Nach Aussage ihrer Eltern machte Melissa Horrocks, siebzehn Jahre, gerade eine rebellische Phase durch, als sie am 18. April nach einem Popkonzert in Harrogate nicht nach Hause zurückkehrte.
Steven und Mary Horrocks hatten nur eine Tochter, sie kam als später Segen, als Mary schon Mitte dreißig war. Steven arbeitete im Büro einer ortsansässigen Molkerei, Mary hatte einen Teilzeitjob bei einem Grundstücksmakler im Stadtzentrum. Mit ungefähr sechzehn Jahren begann Melissa sich für die Art von Rockmusik zu begeistern, die auf der Bühne mit dem Satanismus liebäugelt.
Auch wenn Freunde Steven und Mary beruhigten, es sei völlig harmlos - eine Trotzphase von Teenies - und bestimmt bald vorbei, waren die Eltern doch bestürzt, als ihre Tochter allmählich ihr Aussehen veränderte und Schule und Sport vernachlässigte. Zuerst färbte sich Melissa das Haar rot, dann schaffte sie sich einen Nasenstecker an und kleidete sich in Schwarz. Die Wände ihres Zimmers waren mit Postern von ausgemergelten, dämonischen Sängern wie Marilyn Man-son und mit okkulten Symbolen geschmückt, die ihren Eltern unheimlich waren.
Ungefähr eine Woche vor dem Konzert fand Melissa, das rote Haar sei doch nichts für sie, und trug wieder ihr natürliches Blond. Banks vermutete, dass ihr das rote Haar womöglich das Leben gerettet hätte. Daraus folgerte er, dass sie vor ihrer Entführung nicht beobachtet worden war - wenigstens nicht lange. Das Chamäleon würde keine Rothaarige verfolgen.
Harrogate, eine blühende viktorianische Stadt in North Yorkshire mit rund siebzigtausend Einwohnern, bekannt als Konferenzzentrum und Rentnerparadies, war nicht unbedingt der geeignete Veranstaltungsort für ein Konzert von Beelzebub's Bollocks, aber die Band war neu und musste sich einen Vertrag mit einer größeren Plattenfirma erst noch verdienen; langsam arbeitete sie sich zu größeren Gigs hoch. Wie immer hatten pensionierte Offiziere und die üblichen Wichtigtuer, die sich jeden Dreck im Fernsehen reinzogen, um Protestbriefe schreiben zu können, lauthals ein Verbot gefordert, doch waren ihre Rufe ungehört verhallt.
Ungefähr fünfhundert Jugendliche pilgerten in das umgebaute Theater, darunter Melissa und ihre Freundinnen Jenna und Kayla. Um halb elf war das Konzert vorbei, und die drei Mädchen standen noch eine Weile draußen herum und ließen die Bühnenshow Revue passieren. Um ungefähr Viertel vor elf trennten sie sich und gingen ihrer Wege. Es war ein milder Abend, Melissa wollte zu Fuß gehen. Sie wohnte nicht weit vom Stadtzentrum entfernt, und ihr Heimweg führte fast ausschließlich über die geschäftige, hell erleuchtete Ripon Road. Später meldeten sich zwei Zeugen und sagten aus, Melissa um kurz vor elf gesehen zu haben, als sie an der Kreuzung West Park und Beech Grove in südliche Richtung ging. Um nach Hause zu gelangen, musste sie die Beech Grove nehmen und nach ungefähr hundert Metern abbiegen, aber sie kam nie dort an.
Die fortdauernden Streitereien mit den Eltern ließen zuerst die Hoffnung keimen, dass Melissa ausgerissen war. Aber Steven und Mary versicherten Banks übereinstimmend mit Jenna und Kayla, dass das nicht der Fall sein könne. Insbesondere die beiden Freundinnen sagten, sie hätten mit Melissa über alles geredet und deshalb gewusst, wenn sie vorgehabt hätte, wegzulaufen. Außerdem trug Melissa keinerlei Wertgegenstände bei sich und hatte den anderen gesagt, sie freue sich darauf, sie am nächsten Tag im Victoria Centre zu treffen.
Aber auch der Satanismus-Aspekt war nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, wenn ein Mädchen verschwand. Man befragte die Bandmitglieder und so viele Zuschauer, wie noch aufzutreiben waren, aber es führte zu nichts. Als Banks später die Aussagen las, musste selbst er zugeben, dass das Ganze reichlich zahm und harmlos war. Die schwarze Magie war reines Theater, wie seinerzeit bei Black Sabbath und Alice Cooper. Beelzebub's Bollocks bissen auf der Bühne nicht einmal Hühnern den Kopf ab.
Als man zwei Tage nach Melissas Verschwinden ihre schwarze Umhängetasche im Gebüsch fand, als wäre sie aus dem Fenster eines fahrenden Autos geworfen worden, und das Geld nicht angerührt war, gelangte der Fall zur Kenntnis von Banks' Soko Chamäleon. Wie schon Kelly Matthews, Samantha Foster und Leanne Wray war Melissa Horrocks wie vom Erdboden verschluckt.
Jenna und Kayla waren erschüttert. Kurz bevor Melissa in die Dunkelheit aufgebrochen sei, hätten sie noch Witze über Perverse gemacht, erzählte Kayla, aber Melissa hätte auf ihre Brust gedeutet und gesagt, das okkulte Symbol auf ihrem T-Shirt würde böse Geister abwehren.
Um neun Uhr am Dienstagmorgen war das Besprechungszimmer der Soko Chamäleon bis auf den letzten Platz besetzt. Mehr als vierzig Kripobeamte saßen auf den Tischen oder lehnten an der Wand. Rauchen war im Gebäude untersagt, deshalb kauten viele Kaugummi oder fummelten mit Büroklammern und Gummibändern herum. Die meisten hatten von Anfang an zur Sonderkommission gehört. Alle hatten Überstunden gemacht, hatten sich voll in die Ermittlung eingebracht, seelisch wie körperlich. Jeder Einzelne ging auf dem Zahnfleisch. Zufällig hatte Banks erfahren, dass die Ehe eines unglücklichen Constables in die Brüche gegangen war, weil er so viele Stunden fern von zu Hause verbracht und seine Frau vernachlässigt hatte. Früher oder später wäre es eh passiert, redete Banks sich ein, aber ein Fall wie dieser setzte die Beteiligten unter Druck, brachte Krisen zum Ausbruch, besonders wenn das Ende sowieso kurz bevorgestanden hatte. Auch Banks hatte momentan das Gefühl, sich einem Scheitelpunkt zu nähern, konnte aber nicht mit Bestimmtheit sagen, wo der sich befand und was geschähe, wenn er ihn erreichte.
Jetzt ging es wenigstens auf eine gewisse Weise voran, auch wenn alles noch völlig im Unklaren lag. Die Luft summte vor Spekulationen. Alle wollten wissen, was passiert war. Die Stimmung war gedrückt. Zwar sah es so aus, als hätten sie den Gesuchten, aber ein Kollege war getötet worden und eine Kollegin sollte durch die Mangel gedreht werden.
Ziemlich mitgenommen betrat Banks den Raum - er hatte wieder schlecht geschlafen, trotz eines dritten Laphroaig und der zweiten CD von Bachs Cellosonaten. Schlagartig wurde es still, alle warteten auf Neuigkeiten. Banks gesellte sich zu Ken Blackstone, der vor einer Pinnwand mit den Fotos der Mädchen stand.
»Also«, sagte Banks, »ich will mal kurz skizzieren, wie weit wir jetzt sind. Der Erkennungsdienst ist noch am Tatort, und es sieht aus, als ob er noch eine ganze Weile beschäftigt ist. Bisher wurden im Kellervorraum drei Leichen freigelegt, mehr Platz ist da aber wohl nicht. Im Garten wird nach der vierten Vermissten gegraben. Keines der Opfer wurde bisher identifiziert, aber Nowak sagt, die Leichen sind alle jung und weiblich, deshalb können wir im Moment davon ausgehen, dass«es sich um die verschwundenen Mädchen handelt. Wir sollten heute noch mit der Identifizierung weiterkommen, wenn wir die zahnärztlichen Unterlagen überprüft haben. Gestern Abend hat Dr. Mackenzie Kimberley Myers obduziert und bestätigt, dass sie mit Chloroform betäubt wurde, der Tod aber durch Versagen des Nervus vagus eintrat, verursacht durch Erdrosselung. In der Wunde am Hals fanden sich gelbe Plastikfasern von der Wäscheleine.« Banks seufzte und fuhr fort. »Außerdem wurde sie anal und vaginal missbraucht und zur Fellatio gezwungen.«
»Was ist mit Payne, Sir?«, fragte jemand. »Kratzt der ab?«
»Meine letzte Information ist, dass er am Kopf operiert werden musste. Terence Payne liegt noch im Koma. Niemand kann sagen, wie lange das dauert oder wie es ausgeht. Wir wissen jetzt übrigens, dass Terence Payne in Seacroft gewohnt und unterrichtet hat, ehe er im September vorletzten Jahres zum Schulbeginn in den Westen von Leeds gezogen ist. Kollege Blackstone lässt im Computer prüfen, ob er als Vergewaltiger von Seacroft in Frage kommt, da wird bereits die DNA gecheckt. Ich möchte, dass ein Team zusammen mit der zuständigen Kripo die Unterlagen von dem Fall durchgeht. Stewart, können Sie das übernehmen?«
»Sicher. Das müsste die Kripo Chapeltown sein.«
Banks wusste, dass Chapeltown ganz heiß darauf sein würde. Es wäre ein Rundumschlag - eine einfache Möglichkeit, mehrere offene Akten auf einen Streich zu schließen.
»Des Weiteren haben wir Paynes Kennzeichen bei der Kfz-Meldestelle in Swansea überprüft. Er hat falsche Schilder benutzt. Sein eigenes endet auf KWT, wie die Zeugin im Samantha-Foster-Fall beobachtet hat. Die Spurensicherung hat die Schilder in der Garage gefunden. Das bedeutet, dass er bereits von der Kripo Bradford verhört worden sein muss. Ich könnte mir vorstellen, dass er anschließend die Schilder ausgewechselt hat.«
»Was ist mit Dennis Morrisey?«, fragte jemand.
»PC Morrisey starb an Blutverlust, verursacht durch eine durchtrennte Halsschlagader und Halsvene, wie Dr. Mackenzies Untersuchung am Tatort ergeben hat. Er wird heute noch obduziert. Sie können sich vorstellen, was für eine Schlange unten im Leichenkeller ist. Der Doc kann Hilfe gebrauchen. Hat jemand Lust?«
Nervöses Lachen.
»Was ist mit Janet Taylor?«, fragte einer der Beamten.
»Sie kommt zurecht«, erwiderte Banks. »Ich habe gestern Abend mit ihr gesprochen. Sie war in der Lage, mir zu schildern, was im Keller passiert ist. Wie Sie wohl alle wissen, wird gegen sie ermittelt. Halten wir also lieber ein bisschen Abstand.«
Buhrufe wurden laut. Banks bat um Ruhe. »Das ist Vorschrift«, sagte er. »Auch wenn uns das nicht passt. Keiner von uns steht über dem Gesetz. Aber wir wollen uns davon nicht ablenken lassen. Unser Job ist noch lange nicht vorbei. Eigentlich fängt er jetzt erst an. Es wird bergeweise Material von der forensischen Untersuchung kommen. Das muss alles beschriftet, protokolliert und abgelegt werden. HOLMES ist immer noch in Betrieb, es müssen also die grünen Zettel ausgefüllt und eingegeben werden.«
Banks hörte Carol Houseman aufstöhnen, die zur HOLMES-Spezialistin ausgebildet war: »Oh, verdammt noch mal!«
»Tut mir Leid, Carol«, sagte er mit verständnisvollem Lächeln. »Geht nicht anders. Sagen wir mal so: Egal, was passiert ist, wir haben fürs Erste genug zu tun. Wir müssen Beweise sammeln. Wir müssen ohne jeden Zweifel beweisen, dass Terence Payne der Mörder der fünf vermissten Mädchen ist.«
»Was ist mit seiner Frau?«, fragte jemand. »Die muss doch was gewusst haben.«
Genau das hatte Ken Blackstone auch gesagt. »Das wissen wir nicht«, entgegnete Banks. »Zunächst einmal ist sie Opfer. Aber ob sie möglicherweise beteiligt war, gehört zu den Fragen, mit denen wir uns näher beschäftigen müssen. Es ist bekannt, dass Payne möglicherweise einen Komplizen gehabt hat. Ich werde wohl noch heute Vormittag mit ihr sprechen können.« Banks schaute auf die Uhr und wandte sich an Sergeant Filey. »Bis dahin, Ted, hätte ich gerne, dass Sie eine Mannschaft zusammenstellen, die noch einmal sämtliche Aussagen überprüft und alle Personen befragt, die nach den Vermisstenmeldungen bereits vernommen worden sind. Familie, Freunde, Zeugen, alle. Okay?«
»Geht in Ordnung, Boss«, sagte Ted Filey.
Banks konnte es nicht leiden, »Boss« genannt zu werden, sagte aber nichts. »Besorgen Sie sich ein paar Fotos von Lucy Payne und zeigen Sie sie allen, mit denen Sie sprechen. Vielleicht kann sich jemand erinnern, sie im Zusammenhang mit den vermissten Mädchen gesehen zu haben.«
Das Gemurmel wurde lauter, Banks sorgte erneut für Ruhe. »Fürs Erste möchte ich, dass alle engen Kontakt zum Dienststellenleiter halten, unserem Kollegen Grafton ...«
Jubel wurde laut, Ian Grafton errötete.
»Er verteilt Aufgaben und Anweisungen zur Zeugenbefragung, und davon wird es jede Menge geben. Ich möchte wissen, was Terence und Lucy Payne zum Frühstück essen und wie oft sie aufs Klo gehen. Dr. Füller vermutet, Payne könnte seine Taten zur Erinnerung bildlich festgehalten haben - am wahrscheinlichsten auf Video, aber vielleicht auch auf normalen Fotos. Bisher haben wir am Tatort nichts gefunden, aber wir müssen eruieren, ob die Paynes eine Videoausrüstung besitzen oder gemietet haben.«
Bei der Erwähnung von Jenny Füller registrierte Banks skeptische Blicke. Die typische Engstirnigkeit, dachte er. Beratende Psychologen besaßen zwar keine magischen Kräfte und konnten nicht innerhalb weniger Stunden den Namen des Mörders nennen, aber nach Banks' Erfahrung halfen sie, die Suche einzuschränken und das geografische Umfeld zu begrenzen, in dem der Täter mutmaßlich lebte. Warum sollte man keinen Psychologen zu Rate ziehen? Im besten Fall half er, im schlimmsten Fall störte er nicht weiter. »Vergessen Sie nicht«, fuhr er fort, »dass fünf Mädchen entführt, vergewaltigt und ermordet wurden. Fünf Mädchen. Ich muss Ihnen wohl nicht sagen, dass jede davon Ihre Tochter sein könnte. Wir glauben, dass wir den Schuldigen haben, aber es ist noch nicht heraus, ob er allein gehandelt hat. Bis wir bewiesen haben, dass er es gewesen ist, egal wie es ihm geht, gibt es keine Schlamperei in dieser Mannschaft! Verstanden?«
Die versammelten Polizisten murmelten: »Ja, Sir«, dann löste sich die Gruppe langsam auf. Einige zog es nach draußen zur ersehnten Zigarette, andere lehnten sich im Stuhl zurück.
»Noch etwas«, sagte Banks. »Die Constables Bowmore und Singh in mein Büro. Sofort.«
Nach einer kurzen Unterredung mit Area Commander Hartnell - er warf ihr tiefe Blicke zu, hundertprozentig - und Banks, dem die Situation offenbar unangenehm war, überbrückte DI Annie Cabbot die Zeit in dem ihr zugewiesenen kleinen Büro, indem sie die Akte von PC Janet Taylor las. Da Janet Taylor nicht verhaftet war, sondern freiwillig kam, hatte Hartnell persönlich entschieden, dass ein Büro eine weitaus weniger einschüchternde Umgebung für ein Vorgespräch sei als der schmuddelige Vernehmungsraum.
PC Taylors Akte beeindruckte Annie. Es bestand wenig Zweifel, dass sie vom beschleunigten Beförderungsverfahren profitieren und es innerhalb von fünf Jahren zum Inspector bringen würde, wenn sie in allen Punkten entlastet werden konnte. Janet Taylor kam aus Yorkshire, aus Pudsey, hatte A-Level in vier Fächern abgelegt und einen Abschluss in Soziologie von der Universität Bristol. Sie war erst dreiundzwanzig Jahre alt, ledig und wohnte allein. In allen Zulassungsprüfungen hatte sie hohe Punktzahlen erreicht und verfügte nach Einschätzung derer, die sie geprüft hatten, über ein klares Verständnis von der Komplexität der Polizeiarbeit in einer mannigfaltigen Gesellschaft sowie über die kognitiven Fähigkeiten und die Ambition, Probleme zu lösen - gute Voraussetzungen für einen Kriminalbeamten. Janet war bei guter Gesundheit und nannte als Hobbys Squash, Tennis und Computer. Während des Studiums hatte sie im Sommer für die Gebäudesicherheit eines Einkaufszentrums in Leeds gearbeitet, Kameras überwacht und in der Fußgängerzone ihre Runden gedreht. Außerdem hatte Janet freiwillige Arbeit in ihrer Gemeinde geleistet und alten Menschen geholfen.
Das alles klang für Annie, die in einer Künstlerkommune in der Nähe von St. Ives inmitten von komischen Käuzen, Hippies und Sonderlingen aller Art aufgewachsen war, ziemlich langweilig. Annie hatte erst spät zur Polizei gefunden. Sie besaß einen Universitätsabschluss, aber in Kunstgeschichte - keine große Hilfe bei der Polizei. Sie war nicht in den Genuss des beschleunigten Beförderungsverfahrens gekommen, weil es an ihrer alten Dienststelle einen Zwischenfall gegeben hatte: Auf der Feier nach ihrer Beförderung zum Sergeant hatten drei Kollegen versucht, sie zu vergewaltigen. Einem war es gelungen. Erst danach hatte sie sich wehren können. Traumatisiert hatte sie den Vorfall erst am nächsten Morgen gemeldet, nachdem sie stundenlang in der Badewanne gesessen und alle Beweise fortgewaschen hatte. Der Vorgesetzte hatte trotz Annies Aussage den drei Beamten geglaubt, die zwar einräumten, dass alles ein bisschen außer Kontrolle geraten sei, weil die betrunkene Annie sie angemacht habe, aber darauf bestanden, dass sie sich in der Gewalt gehabt hätten und kein sexueller Übergriff stattgefunden habe.
Für lange Zeit war Annie ihre berufliche Laufbahn ziemlich egal gewesen. Das Wiedererwachen ihres Ehrgeizes hatte niemanden mehr überrascht als sie selbst. Dazu gehörte, sich mit der Vergewaltigung und ihren Folgen auseinander zu setzen - eine komplizierte, traumatische Erfahrung, die ein Außenstehender nicht nachvollziehen konnte -, aber sie hatte es geschafft. Und jetzt war sie ein ausgewachsener Inspector und untersuchte für Detective Superintendent Chambers, der offensichtlich einen Riesenbammel vor dem Auftrag hatte, einen polizeipolitisch brisanten Fall.
Es klopfte, und eine junge Frau trat ein. Sie hatte kurzes schwarzes Haar, das einen ziemlich leblosen Eindruck machte. »Man hat mir gesagt, Sie wären hier«, sagte sie.
Annie stellte sich vor. »Setzen Sie sich, Janet.«
Janet nahm Platz und versuchte, es sich auf dem harten Stuhl bequem zu machen. Sie sah aus, als hätte sie die ganze Nacht nicht geschlafen, was Annie nicht im Geringsten wunderte. Janets Gesicht war blass, unter den Augen hatte sie dunkle Ringe. Abgesehen von den Spuren des abgrundtiefen Grauens und der Schlaflosigkeit, war Janet Taylor möglicherweise eine hübsche Frau. Auf jeden Fall hatte sie wunderschöne Augen mit sandfarbenen Pupillen und hohe Wangenknochen, der Grundstein so mancher Modelkarriere. Sie wirkte sehr ernst, niedergedrückt von der Last des Lebens, aber das konnte auch die Folge der jüngsten Ereignisse sein.
»Wie geht's ihm?«, fragte Janet.
»Wem?«
»Sie wissen schon, Payne.«
»Er hat das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt.«
»Wird er überleben?«
»Das weiß man noch nicht, Janet.«
»Okay. Ich meine, ist nur weil... hm, es macht wohl einen Unterschied. Für meinen Fall, meine ich.«
»Wenn er stirbt? Ja, macht es. Aber darüber wollen wir uns zunächst mal keine Gedanken machen. Ich möchte, dass Sie mir erzählen, was in Paynes Keller passiert ist. Anschließend werde ich Ihnen ein paar Fragen stellen. Dann möchte ich Sie bitten, Ihre Aussage schriftlich niederzulegen. Das hier ist keine Vernehmung, Janet. Sie haben in dem Keller bestimmt die Hölle durchgemacht, keiner will Sie wie eine Straftäterin behandeln. Aber es gibt Richtlinien für solche Fälle, an die wir uns halten müssen, und je eher wir damit anfangen, desto besser.« Annie sagte nicht die volle Wahrheit, aber sie wollte Janet Taylor nicht unnötig belasten. Ihr war klar, dass sie ein wenig bohren und nachhaken musste, vielleicht sogar hin und wieder hart durchgreifen. Das war ihre Fragetechnik; schließlich kam die Wahrheit oft erst unter einem gewissen Druck heraus. Annie wollte es drauf ankommen lassen, und wenn sie Janet Taylor ein bisschen würde zusetzen müssen, dann sollte es so sein. Scheiß auf Chambers und Hartnell. Wenn sie diesen Scheißjob machen musste, dann richtig.
»Keine Sorge«, sagte Janet. »Ich habe nichts gemacht, was ich nicht durfte.«
»Bestimmt nicht. Dann erzählen Sie mal!«
Janet Taylor berichtete ziemlich gelangweilt und distanziert, als sei sie alles schon hundert Mal durchgegangen oder schildere die Erlebnisse eines anderen Menschen. Annie beobachtete ihre Körpersprache. Janet rutschte auf dem Stuhl herum und knetete die Hände im Schoß. Als sie auf die schrecklichen Momente zu sprechen kam, verschränkte sie die Arme vor der Brust. Ihre Stimme wurde flacher, ausdrucksloser. Annie ließ sie weiterreden und machte sich Notizen zu Punkten, die ihr wichtig erschienen. Janet beendete ihre Schilderung nicht, sondern verlor sich in Gedanken, nachdem sie beschrieben hatte, wie sie schließlich auf den Krankenwagen gewartet hatte, Dennis Morriseys Kopf auf ihrem Schoß, sein warmes Blut auf ihren Oberschenkeln. An dieser Stelle ihres Berichts hob sie die Augenbrauen und runzelte die Stirn. Sie hatte Tränen in den Augen.
Als Janet verstummt war, schwieg Annie eine Weile. Dann fragte sie, ob Janet etwas trinken wolle. Sie bat um Wasser, und Annie holte ihr einen Becher vom Wasserspender. Es
war warm im Zimmer, deshalb brachte sie sich selbst auch einen mit.
»Noch ein paar Fragen, Janet. Dann lasse ich Sie in Ruhe, damit Sie Ihre Aussage niederschreiben können.«
Janet gähnte. Sie hielt die Hand vor den Mund, entschuldigte sich aber nicht. Normalerweise hätte Annie ein Gähnen als Zeichen von Angst oder Nervosität gedeutet, aber Janet Taylor hatte guten Grund, müde zu sein, deshalb maß Annie dem jetzt nicht so viel Bedeutung bei.
»Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als es passierte?«, fragte Annie.
»Was mir durch den Kopf gegangen ist? Ich glaube nicht, dass ich irgendwas gedacht habe. Ich hab nur reagiert.«
»Haben Sie an Ihre Ausbildung gedacht?«
Janet Taylor lachte, aber es klang gezwungen. »Auf so was wird man in der Ausbildung nicht vorbereitet.«
»Was ist mit Ihrem Schlagstocktraining?«
»Darüber musste ich nicht nachdenken. Das kam von selbst.«
»Sie fühlten sich bedroht.«
»Zu Recht. Der Typ hatte Dennis aufgeschlitzt und wollte als Nächstes auf mich los. Das Mädchen auf dem Bett hatte er auch umgebracht.«
»Woher wussten Sie, dass sie tot war?«
»Was?«
»Kimberley Myers. Woher wussten Sie, dass sie tot war? Sie sagten, es wäre alles sehr schnell gegangen. Bevor er Sie angriff, hätten Sie sie nur aus dem Augenwinkel gesehen.«
»Ich ... ich bin wohl einfach davon ausgegangen. Ich meine, sie lag da nackt auf dem Bett mit einem gelben Strick um den Hals. Die Augen waren offen. Das konnte man schon annehmen.«
»Gut«, sagte Annie. »Also kam Ihnen nicht in den Sinn, sie zu retten, zu schützen?«
»Nein. Ich hatte nur Dennis im Kopf.«
»Und was als Nächstes mit Ihnen passieren würde?«
»Ja.« Janet trank einen Schluck. Wasser rann ihr das Kinn hinunter und tropfte auf ihr graues T-Shirt, ohne dass sie es zu bemerken schien.
»Deshalb haben Sie den Schlagstock herausgeholt. Und dann?«
»Hab ich doch gesagt. Er kam mit diesem verrückten Blick auf mich zu.«
»Und er hieb mit seiner Machete nach Ihnen?«
»Ja. Ich konnte den Schlag mit dem Knüppel abwehren. Ich hatte ihn seitlich am Arm, wie wir es gelernt haben. Dann hab ich ausgeholt und ihn getroffen, bevor er wieder mit der Machete loslegen konnte.«
»Wo haben Sie ihn als Erstes getroffen?«
»Am Kopf.«
»Wo genau am Kopf?«
»Weiß ich nicht. Hab ich nicht drauf geachtet.«
»Aber Sie wollten ihn außer Gefecht setzen, oder?«
»Ich wollte ihn daran hindern, mich zu töten.«
»Also mussten Sie ihn so treffen, dass es wirkte?«
»Hm, ich bin Rechtshänderin, deshalb nehme ich an, dass ich ihn auf der linken Seite am Kopf getroffen habe, irgendwo an der Schläfe.«
»Ist er hingefallen?«
»Nein, aber er war benommen. Er konnte nicht mehr mit der Machete ausholen.«
»Wo haben Sie ihn dann getroffen?«
»Am Handgelenk, glaube ich.«
»Um ihn zu entwaffnen?«
»Ja.«
»Klappte das?«
»Ja.«
»Was haben Sie dann gemacht?«
»Ich hab die Machete in die Ecke getreten.«
»Was machte Payne?«
»Er hielt sich die Hand und fluchte.«
»Bis dahin hatten Sie ihn einmal auf die Schläfe und einmal aufs Handgelenk geschlagen?«
»Genau.«
»Was haben Sie dann gemacht?«
»Ich hab ihn noch mal geschlagen.«
»Wohin?«
»Auf den Kopf.«
»Warum?«
»Um ihn kampfunfähig zu machen.«
»Stand er da noch?«
»Ja. Davor hatte er auf den Knien gehockt, weil er nach der Machete gesucht hat, aber dann ist er aufgestanden und auf mich zugekommen.«
»Unbewaffnet?«
»Ja, aber er war trotzdem größer und stärker als ich. Und er hatte diesen verrückten Blick, als hätte er noch jede Menge Kraft.«
»Deshalb haben Sie ihn noch mal geschlagen?«
»Ja.«
»Auf die gleiche Stelle?«
»Keine Ahnung. Ich hab den Schlagstock wie vorher gehalten. Also, ja, ich denke schon, es sei denn, er hat sich halb zur Seite gedreht.«
»Hat er das?«
»Glaube ich nicht.«
»Aber möglich ist es? Ich meine, Sie haben es ja gerade selbst gesagt.«
»Es wird wohl möglich sein, aber ich wüsste nicht, warum.«
»Sie haben ihn zu keinem Zeitpunkt auf den Hinterkopf geschlagen?«
»Ich glaube nicht.«
Nun begann Janet zu schwitzen. Annie sah Schweißperlen an ihrem Haaransatz und dunkle Flecken, die sich unter ihren Armen ausbreiteten. Sie wollte der armen Frau nicht noch mehr zusetzen, aber sie musste ihre Arbeit machen, und sie konnte hart sein, wenn es nötig war. »Was ist passiert, nachdem Sie Payne zum zweiten Mal auf den Kopf geschlagen haben?«
»Nichts.«
»Wie meinen Sie das, nichts?«
»Nichts. Er ging trotzdem wieder auf mich los.«
»Da haben Sie ihn noch mal geschlagen.«
»Ja. Ich hab den Knüppel in beide Hände genommen, wie einen Cricketschläger, damit ich mehr Kraft hatte.«
»Zu dem Zeitpunkt hatte er nichts, womit er sich wehren konnte, oder?«
»Nur seine Arme.«
»Hat er sie denn hochgehalten, um sich vor dem Schlag zu schützen?«
»Er hat sich das Handgelenk gehalten. Ich glaube, es war gebrochen. Ich hatte was knacken hören.«
»Sie hatten also freie Hand, ihn so heftig zu schlagen, wie Sie wollten?«
»Er hat mich einfach nicht in Ruhe gelassen.«
»Sie meinen, er ging weiterhin auf Sie los?«
»Ja, und er hat mich beschimpft.«
»Wie hat er Sie beschimpft?«
»Mit dreckigen Wörtern. Und Dennis hat gestöhnt und geblutet. Ich wollte zu ihm und gucken, ob ich ihm helfen kann, aber erst durfte Payne sich nicht mehr bewegen.«
»Sie hatten nicht das Gefühl, ihn zu dem Zeitpunkt mit Handschellen ruhig stellen zu können?«
»Auf keinen Fall! Ich hatte ihm schon zwei- oder dreimal eine übergezogen, aber es schien ihm überhaupt nichts auszumachen. Er hörte einfach nicht auf. Wenn ich ihm zu nahe gekommen wäre und er mich zu fassen gekriegt hätte, dann hätte er mich so lange gewürgt, bis Schluss gewesen wäre.«
»Auch mit gebrochenem Handgelenk?«
»Ja. Er hätte mir den Arm um den Hals gelegt.«
»Aha.« Annie machte eine Pause, um sich etwas zu notieren. Sie konnte Janet Taylors Angst fast riechen, wusste nur nicht genau, ob sie ein Überbleibsel aus dem Keller war oder von den gegenwärtigen Umständen rührte. Annie zögerte das Schreiben hinaus, bis Janet herumrutschte und nervös wurde. Dann fragte sie: »Was meinen Sie, wie oft haben Sie ihn insgesamt geschlagen?«
Janet wich Annies Blick aus. »Weiß ich nicht. Ich hab nicht mitgezählt. Ich hab um mein Leben gekämpft. Ich hab mir diesen Verrückten vom Hals gehalten.«
»Fünfmal? Sechsmal?«
»Hab ich doch gerade gesagt. Ich weiß es nicht mehr. So oft wie nötig. Damit er endlich Ruhe gab. Er wollte einfach immer wieder auf mich los.« Janet schluchzte auf, und Annie ließ sie weinen. Es war das erste Mal, dass sich die Gefühle Bahn brachen. Es würde ihr guttun. Nach ein, zwei Minuten riss Janet sich zusammen und trank etwas. Sie schämte sich offenbar, vor einer Kollegin Gefühle gezeigt zu haben.
»Ich bin jetzt fast durch, Janet«, sagte Annie. »Dann lasse ich Sie in Ruhe.«
»Gut.«
»Irgendwann haben Sie es dann geschafft, ihn unten zu halten, oder?«
»Ja. Er ist gegen die Wand gefallen und runtergerutscht.«
»Hat er sich danach noch bewegt?«
»Nicht groß. Er hat ein bisschen gezuckt und laut geatmet. Er hatte Blut am Mund.«
»Letzte Frage, Janet: Haben Sie ihn geschlagen, nachdem er zu Boden ging?«
Ihre Augenbrauen zogen sich vor Angst zusammen. »Nein. Glaube ich nicht.«
»Was haben Sie dann gemacht?«
»Ich hab ihn mit den Handschellen an das Rohr gefesselt.«
»Und dann?«
»Bin ich zu Dennis gegangen.«
»Sind Sie ganz sicher, dass Sie ihn nicht ein weiteres Mal geschlagen haben, nachdem er zu Boden gegangen war? Nur um auf Nummer sicher zu gehen?«
Janet wandte den Blick ab. »Hab ich doch schon gesagt. Ich glaube nicht. Warum sollte ich?«
Annie beugte sich vor und legte die Arme auf den Schreibtisch. »Versuchen Sie sich zu erinnern, Janet.«
Aber Janet schüttelte den Kopf. »Es nützt nichts. Es fällt mir nicht mehr ein.«
»Gut«, sagte Annie und erhob sich. »Befragung beendet.« Sie schob Janet ein Erklärungsformular und einen Stift hin. »Halten Sie bitte so ausführlich wie möglich fest, was Sie mir gerade erzählt haben.«
Janet griff zum Stift. »Was passiert jetzt?«
»Wenn Sie fertig sind, meine Liebe, gehen Sie nach Hause und trinken einen. Ach, trinken Sie zwei!«
Janet rang sich ein schwaches, aber ehrliches Lächeln ab, und Annie schloss die Tür hinter ihr.
Mit einem betretenen Gesichtsausdruck spazierten die Detective Constables Bowmore und Singh in Banks' provisorisches Büro in Millgarth. Na wartet, dachte Banks.
»Setzen Sie sich!«, sagte er.
Sie nahmen Platz. »Worum geht's, Sir?«, fragte Singh bemüht ungezwungen. »Haben Sie 'nen neuen Job für uns?«
Banks lehnte sich auf dem Stuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Könnte man so sagen«, entgegnete er. »Wenn man Bleistifte anspitzen und Mülleimer leeren als Job bezeichnen kann.«
Den beiden fiel die Kinnlade herunter. »Sir ...«, begann Bowmore, aber Banks hob die Hand.
»Ein Nummernschild, das auf KWT endet. Sagt Ihnen das was?«
»Wie bitte?«
»KWT. Kathryn Wendy Thurlow.«
»Ja, Sir«, erwiderte Singh. »Das ist das Kennzeichen, das die Kripo Bradford bei der Samantha-Foster-Ermittlung herausbekommen hat.«
»Bingo!«, sagte Banks. »Nun, korrigieren Sie mich bitte, falls ich mich irre, aber hat uns Bradford nicht Kopien von sämtlichen Unterlagen im Samantha-Foster-Fall geschickt, als unsere Soko zusammengestellt wurde?«
»Ja, Sir.«
»Unter anderem die Namen aller Einwohner von Leeds, die ein dunkles Auto mit einem Kennzeichen haben, das auf KWT endet.«
»Mehr als tausend, Sir.«
»Mehr als tausend. Genau. Und die Kripo Bradford hat sie alle befragt. Jetzt raten Sie mal, wer unter diesen tausend ist!«
»Terence Payne«, antwortete Singh.
»Kluger Junge!«, lobte Banks. »Nun, als Bradford den Fall bearbeitete, gab es da schon Hinweise auf ähnliche Verbrechen?«
»Nein, Sir«, erwiderte jetzt Bowmore. »Bis dahin war nur ein Mädchen von der Silvesterparty im Roundhay Park verschwunden, aber damals gab es noch keinen Grund zur Annahme, dass beide Fälle etwas miteinander zu tun haben könnten.«
»Genau«, sagte Banks. »Warum also, glauben Sie, habe ich wohl kurz nach Gründung dieser Soko die Anordnung ausgegeben, das gesamte Material über die älteren Fälle, darunter auch Samantha Foster, erneut durchzugehen?«
»Weil Sie glaubten, dass es eine Verbindung gibt, Sir«, sagte Singh.
»Nicht nur ich«, setzte Banks hinzu. »Aber stimmt, drei Mädchen, so viele waren es damals. Dann vier. Dann fünf. Es wurde immer wahrscheinlicher, dass die Fälle was miteinander zu tun hatten. Und jetzt raten Sie mal, wer die Aufgabe hatte, die Unterlagen über Samantha Foster durchzuarbeiten?«
Singh und Bowmore warfen sich einen Blick zu, runzelten die Stirn und schauten Banks an. »Wir, Sir«, sagten sie gleichzeitig.
»Dazu gehörte auch, die Fahrzeughalter auf der Liste, die die Kripo Bradford aus Swansea bekommen hat, nochmals zu befragen.«
»Mehr als tausend, Sir.«
»Allerdings«, bestätigte Banks. »Aber gehe ich recht in der Annahme, dass Sie jede Menge Unterstützung hatten, dass die Aufgabe auf mehrere Kollegen verteilt war und dass der Buchstabe P zu denen des Alphabets gehört, für die Sie zuständig waren? Das steht nämlich in meinen Unterlagen. P wie Payne.«
»Es waren trotzdem viele, Sir. Wir sind immer noch nicht ganz durch.«
»Sie sind immer noch nicht durch? Das war Anfang April. Jetzt haben wir Mai! Sie hatten es wohl nicht gerade eilig, was?«
»Ist ja nicht so, als ob das unsere einzige Aufgabe gewesen wäre, Sir«, warf Bowmore ein.
»Jetzt reicht es mir aber!«, rief Banks. »Ich will keine Ausreden mehr hören. Aus irgendeinem Grund haben Sie verpennt, Terence Payne ein zweites Mal zu befragen.«
»Aber es hatte nichts geändert, Sir«, behauptete Bowmore. »Ich meine, die Kripo Bradford hatte ja nicht unbedingt ein Kreuz drangemacht, Verdächtiger Nr. 1, oder? Was sollte der uns denn verraten, das er denen nicht gesagt hat? Der hätte doch nicht zur Abwechslung mal ein Geständnis abgelegt, nur weil wir jetzt plötzlich mit ihm reden wollten, oder?«
Banks fuhr sich durchs Haar und stieß einen leisen Fluch aus. Von Natur aus war er eigentlich keine Autoritätsperson - alles andere als das. Er hasste diesen Aspekt seiner Arbeit, andere zusammenzuscheißen, hatte er doch selbst oft genug auf der anderen Seite gestanden. Aber wenn es jemals einer verdient hatte, von ihm so richtig zur Sau gemacht zu werden, dann diese beiden Obertrottel. »Ist das ein Beispiel dafür, wie es aussieht, wenn Sie die Initiative ergreifen?«, fragte er. »Wenn ja, dann sind Sie besser beraten, sich an die Vorschriften zu halten und Ihre Anordnungen zu befolgen.«
»Aber, Sir«, warf Singh ein, »der Typ war Lehrer. Frisch verheiratet. Schönes Haus. Wir haben alle Protokolle durchgelesen.«
»Entschuldigung«, sagte Banks und schüttelte den Kopf. »Habe ich da irgendwas verpasst?«
»Wie meinen Sie das, Sir?«
»Also, ich kann mich nicht erinnern, dass Dr. Füller uns zu dem Zeitpunkt bereits ein Profil der Person gegeben hätte, die wir suchten.«
Singh grinste. »Wir haben überhaupt noch nicht viel von ihm bekommen, wenn man's richtig überlegt, oder?«
»Aus welchem Grund also waren Sie der Ansicht, einen frisch verheirateten Lehrer mit schönem Haus ausschließen zu können?«
Singh öffnete und schloss den Mund wie ein Fisch. Bowmore schaute auf seine Schuhe.
»Nun?«, hakte Banks nach. »Ich höre.«
»Ach, Sir«, sagte Singh. »Es tut mir Leid, aber wir sind noch nicht bis zu ihm gekommen.«
»Haben Sie überhaupt schon mit irgendwelchen Personen von der Liste gesprochen?«
»Mit einigen schon, Sir«, stammelte Singh. »Diejenigen, die Bradford als mögliche Täter angestrichen hatte. Da war einer dabei, der als Exhibi vorbestraft war, aber der hatte ein wasserfestes Alibi für Leanne Wray und Melissa Horrocks. Den haben wir überprüft, Sir.«
»Wenn Sie also nichts Besseres zu tun hatten, haben Sie die Zeit totgeschlagen, indem Sie ein, zwei Namen von der Liste abgehakt haben, nämlich die, die Bradford angestrichen hatte? Ist das richtig?«
»Das ist ungerecht, Sir«, entgegnete Bowmore.
»Ungerecht? Ich sag Ihnen mal, was scheißungerecht ist, Bowmore. Es ist scheißungerecht, dass, soweit wir wissen, mindestens fünf Mädchen durch die Hand von Terence Payne ums Leben kamen. Das ist ungerecht.«
»Aber das hätte er doch nicht zugegeben, Sir«, protestierte Singh.
»Und ich dachte, Sie wären bei der Kripo! Ich will mich mal einfach ausdrücken. Wenn Sie Payne letzten Monat einen Besuch abgestattet hätten, wie angeordnet, dann wären vielleicht ein oder zwei Mädchen weniger gestorben.«
»Das können Sie uns nicht anhängen«, widersprach Bowmore mit rotem Gesicht. »Das ist echt nicht drin.«
»Ach, das ist nicht drin? Und wenn Sie bei der Befragung etwas Verdächtiges gesehen oder gehört hätten? Wenn Ihr erstklassig ausgebildeter kriminalistischer Instinkt etwas gemerkt hätte und Sie Payne gefragt hätten, ob Sie sich mal umsehen dürfen?«
»Aber die Kripo Bradford ...«
»Es ist mir scheißegal, was Bradford gemacht hat! Die haben nur einen einzigen Fall bearbeitet: das Verschwinden von Samantha Foster. Sie hingegen haben in einer Reihe von Entführungen ermittelt. Wenn sich ein Grund ergeben hätte, in den Keller zu gucken, dann hätten Sie ihn gehabt, glauben Sie mir! Selbst wenn Sie nur in seiner Videosammlung herumgestöbert hätten, wären Sie vielleicht misstrauisch geworden. Wenn Sie sich sein Auto angeguckt hätten, wären Ihnen die falschen Kennzeichen aufgefallen. Die er jetzt dranhat, enden nämlich auf NGV, nicht auf KWT. Da hätten bei Ihnen möglicherweise die Alarmglocken geschrillt, meinen Sie nicht"? Stattdessen beschließen Sie in Ihrer Selbstherrlichkeit, dass es mit dieser Aufgabe nicht besonders eilig ist. Möchte mal wissen, was Sie stattdessen für so überaus wichtig gehalten haben. Nun?«
Beide sahen zu Boden.
»Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung vorzubringen?«
»Nichts, Sir«, entgegnete Singh schmallippig.
»Ich gehe sogar zu Ihren Gunsten davon aus, dass Sie mit anderen Sachen beschäftigt waren und sich nicht schlicht und einfach gedrückt haben«, sagte Banks. »Vergeigt haben Sie es trotzdem.«
»Aber er hatte schon die Kripo Bradford angelogen«, argumentierte Bowmore. »Mit uns hätte er dasselbe gemacht.«
»Es will einfach nicht in Ihren Schädel, was?«, blaffte Banks. »Ich hab's jetzt zehnmal erklärt. Sie sind hier bei der Kripo!"Sie nehmen nicht alles für bare Münze! Vielleicht wäre Ihnen an seiner Körpersprache was aufgefallen. Vielleicht hätten Sie ihn bei einer Lüge ertappt. Vielleicht - gottbewahre! - hätten Sie eins seiner Alibis überprüft und gemerkt, dass es nicht stimmt. Oder was anderes hätte Sie ein bisschen misstrauisch gemacht. Drücke ich mich deutlich genug aus? Sie hatten mindestens zwei, vielleicht sogar drei Anhaltspunkte mehr als Bradford, und Sie haben es verbockt! Ich nehme Ihnen diesen Fall ab, Ihnen beiden, und das kommt in Ihre Personalakte! Verstanden?«
Bowmore sah Banks an, als wollte er ihn töten. Singh schien den Tränen nahe, aber im Moment hatte Banks mit keinem von beiden Mitleid. Rasende Kopfschmerzen kündigten sich an. »Machen Sie, dass Sie rauskommen!«, rief er. »Und im Besprechungsraum will ich Sie auch nicht mehr sehen !«
Maggie suchte Zuflucht in Ruths Atelier. Die Frühlingssonne fiel durch das Fenster. Sie öffnete es einen Spaltbreit, um etwas Luft hereinzulassen. Das Atelier im ersten Stock war ein großer Raum nach hinten hinaus, eigentlich das dritte Schlafzimmer. Auch wenn die Aussicht einiges zu wünschen übrig ließ - ein ekliger, verdreckter Gang, dahinter sozialer Wohnungsbau -, war das Zimmer selbst doch perfekt auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten. Außer den drei Zimmern, der Toilette und dem Bad verfügte das Haus noch über einen Speicher, den man über eine ausziehbare Leiter erreichte. Ruth benutzte ihn als Abstellkammer. Maggie lagerte dort nichts; sie ging noch nicht einmal dort hinauf, denn verstaubte, vergessene Orte voller Spinnen machten sie nervös. Schon bei dem bloßen Gedanken daran musste sie sich schütteln. Außerdem hatte sie eine Allergie, beim kleinsten Staubkörnchen begannen ihre Augen zu brennen und die Nase zu jucken.
Das Atelier hatte heute noch einen Vorteil: Maggie wurde nicht ständig von dem abgelenkt, was auf der Straße vor sich ging. Die war wieder für den Verkehr freigegeben, aber Nummer 35 war abgesperrt. Unablässig kamen und gingen Menschen, trugen Kisten und Tüten mit Gott weiß was heraus. Natürlich konnte Maggie die Ereignisse nicht völlig verdrängen, hatte aber keine Tageszeitung gelesen und einen Radiosender eingestellt, der nur selten Nachrichten brachte.
Maggie entwarf die Illustrationen für eine neue Geschenkausgabe von Grimms Märchen, sie skizzierte Details und entwickelte Szenen. Als sie die Märchen zum ersten Mal seit Kindertragen wieder gelesen hatte, war ihr aufgefallen, wie düster und grausam die Geschichten waren. Früher hatte sie keinen Zugang zu ihnen gefunden, waren sie ihr übertrieben vorgekommen, aber jetzt waren Grausamkeit und Gewalt nur allzu wirklich. Just hatte sie eine Skizze für »Rumpelstilzchen« fertig gestellt, den bösen Zwerg, der der Müllerstochter half, Stroh zu Gold zu spinnen, wenn sie ihm dafür ihr Erstgeborenes gab. Maggie fand ihre Illustration ein bisschen zu romantisch - ein trauriges Mädchen am Spinnrad und im Hintergrund nur angedeutet zwei brennende Augen und der schattenhafte Umriss des Zwergs. Aber sie konnte wohl kaum die Stelle bebildern, wo er so heftig aufstampfte, dass er mit dem Fuß durch den Boden brach und sich das Bein beim Herausziehen abriss. Sachdienliche Brutalität. Die Märchen suhlten sich nicht in Blut und Eingeweiden, wie es heute so viele Filme1 taten - Spezialeffekte um ihrer selbst willen aber grausam waren sie trotzdem.
Jetzt arbeitete Maggie an »Rapunzel«. Ihre Entwürfe zeigten ein junges Mädchen - wieder ein Erstgeborenes, das von seinen leiblichen Eltern getrennt worden war. Es ließ sein langes blondes Haar von einem Turm herunter, in dem es von einer Hexe gefangen gehalten wurde. Auch hier gab es ein gutes Ende: Die Hexe wurde von einem Wolf verschlungen, der nur ihre krallenartigen Hände und Füße ausspie. Sie wurden von Würmern und Käfern gefressen.
Maggie versuchte gerade, den dicken Zopf und die Neigung von Rapunzels Kopf so hinzubekommen, dass es den Eindruck machte, das Gewicht des Prinzen würde getragen, da klingelte das Telefon.
Maggie nahm im Atelier ab. »Ja?«
»Margaret Forrest?«, fragte eine Frauenstimme. »Spreche ich mit Margaret Forrest?«
»Wer ist da?«
»Sind Sie es, Margaret? Ich heiße Lorraine Temple. Wir kennen uns noch nicht.«
»Worum geht es?«
»Ich habe gehört, dass Sie gestern Morgen bei der Polizei angerufen haben. Wegen dem Ehestreit auf The Hill.«
»Wer sind Sie? Sind Sie von der Presse?«
»Ach, hab ich das nicht gesagt? Ja, ich schreibe für die Post.«
»Ich darf nicht mit Ihnen sprechen. Legen Sie auf!«
»Hören Sie, ich bin hier unten an der Straße, Maggie. Ich telefoniere von meinem Handy. Die Polizei lässt mich nicht näher an das Haus ran, deshalb dachte ich, Sie hätten vielleicht Lust, sich mit mir auf ein Glas zu treffen. Ist doch bald Mittag. Hier ist ein netter Pub ...«
»Ich habe Ihnen nichts zu sagen, Mrs. Temple, warum sollen wir uns treffen?«
»Sie haben aber gestern früh einen Ehestreit in The Hill 35 gemeldet, oder nicht?«
»Ja, aber ...«
»Dann habe ich ja die Richtige am Apparat. Wie sind Sie darauf gekommen, dass es ein Ehestreit war?«
»Tut mir Leid, ich verstehe Ihre Frage nicht. Wie meinen Sie das?«
»Sie haben was gehört, oder? Laute Stimmen? Zerbrechendes Glas? Einen Aufprall?«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich überlege mir nur, wie Sie zu dem Schluss kommen konnten, dass es ein Ehekrach war, das ist alles. Ich meine, Sie hätten doch auch annehmen können, dass da jemand mit einem Einbrecher kämpft, oder?«
»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.«
»Ach, kommen Sie, Margaret! Maggie werden Sie genannt, nicht wahr? Darf ich Sie Maggie nennen?«
Maggie antwortete nicht. Warum legte sie nicht einfach auf?
»Hören Sie, Maggie«, fuhr Lorraine Temple fort. »Geben Sie mir eine Chance! Ich muss auch von irgendwas leben. Waren Sie mit Lucy Payne befreundet, ist das der Grund? Wussten Sie mehr über sie? Was sonst keiner weiß?«
»Ich kann nicht mit Ihnen sprechen«, sagte Maggie und legte auf. Aber Lorraine Temple hatte irgendwas gesagt, das ihr keine Ruhe ließ. Jetzt bereute Maggie, das Gespräch beendet zu haben. Banks hatte sie zwar gewarnt, aber wenn sie Lucys Freundin sein wollte, dann konnte sich die Presse als Verbündete erweisen statt als Gegner. Vielleicht sollte sich Maggie an die Öffentlichkeit wenden und sie zu Lucys Gunsten mobilisieren. Die Sympathie der Bevölkerung würde noch sehr wichtig werden. Dabei konnten ihr die Medien behilflich sein. Das hing natürlich davon ab, wie die Polizei den Fall handhabte. Wenn Banks glaubte, was Maggie ihm über die Misshandlungen erzählt hatte, und wenn Lucy es bestätigte, was sie sicherlich tun würde, dann würden alle schnell einsehen, dass sie in erster Linie Opfer war. Man würde sie laufen lassen, sobald es ihr wieder gut ging.
Lorraine Temple war hartnäckig genug, um nach wenigen Minuten abermals anzurufen. »Bitte, Maggie«, sagte sie, »was schadet es denn?«
»Na gut«, willigte Maggie ein. »Wir treffen uns auf ein Glas. In zehn Minuten. Ich weiß, wo Sie meinen. Der Pub heißt The Woodcutter. Am unteren Ende der Straße, stimmt's?«
»Gut. In zehn Minuten. Ich bin da.«
Maggie legte auf. Da sie noch am Telefon stand, schlug sie die gelben Seiten auf und suchte einen Blumenladen heraus. Sie bestellte einen Blumenstrauß, der Lucy ans Krankenbett geliefert werden sollte, dazu eine Karte mit Genesungswünschen.
Ehe Maggie ging, warf sie einen letzten Blick auf ihren Entwurf. Ihr fiel auf, dass Rapunzel nicht das typische Gesicht einer Märchenprinzessin hatte, wie man es oft sah; nein, es war individuell, einzigartig, und Maggie war stolz darauf. Aber Rapunzels Gesicht, dem Betrachter halb zugewandt, hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Claire Toth und sogar zwei Pickel am Kinn. Stirnrunzelnd griff Maggie zum Radiergummi und entfernte die Pickel. Dann brach sie zum Treffen mit Lorraine Temple von der Post auf.
Krankenhäuser hasste Banks abgrundtief, und zwar seitdem man ihm mit neun Jahren die Mandeln herausgenommen hattte. Er hasste den Geruch, die Farben der Wände, die hallenden Flure, die weißen Kittel der Ärzte und die Uniformen der Krankenschwestern, er hasste die Betten, die Thermometer, die Spritzen, Stethoskope, Tropfe und die sonderbaren Apparaturen hinter angelehnten Türen. Einfach alles.
Um ehrlich zu sein, hatte er Krankenhäuser schon vor seiner Mandeloperation gehasst. Als sein Bruder Roy geboren wurde, war Banks fünf Jahre alt, sieben Jahre zu jung, um zur Besuchszeit in ein Krankenhaus zu dürfen. Während der Schwangerschaft hatte seine Mutter Probleme gehabt - diese nicht näher erklärten Erwachsenenprobleme, über die die Großen immer tuschelten - und musste einen ganzen Monat im Krankenhaus liegen. Damals hatte man Frauen noch so lange im Bett behalten. Banks wurde zu Tante und Onkel nach Northampton geschickt und besuchte so lange die dortige Schule. Er gewöhnte sich nicht ein, und da er der Neue war, musste er sich ständig gegen Rüpel zur Wehr setzen.
Er wusste noch, dass ihn sein Onkel an einem dunklen, kalten Winterabend zum Krankenhaus gefahren hatte, damit er seine Mutter sehen konnte. Der Onkel hatte ihn zum Fenster hochgehoben - Gott sei Dank war ihr Zimmer im Erdgeschoss. Banks hatte mit seinem wollenen Handschuh den Frost von der Scheibe gerieben, seine Mutter mit dem angeschwollenen Bauch in der Mitte des Saales erkannt und ihr zugewinkt. Er war unglaublich traurig. Es musste ein furchtbarer Ort sein, hatte er damals gedacht, der eine Mutter von ihrem Sohn trennt und in einem Zimmer voll fremder Menschen festhält, obwohl es ihr schlecht geht.
Die Mandeloperation hatte nur bestätigt, was er eh gewusst hatte, und obwohl er jetzt erwachsen war, hatte er immer noch unheimlich Manschetten vor Krankenhäusern. Er sah in ihnen letzte Ruhestätten, Endpunkte, Orte, an die man sich zum Sterben begab. Das gut gemeinte Hantieren dort, das Bohren, Stechen, Schnippeln und all die Kunstgriffe der Ärzte zögerten nur das Unvermeidliche hinaus und erfüllten die letzten Tage auf Erden mit Qualen, Schmerzen und Angst. Was Krankenhäuser anging, hielt es Banks mit Philip Larkin, konnte nur an die »tiefe Narkose, aus der man nicht erwacht« denken.
Lucy Payne wurde im Allgemeinen Krankenhaus von Leeds überwacht. Nicht weit entfernt lag ihr Mann auf der Intensivstation. Bei einer Notoperation waren ihm Schädelsplitter aus dem Gehirn entfernt worden. Der Police Constable vor ihrem Zimmer, der ein eselohriges Taschenbuch von Tom Clancy neben sich auf dem Stuhl liegen hatte, meldete, außer den Krankenhausangestellten habe niemand das Zimmer betreten oder verlassen. Es sei eine ruhige Nacht gewesen, sagte er. Manche haben Glück, dachte Banks, als er das Privatzimmer betrat.
Im Zimmer wartete die Ärztin. Sie stellte sich als Dr. Landsberg vor, ohne Vornamen. Banks hätte sich lieber ohne sie unterhalten, aber es war nichts zu machen. Lucy Payne stand nicht unter polizeilicher, sondern unter ärztlicher Aufsicht.
»Ich kann Ihnen leider nicht viel Zeit mit meiner Patientin gewähren«, sagte die Ärztin. »Sie hat eine extrem traumatische Erfahrung hinter sich und braucht in erster Linie Ruhe.«
Banks betrachtete die Frau im Bett. Eine Hälfte ihres Gesichts war bandagiert. Das sichtbare Auge glänzte so schwarz wie die Tinte in seinem Füller. Ihre Haut war blass und glatt, das rabenschwarze Haar wallte über Kopfkissen und Decken. Er dachte an die auf der Matratze ausgestreckte Leiche von Kimberley Myers. Das war in Lucy Paynes Haus passiert, mahnte er sich.
Banks nahm am Bett Platz. Dr. Landsberg lauerte wie ein Geier, um sofort einzuschreiten, falls Banks die PACE-Bestimmungen verletzte, die 1984 zum Schutz von Verdächtigen erlassen worden waren.
»Lucy«, begann er. »Ich heiße Banks, kommissarischer Detective Superintendent Banks. Ich leite die Ermittlungen im Fall der fünf vermissten Mädchen. Wie geht es Ihnen?«
»Nichf schlecht«, antwortete Lucy. »Den Umständen entsprechend.«
»Haben Sie starke Schmerzen?«
»Geht so. Mein Kopf tut weh. Wie geht's Terry? Was ist mit ihm? Keiner will mir was sagen.« Sie sprach, als sei ihre Zunge geschwollen, langsam und schleppend. Die Medikamente.
»Wenn Sie mir einfach erzählen würden, was gestern Abend passiert ist, Lucy. Können Sie sich erinnern?«
»Ist Terry tot? Ich hab gehört, dass er verletzt ist.«
Die Sorge der misshandelten Ehefrau um ihren Peiniger - sofern sie nicht gespielt war - überraschte Banks nicht im Geringsten; es war das alte, traurige Lied, das er schon in allen Variationen gehört hatte.
»Ihr Mann ist sehr schwer verletzt, Lucy«, mischte sich Dr. Landsberg ein. »Wir tun, was wir können.«
Banks fluchte innerlich. Er wollte nicht, dass Lucy Payne wusste, in welchem Zustand ihr Mann war. Wenn sie annahm, dass er nicht überlebte, tischte sie Banks vielleicht erfundene Geschichten auf. Dann könnte er nicht mehr überprüfen, was stimmte. »Können Sie mir sagen, was gestern Abend passiert ist?«, wiederholte er.
Lucy machte das gesunde Auge halb zu; sie versuchte sich zu erinnern oder tat wenigstens so. »Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht erinnern.«
Gute Antwort, dachte Banks. Erst mal abwarten, was mit Terry passiert, bevor du irgendwas zugibst. Sie war gerissen, die Kleine, selbst unter dem Einfluss von Medikamenten im Krankenbett.
»Brauche ich einen Anwalt?«, fragte sie.
»Warum sollten Sie einen Anwalt brauchen?«
»Weiß nicht. Wenn die Polizei mit Leuten redet... Sie wissen schon, im Fernsehen ...«
»Wir sind nicht im Fernsehen, Lucy.«
Sie zog die Nase kraus. »Ich weiß, ich bin dumm. Ich meinte auch nicht... ach, egal.«
»Was ist das Letzte, an das Sie sich erinnern können?«
»Ich weiß noch, dass ich wach wurde, aufgestanden bin und mir den Morgenmantel angezogen habe. Es war spät. Oder früh.«
»Warum sind Sie aufgewacht?«
»Weiß ich nicht. Vielleicht habe ich was gehört.«
»Was denn?«
»Ein Geräusch. Weiß ich nicht mehr.«
»Was haben Sie dann gemacht?«
»Keine Ahnung. Ich kann mich nur erinnern, dass ich aufgestanden bin, dann hat es wehgetan, und dann war alles dunkel.«
»Können Sie sich erinnern, mit Terry gestritten zu haben?«
»Nein.«
»Sind Sie in den Keller gegangen?«
»Glaube ich nicht. Ich weiß es nicht mehr. Vielleicht ja.«
Sie hielt sich alle Türen offen. »Sind Sie überhaupt mal im Keller gewesen?«
»Das war Terrys Reich. Er hätte mich bestraft, wenn ich runtergegangen wäre. Er hat immer abgeschlossen.«
Interessant, dachte Banks. Ihr Gedächtnis funktionierte gut genug, dass sie sich von dem distanzieren konnte, was man im Keller gefunden hatte. Wusste sie Bescheid? Die Forensiker würden gewiss herausfinden, ob sie die Wahrheit sagte und tatsächlich nie unten gewesen war. Bei Tatorten galt der Grundsatz, wohin auch immer man ging, hinterließ man etwas und nahm etwas mit.
»Was hat er da unten gemacht?«, wollte Banks wissen.
»Keine Ahnung. Das war sein Hobbykeller.«
»Sie sind also nie unten gewesen?«
»Nein. Ich hab mich nicht getraut.«
»Was glauben Sie denn, was er da unten gemacht hat?«
»Keine Ahnung. Videos geguckt, Bücher gelesen.«
»Allein?«
»Männer müssen hin und wieder allein sein. Hat Terry immer gesagt.«
»Und das haben Sie akzeptiert?«
»Ja.«
»Was ist mit dem Poster an der Tür? Kennen Sie das?«
»Nur oben von der Treppe aus, wenn ich aus der Garage gekommen bin.«
»Ist ziemlich drastisch, oder? Wie gefiel es Ihnen?«
Lucy brachte ein schmales Lächeln zustande. »Männer ... Männer sind halt so, oder? Sie finden so was gut.«
»Es hat Sie also nicht gestört?«
Der Bewegung ihrer Lippen war zu entnehmen, dass dem nicht" so war.
»Superintendent«, mischte sich Dr. Landsberg ein, »ich finde, Sie sollten zum Ende kommen und meine Patientin ruhen lassen.«
»Noch ein, zwei Fragen, mehr nicht. Lucy, können Sie sich daran erinnern, wer Sie verletzt hat?«
»Ich ... ich ... das muss Terry gewesen sein. Sonst war ja keiner da, oder?«
»Hat Terry Sie vorher schon mal geschlagen?«
Sie drehte den Kopf zur Seite, so dass Banks nur die bandagierte Hälfte sah.
»Sie regen die Frau auf, Superintendent. Ich muss darauf bestehen ...«
»Lucy, haben Sie mal Kimberley Myers bei Terry gesehen? Sie wissen doch, wer Kimberley Myers ist, oder?«
Lucy schaute ihn wieder an. »Ja. Das ist das arme Mädchen, das vermisst wird.«
»Stimmt. Haben Sie sie bei Terry gesehen?«
»Weiß ich nicht mehr.«
»Sie war Schülerin auf Silverhill, wo Terry unterrichtet. Hat er mal von ihr gesprochen?«
»Ich glaube nicht... ich ...«
»Sie wissen es nicht mehr.«
»Nein. Tut mir Leid. Was ist passiert? Was ist hier los? Kann ich Terry sehen?«
»Es tut mir Leid, aber das geht momentan nicht«, entgegnete Dr. Landsberg. Zu Banks gewandt, sagte sie: »Ich muss Sie jetzt bitten zu gehen, Superintendent. Sie sehen doch, wie sehr Lucy sich aufregt.«
»Wann kann ich wieder mit ihr sprechen?«
»Ich sage Ihnen Bescheid. Bald. Bitte!« Sie griff nach Banks' Arm.
Banks wusste, wenn nichts mehr zu holen war. Die Befragung führte eh zu nichts. Er konnte nicht beurteilen, ob Lucy die Wahrheit sagte und sie sich wirklich nicht erinnern konnte oder ob sie von den Medikamenten verwirrt war.
»Ruhen Sie sich aus, Lucy«, sagte Dr. Landsberg, als sie das Zimmer verließ.
»Mr. Banks? Superintendent?« sagte Lucy mit ihrer dünnen, schweren, schleppenden Stimme. Ihr obsidianschwarzes Auge fixierte ihn.
»Ja?«
»Wann kann ich nach Hause?«
Vor Banks' innerem Auge erschien das Bild ihres Hauses, wie es im Moment aussah und wohl noch einen Monat lang aussehen würde. Eine Baustelle. »Das weiß ich nicht«, sagte er. »Ich melde mich.«
Draußen im Gang sprach Banks Dr. Landsberg an. »Könnten Sie mir behilflich sein, Frau Doktor?«
»Vielleicht.«
»Dass sie sich an nichts erinnert, ist das ein Symptom?«
Dr. Landsberg rieb sich die Augen. Sie sah aus, als bekäme sie genauso wenig Schlaf wie Banks. Über die Lautsprecheranlage wurde ein Dr. Thorsen ausgerufen. »Kann sein«, sagte sie. »In solchen Fällen gibt es oft ein posttraumatisches Stresssyndrom, und eine mögliche Folge davon ist retrograde Amnesie.«
»Glauben Sie, dass das bei Lucy der Fall ist?«
»Um das zu beurteilen, ist es noch zu früh, und ich bin kein Fachmann auf dem Gebiet. Da müssten Sie mit einem Neurologen sprechen. Ich kann Ihnen nur sagen, dass ihr Gehirn mit ziemlicher Sicherheit nicht beschädigt wurde, aber emotionaler Stress kann natürlich auch Erinnerungen löschen.«
»Kann so ein Gedächtnisverlust selektiv sein?«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie kann sich scheinbar erinnern, dass ihr Mann verletzt wurde und er sie geschlagen hat, aber an sonst nichts.«
»Das ist möglich, ja.«
»Ändert sich das noch?«
»Möglich.«
»Ihr vollständiges Erinnerungsvermögen könnte also zurückkommen?«
»Mit der Zeit.«
»Wie lange dauert das?«
»Das kann man nicht sagen. Das kann morgen sein, aber auch ... nun ja, überhaupt nicht mehr. Wir wissen nur sehr wenig über das Gehirn.«
»Vielen Dank, Frau Doktor. Sie waren mir eine große Hilfe.«
Dr. Landsberg sah ihn verdutzt an. »Keine Ursache«, sagte sie. »Superintendent, ich hoffe, das ist jetzt nicht unpassend, aber ich habe mich, kurz bevor Sie kamen, mit Dr. Mogabe unterhalten - das ist der Arzt von Terence Payne.«
»Und?«
»Er macht sich große Sorgen.«
»Ach ja?« Das hatte Banks schon einen Tag zuvor von Constable Hodgkins gehört.
»Ja. Es sieht so aus, als ob der Patient von einer Polizistin verletzt wurde.«
»Nicht mein Fall«, erklärte Banks.
Dr. Landsbergs Augen weiteten sich. »Das ist alles? Das ist Ihnen völlig egal?«
»Ob es mir egal ist oder nicht, tut hier nichts zur Sache. Den Fall Terence Payne untersucht jemand anders, und der wird sich zweifellos zur gegebenen Zeit mit Dr. Mogabe unterhalten. Ich kümmere mich um fünf tote Mädchen und die Paynes. Auf Wiedersehen, Frau Doktor.«
Mit hallenden Schritten ging Banks den Flur entlang und überließ Dr. Landsberg ihren düsteren Gedanken. Ein Pfleger schob einen käsigen, zerknitterten alten Mann, der am Tropf hing, auf einer Transportliege zum OP.
Banks erschauderte und ging schneller.