sie studierten eifrig die Anzeigen, die für importierte Stoffe und Modeschnickschnack warben, während Victors Hauptinteresse den Viehpreisen galt. Seufzend ergriff er die erste Zeitung, die vierzehn Tage alt war, und vertiefte sich in die nicht enden wollenden, sagenhaft anmutenden Geschichten über die Goldfelder. Ein Artikel beschrieb ausführlich das Goldschürfen am Kap und wies darauf hin, daß die Goldlagerstätten 200 Meilen Luftlinie, also an die 320 Meilen zu Fuß, von der Küstenstadt Bowen entfernt lagen.

»Von Bowen!« stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Das ist mindestens 1 000 Meilen nördlich von hier. Eine wilde, brütend heiße Gegend. Dort würden mich keine zehn Pferde hinkriegen.«

In einer anderen Ausgabe las er zu seinem Erstaunen, daß von den Schiffen, die aus England kamen, im Durchschnitt angeblich 600 pro Jahr kenterten und dabei i 500 Menschenleben forderten. Die finanziellen Verluste gingen in die Millionen.

Als Charlotte mit seinem Morgentee kam, deutete er auf den Artikel. »Das kann nicht stimmen.«

»Wenn es aber doch in der Zeitung steht …«

»Das beweist gar nichts. Man darf kein Wort davon glauben.«

Er las ohne großes Interesse einen Artikel über die jüngste Rede des Gouverneurs. Dann stieß er auf den Leserbrief eines gewissen C. G. Graham, der den in den Landgesetzen vorgeschlagenen Preis von einem Pfund pro Morgen für viel zu hoch erachtete. Austin stimmte ihm zunächst freudig zu, doch der Rest des Briefes hatte es in sich.

Nur gierige Squatter können sich das leisten, schrieb C. G. Graham weiter.

»Wer behauptet denn so etwas?« fragte Austin laut.

Man könnte natürlich sagen, daß die Squatter über das Land herfallen werden, sobald man die Preise herabsetzt, um auch dem Arbeiter den Erwerb von Land zu ermöglichen. Dies läßt sich aber vermeiden, indem man die Größe der Weideflächen begrenzt. Zur Zeit zahlen die Squatter lediglich dreieinhalb Pence pro Morgen an Pachtgebühr. Ist das etwa gerecht?

»Natürlich ist es das«, sagte Austin verstimmt. »Wir haben schließlich keinen sicheren Besitzanspruch. Wer ist dieser Idiot? Solche schwachsinnigen Ansichten dürften gar nicht erst in die Zeitung gelangen.«

Doch C. G. Graham hatte auch dies bedacht.

Man könnte zwar einwenden, daß die Squatter keinen gesicherten Besitzanspruch genießen, doch das unterstreicht die Morschheit dieses Systems nur um so mehr. Der Squatter beutet das Land aus und ist nicht an Verbesserungen interessiert, vom Bau eines luxuriösen Hauses für sich selbst einmal abgesehen. Er leitet keine Flüsse um, was zur Stabilisierung des Bodens beitragen würde, da er die Schaffung von fruchtbarem Land fürchtet. Denn dies könnte ja dazu führen, daß die Regierung es für den Ackerbau freigibt. Also läßt er lieber unzählige Quadratmeilen von Vieh und Schafen abgrasen und blockiert damit gutes Land in den Ebenen, das den hart arbeitenden Farmern zur Verfügung stehen sollte.

Austin grunzte verärgert, obwohl er das Argument nicht ganz von der Hand weisen konnte. Allerdings übersah der gute Mann dabei die Tatsache, daß das Land seinen Wohlstand dem Wollexport und nicht dem Anbau von Möhren oder Kohl verdankte.

Die Schwatzhaftigkeit der Zeitungen störte ihn am meisten. Jeder, der etwas zu sagen hatte, füllte lange, enggedruckte Kolumnen mit Tausenden von Wörtern zu einem einzigen Thema. Er hatte noch nie verstanden, warum sie nicht einfach knapp und sachlich ihre Meinung sagten, anstatt die Zeit ihrer Leser mit endlosem Gequassel zu verschwenden. Das war ja noch schlimmer als im Parlament.

Er erfuhr weiterhin, daß in Europa ein Krieg zwischen den Franzosen und den Preußen unter Bismarck drohte. Die ausführliche Schilderung der Hintergründe schenkte er sich und blätterte rasch um.

Am Nachmittag ließ sein Interesse an den Zeitungen allmählich nach, doch dann stieß er auf einen Leitartikel, der sich über die Dummheit und Übellaunigkeit des Landministers ausließ, der den Komitees, die Tag und Nacht an verschiedenen Klauseln des Landgesetzes arbeiteten, das Leben schwermache.

Austin fuhr hoch. Victor hatte schon lange behauptet, daß die Zeitung auf Seiten der Siedler stehe. Nun sah er es schwarz auf weiß bestätigt. Der Landminister J. J. Prosser war nämlich ein gerechter Mann, der schon viel zu viel Geduld an diese Neuerer verschwendet hatte.

Austin warf einen Blick auf den abgedeckten Billardtisch. Ob er sich wohl die Zeit damit vertreiben konnte, indem er lernte, wie man mit nur einem Arm spielte? Doch dann kam ihm eine noch bessere Idee. Er würde nicht mehr Tag und Nacht in diesem Raum verbringen. Er konnte sicher reiten, wenn ihm jemand aufs Pferd half.

An diesem Abend unterbreitete er Victor den Vorschlag, der zu seiner Überraschung einverstanden war. »Aber jetzt noch nicht. Laß dir Zeit.«

»Soll ich hier sitzen bleiben, bis ich Rost ansetze?«

An nächsten Tag pflügte Austin sich durch weitere Zeitungen und las entsetzt, daß »Farmer, Geschäftsleute und andere Einwohner des Bezirks Toowoomba« eine Petition eingereicht hätten, in der sie sich für die Rechte kleiner Grundbesitzer einsetzten.

Eingangs der langen Petition wurde erklärt, daß die Zweckentfremdung großer Flächen als Weideland nicht sinnvoll sei und den Interessen kleiner Grundbesitzer, die ihr Land käuflich erworben hatten, zuwiderlaufe.

»Leuten wie euch, meint ihr wohl! Geldgierige Halunken!« fluchte er und schleuderte die Zeitung von sich. »Es reicht! So eine Zeitverschwendung!«

Er quälte sich aus dem schweren Sessel, um die Standfestigkeit seines geschwächten Beines zu prüfen. Zu seiner Freude hielt es einer gewissen Belastung stand.

Austin faßte Mut. Stück für Stück bewegte er sich vorwärts. In diesem Moment trat Rupe mit einer Flasche Olivenöl ein, um seinen Pflichten als Masseur nachzukommen.

»Heb die Zeitungen auf, bevor deine Mutter hereinkommt. Und streich sie glatt. Sie taugen zwar nur zum Feueranzünden, aber sie liest gern etwas über die feinen Stadtleute. Zu meiner Zeit hat man alles dafür getan, seinen Namen aus der Zeitung herauszuhalten …«

Unterdessen sammelte Rupe die verstreuten Zeitungen auf und schob sie achtlos unter die neuesten Ausgaben, die sein Vater anscheinend noch gar nicht gelesen hatte.

Dabei fiel sein Blick auf eine kleine Überschrift. »Was heißt denn Zweckentfremdung von Land?«

»Eine neumodischer Vorwand, um sich unser Land unter den Nagel zu reißen.«

»Hier steht, ein Gesetz gegen die Zweckentfremdung von Land sei verabschiedet worden.«

»Wo steht das? Zeig her.« Austin ließ sich vorsichtig auf einem Stuhl am Tisch nieder. Rupe deutete auf die Überschrift.

Sein Vater konnte es nicht fassen, daß diese weitreichende Entscheidung den Zeitungsmachern nur wenige Zeilen wert gewesen war. Das Todesurteil über die großen Farmen im südlichen Queensland war gefällt worden, und hier reichte es nicht einmal zu einem Kommentar. Auf den Absatz folgte eine Abhandlung über das Schwurgesetz, das als Stolperstein für nichtchristliche Abgeordnete galt.

Austin ertappte sich dabei, wie er über das Gelesene nachdachte, obwohl es ihn überhaupt nicht interessierte. »Wer außer Christen sitzt denn überhaupt im Parlament?«

»Das weiß ich auch nicht. Worum geht es in diesem anderen Gesetz?«

»Es läuft darauf hinaus, daß wir das Land frei erwerben müssen«, antwortete Austin. Diesmal würde er ruhig bleiben, einen weiteren Anfall konnte er nicht riskieren. »Wir reden später darüber. Nimm jetzt lieber das Öl und verpaß diesem Bein eine tüchtige Abreibung.«

Rupe sah ihn erstaunt an. Sein Vater hatte in ganzen Sätzen gesprochen, mühsam und ein wenig undeutlich, aber dennoch in ganzen Sätzen.

auszeichnen»Mich wundert, daß er es so gut aufgenommen hat«, sagte Victor an diesem Abend zu Louisa. »Ich komme zur Tür herein, und er fordert mich ganz beiläufig auf, einen Blick in die Zeitung zu werfen. Rupe hatte den Artikel mit einem von Teddys Buntstiften markiert. Ich konnte es gar nicht glauben. Erst diskutieren sie endlos darüber, und dann geht plötzlich alles so schnell.«

»Und was passiert jetzt?«

»Ich muß nach Brisbane …«

»Wundervoll! Kann ich mitkommen?«

»Wieso nicht? Ich muß mit den Anwälten und der Bank sprechen, damit wir unsere Ansprüche anmelden können.«

»Wann geht es los? Teddy wird sich freuen.«

»Noch nicht. Es dauert eine Weile, bis der Gouverneur das Gesetz genehmigt hat. Danach müssen unsere Anwälte jede einzelne Klausel durchkämmen, damit wir genau wissen, woran wir sind. Bis dahin ist bestimmt schon Weihnachten. Ich würde sagen, wir fahren Anfang Januar.«

»Vielleicht verweigert der Gouverneur ja seine Zustimmung zu diesem Gesetz.«

»Das ist mehr als unwahrscheinlich. Er sagt doch zu allem ja und amen. In der Zwischenzeit werde ich weitere Männer einstellen, um sicherzugehen, daß alle unsere Grenzen exakt ausgewiesen sind.« Er zog sich ungehalten das Hemd über den Kopf und warf es aufs Bett. »Vor allem die besten Weiden. Einige von ihnen lasse ich sogar einzäunen.«

Louisa sah ihn fassungslos an. »Du kannst doch keine Parzellen dieser Größe einzäunen!«

»Ein paar Pfosten im Bereich der Wasserstellen werden die Siedler zwar nicht abschrecken, aber wir setzen damit immerhin ein Zeichen. Verdammt! Mir fällt gerade ein, daß wir jeden einzelnen Abschnitt für die Vermesser beschreiben müssen. So langsam wird mir klar, wieviel Arbeit wir noch vor uns haben.«

»Was hat dein Vater über Harry gesagt?«

»Wegen der Abstimmung? Dazu kann er nicht viel sagen. Harrys ist nur eine Stimme unter vielen. Allerdings war er ziemlich ungehalten, daß mein Bruder es nicht einmal für nötig gehalten hat, sich zu melden. Wenigstens ein Telegramm hätte er doch schicken können, damit wir es nicht aus der Zeitung erfahren müssen. Ich möchte nicht in Harrys Haut stecken, wenn ihn der Alte zur Rede stellt.«

Rupe reagierte auf seine Weise auf die veränderte Situation von Springfield. In seinen Augen war hier ein Krieg im Gange, und es galt, sich die Treue seiner Truppe zu sichern. An diesem Abend suchte er nach dem Essen die Männerunterkunft auf und berief eine Versammlung in der Messehütte ein, um ihnen die Neuigkeit mitzuteilen.

»Wenn Springfield wirklich aufgeteilt wird, enden die meisten von euch als Arbeiter auf kleineren Weiden, die Amateuren wie Krämern und Farmern gehören«, erklärte er ernst.

»Ihr werdet weder die Annehmlichkeiten noch die Unterstützung von Springfield haben. Wie die Hirten früher werdet ihr in Hütten leben, weit entfernt von jeder menschlichen Gesellschaft.«

Zu seiner Freude rief die Rede bei seinen Zuhörern Unwillen hervor. Rupe erwärmte sich für sein Thema und schilderte in den schwärzesten Farben, wie sich die Plünderer händereibend über Teile von Springfield hermachen würden.

»Sie werden den ganzen Bezirk auf den Kopf stellen«, sagte er, »denn sie malen sich jetzt schon ihre glorreiche Zukunft als Squatter aus – allerdings sind ihre Weiden wertlos, und ihre Sachkenntnis ist gleich null.«

Jack Ballard, der Aufseher der Hauptfarm, stärkte Rupe den Rücken. »Ich schätze, die halten die Leitung einer Schaffarm für ein Kinderspiel. Die werden sich noch umgucken.«

»Da hast du vollkommen recht«, sagte Rupe lachend. »Aber sie sollten ihre Fehler lieber woanders begehen. Ich sage, haltet sie fern von Springfield, bis wir alles gesichert haben.«

»Wie lange dauert das?«

»Vielleicht ein Jahr«, erklärte Ballard. Er zwinkerte Rupe zu. »Ich hatte mich schon gefragt, weshalb du und Victor die Parzellen markiert. Habt ihr etwas geahnt?«

»Wir hielten es immerhin für möglich …«

»Der Boß läßt sich nicht übers Ohr hauen, selbst wenn er krank ist, was?« lachte Jack anerkennend.

Rupe war ein wenig gekränkt, da er sich bis zu diesem Moment beinahe selbst als Boß gefühlt hatte. Er mochte es nicht, wenn man ihn an den übermächtigen Schatten seines Vaters erinnerte.

»Wir müssen jedenfalls verhindern, daß sich die Siedler auf unserem Land herumtreiben. Die Frage ist, ob ihr mich dabei unterstützt.«

»Ja!« jubelten die Männer.

Dann meldete sich von hinten jemand zu Wort. »Wie soll das gehen?«

»Ganz einfach!« gaben ihm die anderen lachend zur Antwort. Doch Rupe ließ es sich nicht nehmen, es auf einen kurzen Nenner zu bringen.

»Ihr droht ihnen mit der Waffe und haltet sie von unserem Grund und Boden fern!«

»Und wenn sie nicht gehen wollen?« hakte dieselbe Stimme nach. Ein hochgewachsener Viehhüter fand die passende Antwort darauf.

»Erschießt ihr das Pferd zuerst«, ergänzte er lakonisch.

Rupe grinste. »Warum nicht? Sie betreten unbefugt fremdes Eigentum. Ich glaube, wir haben uns jetzt eine Runde verdient. Geht aufs Haus!« Er wandte sich an den Lagerverwalter. »Wir haben doch noch ein paar Flaschen Rum übrig, oder etwa nicht?«

 

Das Sonnenlicht, das durch das Gitterwerk fiel, zeichnete Muster auf die Veranda. Der riesige Jasminbaum wiegte sich sanft im Wind. Ein herrlicher Tag, doch nicht für Connie. Sie saß zusammengekauert in einem Korbsessel und kaute auf ihren Fingernägeln. Sie fühlte sich hinter diesem Holzgitter wie eine Gefangene, da sie es nicht wagte, unter die grausamen Augen der Öffentlichkeit zu treten. Harry bildete noch immer das Tagesgespräch. Seinen Kollegen und vielen Freunden galt er als Ausgestoßener, der seine Klasse verraten hatte, und dieses Urteil schloß sie anscheinend mit ein.

Die Dienstboten hatten nicht viel zu tun in diesen Tagen, da nur die Herrin zu Hause war und kein einziger Besucher vorsprach. Ihre Gegenwart schüchterte Connie ein, sie vermeinte, ihr spöttisches Gelächter hinter ihrem Rücken zu hören.

Die Köchin hatte ihren Mann mit dem Rollwagen herbestellt, um die Trümmer des importierten Mahagonibettes abzutransportieren. Danach konnte das Mädchen endlich das Zimmer aufräumen. Connie klang noch das brüllende Gelächter des Mannes in den Ohren. Es war die schlimmste Woche ihres Lebens gewesen, und sie fühlte sich unsagbar gedemütigt. Ihr Vater hatte ihr ein wenig Geld gegeben, mit dem sie bis zu Harrys Rückkehr auskommen mußte. Sie hatte damit die dringendsten Rechnungen beglichen, den Rest würde der Lohn der Dienstboten verschlingen.

Und was dann, fragte sie sich besorgt.

Sie entschied, daß sie sich die beiden Frauen nicht länger leisten konnte. Sie würde sie ausbezahlen und wegschicken. Neue Dienstboten ließen sich bei Bedarf immer wieder finden.

Vom Dienstmädchen – von wem auch sonst, so neugierig wie die war! – hatte Connie erfahren, daß Harry sein Pferd aus dem Stall geholt hatte. Vermutlich war er damit nach Springfield geritten, denn in Brisbane hatte ihn niemand gesehen. Diese Ratte, dieser erbärmliche Feigling! Im Geiste belegte sie ihren Mann mit jedem Schimpfwort, das ihr in den Sinn kam. Gegen die Schimpfkanonade, die ihr wutentbrannter Vater losgelassen hatte, als er hörte, daß Harry verschwunden war, nahm sich ihre eigene Tirade jedoch eher harmlos aus.

Connie schluchzte. Harry hatte sie verlassen, doch ihrem Vater ging es ausschließlich um eine verpaßte Parlamentssitzung. Zornig hatte der Richter in der Zeitung die Abstimmungsliste überflogen, in der Harry keine Erwähnung fand. Laut dieser Meldung waren mehrere Mitglieder aus Krankheitsgründen der entscheidenden Abstimmung ferngeblieben, doch Harry hatte keine solche Entschuldigung eingereicht.

»Dieser verfluchte Narr«, hatte der Richter gedonnert und die Seite herausgerissen. »Das schicke ich Austin Broderick, mit einem passenden Brief dazu. Wenn sein Sohn schon seinen parlamentarischen Pflichten nicht nachkommt, sollte er wenigstens seinen häuslichen Pflichten gerecht werden!«

Connie war froh darüber, denn sie konnte sich ausrechnen, daß Austin ebenso wütend reagieren würde wie ihr Vater und ihn umgehend nach Hause zurückschicken würde – hoffentlich mit ein bißchen Geld in der Tasche.

Dabei fielen Connie ihre eigenen Geldprobleme wieder ein. Wenn sie die Dienstboten ausbezahlt hatte, saß sie auf dem Trockenen und mußte sich wohl oder übel noch mehr Geld von ihren Eltern borgen. Schließlich war das alles ja nicht ihre Schuld – in diesem Glauben ließ sie sie jedenfalls.

 

Harry war deprimiert, mehr noch: am Boden zerstört. Am ersten Abend hatte er sich mit Rum die nötige Bettschwere angetrunken, an den folgenden Tagen beruhigten ihn die friedliche Umgebung und die erfolgreichen Angelversuche. Eine Zeitlang konnte er die Sorgen verdrängen, indem er sich ganz auf seinen geliebten Zufluchtsort konzentrierte. Er schwamm im klaren, prickelnden Wasser, sonnte sich nackt am sandigen Ufer und kehrte nach langen Streifzügen durch den Busch ans Lagerfeuer zurück. Nach einer Weile mußte er jedoch einsehen, daß er sich etwas vormachte, wenn er glaubte, der Realität auf Dauer entfliehen zu können.

Allmählich kehrten die Sorgen nämlich zurück, so sehr er auch dagegen ankämpfte. Er schmiedete wilde Zufluchtspläne: Er würde sich an Sam Ritter und seiner Frau, der Hure, rächen. Ein Darlehen aufnehmen oder, besser noch, von Austin eine vorzeitige Auszahlung seines Erbteils verlangen. Warum sollte er warten, bis sein Vater starb? Er würde nach seinem eigenen Willen abstimmen; er war es leid, immer auf andere zu hören. Und er würde in Goldminen investieren, etwas Besseres gab es zur Zeit nicht … Er fand Gefallen an diesen hochfliegenden Spinnereien und trank sich mit Hilfe von Rum in einen Erregungszustand hinein.

Die Reue folgte am nächsten Morgen auf dem Fuß. Harry spürte eine nagende Unruhe in sich. Er nahm ein erfrischendes Bad im Fluß, um einen klaren Kopf zu bekommen, und dabei traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag.

Welcher Tag war heute? Mit einiger Mühe kam er zu dem Schluß, daß Donnerstag sein müsse. »Oh, Jesus!« rief er. »Das Parlament tagt schon seit drei Tagen. Oh, Gott, wie konnte mir das nur passieren?«

Verzweifelt stolperte er ans Ufer, packte hastig seine Sachen zusammen und ließ sich dann mit einer Tasse Tee auf einen Stuhl fallen.

»Jetzt stecke ich wirklich in der Klemme. Wahrscheinlich wird man mich aus der Partei ausschließen.« Er fragte sich, ob das Landgesetz auf der Tagesordnung gestanden hatte oder sogar zur Abstimmung vorgelegt worden war.

»Wenn ja, dann habe ich es mir jetzt endgültig mit allen verdorben.«

Anscheinend hatte sich die ganze Welt gegen ihn verschworen. Harry ließ den Kopf hängen. »Was nun?« fragte er sich ratlos.

Ein Kookaburra antwortete ihm mit seinem lauten, johlenden Lachen. Harry versuchte vergeblich, den Vogel in den hohen Baumkronen auszumachen.

Scheinbar gelang ihm einfach gar nichts, das mußte er sich ehrlich eingestehen.

Einsam und deprimiert, wie er war, konfrontierte sich Harry mit den eigenen Schwächen, und das Bild, das er auf diese Weise von sich gewann, fiel alles andere als erfreulich aus. Das Parlament hatte er nie ernst genommen, war weitaus mehr am gesellschaftlichen Leben interessiert gewesen, das damit einherging. »Es gibt Wichtigeres, als Freunde einzuladen und Feste zu feiern«, hatte ihn Austin bereits vor längerer Zeit gewarnt, doch Harry hatte seine Mahnung in den Wind geschlagen. Seine Schulden aus Rennwetten und dem Kartenspiel hatte er sich ganz allein zuzuschreiben, anders als die Sache zwischen Connie und Sam. Doch in seinem Zorn war ihm völlig entfallen, daß auch er, Harry Broderick, nicht gerade ein Heiliger war. Wie war das doch gleich mit den Junggesellenabenden bei Madame Rosa gewesen? Mit der kleinen Pearl im plüschigen Hotel Albert? Und ihrer Freundin aus der Bar? Sie waren stets sehr entgegenkommend gewesen.

»Und ausgerechnet du schreist deine Frau an«, murmelte er. Trotzdem: so ganz dasselbe war es ja wohl doch nicht. Er war immer noch entsetzt darüber, ausgerechnet seine Frau mit Ritter im Bett erwischt zu haben.

Was sollte er tun? Er hatte sich zum Narren gemacht, im Haus herumgeschossen. Zweifellos war er an einem echten Tiefpunkt angelangt.

Er riß sich zusammen, stand auf und bereitete sich die letzte Portion Speck mit Bohnen zu. Dabei fiel sein Blick auf das Gewehr, das an der Wand lehnte. Diese Lösung wäre wenigstens schnell, sauber und endgültig.

Harry Broderick verspürte bei dem Gedanken an den Tod merkwürdigerweise eine gewisse Erleichterung. Er würde seinen letzten Tag unbeschwert genießen. Er führte sein Pferd zum Schwimmen in den Fluß und erklärte dem Tier, daß er es bald im Busch freilassen werde. Dann versuchte er sich an einem Fladenbrot aus Mehl, Wasser und einer Prise Salz, das ihm überraschend gut gelang. Er aß es mit Sirup und lehnte sich zufrieden zurück.

Wen kümmerte es schon, wenn er starb? Vermutlich niemanden. Für die Familie war er doch nur eine Belastung. An diesem Abend trank er in einer seltsam euphorischen Stimmung den letzten Rum. Später würde er die Hütte von innen verbarrikadieren und sich dann dort erschießen, damit sein Körper von Raubtieren verschont blieb. Zunächst wollte er aber noch die Nacht genießen.

Es war eine wunderbar klare Nacht. Harry suchte am Himmel nach dem Kreuz des Südens, das ihn seit seiner Kindheit faszinierte. Dabei orientierte er sich an den beiden großen Sternen des Kentauren, die östlich davon lagen. Harry ließ die Augen über das Sternbild wandern.

Riesengroß prangte es über ihm am Himmel. Sein ganzes Leben lang hatte er beobachten wollen, wie das Kreuz des Südens sich umdrehte. Im Busch wurde viel darüber gesprochen, doch er war irgendwie nie dazu gekommen, hatte sich niemals die Zeit dafür genommen, weil es ihm nicht wichtig genug gewesen war. Nun war es ihm plötzlich wichtig. Auf einmal schien es das einzige, was er in seinem Leben je wirklich gewollt hatte. Er lehnte sich zurück und wartete. Harry wußte, es konnte Stunden dauern, bis das Kreuz sich über den gesamten Himmel bewegt und umgedreht hatte, vielleicht sogar die ganze Nacht. Nun, er hatte Zeit.

Zu seinem Ärger ballten sich Wolken am nächtlichen Himmel zusammen und griffen nach dem Kreuz, als wollten sie ihm sogar diese letzte kleine Freude noch verderben. Dann ertönte draußen im Busch ein scharrendes Geräusch, und sein Pferd wieherte.

Mit dem Gewehr in der Hand stürzte Harry durch das Gebüsch und erreichte eine kleine Lichtung. Das Pferd wieherte noch immer, bäumte sich auf und warf sich nach vorn, um die Dingos abzuwehren. Weglaufen konnte es nicht, da es an den Vorderbeinen gefesselt war. Harry schoß in die Luft, doch die knurrenden, schnappenden Wildhunde ließen sich nicht beirren. Sie schienen zu wissen, daß sie sicher waren, solange sie sich möglichst nah beim Pferd hielten, es als Schutzschild benutzten. Also mußte auch Harry, aus Angst, das Tier zu treffen, näher herantreten. Er feuerte noch einmal, und ein Dingo heulte vor Schmerz auf. Der verwundete Hund trottete jaulend davon, gefolgt von den beiden anderen.

Rasch löste Harry die Fußfesseln des Pferdes und führte es aus dem Gebüsch vor die Hütte.

Im Licht der Lampe wusch er die stark blutenden Wunden an Bauch und Hinterbein mit einem Schwamm aus. Dann legte er ihm das Halfter an und band es an einen Pfosten. »Ich glaube ja nicht, daß du dieses Halfter noch brauchst, alter Junge«, grinste Harry. »Heute nacht bleibst du lieber bei mir, was?«

Er lud vorsichtshalber das Gewehr nach, obwohl ein erneuter Angriff der Dingos unwahrscheinlich war. Dann setzte er sich hin und sah zum östlichen Himmel auf.

Er redete sich ein, er müsse das Pferd bewachen, brauchte in Wirklichkeit jedoch selbst die tröstende Gesellschaft des Tieres.

Allmählich kam ihm die Komik der Situation zu Bewußtsein. »Ich kann mich ja wohl schlecht vor deinen Augen erschießen«, sagte er zu seinem Pferd. »Und von mir wegscheuchen läßt du dich auch nicht. Du würdest nicht einmal weglaufen, wenn ich dir das Halfter abnähme. So wie du nach Blut riechst, hätten dich die Dingos nämlich nach zwei Minuten aufgespürt. Du weißt ganz genau, daß du im Augenblick nur bei mir sicher bist.«

Schließlich traf Harry eine Entscheidung. »Heute ist Freitag. Wir sollten besser nach Hause zurückkehren. Sieht aus, als müßte ich in den sauren Apfel beißen und der Sache ins Gesicht sehen.«

Harry war nun merklich ruhiger, obwohl er durch sein Fernbleiben von der Parlamentssitzung in noch mehr Schwierigkeiten steckte als zuvor. Aus Rücksicht auf die Verletzungen des Tieres ritt er langsam und legte gelegentlich Ruhepausen ein. Unterwegs dachte er darüber nach, was er als nächstes tun sollte. Oder, besser noch, unterlassen sollte. Es hatte einfach keinen Sinn, es jedem recht machen zu wollen, den Ansprüchen von gesellschaftlichem Leben und politischer Karriere zugleich genügen zu wollen. Austin hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, daß er ihn für dumm hielt. Vermutlich hatte er sogar recht damit, denn Victor und Rupe waren beide klüger als er.

Harry hielt an einem ländlichen Pub, bestellte sich ein Pint, aß ein paar eingelegte Zwiebeln und genoß die Anonymität. Niemand hätte in dem unrasierten Buschreiter den Parlamentsabgeordneten Harry Broderick erkannt. Geistesabwesend blätterte er in einer Zeitung, bis der Abdruck des Ergebnisses der Abstimmung über das Gesetz gegen die Zweckentfremdung von Land seine Aufmerksamkeit erregte. Zu seiner Überraschung war es bereits verabschiedet worden. Mit einem leichten Schaudern bemerkte er, daß sein Name auf der Liste fehlte.

Austin wird begeistert sein, dachte er ungerührt. Jetzt hat er endlich einen Grund, um sich aufzuregen. Das wird ihn freuen.

Harry ritt langsam am Fluß entlang. Die Stadt breitete sich immer weiter aus; in beträchtlicher Entfernung vom Zentrum Brisbanes entstanden hier neue Häuser und Straßenzüge. Sein Blick fiel auf ein weitläufiges, häßliches Holzgebäude auf Pfählen ohne schmückendes Gitterwerk, Büsche und Blumen. Lediglich die aufgestellten Schilder waren von einigem Interesse.

Am Tor prangte auf einer großen, schwarzen Tafel die goldene Inschrift: KIRCHE DES HEILIGEN WORTES, darunter die Gottesdienstzeiten von Bischof Frawley.

»Von denen habe ich ja noch nie was gehört«, wunderte sich Harry. Diese Kirche machte auf ihn einen äußerst dubiosen Eindruck. Auf der anderen Seite des Tores stand ein großes Schild mit der Aufschrift: ZU VERKAUFEN. Kopfschüttelnd setzte Harry seinen Weg fort. In letzter Zeit schossen in Brisbane die seltsamsten Religionen wie Pilze aus dem Boden.

 

»Abwesend? Was soll das heißen?« donnerte Austin los, wobei er seinen Entschluß, ruhiger und damit auch länger zu leben, völlig vergaß.

Rupe fiel auf, daß sich seine Aussprache eindeutig verbessert hatte. »Genau das, was ich gesagt habe. Er war bei der Abstimmung nicht im Parlament. So hat es zumindest in der Zeitung gestanden.«

»Wo war er denn dann?«

»Das weiß keiner so genau.«

Austin sah ihn mißtrauisch an. »Stand das etwa auch in der Zeitung?«

»Nein.«

»Und von wem hast du es dann erfahren?« Beim letzten Wort kam er ins Stolpern und schlug voller Enttäuschung und Wut mit der Faust auf den Tisch.

Rupe zuckte die Achseln. »Richter Walker hat uns einen Brief geschrieben, in dem er sich furchtbar darüber aufregt. Und über ein paar andere Dinge auch.«

»Von welchem Brief redest du da?«

»Sie waren der Ansicht, du solltest ihn besser nicht zu lesen bekommen. Victor und Mum, meine ich. Sie wollten verhindern, daß du dich aufregst.«

»Hol ihn her!« zischte Austin.

Rupe fand den Brief in Victors Büro und las ihn sich grinsend noch einmal durch. Wutentbrannt hatte der alte Knabe Harrys sämtliche Sünden aufgeführt. Der Schweinehund habe nicht nur die alles entscheidende Abstimmung verpaßt, sondern stehe auch bei jedem in der Kreide, sei völlig pleite und habe obendrein seine Frau mit einem Gewehr bedroht. Charlotte und Victor wollten den Brief unter Verschluß halten, doch Rupe war anderer Ansicht. Weshalb sollte Austin nicht erfahren, daß Harry sie im Stich gelassen hatte? Angeblich war er bereits unterwegs nach Springfield und würde sich sicher inzwischen eine Menge Entschuldigungen zurechtgelegt haben.

»Wenn es nach mir geht, wird man dich hier nicht mit offenen Armen empfangen«, brummte Rupe. Dann brachte er Austin den Brief. Ihm war durchaus bewußt, daß sein Vater daraufhin einen erneuten Schlaganfall erleiden könnte, entschuldigte sein Tun aber damit, daß er von der Geschichte früher oder später ohnehin erfahren würde. Zum Beispiel, wenn Harry auftauchte und ihn um Geld anbettelte, mit dem er sich aus dieser Klemme befreien könnte.

Rupe glaubte zwar nicht, daß Harry seine Frau mit einem Gewehr bedroht hatte – wahrscheinlich war da die Wut des Richters mit ihm durchgegangen –, doch es verlieh der Sache zweifellos zusätzlichen Reiz.

Austin lief beim Lesen rot an. Er las den Brief erneut, schüttelte ungläubig den Kopf und warf die Seiten auf den Boden. »Er kommt nach Hause!« knurrte er.

»Sieht ganz so aus.«

»Ich will ihn hier nicht sehen!« brüllte sein Vater.

Charlotte stürmte herein. »Was ist los?« Sie hob die Blätter auf, erkannte den Brief wieder und wandte sich voller Empörung an Rupe.

»Wie konntest du nur? Ich habe ausdrücklich gesagt …«

»Mein Brief!« schrie Austin sie an. »Wie kannst du es wagen, meine Post zu unterschlagen?«

»Es war nur zu deinem Besten. Bitte, Austin, so beruhige dich doch. Du weißt, wie der Richter ist. Er mäkelt ständig an Harry herum. Ich bin sicher, es gibt für alles eine vernünftige Erklärung.«

»Die Sitzungsperiode ist noch nicht zu Ende«, warf Rupe gehässig ein. »Eigentlich sollte er dort sein, statt zu seiner Mutter gelaufen zu kommen.«

»Er ist unser Sohn und hat das Recht, uns die Dinge aus seiner Sicht zu schildern, bevor wir uns ein Urteil bilden. Wahrscheinlich geht es ihm ziemlich schlecht.«

»Er ist nicht mehr mein Sohn!« fauchte Austin. »Ich will ihn hier nicht sehen.«

»Das meinst du doch gar nicht so. Ich hole dir eine Tasse Tee.«

An diesem Abend bestand Austin darauf, daß Victor und Rupe ihm die Pläne zur Aufgliederung Springfields vorlegten, die sich an den neuen Gesetzen orientierten. Er wollte noch einmal die Liste mit den Namen der Familienmitglieder und Strohmänner sehen, die für die Ansprüche auf die besten Weidegründe verwendet werden sollten. Er studierte alles sorgfältig, denn die Liste mußte genau mit den numerierten Grundstücken übereinstimmen. Dann lehnte er sich zurück.

»Streicht Harry durch. Er bekommt nicht einen lumpigen Morgen.«

Rupe war hocherfreut, hielt aber den Kopf gesenkt und gab vor, in die Betrachtung einer der Landkarten vertieft zu sein. Victor hingegen protestierte.

»Das kannst du nicht machen. Wozu sollte es auch gut sein?

Springfield gehört immer noch dir. Wir teilen den Besitz ja nicht wirklich auf, das steht doch nur auf dem Papier.«

Solange er lebt, dachte Rupe. Dann werden wir sehen, wem was gehört.

»Streicht seinen Namen!« wiederholte Austin.

»Das geht nicht. Jeder aus der Familie, auch Louisa und Connie …«

»Streicht Connie auch!«

Victor war außer sich. »Hör mir gefälligst zu! Wir haben die Höchstmenge an Land eingezeichnet, die jeder von uns besitzen darf. Mehr bekommen wir nicht, selbst wenn wir es bezahlen könnten. Wie wir das nötige Geld aufbringen sollen, ist mir ohnehin ein Rätsel. Die äußeren Grundstücke sind auf Strohmänner wie Jack Ballard und andere Viehhüter eingetragen. Ihnen können wir vertrauen. Wenn du aber Harry streichst, müßten wir für ein großes Gebiet einen weiteren Strohmann verwenden, und mir fällt beim besten Willen niemand mehr ein, dem wir rückhaltlos vertrauen können.«

Er wandte sich an Rupe. »Das weißt du doch auch. Sieh mal, hier sind die Grenzen. Dieses Land dort drüben müssen wir nur deshalb abtreten, weil wir keinen weiteren Scheinkäufer zur Verfügung haben, der akzeptieren würde, daß es eigentlich Dad gehört.«

»Es gehört Dad in der Tat«, sagte Rupe. »Nur scheinst du das zuweilen zu vergessen. Harry hat uns im Stich gelassen, und nun müssen wir die Sache ausbaden, nicht er.«

»Darum geht es doch gar nicht«, entgegnete Victor zornig.

»Er gehört zur Familie. Sein Name bleibt auf der Liste.«

Austin bekam einen Tobsuchtsanfall. Frustriert angesichts seiner Behinderung und unfähig, aufzustehen oder Victor den Stift abzunehmen, brüllte er sie an:

»Das ist mein Land! Es gehört mir! Ich bin noch nicht tot, verflucht noch mal! Streicht seinen Namen! Und ihren auch! Sonst verschwinden eure gleich mit!«

Victor knallte die Liste auf den Schreibtisch. »Sehr schön. Wen setzen wir an Connies Stelle ein?« Er saß kerzengerade auf seinem Stuhl und sah seinem Vater herausfordernd ins Gesicht.

»Teddy!«

Rupe fuhr zusammen. Damit hätte Victor insgesamt drei Grundstücke, den Großteil des Besitzes. »Er ist zu jung!«

»Wir ernennen Victor zum Treuhänder!«

Victor nahm sich die Liste vor und ersetzte Connies Namen durch Teddys. »Wen sonst noch? Da wäre immer noch Harrys Anteil.«

Rupe bemerkte, daß sein Vater ratlos wirkte. Es gab einfach niemanden. Nur schade, daß er selbst nicht verheiratet war. Andererseits waren dies hier erst die Vorbereitungen, und vielleicht war es noch nicht zu spät … Er könnte sich ja mal nach einer Braut umsehen.

»Gut«, sagte Victor, »du hast Harry bestraft, indem du den Anteil seiner Frau gestrichen hast. Lassen wir es dabei bewenden.«

»Nein.« Austin war müde, gab sich aber noch nicht geschlagen. Waren Harrys Schulden so hoch, wie Walker behauptete, konnte er ihm ohnehin nicht helfen. Jedes Pfund, das er erübrigen konnte, mußte in die Erhaltung von Springfield gesteckt werden. Wenn die Gläubiger über seinen mißratenen Sohn herfielen, würden sie seinen Pro-forma-Anteil an Springfield ebenfalls beanspruchen. Außerdem konnte er Harry sein Fehlen bei der Abstimmung einfach nicht verzeihen. Wo zum Teufel hatte er gesteckt? Vermutlich in einer Spielhölle. Austin fragte sich, womit er nur diesen Sohn verdient hatte. Was hatte er nicht alles für ihn und seine alberne Frau getan! Ihr Lebensstil in Brisbane hatte ihn bereits ein Vermögen gekostet. Zudem war er schon zweimal für Harrys Schulden aufgekommen, die offensichtlich höher waren als vermutet. Laut Walker waren die beiden nun völlig pleite. Austin konnte es nicht fassen. Peinlich berührt hatte er gelesen, daß Walker von ihm das Geld verlangte, das er seinem Schwiegersohn geliehen hatte. Das konnte der Richter vergessen! Dieser Brief war eine unerhörte Beleidigung, schließlich trug er keinerlei Schuld an dieser Situation. Es war an der Zeit, daß Walker einmal ein ernsthaftes Gespräch mit seiner ehrgeizigen Tochter führte, die so sehr darauf erpicht war, in die feine Gesellschaft aufzusteigen.

Das alles änderte jedoch nichts an der Tatsache, daß Victor eine Antwort verlangte, die er ihm nicht geben konnte.

»Niemals! Eher setze ich Spinners Namen ein, als daß Harry auch nur einen einzigen Morgen erhält! Das Maß ist voll, er ist nicht mehr mein Sohn.«

Und dann kam ihm eine Idee. Ihm fiel doch noch ein Mensch ein, dem er rückhaltlos vertrauen konnte.

»Fern Broderick«, sagte er triumphierend. »Setze sie statt seiner ein. Sie gehört zur Familie. Nun, das wäre geklärt. Rupe, ich könnte jetzt einen Brandy vertragen. Hat mir der Arzt verordnet!«

 

Charlotte war es mit Hilfe von Freunden aus Toowoomba endlich gelungen, zwei weiße Dienstmädchen zu bekommen. Sie arbeiteten recht gut, waren aber weniger fügsam als die Schwarzen und forderten natürlich eine bessere Unterbringung. Die Köchin freute sich diebisch, als sie ihnen ihr Zimmer abtreten und gegen ein elegantes Gästezimmer eintauschen durfte.

Der alte Jock hatte Charlotte drei Eingeborenenfrauen aus der Horde angeboten, die auf seiner Farm lebte, doch seltsamerweise hatten sie sich allesamt geweigert, nach Springfield zu gehen. Weder Bitten noch Befehle fruchteten da etwas, und sie weinten hysterisch, als er darauf bestehen wollte. Schließlich gab er es auf und fühlte sich insgeheim sogar geschmeichelt, daß die Frauen ihn den Brodericks vorzogen.

»Vermutlich würden sie sich hier einsam fühlen, wenn alle anderen auf Wanderschaft sind«, mutmaßte Victor. »Sie möchten nicht ganz isoliert von ihrem Stamm leben.«

Daher beschäftigte Charlotte jetzt Maisie und ihre Schwester Alice, die sich in ihren schwarzen Kleidern und weißen Schürzen ganz gut machten; zudem hob es irgendwie das Ansehen ihres Haushalts, wenn dort weiße Dienstboten arbeiteten. Austin hingegen zeigte sich nicht sonderlich beeindruckt. Ihm ging es gegen den Strich, daß sie im Gegensatz zu den Schwarzen entlohnt werden mußten.

»Ich bin doch kein Krösus«, grollte er. »Wir sollten den Gürtel vielmehr enger schnallen.«

Charlotte beachtete sein Murren nicht weiter. Sie war bester Laune. Sie saß oft dabei, wenn Austin und seine Söhne die komplizierten Landkarten und Pläne durcharbeiteten, mit denen sie ihren riesigen Besitz vor der Bedrohung durch die Landgesetze schützen wollten. Bei dieser Gelegenheit hatte sie erfahren, daß eines der Grundstücke, gleich neben Austins gelegen und den Hausbereich und sein geliebtes Tal umfassend, auf ihren Namen eingetragen war. Erstklassiges Land, auf dem Tausende von Schafen weiden konnten.

Das hatte sie sich seit dem Tag gewünscht, an dem Austin ihr Kellys Anteil versprochen hatte. Nun hatte sie das Land per Zufall erhalten. Eigentlich hätte ihr ein noch größeres Gebiet zugestanden, doch sie wußte sehr wohl, daß Austin ihr aufgrund der rechtlichen Beschränkungen nicht mehr zuweisen konnte. Er hatte sein Land einfach in ein Schachbrett verwandelt und Strohmänner als Bauern darauf gesetzt, um das Ministerium zu täuschen.

Wie auch immer, ihr Name war darunter. Charlotte Broderick. Sie begriff nicht, daß auch die Eintragung der Familiennamen nur eine Finte war, daß Springfield noch immer ganz und gar Austin gehörte. Die Männer hatten von der Gründung einer Firma gesprochen. Charlotte wußte nicht, daß es sich dabei um eine Viehzüchtergesellschaft handelte, die alle diese Grundstücke in Form separater Schaffarmen in sich vereinigen und von Austin geleitet werden sollte.

Dann trafen die furchtbaren Nachrichten über Harry ein. Charlotte war am Boden zerstört. Obwohl sie sich nie hatte etwas anmerken lassen, war Harry ihr Lieblingssohn. Victor war nett, aber langweilig; ein anständiger, fleißiger Mann, doch fehlte ihm Harrys Charme. Sie seufzte. Rupe besaß davon im Übermaß, und sah mit seinem bezaubernden Lächeln und den leuchtend blauen Augen von allen ihren Söhnen am besten aus. Leider geriet er allzu oft in Schwierigkeiten.

Aber Harry, der arme Harry. Sie hatte bereits an Richter Walker geschrieben und ihm mit einer Verleumdungsklage gedroht. Er solle im Interesse guter Familienbeziehungen von derart empörenden Behauptungen Abstand nehmen, bis Harry für sich selbst sprechen könne.

Charlotte gab Connie die Schuld an allem. Sie wußte, Austin hatte recht. Obwohl ihre Schwiegertochter sehr auf gesellschaftlichen Aufstieg bedacht war und aus einer angesehenen Squatter-Familie stammte, die ihren Stammbaum bis zu den berühmten Macarthurs von der Parramatta-Farm zurückführen konnte, war sie ein kleines Biest und konnte Louisa nicht das Wasser reichen. Ohne die Verschwendungssucht seiner Frau wäre es mit Harry sicher nicht soweit gekommen. Wenn sie nur wollte, könnte Connie ihnen bestimmt erklären, weshalb er an jenem Tag nicht im Parlament gewesen war. Charlotte machte sich als einzige Gedanken über den Vorwurf, er habe seine Frau mit dem Gewehr bedroht. Anders als Rupe vermutete sie ein Körnchen Wahrheit darin, denn Richter Walker würde eine derartige Behauptung nicht ohne Grund schwarz auf weiß niederlegen. Warum aber sollte ein Mann, der seine fünf Sinne beisammen hatte, so etwas tun?

Eine alte Geschichte, dachte Charlotte. Mit wem hatte Harry seine Frau wohl erwischt?

Walkers Brief kündigte Harrys Heimkehr an, erwähnte Connie jedoch mit keinem Wort. Eigentlich hätte Charlotte erwartet, daß sie ihrem kranken Schwiegervater ebenfalls einen Besuch abstatten würde. Irgend etwas an dieser Geschichte stimmte nicht. Sie würde Harry schon dazu bringen, ihr die Wahrheit zu sagen.

Austin und seine Söhne hatten gestern bis spät in die Nacht gearbeitet. Es war nicht zu fassen, welche Unordnung drei Männer hinterlassen konnten, dachte Charlotte. Überall standen Gläser herum, schmutzige Aschenbecher, leere Flaschen; Papiere waren auf dem Boden verstreut. Während Maisie aufräumte, ordnete sie selbst die Unterlagen auf dem Schreibtisch und suchte nach der Liste mit ihrem Namen, die sie so glücklich gemacht hatte.

Betrübt stellte sie fest, daß Harrys und Connies Namen mit purpurroter Tinte durchgestrichen waren. Richtig entsetzt war sie jedoch erst, als sie sah, wen Austin statt ihres Sohnes eingesetzt hatte.

Fern Broderick! Wie konnte er es wagen! Welchen Anspruch hatte sie auf einen Teil der Farm?

Charlotte hatte das gute Verhältnis zwischen Fern und ihrem Ehemann stets mit einem gewissen Mißtrauen beobachtet, und nun hatte sie indirekt die Bestätigung für ihren Verdacht erhalten. Offensichtlich besaß sie in den Augen ihres Mannes keinen größeren Anspruch auf diesen Besitz als Fern Broderick.

»Soll ich den Boden aufwischen, Madam?« fragte Maisie.

»Wie bitte? Ja, ja«, antwortete sie geistesabwesend.

Fassungslos starrte sie auf Victors Liste, in der falschen Annahme, daß ihre Söhne diese Entscheidung mitgetragen hatten. Charlotte war gekränkt, furchtbar gekränkt. Und zornig. »Das werden wir ja noch sehen«, murmelte sie und schloß den Schreibtisch.

 

Am nächsten Morgen machten sich bei Austin die Anstrengungen der vergangenen Tage und das späte Zubettgehen bemerkbar. Er war erschöpft und konnte kaum sprechen, so daß ihn selbst Teddys Gesellschaft nicht aufzuheitern vermochte. »Stehst du nicht auf?« fragte der Junge.

Austin schüttelte den Kopf. Der Kleine seufzte. »Dann eben morgen. Gehst du dann mit mir schwimmen? Nioka ist weg, und alle anderen haben zu tun. Du hast nichts zu tun.«

Er betrachtete prüfend Austins Frühstückstablett. »Du hast den Speck nicht gegessen. Kann ich ihn haben?«

Sein Großvater nickte. Teddy griff nach dem Speck und setzte kauend seinen Weg durch das Zimmer fort.

»Bald ist Weihnachten«, verkündete er unvermittelt. »Wie bald?«

»In ein paar Wochen«, murmelte Austin.

»Ja, und Onkel Harry kommt nach Hause. Er hat mir eine Eisenbahn versprochen. Keine echte, nur zum Spielen, aber ganz groß. Bist du schon mal Eisenbahn gefahren, Opa?«

»Ja.«

Gelangweilt lief Teddy auf die Veranda. Plötzlich begriff Austin, wie sehr der Kleine seine schwarzen Spielkameraden vermissen mußte. Er hätte ihn gern dafür entschädigt, konnte in seinem augenblicklichen Zustand aber wenig ausrichten. Er langweilte sich ebenso sehr wie Teddy.

Was Harry anging, mußte er seinen Enkel aber enttäuschen. Er würde weder diese Weihnachten noch sonst irgendwann heimkommen.

»Ich kaufe dir eine Eisenbahn«, brachte er mühsam hervor.

»Wirklich? Das ist toll. Dann habe ich zwei. Wir können ein Rennen veranstalten!«

Austin gab es auf und döste ein.

 

Connies Besuch bei ihren Eltern war mehr als unerfreulich verlaufen, doch brachte er ihr immerhin zehn Pfund ein. Es war nicht viel, und sie hatte sie sauer verdient, da sie sich endlose Predigten anhören mußte. Sie war froh, als sie ihnen, das Geld sicher in der Tasche, endlich entfliehen konnte.

Nach ihrer Rückkehr in das leere Haus hängte sie Mantel und Hut in das kahle Schlafzimmer. Als sie in die Küche kam, wo sie sich eine Tasse Tee kochen wollte, entdeckte sie einen großen, ungepflegt wirkenden Mann an der Hintertür.

Connie erstarrte. Einen Moment lang glaubte sie, ein Landstreicher wolle sie ausrauben, doch der Mann, dessen Gestalt sich schemenhaft vor dem grellen Sonnenlicht abzeichnete, wirkte nicht überrascht bei ihrem Anblick. Da erkannte sie Harry.

Sie fiel sofort über ihn her.

»Wo bist du gewesen, du Schuft? Hast du überhaupt eine Ahnung, was du mir angetan hast? Für ganz Brisbane bist du nur noch ein Stück Dreck. Mein Vater tobt, wenn er bloß deinen Namen hört. Mein Gott, sieh dich nur an! Du siehst aus wie ein Landstreicher! Wie kannst du es wagen, mich ohne einen Pfennig Geld hier sitzenzulassen? Ich mußte die Dienstboten entlassen. So etwas spricht sich schnell herum. Die bankrotten Brodericks!«

Als er näherkam, wich sie vor ihm zurück. »Hände weg von mir. Mein Vater hat alle Gewehre mitgenommen, damit du mich nicht mehr bedrohen kannst. Wenn du mich anfaßt, schreie ich …«

»Der Herd ist aus«, sagte er und nahm Holz und Papier, um ihn anzufeuern. Das war zuviel für Connie. Sie stürzte sich auf ihn, schlug ihm mit den Fäusten auf den Rücken, brüllte, daß so viele Leute nach ihm gesucht hätten, darunter auch seine Gläubiger, daß der Briefkasten von Rechnungen überquelle, und dann die ganzen Demütigungen …

Harry erhob sich, ergriff ihren Arm und führte sie zum nächsten Stuhl. »Setz dich und halt den Mund.«

Sie blieb weinend sitzen, während er den Wasserkessel aufsetzte und aus der Vorratskammer Brot, Käse und eingelegtes Gemüse holte. Daraus bereitete er sich in aller Ruhe eine Mahlzeit zu. »Möchtest du auch was?«

»Nein!«

Er zuckte die Achseln, biß in das dicke Sandwich und wartete, bis das Wasser kochte.

»Eine Tasse Tee?«

Sie konnte sich nicht überwinden, ja zu sagen, und sah sehnsüchtig zu, wie er sich eine starke Tasse Tee aufbrühte und damit an den Tisch zurückkehrte.

»Ich brauche Geld«, fuhr sie ihn an.

»Alles zu seiner Zeit.«

»Wo warst du? Ich dachte, du seist nach Springfield geritten.«

Er ignorierte ihre Frage, was sie nur noch mehr aufbrachte. »Was hast du mir zu sagen?« fauchte sie.

»Das gleiche könnte ich dich fragen. Ich dachte, dein Liebhaber würde sich um dich kümmern. Ihm fehlt es doch nicht am nötigen Kleingeld.«

Connie sah sich plötzlich in die Defensive gedrängt. »Du hättest im Parlament sein müssen. Du hast deine Partei im Stich gelassen. Wahrscheinlich werfen sie dich hinaus.«

»Das ist nicht nötig. Ich trete von selbst zurück.«

»Wie bitte? Niemand tritt aus dem Parlament zurück.«

»Dann bin ich eben der erste. Und nun erzähle mir von Sam Ritter.«

»Was soll schon mit ihm sein? Ich habe ihn seitdem nicht mehr gesehen.« Sie verschwieg jedoch, daß sie bei ihm gewesen war und aus dem Mund eines Dienstmädchens erfahren mußte, daß er und seine Mutter für niemanden zu sprechen seien. Noch so eine Ratte, dachte sie. Er und Harry waren richtig gemeine Ratten.

»Wie lange hat die große Liebe denn gedauert?«

Connie sprang auf. »Es hat sie nie gegeben. Ich will nicht darüber sprechen. Laß mich in Ruhe.«

Er nickte. »Es überrascht mich nicht, daß du nicht darüber reden willst. Außerdem gibt es Wichtigeres zu besprechen.«

Er sprach lange und wies alle ihre Einwände strikt zurück. Seine Entscheidung war gefallen.

»Das wär’s. Ich ziehe mich aus dem Parlament zurück, verkaufe das Haus hier und die eleganten Möbel, das sollte zumindest für die Tilgung eines Teils meiner Schulden reichen. Dann suche ich mir eine Stelle, wo ich endlich auch etwas Geld verdienen kann.«

»Wo werden wir denn wohnen?«

»Ich habe gute Verbindungen, im Busch, meine ich. Es dürfte für mich kein Problem sein, eine Stelle als Verwalter auf einer der Schaffarmen zu bekommen …«

»Ein solches Leben will ich nicht führen. Ich will nicht als Frau des Verwalters einer gottverlassenen Farm im Outback enden …«

»Dann eben nicht. Du kannst tun, was du willst. Entweder gehst du mit, oder du bleibst hier. Ich habe das Stadtleben satt. Ich will leben, wo ich hingehöre – im Busch.«

»Und wohin soll ich gehen?«

»Das mußt du selbst entscheiden. Und jetzt werde ich duschen und mich rasieren. Ich muß mit einer Menge von Leuten sprechen, allen voran dem Premierminister.«

»Dein Vater hat aber auch noch ein Wörtchen mitzureden!«

Harry lächelte. »Das glaube ich kaum.«

 

Austin gab sich nach außen hin zornig, um seinen Kummer zu verbergen. Charlotte war fest davon überzeugt, Harry müsse einen Nervenzusammenbruch erlitten haben, doch für Austin sprach der ruhige Tonfall seines Briefes dagegen. Was hätte diesen Zusammenbruch denn auch auslösen sollen? Seine eigene Verschwendungssucht und die Schande, die er über den Namen Broderick gebracht hatte? Dieser Kerl war ein Drückeberger, der seiner Partei, seinem Wahlkreis und nicht zuletzt seiner Familie in den Rücken gefallen war.

»Er sorgt sich sehr um dich«, wandte Charlotte ein. »Er hofft, daß du dich nicht allzusehr über seine Entscheidung aufregst, und kommt her, sobald das Haus verkauft ist.«

»Nein, das wird er nicht!« Austin blieb eisern. Er befahl Victor, Harry schriftlich mitzuteilen, daß er sich von Springfield fernhalten solle. Er sei dort nicht willkommen.

»Aber er kommt Weihnachten immer nach Hause. Er hat das Recht, angehört zu werden.«

»Ich habe ihn angehört! Ich habe seinen verdammten Brief gelesen.«

Schließlich war es Rupe, der den von Austin gewünschten Brief aufsetzte. Sein Vater wußte, daß auch Charlotte an ihren Sohn geschrieben hatte, doch das interessierte ihn nicht weiter. Harry war und blieb von Springfield verbannt.

Harry selbst war angesichts dieses Briefes kaum überrascht. Etwas anderes hatte er von seinem Vater auch gar nicht erwartet. Immerhin erholte er sich laut Charlotte gut von seinem Schlaganfall. Sie bat Harry, Austins Haltung nicht allzu ernst zu nehmen. »Er wird darüber hinwegkommen«, hatte sie geschrieben. Harry hingegen bezweifelte das.

Seine Mutter hatte sich dafür entschuldigt, daß sie ihm finanziell nicht unter die Arme greifen könne, da sie kein eigenes Geld besitze. Dies brachte Harry nun wirklich gegen seinen Vater auf. War es etwa allein das Geld, mit dem Austin sich den Gehorsam seiner Familie erkauft hatte? Er war stets großzügig gewesen. In seinem Büro bewahrte er eine Kassette auf, und wann immer seine Frau oder die Söhne Geld zum Einkaufen oder Ausgehen benötigten, zeigte er sich äußerst spendabel. Doch sie mußten ihn erst darum bitten.

Und anläßlich seiner Heirat und des Einzugs ins Parlament hatte Austin ihm den Start in ein mehr als angenehmes Leben ermöglicht, das mußte man ihm lassen.

Victor hatte es da schon weniger gut getroffen. Da er und seine Frau auf Springfield lebten, hatte er es nicht für nötig befunden, ihnen ein ähnlich großzügiges Hochzeitsgeschenk zu machen. Harry wußte, daß Louisa dies noch immer kränkte, doch Victor hatte nie ein Wort darüber verloren. Vielleicht verstand er, daß das Leben in der Stadt gewisse finanzielle Mittel erforderte.

Nun war jedenfalls sein ganzes Geld weg und die Quelle, aus der es stammte, versiegt. Er mußte sich nach etwas anderem umsehen.

Der Premierminister hatte seinen Rücktritt kurz angebunden zur Kenntnis genommen und augenblicklich die Vorbereitungen für die Nachwahl getroffen.

Anschließend hatte Harry seine Tante Fern aufgesucht und ihr für die Hilfe gedankt, die sie Connie in jenen schlimmen Tagen hatte zukommen lassen. Er entschuldigte sich für sein Verhalten und erwähnte Sam Ritter mit keinem Wort.

Zum ersten Mal führte er mit Fern ein wirkliches Gespräch. Sie wirkte überraschend ruhig angesichts des ganzen Durcheinanders. Selbst die Sache mit der Waffe, die sie selbst zur Sprache brachte, ließ sie erstaunlich kalt.

»Ich hoffe, es gibt keine nächtlichen Schießereien mehr.«

Er wurde rot. »Es tut mir so leid, das war sehr dumm von mir.«

»Mehr steckte nicht dahinter?« fragte sie mit Nachdruck.

»Nein.«

»Also gut, lassen wir’s dabei. Was hast du jetzt vor?«

»Josh Pearson hat die Tirrabeefarm bei Warwick gekauft und sucht einen Verwalter. Ich treffe mich heute nachmittag mit ihm.«

»Was ist mit seinem Sohn? Hatte er Tirrabee nicht ursprünglich für ihn gekauft?«

»Der arme Andy ist bei einem Sturz vom Pferd umgekommen. Hat sich den Hals gebrochen.«

»Oh, das tut mir leid.«

Beim Gehen drückte Fern ihm eine gefüllte Geldbörse in die Hand. Harry war diese Geste peinlich.

»Das kann ich nicht annehmen, Fern. Ich habe mir geschworen, nie wieder Geld zu borgen.«

»Es ist kein Darlehen, sondern soll dir über die Runden helfen, bis du auf eigenen Füßen stehst. Was hält Connie von dem Umzug nach Tirrabee?«

»Sie reißt sich nicht gerade darum, aber die Farm ist schön und das Haus ganz in Ordnung. Kein Palast, aber wir können es uns ein wenig herrichten. Ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich die Stelle bekäme. Mehr kann ich ihr nicht bieten.«

Fern sah ihm nach. Sie war froh, daß er seinen Problemen endlich ins Gesicht gesehen und einen neuen Weg eingeschlagen hatte, selbst wenn Austin dies nicht guthieß. Seine Entscheidung, Harry von Springfield zu verbannen, war ebenso lächerlich wie typisch für ihn. Ihr machte es nichts aus, ihrem Neffen mit einigen hundert Pfund auszuhelfen. Sein Vater hatte sich ihr gegenüber immer so großzügig gezeigt, nun konnte sie wenigstens einen Teil davon in sinnvoller Weise zurückgeben.

Sie beschloß, Charlotte und Austin von Harrys Besuch zu schreiben, damit sie sich keine Sorgen machten. Dann kam sie auf ihre eigene Neuigkeit zu sprechen. Sie hoffte, Austin fühle sich besser, da sie gedenke, in einigen Wochen nach Springfield zu kommen.

Charlottes knappe Antwort kam postwendend und sorgte bei Fern für einige Bestürzung.

Vielen Dank für Deinen Brief. Austin geht es den Umständen entsprechend gut. Wir haben uns gefreut, etwas über Harry zu hören, doch er hat uns auch selbst geschrieben. Was Deinen Besuch auf Springfield betrifft, so ist der Zeitpunkt denkbar ungünstig gewählt. Wir haben gegenwärtig sehr viel zu tun.

Ich verbleibe usw.,

Charlotte Broderick.