12. Kapitel

Bei der Rückkehr ins Land am Fluß empfand er Freude und Nostalgie, doch es war keine Heimkehr mehr. Hier waren sein Vater und alle Väter vor ihm zum Mann herangewachsen, hatten die Gesetze geachtet, die der Erde und ihren Geschöpfen zum Schutz dienten. Die Pflichterfüllung bestand in der Bewahrung der Stämme und des Landes und führte gute Männer zu einem spirituellen Bewußtsein, einem tieferen Verstehen der Geheimnisse der Natur. Mit wehmütigem Lächeln erinnerte sich Moobuluk an die aufrichtige Zufriedenheit, die das Leben eines Mannes in dieser Phase erfüllte. Für ihn waren diese Erinnerungen wertvoll, ebenso wertvoll wie seine Schritte, die gezählt waren, und die wenigen Tage, die ihm noch blieben.

Wo immer er auch im vergangenen Jahr hingekommen war, er hatte es wie eine Heimkehr empfunden, da er die Erde so sehr liebte und förmlich nach dem Kontakt zwischen seinen abgehärteten, tastenden Füßen und dem Boden gierte. Vom Land am See bis hin zum wogenden blauen Meer und nach Süden über die Hügel bis zu den Grasebenen, wo er einst ungeheure Entfernungen an einem Tag zurückgelegt hatte, wenn er anderen Clans Botschaften überbrachte, hatte er die Schönheit der Umgebung immer intensiver empfunden.

»Ich war schnell«, verkündete Moobuluk seinem treuen Hund, während er vom Plateau aus auf Springfield hinunterblickte. »Ich konnte rennen wie der Wind. Du vermutlich auch, bevor dich die Falle der Weißen verstümmelt hat.«

Auch der Einfluß der Weißen trug dazu bei, daß sich seine letzte Reise qualvoll gestaltete. Er empfand Trauer bei seinem Abschied von Familie und Freunden – nicht um seiner selbst willen, sondern wegen ihrer erbarmungswürdigen, verwirrten Gesichter. Er hatte erschütternde Geschichten über Umsiedlungen unmittelbar aus dem Mund der Betroffenen gehört. Er wußte, daß die Schwarzen im Norden Frontlinien gezogen hatten und sich weigerten, weiter vor den Invasoren zurückzuweichen. Moobuluk mußte sie wohl oder übel ihrem Schicksal überlassen. Er konnte ihnen nicht einmal Trost oder ein Körnchen seiner vielgerühmten Weisheit bieten und schämte sich dafür. Er litt sehr unter dem Gefühl, sie im Stich zu lassen. Irgendwo im großartigen Sagenbuch der Natur, das er so gut kannte und respektierte, hätte eine Warnung stecken müssen.

»Vielleicht gab es sie«, gestand er sich demütig ein. »Und ich war zu stolz, um sie zu erkennen.«

Er fragte sich, was die lange verstorbenen Ältesten wohl von dem neuen Zeitalter hielten, das über ihr Land kam. Dem Zeitalter der Trostlosigkeit. Es ging nicht nur um die Zerstreuung der Menschen, nein, Moobuluk dachte voll Trauer an kostbare Vogel- und Tierarten, die aussterben würden, weil sie dem Fortschritt nicht gewachsen waren. Noch nie zuvor in ihrer Geschichte hatten die Stämme eine derartige Umwälzung erlebt.

An diesem Abend saß er unter den Sternen und weigerte sich, die Zeit mit Schlaf zu vergeuden. Er sprach mit den Geistern seines Clans, diskutierte mit ihnen dieses erbärmliche Ende seiner langen Laufbahn in ihren Diensten. Erklärte, daß er nur zu seinem letzten Auftrag hergekommen sei, da er hoffe, das Mädchen Nioka aufzuspüren. Er sprach von ihr als einer guten, starken Frau, bat für sie um Schutz vor den Dämonen der Trübsal, die ihrer Schwester das Leben auf sinnlose, willkürliche Weise geraubt hatten.

Am Morgen erhellten goldene Sonnenstrahlen den grauen Himmel. Moobuluk weinte vor Freude. Was wußte er denn schon von den Tragödien, die Menschen in unermeßlichen Äonen erlitten hatten? Wie konnte er so vermessen sein zu glauben, er könne das Schicksal beeinflussen? Die Geister hatten ihn wegen seines Stolzes gescholten und weil er den Teufeln verlorener Hoffnung keinen Widerstand entgegengesetzt hatte. Auch sie betrauerten das Elend ihrer Rasse, doch Moobuluk hatte von ihnen mehr über die Welt und das endlose Universum gelernt, als er je für möglich gehalten hätte. Wissen, das er nicht mit sich nehmen konnte, doch das war auch nicht nötig. Er zog sich aus der Welt zurück, würde aber nicht in die Gesellschaft der Teufel eingehen, sondern in die Herzen der Männer und Frauen, die ihn verstanden – Wissenden, neben denen er noch für kurze Zeit als Sterblicher weilen durfte

Moobuluk wäre gern zurückgekehrt, um an den Lagerfeuern zu sitzen und den Menschen Hoffnung zu schenken, ihnen zu sagen, daß er sie und ihre Kinder im Traum hatte lächeln sehen. Das Leben auf der Erde bedeutete Mühsal, wie Sturm und Unwetter, Hochwasser und Hungersnöte. Es ging vorüber. Er spürte neue Energie in sich. Sein Körper fühlte sich geschmeidig und leicht an; unter der glatten, schwarzen Haut zeichneten sich die Muskeln ab, während er mit dem Dingo die Farm erforschte. Er wollte Spinner nach den Kindern fragen, fand ihn aber nicht. Auch keine Spur von den Kindern. Er besuchte das alte Grab des Mannes, der Kelly geheißen hatte. Es war von einem Metallzaun umgeben. Daneben entdeckte er ein zweites Grab, das von Boß Broderick.

Verwirrt wanderte Moobuluk weiter. Nur Victor und seine Missus lebten noch im Haus, zusammen mit den Dienstboten. Die Boß-Missus, die Charlotte hieß, war nicht mehr da, das gleiche galt für Teddy.

»Vermutlich haben sie ihn zur Schule geschickt«, sagte er zu seinem Hund. »Wie unsere Jungen.«

Als er lautlos über das Anwesen glitt, konnte er das Unglück förmlich riechen. Als wäre der Ort von Teufeln besessen. Die Männer arbeiteten nicht, hingen nur untätig herum. Sogar die Pferde, die weiße Männer verstehen wie Dingos die Aborigines, wirkten freudlos und reizbar. Sie wichen ängstlich zurück, als er sich ihnen näherte.

Er ging zum Fluß, wo er schweigende Zwiesprache mit den Vögeln hielt, die er so gut kannte. Er lauschte dem Geplapper der Kakadus, von denen Hunderte wie prächtige, weiße Blüten auf den hohen Ästen thronten.

Dann sah er die Brolgas kommen. Ein riesiger Schwarm, mehr als er je zuvor auf einmal gesehen hatte, und sein Herz war von Freude erfüllt, als sie über ihm kreisten und laut ihre Ankunft verkündeten, als wollten sie alle anderen Vögel warnen: »Platz da! Platz da!«

Hier endete ihre Rückreise aus den fernen Ländern. Sie hatten es nicht eilig, schwebten auf den warmen Luftströmungen herab, machten kehrt, stiegen wieder hoch in den Himmel und glitten auf der unsichtbaren Luftrutsche erneut herunter.

Moobuluk lachte, als er sah, wie die königlichen Vögel mit Eleganz endgültig zur Landung ansetzten. Kleinere Artgenossen flatterten davon; kühnere Kakadus blieben noch da, beäugten sie unsicher, krächzten gereizt und zogen sich dann paarweise ebenfalls zurück.

Ganze Schwärme von Brolgas stelzten auf ihren langen Beinen durchs Wasser und brachen in heisere Schreie aus, die bei weitem nicht so lieblich klangen wie ihr eindringlicher Gesang. Doch nun ging es um die Fortpflanzung, die jeden betraf. Die Geister hatten Moobuluk daran erinnert.

 

Harry und Spinner waren die ganze Nacht hindurch geritten und hatten unterwegs mehrfach die Pferde gewechselt. Harry war erschüttert, als er von Teddys Tod im Fluß erfuhr. Jack Ballard, der ihn in den Ställen empfing, warnte ihn, daß weiteres Unheil bevorstand.

»Victor droht, Rupe zu töten.«

»Wieso?«

»Weil er und seine Freundin Teddy mit zum Fluß genommen haben. Ohne es Louisa zu sagen.«

»Wo ist Rupe jetzt?«

»Drüben bei Jock.«

Nachdem Harry die ganze Geschichte gehört hatte, war er den Tränen nahe. »Was hatten sie so weit vom Haus entfernt zu suchen?«

»Sie wollten sich die Vogel ansehen.«

»Ach so«, seufzte Harry. Auch er hatte sich früher stets auf die Rückkehr der Vögel gefreut. »Sind dieses Jahr viele Brolgas gekommen?«

»Ein paar kamen vor einigen Monaten. Vermutlich war es ihnen dort, wo sie herkamen, zu trocken. Aber gestern ist ein großer Schwarm eingetroffen, Hunderte von Tieren.«

»Schön zu hören. Nun, ich gehe besser ins Haus und sehe, was ich tun kann.«

Wie erwartet, fand er Victor und Louisa niedergeschmettert vor. Sie wirkten nicht einmal erstaunt über sein Erscheinen.

»Haben sie ihn inzwischen gefunden?« fragte Victor. »Ich wäre unten geblieben, mußte aber nach Louisa sehen, sie dazu bringen, wenigstens eine Tasse Tee zu trinken. Haben sie auch das andere Ufer abgesucht?«

»Ja, Victor. Es tut mir leid. Es gibt noch keine Neuigkeiten.«

Sein Bruder sah mitgenommen und verhärmt aus, die Augen waren rotverweint. »Wenn es nur ein Unfall gewesen wäre, könnte ich damit leben, aber sie waren dabei. Sie haben meinen Jungen mitgenommen …«

»Dennoch war es ein Unfall«, warf Harry sanft ein.

»Sie sind weg, oder? Rupe und Cleo, meine ich.«

»Ja.«

»Ich will Rupe nie wieder hier sehen, verstehst du? Nie mehr. Das kannst du ihm von mir ausrichten. Und dieses Mädchen sollte sich hier auch nicht mehr blicken lassen, das rate ich ihr.«

Louisa lag in eine Decke gewickelt auf der Couch. Sie schien zu betäubt, um sich an der Unterhaltung zu beteiligen.

Harry setzte sich neben sie und deutete auf ein Tablett, das auf einem Tisch stand. »Die Sandwiches sehen gut aus. Darf ich eins haben?«

Sie antwortete nicht. Er aß ein Sandwich, nahm ein weiteres und brach ein Stück davon ab. »Das ist Hannahs berühmte Käse-Essiggurkenmischung. Es gibt nichts Besseres. Hier, probier mal.«

Louisa schüttelte den Kopf, doch er zeigte sich beharrlich und steckte ihr winzige Bissen in den Mund, als füttere er einen Vogel. Ihm fehlten die Worte, um sie oder seinen Bruder zu trösten.

 

Natürlich nahm Ada Rupe bei sich auf; die früheren Streitigkeiten waren vergessen. Angesichts dieser furchtbaren Tragödie benötigte er jede Hilfe, die sie ihm geben konnte. Dennoch mußte sie Jock die naheliegende Frage stellen.

»Was macht er eigentlich hier?«

Nachdem er ihr die Lage erklärt hatte, war sie entsetzt. »Die Armen. Ich nehme an, sie geben Rupe die Schuld.«

Jack nickte. »Das kannst du wohl laut sagen. Victor ist reif fürs Irrenhaus, und Louisa hat die Gouvernante aus dem Haus geworfen. Wir dachten uns, daß Rupe hier sicherer wäre, bis Victor sich etwas beruhigt hat. Sie müssen erst soweit sein, einzusehen, daß solche Dinge eben passieren. Schuldzuweisungen bringen ihnen den Jungen auch nicht zurück.«

»Was ist mit Charlotte? Ist sie benachrichtigt worden?«

»Ich denke schon. Zudem hat Jack Spinner losgeschickt, um Harry zu holen. Er kann die Wogen vielleicht ein bißchen glätten.«

Am nächsten Tag fühlte sich auch Ada unruhig; Rupe, der ziellos durchs Haus wanderte, hatte sie angesteckt.

»Es wird schon gutgehen«, sagte sie zu ihm. »Bei Kindern weiß man nie, sie überstehen die unglaublichsten Dinge. Es hat keinen Sinn, daß du dir die Schuld gibst.«

Seine Antwort kam überraschend. »Das tue ich auch nicht, Victor gibt mir Schuld. Ich bin ebenso erschüttert wie sie. Ich habe Teddy geliebt, hätte alles für den Jungen getan. Ich wollte ihn nicht mit zum Fluß nehmen und sagte, er könne nicht mitkommen. Cleo hat darauf bestanden. Ada, versteh doch, es war gar nicht mein Fehler.«

»Natürlich«, sagte sie, war aber verstört angesichts der Tatsache, daß der junge Mann versuchte, sein eigenes Gewissen zu beruhigen, indem er dem Mädchen die Schuld gab. Diese Haltung mißfiel ihr. Sie hatte Gerüchte gehört, wonach er der Gouvernante schon seit geraumer Zeit schöne Augen machte.

Was immer auch aus ihr werden mag, ohne ihn ist sie besser dran, dachte sie bei sich. Sie beneidete auch Charlotte nicht um den Familienzwist, der durch diese Tragödie nur noch größer geworden war.

Sie machte sich auf die Suche nach Jock. »Du solltest besser Reverend Whiley nach Springfield schicken. Diese Familie hat geistlichen Beistand dringend nötig.«

»Das will ich gern tun. Ein Reiter hat soeben ein Telegramm von Charlotte gebracht. Sie sitzt in Toowoomba fest und fragt nach Neuigkeiten von Teddy. Die Arme muß gerüchteweise etwas erfahren haben.«

Ada befragte Rupe. Er wußte weder, daß seine Mutter in Toowoomba eingetroffen war, noch, ob man sie über Teddys Schicksal informiert hatte. Auch zeigte er keinerlei Erleichterung über ihre Heimkehr. »Sie stiftet höchstens noch mehr Verwirrung«, lautete sein Kommentar.

»Deine Mutter macht sich Sorgen«, knurrte Ada. »Sie weiß offensichtlich, daß etwas nicht stimmt, sonst hätte sie mir nicht telegrafiert. Aber gib dir keine Mühe, ich kümmere mich schon darum.«

Ada besaß eine wunderschöne neue Kutsche, deren Federung es bestens mit den holprigen Straßen aufnehmen würde, und die sich nun endlich auch als nützlich erweisen konnte. Sie gab dem Reiter eine ausweichende Antwort mit auf den Weg, da sie es ebensowenig wie Jack oder Hannah über sich brachte, Charlotte die grausame Wahrheit in einem Telegramm mitzuteilen.

»Ich sollte es ihr besser persönlich beibringen«, erklärte sie Jock.

»Ihr Sohn ist hier. Schick ihn doch rüber.«

»Nie im Leben. Ich möchte lieber nicht wissen, was dieser Tölpel ihr zu sagen imstande wäre. Er soll hierbleiben. Und verrate ihm nicht, wo ich bin. Laß die Pferde einspannen. Charlie soll fahren, er kennt sich mit dem Wagen aus.«

Rupe sah vom Fenster aus, wie seine Gastgeberin nach draußen eilte und in die schicke Kutsche stieg, die er schon beim Rennen bemerkt hatte. Nur wenige Leute besaßen derart elegante Gefährte, selbst die Brodericks gaben sich mit gepolsterten Gigs mit wasserdichten Dächern zufrieden.

Sie mußte ein Vermögen gekostet haben, dachte er und grinste, als er den alten Stallburschen Charlie auf dem Kutschbock sah, der in seiner grünen Livree und der passenden Kappe eher wie ein höfischer Page als wie ein Bushie wirkte. »Hält sich wohl für eine verdammte Herzogin«, murmelte er. Dann ging er in den Salon und blätterte einige Farmermagazine durch. Doch die Realität holte ihn bald wieder ein. Besorgt fragte er sich, ob sie Teddys Leiche bereits gefunden hatten, und suchte die Bilder zu vertreiben, die sich ihm immer wieder aufdrängten – Bilder eines Kindes, das im wirbelnden Wasser umhergeschleudert wurde. Er durfte nicht daran denken, es war einfach zu furchtbar.

 

Für die Männer war es an der Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen. Freiwillige Helfer von anderen Farmen unterstützten sie bei der Suche. Sie hatten den Fluß mehrmals mit Schleppnetzen durchkämmt, und Harry wußte, daß weitere Versuche im Grunde sinnlos waren. Die Ufer waren mit durchweichtem Unrat übersät, den sie zutage gefördert hatten; die schlammbedeckten Gegenstände wirkten geisterhaft. Als der dicke Lehm an den herausgefischten Ästen trocknete, nahmen sie steife, surreale Formen an, die die an sich schon gespenstische Szenerie nur noch verstärkten.

Victor war so durcheinander, daß er kaum wußte, was er tat. Er eilte zum Fluß und schikanierte die Männer, rannte zurück zu Louisa, brüllte die Hausmädchen an, befahl ihnen unablässig, das Haus zu durchsuchen, bis Harry einschritt und ihn mit einigen Gläsern Brandy zu beruhigen suchte.

Louisa sprach nur im Flüsterton und zuckte zusammen, sobald jemand das Wort an sie richtete. Dann zog sie sich in ihr Nest unter der Decke im äußersten Winkel des Ledersofas zurück. Daher war Harry sehr überrascht, als sie ihn plötzlich ansprach.

»Du wirst ihn finden, nicht wahr? Das wirst du doch, oder?«

Er stimmte ihr zu, obgleich er nicht wußte, ob sie die Leiche oder das lebende Kind meinte. Warum war er nur hergekommen? Er konnte nichts tun, hatte sich nie zuvor so ohnmächtig gefühlt. Er versuchte, einen Brief an Connie zu schreiben, doch selbst dazu war er nicht in der Lage. Also machte er sich durch den Obstgarten und den ausgetretenen Pfad entlang auf den Weg zum Fluß, wo man Teddy zuletzt gesehen hatte. Früher am Tag hatte er das Grab seines Vaters besucht, still mit dem Hut in der Hand dagestanden und ihm das Versprechen gegeben, er werde in Zukunft öfter nach Springfield kommen. Victor hatte ihm etwas über Charlottes Einmischung berichten wollen, die den Besitz in den Untergang treiben würde, doch die Geschichte klang so verwickelt und absurd, daß Harry sie weder verstand noch sonderlich ernst nahm. Also ließ er seinen Bruder reden, während seine Gedanken abschweiften. Hannah hatte Charlotte telegrafiert, und er zweifelte nicht daran, daß seine Mutter bereits unterwegs war. Er erwartete, jeden Moment von ihr zu hören, da sie ein Transportmittel brauchen würde, um nach Springfield zu gelangen. Er fürchtete sich davor, ihr die schreckliche Nachricht beibringen zu müssen. Erst sehr viel später würde er mit ihr über die Probleme sprechen, die Victor anscheinend solches Kopfzerbrechen bereiteten.

Als Harry sich dem Fluß näherte, schoß ein Dingo aus den Büschen und versperrte ihm den Weg. Das Tier war verkrüppelt, aber von beträchtlicher Größe, so daß Harry vorsichtshalber zurückwich. Gewöhnlich reagierten Dingos nur auf diese Weise, wenn man sie beim Fressen störte. Dann ertönte ein scharfer Pfiff, und der Hund machte ihm zögernd Platz, wobei er mißtrauisch seine Fersen beschnüffelte.

Die Neugier trieb Harry weiter; er wollte gern erfahren, wem das Tier gehörte.

Als er den alten Aborigine vor sich sah, der mit überkreuzten Beinen am Ufer saß, war er gar nicht überrascht. Nur wenige weiße Männer besaßen Dingos.

»Hallo«, grüßte er ihn freundlich und setzte sich neben ihn.

»Was machst du hier, Boß?«

»Warten.«

Der Hund legte sich neben seinen Herrn.

»Wann kommt die Horde wieder zurück?« fragte Harry.

Das Haar des alten Mannes war ebenso weiß wie sein zerzauster Bart, das ledrige Gesicht voller Falten. Er schenkte ihm ein zahnloses Grinsen. »Du bist Harry, Boß Brodericks Junge.«

Erst jetzt erkannte er ihn. »Guter Gott, Moobuluk, du alter Halunke! Ich dachte, du wärst schon seit Jahren bei den Sternen.«

Moobuluk nickte erfreut. Harry war der einzige Broderick-Sohn, den er persönlich kannte. Von klein an hat er sich ständig bei den Schwarzen herumgetrieben, hatte sogar ihre Sprache erlernt, Wissen über die Erde aufgeschnappt, aber nie die Ehrfurcht bezeugt, die die Stammesleute dem Zauberer entgegenbrachten. Eines Tages hatte er sogar erklärt:

»Mein Dad meint, du bist ein Medizinmann.«

Nun glitzerten Moobuluks alte Augen belustigt, als er Harry endlich die Frage stellte, die ihm so lange auf der Zunge gelegen und die er damals aus Stolz nicht gestellt hatte:

»Was ist eigentlich ein Medizinmann?«

Harry sah ihn verwirrt an. Dann fiel ihm die alte Geschichte wieder ein, und er sagte lachend: »Was für ein gutes Gedächtnis du hast! Der Boß hat das über dich gesagt. Ein Medizinmann ist ein Zauberer, ein kluger Mann. Sehr klug. Er heilt die Menschen.«

»Aha.« Die Antwort schien ihn zu erfreuen, doch plötzlich wurde er ernst. »Noch eine Frage. Wo sind unsere Babys?«

»Welche Babys?«

Moobuluk streckte die knotigen Hände aus und zählte langsam an seinen Fingern ab: »Bobbo. Doombie. Jagga. Wo sind sie?«

Harry sah ihn verständnislos an. »Das weiß ich nicht. Sind sie vielleicht mit jemandem auf Wanderschaft gegangen?«

»Nein.« Moobuluk fiel es schwer, dem weißen Mann einzugestehen, daß er ihr Schicksal selbst nicht genau kannte, daß er seine Pflichten gegenüber seiner Familie vernachlässigt hatte. Mit gesenktem Kopf erklärte er Harry die Lage, der offensichtlich keine Ahnung davon hatte, daß der Betmann die Kinder mitgenommen hatte. Das war bezeichnend für die gesamte Situation. Niemand interessierte sich für die kleinen schwarzen Jungen; sie hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, Harry davon zu berichten, der gemeinsam mit ihren Eltern aufgewachsen war.

Mit geduldigem Fragen gelang es Harry, die Geschichte aus ihm herauszuholen. Er half Moobuluk mit englischen Wörtern aus und kramte seine eigenen, fast vergessenen Kenntnisse des Clandialektes hervor. Ihm war durchaus bekannt, daß verschiedene staatliche und religiöse Gruppen Programme durchführten, bei denen schwarze Kinder aus ihren Stammesverbänden herausgerissen und in die weiße Gesellschaft eingegliedert wurden, doch bisher hatten ihn diese Dinge nicht sonderlich interessiert. Er hatte es einfach für richtig gehalten und wurde sich erst jetzt der Leiden bewußt, die diese Vorgehensweise für die Eltern mit sich brachte.

»Es tut mir leid, schrecklich leid.«

Doch Moobuluk war noch nicht fertig. »Leider noch nicht alles. Bobbos Mummy so traurig, hat sich in See gestürzt und ist ertrunken.«

»Minnie?« rief Harry entsetzt aus. Erst dann erinnerte er sich daran, daß die Namen von Toten nicht erwähnt werden durften, und senkte beschämt den Kopf.

»Es tut mir leid«, flüsterte er noch einmal. Moobuluk akzeptierte seine Entschuldigung.

Dann fuhr er fort. »Gabbidgee ist gebrochener Mann, ganz traurig, und Nioka fortgelaufen, wie wahnsinnig. Was haben sie mit Jungen gemacht, Harry? Kommen nie wieder?«

Harry sträubten sich die Haare. Er wußte von der Vergeltung der Aborigines; die Geschichten darüber hatten ihn immer fasziniert. Nachdem Moobuluk ihm sein Herz ausgeschüttet hatte, würde er ihn fragen, ob er etwas über Teddys Verschwinden wußte, das Verschwinden des Jungen, den die Aborigines wie ihre eigenen Kinder liebten.

Bei diesem Gedanken lief ihm ein Schauer über den Rücken, und auch Moobuluks kalter, steter Blick wirkte alles andere als tröstlich. Drei schwarze Kinder in Teddys Alter hatte man aus Springfield entführt, und nun war ihr weißer Spielkamerad ertrunken. Jesus, konnte es sich dabei um ihre Vergeltung handeln? Mit heiserer Stimme wiederholte er seine Frage, die der Alte unbeantwortet gelassen hatte:

»Wo ist der Rest der Horde? Ist einer von ihnen mit dir zurückgekommen?«

Moobuluk sah ihn erstaunt an. »Können nicht zurückkommen. Ich sie weggebracht, damit weißer Mann nicht andere Kinder auch stiehlt. Verstehst du, Harry? Sie mußten gehen.«

»Du lieber Himmel, warum hat mein Vater nichts dagegen unternommen? Oder Victor? Oder meine Mutter? Was haben sie sich nur dabei gedacht?«

»Interessiert keinen. Sind doch nur schwarze Kinder!« stieß der alte Mann hervor.

Harry sprach weiter mit ihm über die Jungen, versprach, nach ihnen zu suchen und sie wenn irgend möglich zurückzubringen. Er war erleichtert zu sehen, daß er Moobuluks Vertrauen allmählich zurückgewann, achtete aber dennoch aufmerksam auf versteckte Hinweise, die möglicherweise auf eine Vergeltung hindeuteten. Harry wußte durchaus, daß Moobuluk in diesem Fall ein ebenso schlauer wie gefährlicher Gegner war, den man im Auge behalten mußte.

Allmählich wurde es spät. »Hast du Hunger?« fragte er den alten Mann. »Ich kann dir etwas zu essen holen, für den Hund auch.«

Moobuluk kramte in einem schmutzigen Beutel und holte gequetschte Beeren heraus, von denen er Harry einige überreichte. Dieser aß sie höflich und unterdrückte ein Würgen.

»Gutes Essen«, bemerkte der Alte freundlich.

Dann deutete er zum Fluß hinunter. »Warum fischt ihr ganze Zeit im Wasser?«

Harry rückte näher, ohne das ängstliche Knurren des Dingos zu beachten. »Sie suchen nach Teddy. Er ist in den Fluß gefallen. Er ist ertrunken. Moobuluk, du bist ein weiser Mann«, fügte er eindringlich hinzu. »Kannst du mir etwas darüber sagen?«

Der Alte blinzelte und sah Harry fragend an. »Teddy? Sohn von deinem Bruder? Ist ertrunken?«

»Ja. Sie suchen schon seit Tagen nach seiner Leiche. Mein Bruder, seine Frau, alle … sind am Boden zerstört.«

Moobuluk machte ein Zeichen, er solle ihm aufhelfen. Erst jetzt wurde Harry klar, wie alt dieser Bursche sein mußte. Seine Beine trugen ihn kaum noch, und als er ein paar wacklige Schritte nach vorn machte, mußte er sich auf seinen Stock stützen. Er blickte den Fluß auf und ab, die Nasenlöcher geweitet, als nehme er eine Witterung auf; seine linke Hand bewegte sich nach vorn, als taste er die Luft nach Informationen ab. Er blieb lange Zeit so stehen und drehte sich dann zu Harry um.

»Kein Tod hier. Kein Tod. Wer hat dir erzählt?«

»Es ist wahr. Er ist tot. Ertrunken. Er hat hier gespielt und ist in den Fluß gefallen.«

»Du ganz unrecht. Nichts hier redet von Tod. Nichts.«

»Wo ist er dann? Wir können ihn nicht finden.«

In diesem Augenblick spürte Moobuluk, daß Nioka heimgekehrt war und sich irgendwo in der Nähe aufhielt. Er schaute über den Fluß ins dunkle Unterholz. Oh ja, ihre Gegenwart war so deutlich wie der Duft der Nachtblumen. Und wenn der Junge weder im Fluß noch bei den Weißen war … Er sah zum karminroten Himmel hinauf und entdeckte dort ihre dunklen, machtvollen Augen. Er sah auch eine Frau, die beschützt werden mußte. Sie mußte die Familie weiterführen, um sich sammeln, ihr den Weg durch diese seltsame Zeit weisen. Sie war mit ihm verwandt, war klug, wußte, was zu tun war. Nioka durfte kein Unheil zustoßen.

Doch wenn sie dieses Kind gefunden und nicht zurückgegeben hatte, würden die weißen Männer keine Gnade walten lassen. Moobuluk erschauderte. Konnte er als Verräter an seiner Familie in die Traumzeit gehen?

Die Antwort darauf war ebenso beunruhigend wie die Frage selbst. »Was soll das?« quälten ihn innere Stimmen. »Die weißen Männer haben eure Kinder genommen. Drei Kinder. Was macht es, wenn sie eines verlieren? Das ist nicht deine Sache. Wenn du gehst, nimmt Nioka deinen Platz ein. Sie muß lange leben, du darfst dich nicht einmischen.«

Harry flehte ihn an, wollte wissen, ob jemand den Jungen gesehen hatte. Fragte, wann Moobuluk nach Springfield zurückgekehrt sei. Diese Frage drang dem alten Mann wie ein Dorn ins Fleisch, denn die Anspielung tat weh. Er wandte sich ab.

»Geh jetzt. Wir reden morgen.«

»Was ist mit Teddy?«

»Ich muß denken. Wir reden morgen.« Er hockte sich nieder, schloß die Augen und schottete sich gänzlich von der Außenwelt ab.

Verwirrt machte sich Harry auf den Rückweg zum Haus. Der alte Mann mußte senil sein, er war sicher hundert Jahre alt.

Andererseits wußten diese alten Burschen viele Dinge, die Harry nicht genau benennen konnte. Wenn Moobuluks Instinkt ihn nun nicht trog, wenn sich tatsächlich kein Todesfall in dieser Gegend ereignet hatte?

»Unmöglich!« murmelte er. Dann fiel ihm ein, daß er ihm Essen angeboten und sein Angebot danach vergessen hatte. Er seufzte. Die Gelegenheit, Näheres zu erfahren, hatte er vertan, indem er Moobuluks Stolz verletzt hatte, als er ihn mißtrauisch nach seiner Rückkehr in die alte Heimat fragte. Es war offensichtlich, daß er eine mögliche Verbindung zu Teddys Verschwinden aufdecken wollte. Dabei hatte Moobuluk ihm unmittelbar zuvor erklärt, daß er dort keinen Tod spüre. Die Suchaktion hatte ihn ganz offensichtlich in Erstaunen versetzt, und er hatte keineswegs schuldbewußt dabei gewirkt.

»Verdammt!« Harry beschloß, diese Begegnung niemandem gegenüber zu erwähnen, um Teddys Eltern nicht noch mehr zu beunruhigen. Victor wußte, wo sich Moobuluk aufhielt; er würde mit dem Taktgefühl eines Elefanten dort einfallen.

Nein, er selbst mußte Moobuluk wieder aufsuchen, zum Zeichen seiner Friedfertigkeit Essen mitbringen, am besten etwas Weiches, dem die zahnlosen Kiefer des alten Mannes gewachsen waren.

Er befragte Hannah nach den verschwundenen Kindern. »Stimmt es, daß Bobbo, Jagga und Doombie in die Schule gebracht worden sind?«

»Ja. Ein Prediger und seine Frau haben sie mitgenommen. Sie haben eine Weile hier gewohnt. Wir waren froh, sie loszuwerden, weil sie die ganze Zeit nur die Bibel im Mund führten.«

»Was hat Minnie dazu gesagt?«

»Oh, sie hat sich furchtbar aufgeregt, die anderen Schwarzen auch. Standen brüllend vor der Küchentür. Ihre Mum mußte Victor holen, damit er sie beruhigte. Ihnen erklärte, daß es zum Besten der Kinder sei. Dieser verdammte Prediger hat die Sache noch schlimmer gemacht, indem er sich mit den Kindern fortschlich. Hat sie einfach aus dem Lager geholt und so getan, als nehme er sie auf einen kleinen Ausflug mit dem Wagen mit. Sie konnten sich nicht einmal verabschieden.«

Hannah schob einige Töpfe auf dem Herd zurecht. »Andererseits glaube ich nicht, daß es etwas genützt hätte. Sie hätten nur noch mehr geschrien und geweint. Jetzt fällt mir ein, kurz darauf haben sich alle davongemacht. Die ganze Horde. Wir dachten, sie wären bloß auf Wanderschaft gegangen. Ihr Vater hat sich mächtig aufgeregt, das können Sie mir glauben.«

»Aber er hat den Prediger mit den Kindern ziehen lassen.«

Die Köchin dachte nach, die Hände auf die breiten Hüften gestützt. »Ich meine, er wär krank gewesen, als sie aufbrachen. Ja, es war kurz nach seinem Schlaganfall. Aber er hat seine Erlaubnis gegeben, schon vorher. Und Ihre Mutter war auch damit einverstanden. Sie sprachen schon ein paar Tage davon, bevor sie aufgebrochen sind.«

Harry sah aus dem Fenster. »Das muß ein ungeheurer Schock für die Kinder gewesen sein. Sie hatten die Farm nie zuvor verlassen. Und die armen Eltern erst.«

»Ach, Sie denken jetzt sicher an den kleinen Teddy. Und Victor und Louisa. Aber das ist etwas anderes. Er ist tot, während die schwarzen Kinder die Chance bekommen haben, etwas aus sich zu machen. Sie dürfen nicht so darüber denken. Es war zu ihrem Besten. Guter Gott, Harry, Sie sind doch selbst im Internat gewesen, und es hat Ihnen nicht geschadet.«

»Aber bei uns gab es Ferien. Wir wußten, daß wir dann nach Hause fahren konnten. Diese Kinder sind für immer verschwunden. Ich habe auch einmal gedacht, die Umsiedlung schwarzer Kinder mache Sinn, aber allmählich kommen mir da Zweifel. Ich fühle mich wirklich unwohl dabei, Hannah, ganz ehrlich. Ihre Eltern müssen beinahe wahnsinnig geworden sein vor Schmerz. Ihre Kinder sind von Fremden entführt worden, sie wußten nicht wohin, konnten keinen Kontakt zu ihnen aufnehmen …«

Hannah schüttelte den Kopf. »Kommen Sie, Harry, Sie dürfen sich nicht so aufregen. Es ist noch nicht allzu lange her, daß es Ihnen gesundheitlich sehr schlecht ging.«

»Und wenn so etwas nun mit Teddy geschehen wäre? Was würden wir dabei empfinden? Seine Eltern würden vor Kummer verrückt.«

Hannah sah ihn an und sagte energisch: »Wie ich schon sagte, das ist etwas völlig anderes! Sie wissen gar nicht, was Sie reden, so niedergeschlagen sind Sie. Das Essen ist fertig. Ich stelle es auf Tabletts in den Salon, damit Victor bei Louisa bleiben kann. Sie rührt sich nicht von der Stelle. Gehen Sie zu ihnen, sie brauchen jetzt jemanden, mit dem sie reden können.«

 

Moobuluk besuchte Spinner im Traum. Er sah angsteinflößend aus, groß, kraftvoll, mit feierlicher Körperbemalung in weiß und ocker. Seine Stimme hingegen klang sanft. »Hast du Leute von uns hier gesehen?«

»Nein. Aber es heißt, jemand sei hier. Es gibt dafür Anzeichen im Busch.«

»Hast du es den Weißen erzählt?«

»Nein, ich habe ihnen nichts erzählt. Sie haben die Kinder nicht zurückgebracht. Ich muß auch weg von hier. Ich möchte eine Frau heiraten, aber sie will nicht hierher ziehen. Darf ich gehen?«

»Noch nicht, ich brauche dich hier. Wir müssen warten.«

»Worauf?«

Doch in diesem Moment erwachte er vom Schnarchen der anderen Männer ringsum; vergeblich versuchte er, sich die Unterhaltung ins Gedächtnis zurückzurufen. Hoffentlich bedeutete Moobuluks Ankunft kein Unheil.

 

Nioka hatte sie von der anderen Seite des Flusses aus bemerkt. Rupe und seine Freundin standen auf dem Hügel und schauten auf das große Korrobori der Vögel hinab. Dann hatte Rupe Teddy hochgehoben, damit er besser sehen konnte, und auf die Tiere gezeigt. Niokas Herz tat weh. Würde ihr Jagga jemals wieder die schönen Vögel sehen können? Eifersüchtig betrachtete sie den blonden Jungen, der so viel Spaß hatte. Er war gewachsen; Jagga würde wohl inzwischen ebenso groß sein wie er. Teddy besaß noch Babyspeck, Jagga war drahtiger gewesen. Sie hoffte, daß die schlechten Menschen ihm genug zu essen gaben. Jungen brauchten anständige Nahrung, viel frisches Fleisch, Fisch und alles, was der Busch hergab. Hier fand man so viele Nüsse und Beeren, daß sich ein Kind praktisch allein ernähren konnte.

Ihre scharfen Augen bemerkten, wie Rupe und das Mädchen einander näherkamen, doch Teddy war nicht mehr zu sehen. Die beiden schmusten, streichelten und küßten einander, und Nioka dachte traurig an den Geliebten, den sie am See zurückgelassen hatte. Sie wünschte, er wäre bei ihr. Sie brauchte auch Liebe. Die Zeit hatte ihre Entschlossenheit ins Wanken gebracht. War es dumm, hier auf die Rückkehr der Jungen zu warten? Vielleicht würden sie niemals kommen. Nun bedauerte sie, daß sie ihre weißen Freunde in Brisbane nicht gebeten hatte, ihr bei der Suche zu helfen. Sie war so auf ihre Heimkehr fixiert gewesen, glaubte so fest daran, von hier aus ihre Spur aufnehmen zu können. Als ob Gabbidgee dies nicht selbst auch schon versucht hätte.

Die Liebenden umschlangen einander und sanken ins Gras, wobei sie ein Gebüsch vor Niokas Blicken verbarg. Sie war nicht weiter erstaunt; wenn es um die Liebe ging, unterschieden sich die Weißen nicht von ihren eigenen Leuten. Zudem war Rupe für seine Forschheit Frauen gegenüber bekannt. Sie kicherte. Ob das weiße Mädchen wohl ahnte, daß Rupe darauf aus war, ihre geheimsten Körperstellen zu erkunden?

Als sie Teddys rotes Hemd sah, das durch die Büsche schimmerte, wurde ihr Blick abgelenkt. Sie blinzelte, sah ihn eine Weile nicht, bis er schließlich auf der Lichtung am Fluß auftauchte und mit seinem Stock herumstocherte.

Warum behielten sie ihn nicht im Auge?

Ganz einfach, sie waren zu sehr miteinander beschäftigt. Niokas Blicke wanderten zwischen den Büschen, hinter denen Rupe und Cleo lagen, und dem Jungen, der viel zu nah am Ufer spielte, hin und her. Plötzlich rutschte er ab, suchte verzweifelt Halt, rutschte weiter.

Von Panik getrieben, rannte Nioka ins Wasser. Man nannte es den stillen Tod, wenn Kinder ertranken. Sie gingen so schnell unter, daß sie nicht mehr um Hilfe rufen konnten. Sie tauchte eine weite Strecke, kam hoch, sah das um sich schlagende Kind, das von der Strömung in ihre Richtung getragen wurde. Sie schwamm mit kraftvollen Zügen, die Augen auf den roten Farbfleck geheftet, der auf sie zutrieb. Sie sah ihn verschwinden, tauchte, kämpfte gegen Hindernisse im Wasser an und kam unmittelbar neben ihm wieder an die Oberfläche.

Teddys Körper war schlaff und viel schwerer als erwartet. Sie zog ihn an sich und sah sich um, während sie stromabwärts gerissen wurden. Ihr eigenes Ufer lag näher; es war zu gefährlich, sich durch die tosenden Wirbel zur anderen Seite kämpfen zu wollen. Also hielt sie Teddys Kopf über Wasser und trat mit den Füßen, bis sie in die Nähe des Ufers gelangte, wo ein Haufen Felsbrocken Rettung verhieß. Sie streckte den Arm danach aus, bis sie nach mehreren vergeblichen Versuchen endlich Halt fand.

Dann schob sie Teddy an Land, kletterte hinter ihm her über die glitschigen Steine, streckte ihn flach auf dem Boden aus und betrachtete angstvoll sein grünliches Gesicht. Hämmerte mit den Fäusten auf seine Brust. Reinigte seinen Mund. Weinte. Blies Luft in seine Lungen, wobei sie ihn durch den Tränenschleier nur undeutlich wahrnahm. Er würgte, spuckte und erbrach Wasser und Galle. Nioka blies mehr Luft in seinen Mund. Er lebte noch, mußte aber ums Überleben kämpfen. Sie hob ihn auf und rannte zu ihrem Lager, von dem aus sie immer fischen ging. Dort wickelte sie ihn in Decken, die sie aus den Ställen von Springfield gestohlen hatte. Da sie wußte, daß er unter Schock stand, drückte sie ihn eng an sich, schenkte ihm Wärme, lauschte auf seinen Herzschlag, tätschelte den zerbrechlichen Rücken, streichelte ihn und sang ihm etwas vor.

Nioka hielt ihn die ganze Nacht so, während ihr eigener unbedeckter Rücken kalt wurde. Sein Atem klang rauh und war unregelmäßig, daher blies sie regelmäßig Luft in seine Lungen. Sie wußte nicht, was sie sonst noch tun sollte, um ihn am Leben zu erhalten.

In der tintenschwarzen Nacht tröstete sie ihn mit ihrer Stimme, wobei ihr eigener Körper vor Kälte schmerzte und steif wurde; doch sie wagte nicht, ihn zu stören, indem sie ihre Position veränderte. Sie sehnte sich nach dem Morgen, wenn die kostbaren Sonnenstrahlen endlich auch ihr Wärme spenden würden.

Schließlich weckten ihn die Kookaburras, die der Welt lauthals das Herannahen der Morgendämmerung verkündeten, und sie preßte sein kaltes Gesicht an ihren Körper.

»Mir ist schlecht«, sagte er und wollte sich wieder übergeben, brachte aber nur ein trockenes Würgen zustande. Nioka lachte und weinte vor Erleichterung, bedeckte ihn mit Küssen, rief ihn beim Namen, sagte, er sei ein guter Junge.

Teddy war erschöpft und brauchte dringend Schlaf. Nioka trug ihn tiefer in den Busch und legte ihn, noch immer in die Pferdedecken eingehüllt, in ihre Rindenhütte. Dann wartete sie. Sobald er sich bewegte, flößte sie ihm tropfenweise Honigwasser ein und freute sich, als seine Zunge über die aufgesprungenen Lippen fuhr und den Honig ableckte.

Irgendwann stellte sich der Lohn ihrer Bemühungen ein. Der Junge sah sie schläfrig an, erkannte sie und fuhr hoch. »Wo ist Jagga?«

Nioka war überglücklich. Er hatte sie erkannt und sich darüber hinaus an ihren Jungen erinnert. Sie verdrängte ihre Trauer und erklärte, er sei in der Schule. Sie war erstaunt, wie leicht ihr diese Lüge über die Lippen ging; der Junge durfte sich in seinem Zustand um keinen Preis aufregen.

Als er später wieder erwachte, sagte er mit einer Mischung aus ängstlicher Überraschung und Stolz: »Ich bin in den Fluß gefallen.«

»Ja. Hast zu nah gespielt, aber jetzt alles gut.«

»Was ist das in dem Beutel? Es bewegt sich. Ist da eine Schlange drin?«

»Nein, kleines Känguruh.« Das Tierchen spähte aus der Öffnung des Beutels.

Teddy war fasziniert. »Oh, darf ich es auf den Arm nehmen?«

»Ja, ist stark jetzt, aber noch Baby. Wie du«, grinste sie.

»Ich bin kein Baby!«

Doch für sie war er genau das, ein Baby wie ihr Jagga. Wie schön wäre es gewesen, jetzt mit ihrem Sohn hier zu sitzen. Ihr Herz war übervoll mit Freude und Schmerz, und sie genoß das Zusammensein mit Teddy, die Ernsthaftigkeit, mit der Kinder seines Alters sich zu unterhalten pflegten. Alles das hatte man ihr genommen, als man ihr Jagga nahm.

»Hast du mich aus dem Fluß gezogen, Nioka?«

»Ja.«

»Dachte ich mir. Da hab’ ich aber Glück gehabt. Hast du was zu essen? Ich bin hungrig.«

Nioka hätte ihm gern ein paar Hummer oder Aale aus dem Fluß geholt, die gekocht sehr gut schmeckten, doch sie wagte nicht, ihn allein zu lassen. Also schob sie ihm einen Korb mit grünen Grassamen, wilden Beeren und geschälten Nüssen hin. Zufrieden bediente er sich und kaute eifrig, während er mit dem Känguruh schmuste.

»Wenn besser geht, wir suchen Jamswurzeln und vielleicht ein paar Maden.«

»Mir geht es schon besser. Mir war nur schlecht.«

Da er darauf bestand, zogen sie los und wanderten geruhsam durch den Busch, bis sie einen entlegenen Wasserlauf erreichten. Nioka wußte, daß er genügend Süßwasser führte und sie dort anständige Nahrung finden würden.

Teddy plapperte ununterbrochen, genoß ihre Gesellschaft und die abenteuerliche Suche nach Aborigine-Essen. Er erkundigte sich nach dem Rest der Horde und wollte wissen, wann sie zurückkämen. Nioka antwortete wahrheitsgemäß und wich nur der Frage nach dem Warum aus. Sie erzählte ihm von dem herrlichen See, an dem ihre Leute nun zusammen mit anderen Familien lebten, die Kanus bauten, mit denen man schnell wie der Wind übers Wasser fahren konnte.

»Gehst du mit mir dorthin?«

»Nein, zu weit weg.«

»Wir könnten reiten, dann wären wir schneller.«

Sie lachte. »Haben keine Pferde.«

Auch Nioka hatte Fragen. Kinder waren aufrichtig. Sie mochten zwar Dinge durcheinanderwerfen, trafen aber oftmals den Nagel auf den Kopf. Sie zündete das Feuer an, während Teddy ihr erzählte, daß er jetzt Unterricht bekam. Das Mädchen, das sie in Rupes Begleitung gesehen hatte, war seine Lehrerin.

»Warum nicht auch unseren Jungen Unterricht geben? Warum sie weggehen zum Lernen?«

»Schwarze Kinder haben nun mal keine Gouvernanten.«

»Was ist Gouvernante?«

Er seufzte, als müsse sie diese Dinge eigentlich wissen. »Eine Lehrerin. Sie gibt mir Unterricht, bis ich in eine richtige Schule komme.«

»Schule, wo unsere Jungen sind?«

Teddy dachte nach. »Nein, wohl nicht. Im Gymnasium gibt es keine schwarzen Kinder.«

»Was ist Gymnasium?«

»Weiß nicht, wohl so eine Art Schule. Vielleicht lernt man dort auch Gymnastik, Turnen und so. Kann ich jetzt was zu essen bekommen?«

Er genoß die fetten, kleinen Maden, die nußartig schmeckten. Nioka pickte die gerösteten Jamswurzeln aus der Kohle, löste das gekochte Fleisch der Schalentiere aus und gab es Teddy, nachdem es abgekühlt war. Sie aß den Aal, den der Junge nicht mochte, mit dem knusprigen Buschbrot, von dem sie die Asche abklopfte.

»Was deine Mutter sagen über unsere Jungen? Wann kommen heim?«

»Sie kommen nicht mehr heim«, sagte er voller Gewißheit.

»Sie müssen wie Weiße aufwachsen.«

»Wieso?«

»Es ist am besten für sie. Das sagen alle.«

»Wie Spinner?«

»Nein, der ist doch ein Schwarzer.« Teddy kratzte sich am Kopf. Anscheinend verstand er diese Vorgänge auch nicht so genau. Doch Nioka hatte genug gehört. Sie kamen also nicht zurück. Minnie hatte recht gehabt, sie hatte ihren Sohn verloren.

Teddy begann sich wegen seiner Mutter zu sorgen. »Ob Mum wohl wütend ist, weil ich in den Fluß gefallen bin?«

»Nein. Hauptsache, du jetzt in Sicherheit.«

»Gut. Du hast das Brot verbrennen lassen.«

Sie brach ein Stück für ihn ab. »Besser so. Mehr Geschmack.«

Sie war noch immer von Freude erfüllt, der Freude, wieder einen Menschen zu lieben. Sie vergötterte das Kind, gab ihm zu essen, hörte ihm zu, verwöhnte es, diente ihm. Fühlte sich als seine Mutter. Zwar tauchten immer wieder quälende Gedanken auf, die ihr das Herz schwermachen wollten, wenn sie das Kind mit dem dichten, hellen Haar, der hellen, rosigen Haut und den himmelblauen Augen betrachtete, doch sie verdrängte sie, um die Idylle nicht zu zerstören.

Nioka kannte den Grund für diese Gedanken: Das Kind gehörte ihr nicht. Ein ganzer Tag war bereits vergangen, doch für sie zählte nur das Hier und Jetzt. Sie hatte wieder einen Sohn, der sie bezauberte.

Teddy fragte: »Wie kommen wir über den Fluß?«

»Wir müssen zur Brücke gehen. Langer Weg. Solltest besser schlafen.«

»Mein Vater hat ein Boot, aber er wird uns von drüben wohl nicht hören.«

»Nein. Ich mache Schlafhütte. Willst du helfen?«

»Ja, das kann ich gut. Bobbo hat es mir beigebracht.«

Gut war leicht übertrieben gewesen, aber sie ermutigte ihn lächelnd, während sie gemeinsam die Schutzhütte aus Reisig errichteten. Teddy ging daran, sich eine eigene winzige Hütte zu bauen, die er Spielhaus nannte und die kein Dach besaß.

»Du schlafen dort oder in meiner?« fragte Nioka, als sie fertig waren. Die Vögel am Abendhimmel suchten allmählich ihre Schlafplätze auf.

Er verzog fragend das Gesicht. »Sind in deiner Schlangen?«

»Keine Sorge.«

»Dann schlafe ich doch lieber bei dir.«

In dieser Nacht, als das Kind friedlich mit dem jungen Känguruh im Arm schlummerte, kehrten Niokas Dämonen mit ungekannter Heftigkeit zurück.

»Das Kind gehört dir. Du hast ihm das Leben geschenkt. Du hast es aus dem Fluß gerettet. Es gehört dir. Sie wollen es nicht. Haben es beinahe ertrinken lassen. Es gehört dir.«

Auch Minnies Teufel mischten sich mit fordernder Stimme in den Chor. »Du hast ihn jetzt. Ein Leben für ein Leben. Das Wasser hat deine Schwester genommen und dir dafür einen Sohn geschenkt. Nimm ihn mit, solange es noch geht. Bring ihn zum See. Zu deinen Leuten. Das Schicksal meint es gut mit dir. Die Wassergeister haben sich angesichts deines Schmerzes großherzig gezeigt. Sieh nur, wie sehr sie dich lieben.«

Im Traum sah Nioka diese glückliche Welt wie durch einen Nebel, der den dämmrigen Wald verschleierte. Sie bewegte sich mit ihrem vielgeliebten Sohn auf die Menschen zu und wurde mit Rufen des Willkommens und Erstaunens empfangen. Alle freuten sich, daß sie mit ihm heimgekehrt war. Jaggas wunderbare Rückkehr stürzte das ganze Lager in einen Freudentaumel. Wie stolz sie war – nicht nur auf ihren Sohn, sondern weil sie nun losziehen würde, um auch Bobbo und Doombie heimzuholen, sie mit ihren Familien zu vereinen und den neuen Freunden vorzustellen. Es war so aufregend, daß Nioka sich selbstzufrieden aufblähte, doch plötzlich schoß sie aus dem Schlaf hoch.

Dies war nicht Jagga, sondern Teddy, ein weißer Junge. Enttäuscht über den Traum, versuchte sie die Geschichte zu deuten. Es war schwer, sich von dem Gefühl außergewöhnlicher Zufriedenheit zu lösen, die die Traumwelt bot, doch eine Konfrontation mit der Realität war unvermeidlich. Es war unmöglich. Für ein einsames schwarzes Mädchen interessierte sich keiner, doch eine Aborigine-Frau in Begleitung eines weißen und überaus gesprächigen Kindes würde sofort auffallen. Alle würden sie anstarren und Fragen stellen. Der Busch gewährte ihnen auch nicht genügend Schutz. Die gefürchtete Polizei, die in zunehmendem Maße Eingang in die Legenden der Aborigines fand, würde sie sicher aufgreifen.

Der nächste Tag verlief ruhig und faul, da Teddy von seinen Abenteuern erschöpft war. Nachts kuschelte sich Nioka an den Jungen und zog die Decke über ihn. Sie schliefen auf einer Schilfmatte, die ihre Körperwärme speicherte und zurückgab, während das Gestrüpp der Hütte ihnen von oben Schutz bot. Durch die Ritzen schimmerte ein silberner Mond. Das kleine Känguruh verspürte Lust auf einen nächtlichen Ausflug. Sie hielt ihm Gummibaumblätter hin, an denen es eine Weile kaute und wieder einschlief. Auch Nioka nickte ein.

Im Schlaf kehrten die Dämonen mit voller Macht zurück, boshaft und selbstgerecht. Sie behaupteten, ihre Schwester sei bei ihnen.

»Das Kind gehört dir. Du hast es aus dem Wasser geholt. Wir haben es dir gegeben. Ein Leben für ein Leben. Deine Schwester ist hier, ganz verzweifelt. Weshalb läßt du sie im Stich? Wie kann sie in das andere Leben hinübergelangen, wenn du so schwach bist? Sie sagt, ein Leben für ein Leben. Selbst das ist nicht genug. Unser Clan hat drei Kinder und deine Schwester verloren. Die Zeit der Vergeltung ist gekommen.«

»Nein«, schrie Nioka.

Dann sah sie Boß Broderick und Victor und seine Frau und alle anderen Weißen, die über die Wiese am Haus schlenderten, während Teddy sich mit einem Spielzeugwagen amüsierte …

»Sieh sie dir an«, höhnten die Stimmen, »sie haben dein Kind genommen, unsere Kinder, und sie irgendwo achtlos weggeworfen. Wir werden sie nie wiedersehen. Schau dir die Weißen an. Ihnen ist alles egal. Sie sind von Natur aus grausam. Sie verachten uns. Unsere Kinder sterben irgendwo und finden niemals den Weg in die Traumzeit. Die Weißen müssen bestraft werden. Wer wüßte das besser als du?«

Nioka nickte. Sie war schwach, das wußte sie. Einst wurde sie von Haß verzehrt und hatte das gleiche starke Bedürfnis nach Vergeltung verspürt, doch irgendwie hatte es sich aufgelöst, war auf ihrer Wanderung verlorengegangen.

Der Busch um sie herum knisterte heftig wie bei einem Feuer, und es lag eine seltsame Spannung in der Luft, als Nioka die Fesseln der Sterblichkeit abzustreifen schien. Es war eine rauschhafte Erfahrung; sie erhielt die Macht über Leben und Tod.

Die Wesen umgaben sie von allen Seiten. »Ist es nicht Zeit für die Vergeltung?«

Sie nickte und akzeptierte die unausweichliche Konsequenz des Zorns, von dem sie durchdrungen waren. Die Vergeltung mußte vollzogen werden, sonst würden die Emu-Leute wie schon so viele kraftlose Clans vor ihnen zu Staub zerfallen.

»Du hast ihn aus dem Fluß geholt, du bringst ihn wieder hinein«, befahlen die Stimmen. »Nur wir werden wissen, daß das Gesetz erfüllt wurde. Deshalb haben wir ihn dir gegeben. Verstehst du das nicht, sind dir unsere Gesetze fremd? Du hast das Privileg erhalten, deine Schwester zu rächen. Sie steht hier und wartet. Bring ihn zurück in den Fluß.«

»Nein!« schrie Nioka lautlos. Das Kind schlief noch. Der Busch erwachte langsam. Kookaburras kicherten. Kleinere Vögel zwitscherten. Gelbes Licht drang durch die Zweige. Eine Eidechse eilte vorüber. Frösche tauchten unter den wachsamen Augen einer Krähe mit einem Plop in den Bach.

Nioka war wie betäubt. Sie meinte, Louisa rufen zu hören, doch die Stimme klang schwach aus einer Welt voller seltsamer Gestalten zu ihr herüber, und sie konnte die Worte nicht verstehen. Ihr Puls raste noch von den Angriffen der Dämonen, vor denen sie sich schrecklich fürchtete. Sie konnten schmerzhafte Strafen verhängen, wenn man sich ihnen in den Weg stellte.

Leise weckte sie Teddy auf. »Komm, wir müssen gehen.«

»Wohin?«

»Zum Fluß.«

Als er taumelnd auf die Füße kam, hoben die Krähen an, mit ihrem Krächzen den morgendlichen Frieden zu stören.

»Verdammte Krähen«, murmelte er, »können wir das Känguruh mitnehmen?«

»Nein! Es ist jetzt groß genug, kann auf sich selbst aufpassen. Beeil dich!«

 

Zur selben Zeit plünderte Harry die Küche, noch bevor Hannah dort erschien, und rannte los zu Moobuluk. Er wußte, daß seine Hoffnung von törichtem Aberglauben genährt wurde, doch es bestand immerhin die Chance, daß der Alte etwas über Teddys Schicksal wußte. Vielleicht sogar, wo die Leiche zu finden war, dachte er traurig.

Es überraschte ihn nicht, daß er den uralten Mann an derselben Stelle fand wie am Tag zuvor, als habe er die ganze Nacht dort verbracht. Das war typisch Moobuluk, auf so etwas verstand er sich. Die Zauberer waren große Künstler, wenn es darum ging, Normalsterbliche mit dramatischen Tricks zu beeindrucken.

Harry gab sich unbeeindruckt. Heute würde er seine Antworten bekommen.

Er gab Moobuluk die Papiertüte mit dem Essen, der sie mit einem dankenden Nicken entgegennahm. Schon bald hatte er ein paar hartgekochte Eier, Brot und kalten Hackbraten verzehrt.

»Gut«, meinte er anerkennend.

»Ich möchte mit dir über Teddy sprechen.«

Moobuluk zuckte die Achseln. »Besser reden über unsere Jungen. Was habt ihr mit ihnen gemacht, he?«

»Ich war nicht hier, aber ich werde mich nach ihnen erkundigen. Man hat sie in eine Schule gebracht.«

»Gestohlen«, widersprach Moobuluk zornig.

Harry versuchte, es ihm zu erklären. »So war es nicht gedacht. Meine Familie hielt es für das Richtige. Es tut mir wirklich leid.«

Ohne Harrys offensichtliche Ungeduld zu beachten, befahl Moobuluk ihm, sich hinzusetzen. »Jetzt erzähl von Schule.«

Doch Harry hatte zu seiner Beschämung wenig zu berichten. Da er diesen Mann nicht anlügen konnte, mußte er eingestehen, daß er weder die Lage der Schule noch die Menschen kannte, die sich der drei Kinder angenommen hatten. Er wich aus, indem er die Bedeutung der Schulbildung erläuterte, wobei er sich der Trauer in den alten Augen seines Gegenübers schmerzlich bewußt war.

»Sie lernen deine Sprache?«

»Ja.«

»Welche Väter lehren sie Traumzeit?«

Harry schüttelte wie betäubt den Kopf, da er wußte, wieviel das kulturelle Bewußtsein den Aborigines bedeutete. Für sie war es das Leben selbst, auf unergründliche Weise ein Teil der Erde und des Universums.

»Sie sind verloren«, flüsterte Moobuluk.

Harry verstand ihn absichtlich falsch, obgleich er wußte, daß der alte Mann dies bildlich meinte. Er wollte ihm wenigstens ein kleines Fünkchen Hoffnung bewahren.

»Nein, nicht verloren, sie sind nur in Brisbane. In der großen Stadt. In einer Schule. Ich war damals auch in der Schule.«

Sofort begriff er, daß dieses Argument nicht greifen würde. Moobuluk erhob sich jetzt mühelos vom Boden und fragte mit kräftiger Stimme:

»Wann heimkommen?«

Harry sah hinaus auf den Fluß. »Ich weiß es nicht«, gestand er.

»Hol sie!« fauchte Moobuluk, das Gesicht vor Wut verzerrt.

»Ich sage, hol sie! Bring sie zurück!«

»Ich weiß nicht, wo sie sind.«

»Solltest sie besser finden!« drohte Moobuluk. Harry fuhr unwillkürlich zusammen. War nun die Zeit der Vergeltung gekommen? Er dachte dabei nicht an das Zeigen des Knochens oder anderen sogenannten Zauber, vor dem sich die Aborigines so fürchteten. Sollte jedoch die Horde von Springfield zurückkehren und auf Rache sinnen, könnte das katastrophale Folgen haben.

»Ich lasse mir nicht gerne drohen«, entgegnete er ruhig. »Möglicherweise kann ich sie finden. Ich könnte sie vielleicht heimbringen, aber versprechen kann ich es nicht.«

Moobuluk zog mit seinem Stock eine Linie in den Sand. »Du versprechen. Sage dir Wichtiges.«

»Was denn?«

»Erst versprechen.«

»Gut, ich werde nach ihnen suchen.« Warum sollte er sie nicht heimholen? Die armen Kinder würden sich in dieser ominösen Missionsschule halb zu Tode fürchten. Charlotte oder Victor würden sicher wissen, wo diese Schule lag, immerhin hatten der Geistliche und seine Frau mehrere Tage bei ihnen verbracht. Doch er würde es aus eigenem Antrieb tun und nicht, weil ein altes Schlitzohr es ihm befahl oder ihn bestach.

»Und jetzt die wichtige Nachricht, alter Mann.«

»Denke besser an eigenen Jungen. Zeig ihm richtiges Leben, damit er guter Mann wird.«

Harry fuhr hoch. »Sprichst du von Teddy?«

Moobuluk schüttelte den Kopf und zog eine Grimasse, als sei es kaum zu fassen, daß jemand so begriffsstutzig sein konnte.

»Nein, nein! Dein Junge, der kommt.« Er zog verächtlich die Nase hoch. »Schon vergessen? Wie unsere Kinder? Ist nicht gut.«

Doch Harry starrte ihn nur fassungslos an. Connie war schwanger, das stimmte, doch woher sollte er das Geschlecht des Kindes kennen?

»Woher weißt du, daß meine Frau ein Baby erwartet?« fragte er, wußte aber, daß er darauf keine Antwort erhalten würde. Dies war eine der völlig unglaublichen Situationen, in die man mit den Aborigines gelegentlich geriet und die schon Legende geworden waren. Er spürte eine Welle der Freude in sich aufsteigen. Dies war wirklich, und er rieb sich innerlich die Hände beim Gedanken an die Wetten, die er auf das Geschlecht des ungeborenen Kindes annehmen konnte und zweifellos gewinnen würde. Er würde einen Sohn haben.

Der dreibeinige Dingo hinkte am Ufer entlang. Moobuluk sah zu, wie er sich das Wasser aus dem Fell schüttelte. Vermutlich hatte er sich abkühlen oder einen Fisch fangen wollen, so genau wußte man das bei Dingos nie. Mit demütigen, braunen Augen näherte er sich dem alten Mann, und Harry konnte sich einer gewissen Rührung nicht erwehren. Das war echte Freundschaft zwischen diesen beiden.

Moobuluk streichelte den Hund und redete in seiner eigenen Sprache auf ihn ein. Dann packte er Harry mit starker Hand und zog ihn zu sich heran.

»Hab auf dich gewartet, Harry, lange Zeit. Muß Dinge sagen.« Sein Blick verschleierte sich. »Du immer guter Junge, Harry. Warst krank, aber wieder gut, was?«

»Ja«, sagte Harry und hielt gespannt den Atem an.

Moobuluk nickte. »Boß Broderick auch guter Kerl. Kein Krieg mehr. Er und ich, beide Krieger, immer stolz. Keine Angst. Er jetzt oben auf Hügel, geht nicht mehr weg, ich auch nicht. Unser Heim.« Sein Griff verstärkte sich und wurde unangenehm. »Boß Broderick sagen, Kinder nicht in einer verdammten Schule.« Seine Stimme wurde lauter.

»Hörst du, Harry? Boß sagt mir, Kinder ›in keiner verdammten Schule‹! Verstehst du?«

Harry spürte, wie sich seine Haare sträubten. Er hätte schwören können, daß die Worte ›in keiner verdammten Schule‹ aus Austins Mund stammten. Sie klangen wie er, tief, leidenschaftlich, zornig – nicht wie die krächzende Stimme eines Hundertjährigen.

Nein, er verstand gar nichts.

»Du jetzt gehen.« Er ließ Harrys Hand los. »Denk an alten Moobuluk und seine Kinder, ja? Dies ist Schlafenszeit.«

»Ich werde daran denken, aber könntest du mir bitte etwas über Teddy sagen?« Er sah sich verzweifelt um. »Bitte, wen sollte ich sonst fragen?«

Moobuluk kniff die Augen zusammen. »Ich sage. Kein Tod hier. Nur Leben.« Er stieß ihn an. »Auch Leben von deinem Sohn, was? Hast Glück. Machst altem Mann noch Geschenk.«

»Du meinst einen Gefallen tun?«

»Ja. Hol Nioka, paß auf sie auf. Sie ist gute Frau, weiß über anderen Jungen.«

»Oh Gott, wo ist sie?«

Moobuluk deutete mit dem Arm. »Da drüben.«

»Wo?«

»Hund bringt dich hin. Er weiß. Du ihr besser helfen.« Er streichelte wehmütig Harrys Arm. »Guter Tag für Wanderschaft, was?«

Harry mußte seine Ungeduld zügeln, um nicht unhöflich zu erscheinen, doch das war gar nicht nötig, da der alte Mann wieder in seine Träume versunken war. Der Hund schaute erwartungsvoll zu ihm hoch.

»Los!« rief Harry. Er rannte hinter dem Dingo her und fragte sich, ob dies nur eine grausame Fata Morgana sei, ob er Nioka überhaupt finden würde und wie er ihr helfen sollte. Wieviel wußte sie? Er lief und lief, stolperte durch Büsche und über felsige Landzungen, immer getrieben von der Angst, das Tier aus den Augen zu verlieren.

 

Nioka hatte noch einen weiten Weg vor sich. Sie und Teddy waren tief ins Landesinnere gewandert. Der Fluß wand sich auf seinem uralten Weg quer durchs Land, umtoste Felsen und hatte sich im Laufe der Zeit durch weicheren Sandstein gegraben, bis er schließlich in die Ebene vordrang, wo nichts mehr seinen natürlichen Lauf hemmte.

Das Kind war niedergeschlagen. Dieses Abenteuer gefiel ihm nicht. Sie waren so überstürzt aufgebrochen, daß sie sogar das Känguruh zurücklassen mußten. Und dann waren da noch das Spielhaus und die selbstgesammelten, noch ungeöffneten Nüsse.

Teddy ließ sich nur widerwillig weiterziehen, so daß Nioka ihr Tempo verlangsamen mußte. Ängstlich sah sie immer wieder über die Schulter, als erblicke sie hinter sich die Dämonen. Sie heulte innerlich auf. Wenn sie das Kind in den Fluß stürzen mußte, würde sie ebenfalls hineinspringen und mit ihm untergehen, wie ihre Schwester es getan hatte. Dann war alle Hoffnung dahin.

»Warum weinst du?« fragte er sie teilnahmsvoll. »Ich habe dir doch gesagt, wir laufen zu schnell. Du bist ganz außer Atem.«

Nioka umarmte ihn stumm, doch wann immer der Fluß in ihr Blickfeld kam, schlug sie eine andere Richtung ein, stolperte durch den Busch, suchte nach alten Pfaden. Teddy sah den Fluß auch und erklärte, sie liefen in die falsche Richtung. Er bat sie, ihm einen Wanderstock zu machen, damit er Schlangen abwehren konnte; wollte Löcher im Boden untersuchen, als sei dies nur ein Spaziergang; hörte ferne Vogelgeräusche und wollte die Tiere aus der Nähe betrachten; kurzum, er hielt sie ständig auf.

Er wußte nicht, daß sie bereits am Vogelparadies vorbeigekommen waren; sie hatte ihm weisgemacht, es befinde sich weiter flußaufwärts. Als er irgendwann todmüde war und sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, nahm sie ihn huckepack.

»Rupe hat das auch mal mit mir gemacht. Er sucht jetzt bestimmt nach mir. Und Cleo auch. Ich sollte besser wieder zum Unterricht gehen.«

Als sie endlich zum Ufer hinuntertaumelte, schluchzte Nioka erleichtert. Sie hatte die felsige Furt gefunden, an der der Fluß eine Reihe kleiner Wasserfälle bildete und ruhiger floß. Dennoch war die Strömung stark, man konnte erst nach Beginn der Trockenzeit mühelos hindurchwaten.

Sie setzte ihn ab und nahm ihn an die Hand, ganz aufgeregt, weil sie den Dämonen entkommen und der Junge beinahe zu Hause war, doch Teddy hielt sie schreiend zurück.

»Nein, ich werde ertrinken! Ich geh’ da nicht rein!«

Nioka hielt ihn fest und warf ihn sich trotz seiner Gegenwehr quer über die Schultern. Sie sprach beruhigend auf ihn ein, als sie tiefer und tiefer in den Fluß hineinwatete und mit den Hüften schmerzhaft gegen Felsbrocken stieß. Als ihr das Wasser bis zur Brust reichte, klammerte er sich an sie, schluchzte, erteilte Ratschläge, lotste sie. Stieß wiederholt gegen Felsen, beklagte sich, wollte sich aus ihrem Griff befreien. Nioka hätte ihn am liebsten geohrfeigt, damit er endlich aufhörte. Mit zusammengebissenen Zähnen ertrug sie die schmerzhaften Stöße, während das Ufer immer näher rückte und sie die Dämonen hinter sich ließ.

»Jetzt können sie ihn nicht mehr kriegen«, dachte sie, als das Wasser wieder auf Hüfthöhe gesunken war. Vor ihr im seichten Wasser wartete Moobuluks Hund und hechelte aufgeregt. Er war gekommen! Sie sah ihn am Ufer stehen. Er würde sie und Teddy vor allem beschützen. Er war mächtiger als alle Dämonen dieser Welt. Schluchzend streckte Nioka den Arm nach ihm aus.

Harry sah sie den Fluß durchqueren. Eine schwarze Frau mit einem Kind, das sie wie einen Kartoffelsack über die Schultern geworfen hatte, kämpfte sich mit Riesenschritten durch die Strömung. Er war stehengeblieben, um Atem zu holen, hatte beinahe schon aufgeben wollen, da er sich wie ein Idiot vorkam, der auf die Zaubereien eines Schwarzen hereingefallen war und nun hinter einem Dingo herjagte. Er rannte los, brach durchs Gebüsch, bis er den Weg fand, der zur Furt führte. Die Tränen strömten ihm übers Gesicht. Er schlitterte das Ufer hinab und sprang ins Wasser. Die so sanft erscheinende Strömung warf ihn fast um, doch da er sich nur bis zu den Hüften darin befand, konnte er das Kind aus Niokas Armen entgegennehmen.

An diesen Augenblick würde sich Harry für den Rest seines Lebens erinnern. Er zog Nioka an sich, umarmte sie und den Jungen, wollte sie nie wieder loslassen, glaubte zu träumen, weinte Freudentränen, bis Teddy, dem das Theater zuviel wurde, zu protestieren anfing.

»Jetzt wär’ ich fast schon wieder hineingefallen. Ich hasse diesen Fluß!«

Nioka sah Harry dankbar an, als habe er sie gerettet und nicht sie Teddy.

Er umarmte sie noch einmal. »Nioka, wie sollen wir dir nur danken? Ich bringe euch beide zum Haus.« Er nahm Teddy auf den Arm. »Schaffst du das Stück noch? Du siehst erschöpft aus.«

Sie nickte und sah den Hund im Busch verschwinden. Sie war enttäuscht, daß Moobuluk nicht mehr da war, und wußte plötzlich, daß sie ihn nie wiedersehen würde.

 

Jack Ballard sah sie von weitem über die Koppel kommen. Harry mit einer schwarzen Frau! Er schob den Hut zurück und kniff die Augen zusammen, da er ihnen nicht ganz traute. Neugierig lenkte er sein Pferd in ihre Richtung, stieß einen Schrei aus und galoppierte auf sie zu. Es waren tatsächlich Nioka und Harry, der Teddy auf den Schultern trug!

»Allmächtiger Gott!« brüllte er ihnen zu, da ihm nichts anderes einfiel. »Allmächtiger Gott!«

Als Harry Teddy vor Jack in den Sattel setzte, verkündete der Junge stolz: »Ich bin in den Fluß gefallen.«

»Reite mit ihm vor«, sagte Harry, doch Jack schüttelte den Kopf. »Du hast ihn gefunden, wir gehen zusammen.«

»Nein, das verdanken wir Nioka.«

Jack grinste sie an. »Sieht aus, als wärst du im rechten Augenblick heimgekommen. Alle werden sich mächtig freuen, dich zu sehen.« Er sah sie besorgt an. »Du siehst müde aus, Mädchen. Wie wär’s, wenn du zu Teddy in den Sattel steigst?«

»Nein, nein«, erwiderte sie grinsend, »Teddy besser bei dir.«

Der Junge pflichtete ihr bei. »Stimmt, Nioka kann nicht reiten.«

»Dann müssen wir es ihr eben beibringen«, sagte Jack und lenkte das Pferd auf das Haus zu. Er überschüttete Nioka mit Fragen, doch sie schwieg sich aus und überließ es Harry, seine Neugier zu stillen.

»Er ist in den Fluß gefallen, doch Nioka hat ihn Gott sei Dank gesehen. Sie war am anderen Ufer und hat keine Sekunde gezögert, ihm nachzuspringen, hat ihn in der Flußmitte erwischt und ans andere Ufer gebracht.«

»Ich mußte mich übergeben«, warf Teddy ein. »Ich bin fast ertrunken.«

»Das stimmt. Nioka hat mir gesagt, dir sei sehr übel geworden. Hast zuviel Flußwasser geschluckt, kleiner Mann. Jedenfalls hat Nioka ihn gepflegt und zu der Furt gebracht, wo ich sie getroffen habe. Sie hat ihn herübergetragen.«

»Aber warum tauchen sie erst jetzt auf?« wollte Jack wissen.

»Das ist doch schon vor Tagen passiert.«

Nioka hatte ihm keine Erklärung dafür gegeben, so daß Harry sich selbst eine ausdenken mußte. »Teddy war sehr schwach.« Dann trat er näher zu Jack und zwinkerte ihm zu.

»Da hatte einer verdammte Angst vor dem Fluß. Er brauchte Zeit, um sich zu erholen, und dann sind sie einige Meilen bis zur Furt marschiert. Selbst da war er nicht sonderlich scharf auf die Überquerung. So wie es sich anhört, hat es da erst einen kleinen Kampf geben müssen. Aber was macht das schon?«

Er legte den Arm um Nioka. »Wir sind stolz auf dich. Das hast du sehr gut gemacht.«

Im Haus brach ein Tumult los. Von allen Seiten kamen Leute angelaufen und riefen sich die freudige Nachricht zu. Louisa stürzte aus dem Salon durch Austins Zimmer, hinaus auf die Veranda, sprang mit einem Satz über das Geländer und rannte durchs Tor, während ihr die Tränen übers Gesicht strömten und sie abwechselnd nach Teddy und ihrem Mann rief.

Sie riß ihren Sohn an sich, drückte ihn fest, küßte ihn, wollte immer wieder wissen, ob mit ihm alles in Ordnung sei.

»Mein Liebling«, schluchzte sie, »mein kleiner Liebling. Wo bist du nur gewesen? Ich hatte solche Angst um dich. Wir haben dich so vermißt.« Teddy, den all das ziemlich unbeeindruckt ließ, versuchte vergeblich, sich aus ihrer Umklammerung zu befreien. Dann kam sein Vater und mußte ihn auch an sich drücken, um zu begreifen, daß er sich das nicht alles bloß einbildete.

Weinend streckte er den Arm nach Harry aus. »Harry, ich danke dir, ich danke dir …«

»Bedank dich lieber bei Nioka! Sie hat ihn aus dem Fluß gefischt.«

Teddys Eltern fielen förmlich über sie hier, umarmten sie, dankten ihr unter Tränen, während sich Viehhüter und Hauspersonal um sie drängten, um an ihrer Freude teilzuhaben.

Schließlich gingen sie ins Haus, wo Victor zur Feier des Tages alle auf ein Glas einlud. Louisa ließ ihren Sohn nicht eine Sekunde aus den Augen. »Ich werde ihn baden und ins Bett bringen, er braucht jetzt Ruhe. Und etwas zu essen. Hannah, du kümmerst dich bitte um Nioka. Sie braucht etwas Frisches zum Anziehen. Am besten bringst du sie im Gästezimmer unter.«

Hannah zog die Augenbrauen hoch. »Sie meinen wohl Minnies altes Zimmer?«

»Nein, ich sagte Gästezimmer. Ich stehe tief in ihrer Schuld, das kann ich niemals gutmachen. Also soll sie es wenigstens bequem haben. Möchtest du das, Nioka? Ein Bett im Haus?«

Sie zuckte die Achseln, eingeschüchtert von so viel Aufmerksamkeit. Willenlos ließ sie sich von der Köchin wegführen.

»Wie geht es Minnie?« erkundigte sich diese freundlich.

»Sie gestorben. Zuviel gebrochenes Herz wegen Bobbo.«

»Gott, das tut mir aber leid, Nioka. Das arme Mädchen.«

»Du weißt, wo unsere Jungen sind?« fragte Nioka sehnsüchtig.

Die Köchin schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Irgendwo in einer Schule. Dort wird man sich bestimmt um sie kümmern.

Jetzt hole ich dir etwas zu essen, du bist sicher hungrig.«

Das Mädchen nickte teilnahmslos.

Das große, weiße Badezimmer mit den glänzenden Armaturen kam ihr gegenüber der alten Blechwanne im Schuppen, die sie in Brisbane benutzt hatte, wie ein Wunder vor, aber sie war zu müde, um sich wirklich darüber zu freuen. Was zählte, war die ungeheure Erleichterung, daß sie den Dämonen entronnen war. Sie würden niemals wiederkehren. Nioka wußte auch, daß sie dies auf irgendeine Weise Moobuluk zu verdanken hatte, daß sie unter seinem Schutz stand.

Als Hannah kam und ihr frische Sachen brachte, sah sie überrascht, daß Nioka noch immer auf dem hölzernen Hocker saß.

Die Köchin hatte inzwischen noch mehr über Teddys Rettung erfahren, und ihre Dankbarkeit kannte keine Grenzen. Sie ließ Badewasser für Nioka ein und holte Handtücher. Als das Mädchen nach einem ausgiebigen Bad Baumwollunterwäsche und ein Kleid angezogen hatte, trocknete sie Nioka die Haare ab, bürstete sie, bis sie glänzten, und band sie mit einer hübschen Schleife zusammen.

»Du solltest jetzt bei uns bleiben, nicht wieder davonwandern. Du könntest doch hier arbeiten.« Sie grinste bei dem Gedanken an das trotzige Aborigine-Mädchen von damals, das nichts von Hausarbeit hatte wissen wollen. »Es mag ja sein, daß dir die Arbeit hier drinnen nicht behagt. Andererseits ist die ganze Horde weg und du kannst nicht mutterseelenallein unten im Lager leben. Du siehst doch gut aus, Nioka, such dir hier einen Ehemann …«

Nioka hörte kaum auf ihr Geplauder, da sie unentwegt an Moobuluk denken mußte. Allmählich reinigte sich ihr Geist, Kummer und Schmerz lösten sich auf. Er wußte, weshalb sie das weiße Kind so lange bei sich behalten hatte, und vergab ihr. Sie brauchte seine Verzeihung, denn ihr wurde bewußt, daß sie selbst die Dämonen heraufbeschworen hatte. Es waren nicht Minnies Teufel gewesen, sie stiegen aus ihrem eigenen Gewissen auf, um sie dafür zu bestrafen, daß sie Teddy von seiner Mutter ferngehalten hatte. Von dem Augenblick an, in dem sie den Jungen aus dem Fluß gerettet hatte, hatte sie versucht, Louisas Gesicht vor ihrem geistigen Auge auszuradieren, ihre Existenz nicht zur Kenntnis zu nehmen, nur um den Jungen behalten zu können.

Vermutlich würden die Brodericks sie für ihren Eigennutz bestrafen. Schließlich hatte sie sich Teddys Eltern gegenüber grausam verhalten, das konnte sie nicht bestreiten. Ihr war egal, was sie mit ihr machten; für sie zählte nach wie vor nur eines: die drei Kinder. Sie mußten um jeden Preis gefunden werden.

Nachdem die Euphorie ein wenig abgeklungen war, ging Harry in sein Zimmer, um sich umzukleiden, und machte einen Umweg über Niokas Zimmer.

Zu seiner Belustigung hockte sie wie ein Häufchen Elend auf der Bettkante, als habe man sie in eine Zelle gesperrt. Das Zimmer schüchterte sie offenbar ein.

»Was ist das denn?« lachte er. »Du siehst ja richtig schick aus. Besser als naß im Fluß, was?«

Nioka nickte, hielt die Augen aber unverwandt auf den gemusterten Teppich geheftet. »Tut mir leid«, sagte sie.

»Was denn?«

»Du weißt.« Ihre nackten Füße zuckten.

Er wußte es tatsächlich. Er hatte Nioka sein Leben lang gekannt und verstand, wie schwer es dem schwarzen Mädchen fallen mußte, sich bei einem Weißen zu entschuldigen. Sie glich ihrer Mutter, war den weißen Jungen lieber hochmütig als unterwürfig begegnet. Er erinnerte sich, wie sie Rupe einmal verächtlich mit dem Handrücken geschlagen hatte, als er ihr zu nahe kommen wollte. Er und Victor hatten sich schiefgelacht, weil ausgerechnet ein keckes schwarzes Mädchen Rupe an seinen Platz verwies. Doch nun wirkte sie alles andere als keck; sie war reifer geworden, eine gutaussehende Frau mit entschlossenem Gesicht und dunklen, nachdenklichen Augen.

»Sprichst du von den letzten paar Tagen?« fragte er sanft. Sie nickte und wand sich unter seinem Blick.

»Ich vermute, du hast dir den Jungen für eine Weile ausgeliehen, was? Um ihn umsorgen zu können. Nur geliehen.«

Bei ihrer Rückkehr hatte Teddy erzählt, wie Nioka mit ihm gefischt und ihn seine eigene Hütte hatte bauen lassen. Diese Geschichte mußte also so schnell wie möglich klargestellt werden.

»Schließlich warst du es ja nicht, die ihn hat in den Fluß fallen lassen«, beschwichtigte er sie.

»Nur geliehen«, gestand sie und sah zu ihm auf. »Er sehr kranker Junge. Ich mache ihn besser, er glücklich.« Sie seufzte. »Mach mich auch glücklich. Sag Louisa, tut mir leid.«

»Keine Sorge, das werde ich. Du hast ihm das Leben gerettet, nur das zählt.«

Plötzlich fiel ihm der alte Mann wieder ein. »Oh Gott, das hätte ich ja beinahe vergessen. Ich habe mit Moobuluk gesprochen. Er wußte, daß Teddy noch am Leben war, sagte, ich solle dich suchen. Ich muß mich bei ihm bedanken gehen.«

Sie starrte ihn an. »Kannst du nicht. Ist gegangen. Nicht gut, jetzt seinen Namen nennen.«

Harry wußte, was das bedeutete. Nun starrte er sie an. Wieder einmal sträubten sich ihm die Haare, und er beschloß, dieses komplizierte Thema nicht weiter zu diskutieren, sondern lieber Spinner an den Fluß zu schicken, um Moobuluk zu suchen. Nur für den Fall, daß sich Nioka irrte.

»Du machst dir noch immer Sorgen um eure Jungen, was?« fragte er und erschauderte, als er den Schmerz in ihren Augen sah.

»Wo sind sie?«

»Ich weiß es nicht, aber ich werde es herausfinden.«

»Du tust das?« Sie sprang vom Bett und ergriff seine Hand.

»Ich arbeite«, schluchzte sie, »ich arbeite gut, bin nicht mehr frech. Sag ihnen, Harry, ich bin gut. Aber bring Babys wieder.«

Er wich zurück, peinlich berührt und zugleich erschüttert, daß sie ihn auf diese ungewohnt zahme, demütige Weise anflehte. Über Nioka und ihre Mutter war auf der Farm oft gesprochen worden. Die Broderick-Jungen waren fasziniert gewesen von diesen beiden Frauen, die es sogar mit Austin aufnahmen, eine Haltung, der Austin überraschenderweise Anerkennung zollte. Er hatte immer behauptet, nichts und niemand könne die junge Nioka zähmen.

Mit Bedauern sah Harry nun, daß sich Austin geirrt hatte. Nioka konnte sehr wohl gezähmt werden.

Er zog sie an sich und umarmte sie. »Gib nicht auf, Nioka, du mußt durchhalten. Ich werde sie finden, das verspreche ich.« Er seufzte, als er diese Verpflichtung ein zweites Mal einging. »Es kann dauern, aber ich fahre nach Brisbane und suche sie.« Er lachte grimmig. »Ich habe dort einmal etwas gegolten. Vielleicht ist ja noch ein bißchen von diesem Einfluß übrig.«

Auf dem Weg durch den Gang zum Haupthaus spürte er beim Gedanken an Springfield, seinen Vater, die Schwarzen, denen dieses Land einmal gehört hatte, eine Welle der Nostalgie in sich aufsteigen. Doch die sorglosen Tage seiner Jugend waren vorüber. Die Aborigines, seine Freunde, waren alle verschwunden; die Farm lief laut Victor Gefahr, im Namen des Fortschritts zerstückelt zu werden, das gleiche Schicksal zu erleiden wie viele Besitzungen im Süden des Landes auch, wo die rasch anwachsende Bevölkerung sich nicht mehr hatte zurückdrängen lassen.

Dieser Tag war Harry endlos erschienen, dabei war es erst Mittag. Alle waren wieder an ihre Arbeit gegangen, nur Louisa und Victor feierten noch immer mit strahlenden Augen im Eßzimmer.

»Teddy schläft«, rief Victor ihm zu. »Komm doch zu uns. Wir haben eine Flasche Champagner aufgemacht. Das ist der schönste Tag meines Lebens! Ich bin schon ein bißchen betrunken, aber was soll’s!«

»Ich mache mir Sorgen um Charlotte. Wir haben noch nichts von ihr gehört.«

»Das ist auch nicht nötig«, grinste Victor, »Jock sagt, Ada habe sie in ihrer schicken Kutsche abgeholt.«

»Wieso Ada?«

Louisa lachte. An diesem Tag konnte ihr nichts die Laune verderben. »Wieso nicht? Komm, trink ein Glas Champagner mit uns.«

»Na gut, um dir eine Freude zu machen«, entgegnete Harry, »aber dann muß ich Spinner suchen. Er soll einen Auftrag für mich übernehmen.«

»Hat keinen Zweck, nach ihm zu suchen«, sagte Victor und goß Champagner in ein drittes Glas. »Er ist zu Jock geritten. Hat etwas mit den Schwarzen zu tun.«

»Worum geht es?«

»Du kennst doch noch den alten Moobuluk, der sich immer hier herumgetrieben hat. Anscheinend ist er gestorben, und sie halten Wache bei ihm. Alle Schwarzen aus dem Bezirk sind gekommen.«

»Wo ist er denn gestorben?«

»Woher soll ich das wissen? Hier, trink, du Held.«

Sie redeten unentwegt über Teddy, wie knapp er dem Tod entronnen und auf wie wunderbare Weise er gerettet worden war.

Nicht ein Mal wurde Kritik an Nioka laut. Sie schienen es als selbstverständlich zu erachten, daß sie ihr Bestes getan hatte, indem sie ihn ausruhen ließ und – darüber mußten alle lachen – mit Maden und Jamswurzeln fütterte, bis er sich erholt hatte.

Louisa war sehr aufgeräumt. »Er sagt, sie hätte ihm gekochten Aal gegeben, doch er roch so komisch, daß er ihn nicht hat essen wollen. Kannst du dir vorstellen, daß jemand einem Kind ausgerechnet Aal vorsetzt?«

»Aal habe ich auch schon gegessen«, warf Victor ein. »Austin hat ihn uns förmlich aufgedrängt, als wir klein waren. Aal und Kutteln. Gott, wie ich die gehaßt habe.«

Sie waren bester Stimmung und fanden alles wunderbar.

»Gott sei Dank ist Nioka eine hervorragende Schwimmerin«, sagte Victor. »Als wir Kinder waren, hat sie immer damit angegeben. Ist quer durch den Fluß und wieder zurück geschwommen und wußte genau, daß wir uns das niemals trauen würden.«

»Ein Glück, daß sie da war«, sagte Louisa. »Welch ein Zufall, daß sie Teddy ins Wasser fallen sah.«

»Nein, ganz so war es nicht«, warf Harry ein. »Sie hat ihn vom anderen Ufer aus beobachtet. Ihr werdet euch vielleicht erinnern, daß sie Jagga an eure verdammten Glaubensfanatiker verloren hat. Da war nun also diese kinderlose Frau, die voller Liebe ein anderes Kind beobachtete. Als es in den Fluß fiel, reagierte sie instinktiv wie eine Mutter und sprang ihm sofort hinterher. Zum Glück ist sie stark wie ein Ochse und schwimmt wie ein Fisch.«

»Während Rupe und Cleo ihn einfach vergessen hatten«, grollte Victor.

»Keiner von ihnen hätte Teddy in diesem Augenblick retten können«, erklärte sein Bruder. »Die Strömung hatte ihn fortgerissen. Er ist in Sicherheit, er ist nicht ertrunken, belassen wir es dabei.«

»Soll ich etwa vergessen, daß Rupe meinen Sohn in diesen verdammten Fluß stürzen ließ?« fauchte Victor.

»Ich denke, er hat genug gelitten. Er muß sich schrecklich fühlen. Die Gouvernante übrigens auch.«

»Dann denk bitte auch mal daran, was wir durch sie gelitten haben«, sagte Louisa empört. »Ich werde ihnen das nie verzeihen.«

»Jesus, was ist nur aus dieser Familie geworden?« fragte Harry. »Ihr wollt Rupe nicht verzeihen. Victor und Charlotte haben sich förmlich gegeneinander verrannt. Du behauptest, sie wolle das Herz von Springfield verkaufen, besitzt aber gleichzeitig nicht die Fairneß, ihr den Anteil anzubieten, der ihr zusteht. Austin würde sich im Grab umdrehen.«

»Nein, keineswegs«, sagte Louisa. »Er selbst hat doch die Weichen für all das gestellt. Aber ich weigere mich, heute darüber nachzudenken. Victor, bitte noch etwas Champagner für mich. Durch Gottes und Niokas Hilfe ist unser Junge sicher heimgekehrt, das will gefeiert werden.«

 

Spinner war zu betrübt, um sich darüber zu freuen, daß er nun auf die Nachbarfarm ziehen und sein Mädchen heiraten konnte. Der Verlust des alten Mannes traf ihn tiefer als erwartet, ihm war, als sei ein Berg urplötzlich aus der Landschaft verschwunden, eine verwirrende Erfahrung für einen Mann, der sich im Grunde mehr als Weißer denn als Schwarzer fühlte. Und noch etwas verwirrte ihn: Er wußte nicht, wie es nun um sein Versprechen stand. Vielleicht war er ja noch gar nicht von seiner Pflicht entbunden; vielleicht erwartete man von ihm, daß er weiter nach den Jungen Ausschau hielt.

Besorgt trat er an Niokas Fenster und bat sie, herauszukommen und mit ihm zu reden. Er hätte nie gewagt, das große Haus zu betreten.

Zu seinem Erstaunen stürmte sie auf ihn zu und umarmte ihn, obwohl sie niemals echte Freunde gewesen waren.

»Spinner, wie schön, dich zu sehen. Gut siehst du aus. Bist du nicht auch ein wenig gewachsen?«

Er konnte ja nicht ahnen, daß Nioka dankbar war, ihrer selbstauferlegten Einsamkeit entfliehen zu können, und sich verzweifelt danach sehnte, mit jemandem zu sprechen. Geschmeichelt setzte er sich mit ihr unter den alten Feuerbaum und war stolz, daß diese Frau, eine Heldin, seine Gegenwart zu schätzen wußte. Die Weißen lobten sie derzeit über den grünen Klee.

Er erklärte ihr sein Dilemma, und jetzt umarmte sie ihn aus lauter Dankbarkeit, daß er die ganze Zeit über nach ihren Jungen Ausschau gehalten hatte.

»Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen. Jetzt bin ich hier. Ich gehe nicht fort. Ich warte auf sie. Harry hat mir versprochen, sie zu suchen. Sie lassen mich hier wohnen. Ich suche mir Arbeit.«

»Ehrlich?« fragte Spinner erstaunt.

Nioka lachte. »Ja. Es ist mir inzwischen egal. Ich habe ohnehin nichts anderes zu tun. Ich habe ganz allein da drüben im Busch gelebt …«

»Das wußten wir«, sagte Spinner, ohne einzugestehen, daß die Schwarzen nicht gewußt hatten, wer sich dort aufhielt.

»Aber wir haben es keinem verraten. War auch gut so, was? Sonst wärst du nicht dagewesen, um Teddy zu retten. Mann, Victor ist vielleicht sauer auf Rupe! Ich glaube, er wird ihn erwürgen, wenn er ihn in die Finger bekommt. Wo hast du eigentlich Minnie gelassen? Warum ist sie nicht mit dir gekommen?«

Nioka erzählte ihm von ihrer Schwester, und er entschuldigte sich für seine taktlose Frage.

»Aber ihr seid alle gegangen, ohne mir etwas zu sagen«, beschwerte er sich. »Wo seid ihr hingewandert?«

Sie erklärte ihm, daß sie aus Angst um die anderen Kinder die Gegend verlassen und ein schönes, sicheres Plätzchen zum Leben gefunden hatten, das sie sich mit Angehörigen eines anderen Clans teilten.

Sein Gesicht verdüsterte sich. »Man ist nirgendwo mehr sicher. Ist das Land gut? Erzähl mir davon. Bekommt ihr dort viele Weiße zu Gesicht? Wie weit ist es von Farmen und Dörfern entfernt?«

Nachdem sie ihm alle Fragen beantwortet hatte, schüttelte Spinner den Kopf. »Es hat keinen Sinn, Nioka, es ist nicht von Dauer. Mehr und mehr weiße Leute kommen her und brauchen viel Land für ihr Vieh und den Ackerbau. Du solltest deiner Horde besser raten zurückzukehren.«

»Das geht nicht! Es ist zu gefährlich für unsere Kinder.«

»Dort oben, inmitten von Fremden, ist es das auch. Und es geht nicht nur um die Kinder. Ihr werdet alle in Reservate gesteckt.« Er ließ ihr Zeit, darüber nachzudenken.

Schließlich schlug sie sich mit verschränkten Händen gegen die Brust, als wolle sie von dort eine Antwort hervorzaubern, die aber nicht zu kommen schien.

»Ich muß Harry fragen.«

»Beeil dich lieber damit. Er lebt nicht mehr hier. Seit der Boß gestorben ist, hat sich vieles verändert. Die Schwarzen sind nicht die einzigen, die überrannt werden. Es kommen immer mehr Weiße, die auf Springfield leben und Häuser bauen wollen. Sie sagen, die Brodericks hätten zuviel Land, so wie sie es früher über die Schwarzen gesagt haben.«

»Nein!«

»Doch! Dasselbe passiert bei Jock. Es gibt große Probleme, glaub’ mir!«

Nioka starrte ihn fassungslos an. Wie war das möglich? Die Welt stand kopf. Sie konnte einfach nicht begreifen, daß eine weitere Invasion des Tales und der offenen Grasebenen dahinter bevorstehen sollte.

Sie seufzte. »Geh jetzt, Spinner. Und vergiß nicht, mir dein Mädchen vorzustellen.«

 

In der Zwischenzeit hatten Victor und Louisa unerwarteten Besuch bekommen. Sergeant Perkins aus Cobbside hatte von dem Unfall im Fluß erfahren, den er nun näher zu untersuchen gedachte, und Reverend Whiley wollte sein Beileid ausdrücken und seine Hilfe anbieten.

Beide Männer waren hocherfreut über die guten Neuigkeiten und feierten nur zu gerne mit den Brodericks.

Dann brachte ein Hausmädchen Teddy nach unten. »Tut mir leid, Missus, aber er will nicht mehr schlafen.«

Louisa lachte und nahm Teddy mit einem Schwung auf den Schoß. »Macht nichts, er kann hierbleiben. Als unser Ehrengast.«

 

Rupe war überwältigt angesichts der guten Nachricht, die ihn so plötzlich traf, daß er weiche Knie bekam. Jock goß ihm einen Brandy ein.

»Ich trinke einen mit. Was für ein Tag! Ich bin ja so erleichtert. Du mußt auf Wolke sieben schweben.«

Das stimmte, doch die bevorstehende Begegnung mit Victor lag ihm schwer auf dem Magen. Nun hatte er keinen Grund mehr, sich länger bei Jock zu verstecken. Teddy war in Sicherheit, und er mußte heimkehren.

Er hielt sich an seinem Brandy fest und suchte nach einer Ausrede, um das Unvermeidliche hinauszuzögern, doch sie wollte nicht kommen.

 

An diesem Nachmittag ließ Ada Crossley ihren Fahrer am Kolonialwarenladen am Stadtrand von Toowoomba vorfahren, damit er die Kutsche gründlich reinigen konnte. Sie waren gut vorangekommen, hatten eine Zwischenübernachtung bei Freunden eingelegt und dort die Pferde gewechselt, so daß diese kurze Verzögerung kaum ins Gewicht fiel.

Charlotte erwartete sie bereits vor dem Hotel. »Gott sei Dank!« rief sie und drängte sich an dem Kutscher vorbei, der Ada heraushelfen wollte. »Ich bin fast wahnsinnig geworden. Niemand hier weiß Bescheid. Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.«

»Ich habe mich so gut beeilt, wie ich konnte!«

»Was ist mit Teddy? Was in Gottes Namen ist mit ihm geschehen?«

Ada nahm sie am Arm. »Laß uns reingehen. Ich hoffe, du hast ein gutes Zimmer für mich gebucht. Wir gehen hinauf, trinken Tee und unterhalten uns.« Sie teilte ihr erst mit, was geschehen war, als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. Wie erwartet, brach Charlotte beinahe zusammen.

»Teddy?« schrie sie. »Mein süßer, kleiner Junge soll tot sein? Ertrunken? Wie konnte das passieren?«

Ada saß stundenlang bei ihr, spendete Trost, betete mit ihr, versuchte zu erklären, wie es zu dem Unglück gekommen war, und tat ihr Bestes, um Charlotte in ihrer Trauer zur Seite zu stehen. Nicht zum ersten Mal mußte sie miterleben, daß Freunde von einem tiefen Unglück getroffen wurden, doch die Situation wurde nicht leichter dadurch. Später sandte sie entgegen Charlottes ausdrücklichem Willen nach einem Arzt, der ihr ein Beruhigungsmittel verabreichte, und versprach, gleich am nächsten Morgen mit ihr nach Springfield zu fahren.

Als die Kutsche die endlosen Landstraßen entlangfuhr, unternahm Ada den Versuch, Charlotte von der Tragödie abzulenken, indem sie sich erkundigte, ob sie den Streit mit ihren Söhnen inzwischen beigelegt habe.

»Wen kümmert das jetzt noch?« fauchte Charlotte. »Victor und Louisa müssen am Boden zerstört sein. Und Rupe natürlich auch. Ich werde mir nie verzeihen, ihnen so viele Unannehmlichkeiten bereitet zu haben. Ich war nicht da, als sie mich brauchten, habe statt dessen in Brisbane gesessen und geschmollt. Wenn ich dagewesen wäre, hätte ich dieser verdammten Gouvernante doch nie erlaubt, mit Teddy an den Fluß zu gehen …«

»Charlotte, es ist Gottes Wille, du konntest nichts dagegen tun. Wir alle müssen uns seinem Ratschluß beugen.«

»Seiner Grausamkeit, meinst du wohl. Zuerst mein Mann, und nun mein einziger Enkel. Der arme Victor hat fast gleichzeitig Vater und Sohn verloren. Ich muß ihm beistehen, ich habe mich so selbstsüchtig verhalten. Er kann den Besitz haben, mitsamt meinem Grundstück. Ich gebe alles zurück.« Ada seufzte. Sie hätte es nie gewagt, der Freundin in ihrem derzeitigen Zustand zu widersprechen, hielt ihren Entschluß insgeheim jedoch für übereilt. Selbstsüchtig hatten sich eher die anderen in ihrer Familie verhalten.

Irgendwann nahm Charlotte die Haube ab, lehnte sich zurück und schloß die Augen. Auch Ada war müde, hatte aber noch nie während der Fahrt schlafen können, nicht einmal in diesem komfortablen Gefährt. In Gedanken ließ sie ihre eigenen Probleme Revue passieren. Jock alterte zusehends, wollte die Zügel jedoch nicht aus der Hand geben. Er betrachtete sich immer noch als Boß, lag aber ständig mit den Aufsehern der drei Außenposten im Streit, die sich um die Vorherrschaft drängten. Sie tuschelten oft miteinander, er solle sich endlich zurückziehen und einen von ihnen zum Verwalter ernennen.

Zu ihrer Überraschung hatte Jock sich ihr anvertraut, nachdem die letzten Renngäste abgereist waren.

»Weißt du, Ada, Austin Broderick, Gott hab ihn selig, hat es falsch gemacht. Harry war nie für die Politik geschaffen. Er ist ein geborener Bushie, und Austin hätte darauf bestehen sollen, daß statt seiner Rupe nach Brisbane geht. Er weiß, wann er die Hand zu heben und wann er sie unten zu lassen hat. Der Jüngste hat es faustdick hinter den Ohren.«

»Das findet seine Mutter auch gerade heraus«, gab Ada zurück. »Und was Harry betrifft, nachher ist man immer klüger. Er und Connie haben einfach über ihre Verhältnisse gelebt und sind unsanft auf dem Teppich gelandet. Von dieser verdammten Abstimmung ganz zu schweigen. Das wird man ihm nie verzeihen.«

»Ach, es ist doch schon fast vergessen. Ich habe Harry nie gut gekannt, weil er so oft weg war, aber ich möchte ihn und Connie gern hier haben. Jetzt kommt auch noch ein Baby, das bringt Leben ins Haus. Dein Bruder, der Herr Richter, läßt sich nur selten zu einem Besuch bei uns herab. Ich schätze, das nächste Mal taucht er bei meiner Beerdigung auf.«

»Was soll das Gerede? Worauf willst du hinaus?«

»Ich sag dir was, Mädchen. Hätte ich gewußt, daß Harry nach Tirrabee gehen wollte, hätte ich ihn mir selber geschnappt.«

»Wozu?«

»Um ihn zu meinem Verwalter zu machen natürlich. Er würde unseren drei Witzbolden hier Beine machen, meinst du nicht? Ich kann nicht ewig arbeiten, und du wirst auch nicht jünger. Welchem von den dreien würdest du denn die Leitung überlassen?«

»Keinem«, entgegnete sie bitter.

»Dann solltest du besser über meinen Vorschlag nachdenken, Ada. Nimm den Teufel, den du kennst, und wenn er dazu noch zur Familie gehört … Harry und Connie sind genau das, was du brauchst, die nächste und die übernächste Generation. Das Essen war übrigens ganz hervorragend. Bringst du mir noch ein Glas Portwein?«

Sie goß sich auch eines ein und nippte nachdenklich daran. Sie wollte ihrem Vater nicht antworten, bevor sie sich die Sache nicht gründlich überlegt hatte. Die Gesellschaft ihrer Nichte und deren Mannes hatte ihr gefallen, doch es gab noch andere Erwägungen.

»Ich denke darüber nach, Pa, aber nur unter einer Bedingung. Ich will ein hieb- und stichfestes Testament. Du hinterläßt mir diesen Besitz mit allem, was dazugehört. Ich will nicht, daß es mir einmal so ergeht wie Charlotte.«

»Eigentlich sollte er zwischen dir und deinem Bruder aufgeteilt werden.«

»Er hat schon genug bekommen. Du hast ihm sein Leben lang Geld zugeschoben. Der Richter ist gut gestellt, um ihn brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Außerdem hat er hier nie einen Finger gerührt und bekommt dennoch immer seinen Anteil von den Wollerlösen. Ich habe mich nie daran gestört, schließlich ist es dein Geld, aber du wirst die Farm ins Chaos stürzen, wenn du ihm die Hälfte vermachst. Er wird seinen Anteil zu Geld machen wollen und auf einen Verkauf drängen.«

Ada bemerkte, daß Jock an seinem unordentlich buschigen, weißen Bart zupfte; er war guter Stimmung. Sie hatte schon lange mit ihm über dieses Thema sprechen wollen und nur auf die richtige Gelegenheit gewartet. Nun war sie endlich da.

»Ich sage dir was. Ich setze ein neues Testament auf und hinterlasse dir die gesamte Farm. Es wird auch die Bestimmung enthalten, daß nach deinem Tod alles auf meine Enkelin Connie Broderick und ihren Ehemann übergeht.«

Seine schlauen Augen glitzerten, und sie ahnte, daß er etwas im Schilde führte, stimmte aber dennoch zu.

»Das ist fair, da wird sich nicht einmal der Richter beklagen können. Seine Familie wird davon profitieren, da ich wohl kaum noch Nachkommen hervorbringen werde. Ja, so werden wir es machen. Vielen Dank, Pa, ich danke dir sehr.«

»Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß ich Harry Broderick als Verwalter haben will. Was hältst du davon?«

Sie lachte. »Man sollte nicht über ungelegte Eier sprechen.

Er hat bereits eine Stelle und scheint auf Tirrabee sehr glücklich zu sein. Andererseits, fragen kostet nichts.«

Traurig wurde ihr plötzlich bewußt, daß sie Harry nun früher als erwartet wiedersehen würde – auf Teddys Beerdigung.

 

Als sich Jock schließlich an den Namen von Charlottes Hotel in Toowoomba erinnerte, spürte Harry eine ungeheure Erleichterung. Er wäre sonst längst schon aufgebrochen, wartete nur noch die Ankunft seiner Mutter ab. Man hatte einen Reiter losgeschickt, der ihr die gute Neuigkeit telegrafieren sollte, doch als er in Cobbside eintraf, war das Postamt aus Umzugsgründen geschlossen. Als die Nachricht am nächsten Tag im Hotel Victoria ankam, waren die Frauen bereits aufgebrochen. Sie übernachteten auf demselben Besitz, auf dem Ada ihre Pferde gewechselt hatte, damit sie sie wieder in Empfang nehmen konnte, fuhren aber an Cobbside vorbei. So verpaßten sie die letzte Gelegenheit, von Teddys Rettung zu erfahren.

 

Als die Kutsche durch das Tal rollte, verließ Ada der Mut. Sie fürchtete sich vor der Begegnung mit Teddys Eltern und fragte sich, wie um alles in der Welt sie ihnen Trost spenden sollte. Das würde noch schlimmer sein als mit Charlottes Schmerz umzugehen. Sie bemerkte, wie ihre Freundin tiefer in den Sitz sank, als der Kutscher in die breite Auffahrt einbog, und ergriff zur Ermutigung ihre Hand.

Da sich der Kutscher des traurigen Anlasses bewußt war, fuhr er ganz langsam durch den kreisförmigen Garten zum Haupteingang von Springfield vor. Ada fiel auf, daß Charlottes Garten, der einmal alle Augen auf sich gezogen hatte, noch schlimmer aussah als bei ihrem letzten Besuch. Doch ihre Freundin achtete jetzt nicht auf derartige Banalitäten. Ihre Tränen flossen von neuem, sie rang verzweifelt um Fassung und kramte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch.

Charlie öffnete den Verschlag der Kutsche und half ihnen beim Aussteigen. Die beiden Frauen rafften ihre Röcke und stiegen die Stufen vor der Haustür hinauf, als diese aufflog und Teddy herausstürzte. »Oma! Oma ist da!«

Charlotte starrte ihn ungläubig an und kippte dann bewußtlos um. Bevor Ada oder Charlie sie auffangen konnten, stürzte sie rückwärts die ganze Treppe hinunter, und die beiden hörten ein häßliches Knacken.

Adas Schreie alarmierten die Familie, die sich gerade zum Essen an den Tisch setzen wollte.

Charlotte lag reglos unten vor den Stufen, und Ada bemühte sich verzweifelt, sie aufzuheben.

Victor und Louisa erschienen als erste.

»Elendes Pack!« fuhr Ada sie an. »Wie konntet ihr eurer Mutter das antun? Ist euch überhaupt klar, was sie durchgemacht hat?«

»Wieso? Was?« fragte Louisa, als die Männer Charlotte aufhoben und ins Haus trugen. Sie wollte mitgehen, kehrte dann aber zu Ada zurück, die sie jedoch beiseite stieß.

»Wir müssen einen Arzt rufen!« schrie Hannah, die sich hinter Victor und Harry in den Salon drängte, wo die beiden ihre Mutter auf das Sofa legten.

»Was ist passiert?« rief Victor und beugte sich über sie.

»Mutter? Kannst du mich hören?«

»Weg da!« keifte Ada zornig, die den Alkohol in seinem Atem riechen konnte. Anscheinend hatte sie ihre Freundin in einem Irrenhaus abgeliefert. Und der putzmuntere Teddy sah mit großen Augen zu, wie sich alle um seine Oma bemühten.

Charlotte hatte eine stark blutende Platzwunde an der Stirn, die Ada nun mit einem Lappen betupfte, während sie beruhigend auf sie einredete. Gleichzeitig winkte sie die anderen beiseite, damit ihre Freundin Luft zum Atmen hatte. Sie knöpfte Charlottes Kragen auf und wisperte dann streng:

»Holt einen Arzt, sie hat sich den Arm gebrochen.«

»Ist sie tot?« fragte Teddy. Seine Mutter brachte ihn flugs zum Schweigen, doch die Stimme hatte seine Großmutter geweckt. Sie öffnete langsam die Augen. »Ist das Teddy? Ada, war das Teddy?«

»Ja, Liebes. Ihm geht es gut. Er ist hier im Zimmer. Aber du mußt jetzt ganz ruhig liegen. Wir machen es dir gleich bequemer.«

Sie wies die Männer aus dem Raum und untersuchte die Patientin mit geschickten Händen. »Sonst scheint nichts gebrochen zu sein, Gott sei Dank. Hannah, hol mir Mull und eine Leinenbinde für die Wunde. Ich fürchte, sie muß genäht werden, aber fürs erste reicht es.«

Hannah eilte davon.

Besorgt beugte sich Louisa über ihre Schwiegermutter, doch Ada ging dazwischen. »Sie braucht keinen Schnapsatem im Gesicht.«

Louisa war zu schockiert und eingeschüchtert, um zu erklären, daß sie nur einen kleinen Gin vor dem Essen genommen hatte, den Charlotte im übrigen ebenfalls zu schätzen wußte. Sie zuckte zurück und rannte zu Victor, der sie in die Arme nahm.

»Keine Sorge, Liebes, Harry holt einen Arzt. Ihr geht es bald wieder besser.«

Doch was würde danach kommen? fragte sich Louisa. Charlotte war wieder zu Hause und hatte zudem diese furchtbare Frau mitgebracht. Die Freude über Teddys Heimkehr war plötzlich verflogen. Sie hatte Kopfschmerzen.

 

Der alte Jock schien nicht zu bemerken, daß Rupe es mit der Rückkehr alles andere als eilig hatte. Bei ihm durfte jeder Gast so lange bleiben, wie er wollte, Hauptsache, er konnte sich mit ihm fachmännisch über Pferde unterhalten und ihm seine preisgekrönten Tiere in allen Gangarten vorführen. Rupe nutzte seine Erfahrung auf diesen Gebieten, um Zeit zu gewinnen. Es fiel ihm nicht schwer, die herrlichen Pferde und ihre luxuriösen Stallungen zu loben, um die Jock allgemein beneidet wurde. Rupe hatte schon oft versucht, Victor zu überreden, sich mehr auf ihre Vollblüter zu konzentrieren, doch sein Bruder dachte leider sehr eingleisig. Sicher, ihre Merinos waren berühmt, doch es gab einfach nichts Erhabeneres als Pferde. Er rang Jock sogar die Erlaubnis ab, auf einem prächtigen, schwarzen Araber namens Dynamite um die Bahn zu reiten. Durch den kraftvollen Ritt aufgeheitert, sprang er übermütig aus dem Sattel und klopfte Jock auf die Schulter.

»Was für ein Tier! Ein Geschenk der Götter. Wer wäre nicht stolz auf diesen Champion?«

All das hatte ihm Zeit verschafft, zu einer Entscheidung zu gelangen. Die Lösung war einfach. Victor würde eine Weile brauchen, bis er über diese Beinahe-Katastrophe hinweg wäre, und eben dies bot ihm eine Entschuldigung, Springfield den Rücken zu kehren.

Während die Stallknechte die Pferde für die Nacht vorbereiteten, teilten er und Jock sich eine Flasche Bier.

Er legte sich in Gedanken zurecht, was er Victor sagen wollte. »Es ist offensichtlich, daß du mich nicht hierhaben willst, also werde ich gehen. Ich komme mir ohnehin vor wie das fünfte Rad am Wagen. Außerdem weißt du keine meiner Ideen zu würdigen, doch das nur am Rande. Ich bleibe nicht hier und lasse mich wie ein Aussätziger behandeln, nur weil ich zufällig Cleo – wohlgemerkt nur sie, und nicht Teddy – eingeladen habe, sich mit mir zusammen die Vögel anzusehen.

Ich weiß noch nicht, wohin ich gehe« – in Wahrheit spielte er mit dem Gedanken an eine Europareise – »aber du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen. Ich mische mich nicht mehr in deine Pläne ein. Ich mag zwar die Hälfte von Springfield besitzen, aber du kannst mit der Farm nach Gutdünken verfahren, so wie du es immer gewollt hast. Du bist jetzt der Boß. Ich brauche natürlich etwas Geld. Wir können uns jedes Jahr den Wollscheck teilen, das ist doch ein fairer Deal. Du hast das Haus, ein Herrenhaus, möchte ich sagen, aber das neide ich dir nicht.«

Er wußte, daß seine Bitte nicht ungewöhnlich war. Es gab viele Empfänger fetter Wollschecks, die in Saus und Braus in London lebten, und oft waren es nicht einmal enge Verwandte. Selbst den Vettern reicher Viehzüchter gelang es oft, mit Hilfe familiären Drucks Anteile an den Profiten zu erlangen, womit sie sich dann auf den Weg in die Stadt der Städte machten.

Dabei fiel ihm Cleo wieder ein. Was hatte er nur an ihr gefunden? Natürlich, sie war das einzige Mädchen weit und breit gewesen. Er zuckte die Achseln. Ihr Familienvermögen wäre ganz gelegen gekommen, doch wenn er erst einmal über ein eigenes Einkommen verfügte, könnte er sich auch anderen Damen zuwenden. Er sorgte sich nur um die Höhe dieses Einkommens, das nun, da der Erwerb der Ländereien daraus bestritten werden mußte, nicht mehr ganz so üppig ausfallen würde.

Dann verkaufen wir eben noch mehr Land, dachte er bei sich.

»Laß uns ins Haus gehen«, schlug Jock vor. »Ich möchte dir Dynamites Stammbaum zeigen. Du wirst grün vor Neid, wenn du siehst, welche Vorfahren er hat.«

 

Am Morgen lag Charlotte mit eingegipstem Arm und Verband um die Stirn in ihrem eigenen Bett. Die Wunde hatte zum Glück doch nicht genäht werden müssen, aber sie litt unter scheußlichen Kopfschmerzen und hatte äußerst schlechte Laune. Die treue Ada war die ganze Zeit über nicht von ihrer Seite gewichen.

Victor hatte sich bemüht, den Frauen zu erklären, was geschehen war. Auch Louisa machte einen Versuch, wurde aber schnell wütend und fauchte sie an:

»So wie ihr euch verhaltet, könnte man meinen, ihr hättet Teddy lieber tot vorgefunden!«

Charlotte preßte die Lippen zusammen. »Wie kannst du es wagen, so etwas zu sagen! Ich erhalte ein Telegramm, in dem steht, Teddy habe einen Unfall gehabt. Als nächstes höre ich, er sei ertrunken. Und die ganze Zeit über ist keiner da, um mir zu erklären, was wirklich passiert ist. Nur Ada hat sich um mich gekümmert.«

»Wer hat dir eigentlich dieses Telegramm geschickt?« erkundigte sich Victor verblüfft.

Hannah brach in Tränen aus, als sie zur Rede gestellt wurde. Sie erwähnte Jack Ballards Beteiligung mit keinem Wort und bot ihre Kündigung an. Im Laufe des Morgens festigte sich ihr Entschluß, das Haus zu verlassen. Der Arzt war in einem der Gästezimmer untergebracht, gleich neben Niokas. Diese hatte sich allerdings in dem feinen Gästezimmer nicht wohl gefühlt und war in den Schuppen gezogen, in dem ihre Schwester gelebt hatte, wo sie nun ihres Schicksals harrte. Hannah hatte die Nase gründlich voll von ihnen allen.

Die Hausmädchen waren völlig verwirrt, weil sie nun den Anordnungen mehrerer Frauen gleichzeitig nachkommen mußten und nicht wußten, welcher von ihnen Vorrang gebührte. Also übernahm es Hannah höchstpersönlich, Harry, der seltsamerweise noch im Bett lag, sein Frühstück zu bringen. Zugegeben, er hatte einen langen Ritt hinter sich, da er den Arzt zuerst in Cobbside und dann auf einem anderen Besitz gesucht hatte und zudem noch aufgeblieben war, bis seine Mutter bequem untergebracht war. Doch es paßte einfach nicht zu ihm, so lange im Bett zu bleiben.

»Sagen Sie jetzt bloß nicht, Sie sind auch krank«, sagte Hannah und stellte das Tablett auf seinen Nachttisch.

»Nein«, antwortete er grinsend, »ich dachte nur, hier oben wäre es sicherer. Hannah, du bist ein Schatz. Ich befürchtete schon, der Hunger würde mich hinuntertreiben.«

»Machen Sie das Beste draus, ich verlasse jedenfalls dieses Haus. Noch nie habe ich so ein Tohuwabohu erlebt. Sie gehen einander an die Kehle, der ganze Haufen.«

»Du kannst nicht kündigen. Beiß einfach eine Weile die Zähne zusammen. Sie müssen nur etwas Dampf ablassen und werden sich schon wieder beruhigen. Aber was soll nur aus meiner armen Frau draußen auf Tirrabee werden? Ich muß dringend nach Hause. Zuerst werde ich allerdings hier für Ordnung sorgen.«

»Sie könnten damit anfangen, indem Sie Mrs. Crossley hinauswerfen.«

»Dafür braucht es einen mutigeren Mann als mich. Versteck dich eine Weile in der Küche, während ich diese Mahlzeit genieße. Es ist wirklich bald alles vorbei.«

»Das will ich hoffen.«

Sie schloß die Tür und ging in einer Aufwallung von Trotz zur Vordertreppe, obwohl sie sonst immer die weitaus bescheidenere Hintertreppe nahm. Vom Treppenabsatz aus erblickte sie Rupe, der gerade hereinkam und seinen Hut auf den Garderobenständer warf.

Hannah neigte nicht dazu, den Namen des Herrn unnütz im Mund zu führen, doch diesmal wurde es ihr zuviel.

»Oh, Jesus Christus!« murmelte sie. »Der hat uns gerade noch gefehlt.« Sie eilte den Flur zurück und lief die einfachen Holzstufen hinunter, die sie sicher in ihr angestammtes Reich führten.