Der Diebstahl

 

 

Zunächst kehrten sie zu dem Cafe zurück, um sich zu beruhigen, auszuruhen und die Kleider zu wechseln. Es war klar, dass Will in seinen blutigen Kleidern nirgends hingehen konnte, und sie hatten inzwischen keine Skrupel mehr, sich Sachen aus Läden zu holen. Will suchte sich also neue Kleider und Schuhe aus, und Lyra, die unbedingt helfen wollte, passte auf, dass keine anderen Kinder in Sicht waren, und trug die Kleider dann ins Cafe zurück.

Dann machte sie Wasser heiß, und Will trug es ins Bad hinauf und zog sich aus, um sich zu waschen. Die Schmerzen pochten dumpf und erbarmungslos, aber wenigstens waren es saubere Schnitte, und seit er gesehen hatte, was das Messer vermochte, wusste er, dass sie nicht sauberer hätten sein können. Allerdings bluteten die Stellen, wo seine Finger gewesen waren, heftig. Wenn er sie ansah, wurde ihm immer noch übel, und sein Herz schlug schneller, und das wiederum schien das Bluten noch schlimmer zu machen. Er setzte sich auf den Rand der Badewanne, schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief durch.

Nach einer Weile hatte er sich wieder etwas beruhigt und begann sich zu waschen, so gut er konnte. Dann trocknete er sich mit einem Handtuch ab, das schon bald blutbefleckt war, und zog seine neuen Kleider an, möglichst ohne sie auch gleich blutig zu machen.

»Du musst mir einen neuen Verband machen«, sagte er zu Lyra. »Du kannst ihn so fest anziehen, wie du willst, wenn das Bluten dafür aufhört.«

Lyra riss ein Leintuch in Streifen und wickelte diese so fest sie konnte um die Wunde. Will biss die Zähne zusammen, aber trotzdem traten ihm Tränen in die Augen. Er wischte sie wortlos weg und auch Lyra schwieg.

Als sie fertig war, sagte er: »Danke.« Dann sagte er: »Hör zu, ich möchte, dass du für mich etwas in deinen Rucksack steckst, für den Fall, dass wir nicht hierher zurückkehren. Es sind nur Briefe. Wenn du willst, kannst du sie lesen.«

Er holte die grüne Ledermappe und gab ihr die Briefe. »Ich lese sie nicht, wenn –«

»Es macht mir nichts aus, sonst hätte ich es nicht gesagt.« Sie faltete die Briefe auseinander, und er legte sich aufs

Bett, schob die Katze zur Seite und schlief ein.

 

 

Später, es war bereits Nacht, standen Will und Lyra geduckt in der kleinen, von Bäumen gesäumten Nebenstraße, die an Sir Charles’ Garten vorbeiführte. In der Welt von Cittàgazze hatten sie auf dem Rasen vor einer klassizistischen Villa gestanden, die weiß im Mondlicht schimmerte. Sie hatten lange gebraucht, um zu Sir Charles’ Haus zu gelangen, da sie die Strecke überwiegend in Cittàgazze zurücklegten und immer wieder anhielten, ein Fenster öffneten und ihren Standort in Wills Welt überprüften, um anschließend, sobald sie wussten, wo sie waren, das Fenster wieder zu schließen.

Die getigerte Katze folgte ihnen in einiger Entfernung. Sie hatte geschlafen, seit Will und Lyra sie vor den Steine werfen  den Kindern gerettet hatten, und jetzt wich sie ihnen nicht von den Fersen, als sei sie nur in ihrer Gesellschaft sicher. Will war davon keineswegs überzeugt, hatte aber auch ohne die Katze genug Sorgen und beachtete sie deshalb nicht weiter. Inzwischen wurde er mit dem Messer immer vertrauter und sicherer in seiner Handhabung, doch seine Wunde schmerzte mehr als zuvor, ein unaufhörliches, dumpfes Pochen, und der frische Verband, den Lyra ihm nach dem Aufwachen angelegt hatte, war schon wieder blutgetränkt.

Er schnitt in der Nähe der weißen Villa ein Fenster in die Luft, und sie traten auf eine ruhige Nebenstraße in Headington, um zu überlegen, wie sie von dort in das Arbeitszimmer gelangen konnten, in dem Sir Charles das Alethiometer aufbewahrte. Der Garten vor dem Haus wurde von zwei Scheinwerfern beleuchtet und in den Fenstern brannte Licht. Das Fenster des Arbeitszimmers dagegen war dunkel und auf dieser Seite des Hauses schien nur der Mond.

Die Straße führte unter Bäumen zu einer größeren Straße am anderen Ende des Gartens, und auch sie war nicht beleuchtet. Es wäre für einen ganz gewöhnlichen Einbrecher ein Leichtes gewesen, unbemerkt durch die Büsche in den seitlichen Teil des Gartens zu gelangen, doch lief ein starker Eisenzaun um das Grundstück, doppelt so hoch wie Will und mit scharfen Spitzen versehen. Für das Magische Messer freilich bedeutete er kein Hindernis.

»Halte die Stange, während ich schneide«, flüsterte Will. »Fang sie auf, wenn sie fällt.«

Lyra tat, was er sagte, und er schnitt insgesamt vier Stangen heraus, bis die Lücke so groß war, dass sie ohne Schwierigkeiten durchsteigen konnten. Lyra legte sie eine nach der anderen auf das Gras, dann schlüpften sie durch und krochen in die Büsche. Deutlich sahen sie jetzt vor sich am anderen Ende des glatten Rasens die mit wildem Wein überwachsene Seite des Hauses mit dem Fenster des Arbeitszimmers.

»Ich schneide hier ein Fenster nach Ci’gazze und lasse es offen«, sagte Will leise. »Dann gehe ich in Ci’gazze an die Stelle, wo ich glaube, dass das Arbeitszimmer ist, und schneide ein Fenster in diese Welt zurück. Ich hole das Alethiometer aus der Vitrine, schließe das zweite Fenster und komme zu diesem hier zurück. Du bleibst in dieser Welt und hältst Wache. Sobald du mich rufen hörst, kommst du durch dieses Fenster nach Ci’gazze, und dann mache ich es wieder zu. Einverstanden?«

»Ja«, flüsterte Lyra. »Ich passe zusammen mit Pan auf.«

Ihr Dæmon war ein kleiner Waldkauz, nahezu unsichtbar im gesprenkelten Schatten der Bäume. Seinen runden, hellen Augen entging keine Bewegung.

Will hielt das Messer vor sich, tastete mit vorsichtigen, suchenden Bewegungen durch die Luft, bis er wenige Augen  blicke später einen Punkt gefunden hatte, an dem er schnei  den konnte. Er tat es schnell, öffnete ein Fenster auf die mondbeschienene Parklandschaft von Ci’gazze und trat dann zurück, um abzuschätzen, wie viele Schritte er in dieser Welt bis zum Arbeitszimmer brauchen würde, und sich die Richtung einzuprägen.

Dann trat er ohne ein weiteres Wort hindurch und verschwand.

Lyra hockte sich neben dem Fenster hin. Pantalaimon saß auf einem Ast über ihrem Kopf und sah stumm in verschiedene Richtungen. Hinter sich hörte sie den Verkehr von Heading  ton, am anderen Ende der Nebenstraße die ruhigen Schritte eines Spaziergängers und in den Zweigen und Blättern an ihren Füßen sogar die schwerelosen Bewegungen der Insekten.

Eine Minute verstrich, dann noch eine. Wo war Will jetzt? Sie versuchte durch das Fenster des Arbeitszimmers zu spähen, sah aber nur eine dunkle, durch eine Mittelsprosse geteilte Scheibe, über die der wilde Wein hing. Erst an diesem Morgen hatte Sir Charles auf dem Platz am Fenster gesessen, die Beine übereinandergeschlagen und sorgfältig seine Bügel  falten zurechtgezogen. Wo war der Glasschrank vom Fenster aus gesehen? Würde Will es schaffen, unbemerkt ins Haus zu gelangen? Jetzt konnte Lyra auch ihr Herz pochen hören.

Pantalaimon machte ein leises Geräusch, und im selben Moment kam ein anderes Geräusch von der Vorderseite des Hauses links von Lyra. Sie konnte diese Seite nicht sehen, aber sie sah Lichter durch die Bäume gleiten und hörte das tiefe Knirschen von Reifen, die über Kies fuhren. Den Motor des Autos hatte sie gar nicht gehört.

Sie sah zu Pantalaimon auf, doch war dieser bereits lautlos in die Nacht geglitten, so weit, wie er sich von ihr entfernen konnte. Dann kehrte er zurück und ließ sich auf ihrer Faust nieder.

»Sir Charles kommt zurück«, flüsterte er, »mit noch einer anderen Person.«

Er flog wieder auf, und Lyra folgte ihm auf Zehenspitzen und mit größtmöglicher Vorsicht über die weiche Erde, hinter die Büsche geduckt und zuletzt auf Händen und Knien. Dann lugte sie zwischen den Blättern eines Rhododendrons hin  durch.

Vor dem Haus stand der Rolls-Royce, und der Fahrer ging gerade um den Wagen, um die Beifahrertür zu öffnen. Sir Charles, der lächelnd daneben stand, bot der Frau, die aus  stieg, seinen Arm an, und als sie in Sicht kam, erschrak Lyra so heftig wie seit ihrer Flucht aus Bolvangar nicht mehr: Sir Charles’ Gast war ihre Mutter, Mrs. Coulter.

 

 

Sorgfältig seine Schritte zählend, ging Will langsam über das mondbeschienene Gras in Cittàgazze und versuchte sich, so gut er konnte, die Lage des Arbeitszimmers in Bezug auf die säulenverzierte, weiße Stuckvilla zu vergegenwärtigen. Er spürte mit leisem Unbehagen, dass er auf dem mondlichtgetränkten Rasen von überall gesehen werden konnte.

Als er glaubte, an der richtigen Stelle zu stehen, hielt er an, streckte das Messer aus und tastete vorsichtig. Die kleinen, unsichtbaren Spalten waren zwar an allen möglichen Stellen, aber nicht überall, sonst hätte jede Bewegung des Messers ein Fenster geöffnet.

Er schnitt zuerst nur eine kleine Öffnung aus, nicht größer als seine Hand, und sah hindurch. Auf der anderen Seite war es dunkel, und er konnte nicht erkennen, wo er war. Er schloss das Fenster wieder, drehte sich um neunzig Grad und öffnete ein anderes. Diesmal sah er vor sich Stoff – den schweren, grünen Samt der Vorhänge des Arbeitszimmers. Aber wo waren sie im Verhältnis zu dem Glasschrank? Er musste auch dieses Fenster schließen, drehte sich wieder und versuchte es noch einmal. Kostbare Zeit verstrich.

Das dritte Mal hatte er mehr Glück: In dem dämmrigen Licht, das durch die offene Tür zum Flur fiel, sah er das ganze Zimmer vor sich, den Schreibtisch, das Sofa und den Schrank! Die Rundungen eines Mikroskops schimmerten schwach durch das Dunkel. Niemand war im Zimmer, und das ganze Haus war ruhig. Er hätte es nicht besser treffen können.

Er schätzte die Entfernung sorgfältig ab, schloss das Fenster, ging vier Schritte nach vorn und hielt das Messer wieder hoch. Wenn er richtig geschätzt hatte, stand er jetzt genau an der richtigen Stelle, um den Arm durch das Fenster zu strecken, das Glas des Schrankes durchzuschneiden, das Alethiometer he  rauszunehmen und das Fenster wieder hinter sich zu schließen.

Er schnitt ein Fenster in der entsprechenden Höhe. Das Glas der Schranktür war nur eine Handbreit von ihm entfernt. Er ging mit dem Gesicht ganz nah heran und suchte aufmerksam von oben nach unten die Regalbretter ab.

Das Alethiometer war weg.

Zuerst dachte Will, er hätte sich im Schrank geirrt. Es befanden sich vier Schränke im Zimmer – er hatte sie am Morgen gezählt und sich ihren Standort eingeprägt – hohe, rechteckige Kästen aus dunklem Holz mit gläsernen Seiten und Fronten und samtbezogenen Regalbrettern, um wertvolle Gegenstände aus Porzellan, Elfenbein oder Gold auszustellen. Konnte es sein, dass er das Fenster nur vor dem falschen Schrank geöffnet hatte? Aber auf dem obersten Brett lag dasselbe massige Instrument mit den Messingringen, das er sich eigens gemerkt hatte. Und auf dem mittleren Brett war genau dort eine leere Stelle, wo Sir Charles das Alethiometer hingelegt hatte. Es war der richtige Schrank, aber das Alethiometer war verschwunden.

Will trat zurück und holte tief Luft.

Er würde das ganze Zimmer gründlich durchsuchen müssen. Doch wahllos hier und da Fenster zu öffnen hätte die ganze Nacht gedauert. Er schloss das Fenster vor dem Schrank, öffnete ein anderes, um sich das restliche Zimmer anzusehen, und als er sich alles sorgfältig angesehen hatte, schloss er auch dieses Fenster und öffnete ein größeres hinter dem Sofa, durch das er notfalls schnell verschwinden konnte.

Er spürte in seiner Hand inzwischen stechende Schmerzen, und der Verband hatte sich gelockert. Er wickelte ihn wieder herum und stecke ihn fest, so gut er konnte, dann stieg er in Sir Charles’ Haus hinüber, duckte sich hinter das Ledersofa, das Messer in der rechten Hand, und lauschte gespannt.

Als er nichts hörte, stand er langsam auf und sah sich um. Die Tür zum Flur war halb geöffnet, und es drang ausreichend Licht hinein, um zu sehen. Die Schränke, die Bücher  regale, die Bilder vom Morgen waren alle da, unverändert.

Er trat auf den Teppich, der das Geräusch seiner Schritte schluckte, und sah nacheinander in die Schränke hinein. Das Alethiometer war nicht da. Es lag auch nicht auf dem Schreib  tisch neben den ordentlich aufeinander gelegten Büchern und Papieren oder auf dem Kaminsims unter den Einladungen zu verschiedenen Eröffnungen und Empfängen, nicht auf dem gepolsterten Platz am Fenster und nicht auf dem achteckigen Tischchen hinter der Tür.

Er ging zum Schreibtisch zurück, um in den Schubladen zu suchen, obwohl er damit rechnete, dass sie verschlossen sein würden. In diesem Augenblick hörte er leise Reifen über Kies knirschen. Das Geräusch war so leise, dass er unsicher war, ob er es sich nicht nur eingebildet hatte. Trotzdem blieb er stehen und lauschte. Er hörte nichts mehr.

Dann hörte er, wie die Haustür aufging.

Er eilte zum Sofa zurück und duckte sich dahinter, neben sich das Fenster, das sich auf den silbern im Mondlicht liegenden Rasen in Cittàgazze öffnete. Er hatte sich gerade ge  duckt, als er in der anderen Welt leichte Fußschritte über das Gras rennen hörte, und als er hindurchblickte, sah er Lyra auf sich zukommen. Er konnte gerade noch die Hand heben und einen Finger an die Lippen halten. Sie begriff, dass er Sir Charles’ Rückkehr bemerkt hatte, und wurde langsamer.

»Ich habe es nicht gefunden«, flüsterte er, als sie vor dem Fenster stand, »es ist nicht da. Wahrscheinlich hat er es mitgenommen. Ich passe auf, ob er es zurückstellt. Bleib hier.«

»Aber es ist etwas noch viel Schlimmeres passiert!«, sagte sie atemlos und in Panik. »Sie ist bei ihm – Mrs. Coulter – meine Mutter – ich weiß nicht, wie sie hergekommen ist, aber wenn sie mich sieht, bin ich tot, Will, dann ist alles aus – und jetzt weiß ich auch, wer er ist! Ich weiß, wo ich ihn schon gesehen habe, Will! Er heißt Lord Boreal! Ich habe ihn auf Mrs. Coulters Cocktailparty kennen gelernt, von der ich wegrannte! Und er muss die ganze Zeit gewusst haben, wer ich bin …«

»Pst! Du kannst nicht hier bleiben, wenn du so laut bist.«

Sie riss sich zusammen, schluckte hart und schüttelte den Kopf.

»Entschuldigung«, flüsterte sie, »ich will bei dir bleiben und hören, was sie sagen.«

»Still jetzt …«

Er hörte Stimmen im Flur. Will und Lyra waren einander so nah, dass sie sich berühren konnten, er in seiner Welt, sie in Cittàgazze, und als Lyra sah, dass Wills Verband lose herunterhing, berührte sie ihn am Arm und gab ihm stumm zu verstehen, sie wolle ihn wieder festmachen. Er streckte die Hand aus, während er mit seitwärts gewandtem Kopf angestrengt lauschte.

Im Zimmer ging Licht an. Er hörte, wie Sir Charles mit dem Diener sprach, ihn entließ, in das Zimmer kam und die Tür hinter sich schloss.

»Darf ich dir ein Glas Tokaier anbieten?«, fragte er.

»Wie nett von dir, Carlo«, antwortete die tiefe, angenehme Stimme einer Frau. »Ich habe jahrelang keinen Tokaier mehr getrunken.«

»Nimm doch am Kamin Platz.«

Man hörte ein leises Gluckern, als der Wein eingeschenkt wurde, das Klirren einer Karaffe am Rand eines Glases, ein leise gemurmeltes Danke, und dann setzte Sir Charles sich direkt vor Will auf das Sofa.

»Auf dein Wohl, Marisa«, sagte er und nippte an seinem Glas. »Und jetzt sage mir, was du willst.«

»Ich will wissen, wo du das Alethiometer hast.«

»Warum?«

»Weil Lyra es hatte und ich sie suche.«

»Warum denn? Sie ist ein abstoßendes Gör.«

»Ich darf dich daran erinnern, dass sie meine Tochter ist.«

»Das macht sie nur noch abstoßender, denn dann muss sie deinem Charme absichtlich widerstanden haben, dem sonst jeder erliegt.«

»Wo ist sie?«

»Ich sage es dir, ich verspreche es, aber zuerst musst du mir etwas anderes sagen.«

»Wenn ich kann.« Ihre Stimme hatte sich geändert, und Will meinte einen warnenden Unterton herauszuhören. Die Stimme hatte einen berauschenden Klang, beruhigend, süß, melodisch und jung zugleich. Will hätte zu gern gewusst, wie Mrs. Coulter aussah, denn Lyra hatte sie nie beschrieben und ein Gesicht, das zu dieser Stimme gehörte, musste ungewöhnlich sein. »Was willst du denn wissen?«

»Was hat Asriel vor?«

Die Frau schwieg, als überlege sie genau, was sie antworten sollte. Durch das Fenster sah Will Lyras Gesicht mit vor Angst weit aufgerissenen Augen, doch sie presste die Lippen zusammen, um sich nicht zu verraten, und lauschte wie er gespannt.

»Also gut«, sagte Mrs. Coulter schließlich, »ich sage es dir. Lord Asriel versammelt eine Armee, um den Krieg zu Ende zu führen, der vor Äonen im Himmel ausgetragen wurde.«

»Wie mittelalterlich. Doch scheint er über einige sehr moderne Mittel zu verfügen. Was hat er mit dem magnetischen Pol gemacht?«

»Er hat einen Weg gefunden, die Grenze zwischen unserer Welt und anderen Welten gewaltsam zu öffnen. Das hat das Magnetfeld der Erde vollkommen durcheinander gebracht, was sich natürlich auch in dieser Welt auswirkt … Aber wo  her weißt du überhaupt davon, Carlo? Ich finde, jetzt solltest du mir einige Fragen beantworten. In was für einer Welt bin ich hier? Und wie hast du mich hergebracht?«

»Diese Welt ist nur eine von Millionen. Zwischen den Welten gibt es Öffnungen, die aber nicht leicht zu finden sind. Ich kenne ein Dutzend, aber die Orte, zu denen sie führen, haben sich verschoben, und der Grund dafür muss das sein, was Asriel getan hat. Offenbar können wir jetzt auf direktem Wege von dieser Welt in unsere und wahrscheinlich noch viele andere gelangen. Bisher diente eine Welt als eine Art Kreuzung, in die alle Durchgänge mündeten. Du kannst dir also vorstellen, wie überrascht ich war dich zu sehen, als ich heute durch eine solche Öffnung ging, und wie entzückt, dass ich dich direkt hier herbringen konnte, ohne den riskanten Umweg über Cittàgazze.«

»Cittàgazze? Was ist denn das?«

»Die Kreuzung. Eine Welt, die mich sehr interessiert, meine liebe Marisa, in der es gegenwärtig aber für uns zu gefährlich ist.«

»Warum gefährlich?«

»Gefährlich für Erwachsene. Kindern passiert dort nichts.«

»Wie? Das muss ich genau wissen, Carlo«, sagte die Frau, und Will hörte die leidenschaftliche Ungeduld in ihrer Stimme. »Das ist der alles entscheidende Punkt, dieser Unter  schied zwischen Kindern und Erwachsenen! Darin liegt der Schlüssel zum Geheimnis des Staubes! Deshalb muss ich das Kind finden. Die Hexen haben einen Namen für Lyra – ich hatte ihn schon fast, von einer Hexe persönlich, doch sie starb zu schnell. Ich muss das Kind finden, es hat offenbar die Antwort, und die muss ich haben …«

»Das wirst du auch. Das Instrument wird deine Tochter zu mir bringen – keine Sorge. Und sobald sie mir gegeben hat, was ich will, kannst du sie haben. Aber erzähle mir von deiner merkwürdigen Leibwache, Marisa. Solche Soldaten habe ich noch nie gesehen. Was sind das für Leute?«

»Ganz gewöhnliche Männer, nur dass sie … abgetrennt wurden. Sie haben keine Dæmonen mehr, deshalb haben sie weder Angst noch Phantasie noch freien Willen, und sie kämpfen, bis sie in Stücke gerissen werden.«

»Keine Dæmonen … das ist wirklich sehr interessant. Ich möchte dir ein kleines Experiment vorschlagen, wenn du einen von ihnen übrig hast. Ich hätte gern gewusst, ob die Gespenster sich für sie interessieren. Wenn nicht, können wir vielleicht doch nach Cittàgazze fahren.«

»Was für Gespenster denn?«

»Das erkläre ich dir später, meine Liebe. Sie sind der Grund, warum Erwachsene diese Welt nicht betreten können. Staub – Kinder – Gespenster – abgeschnittene Dæmonen … ja, es könnte gehen. Trink noch ein Glas.«

»Ich möchte alles wissen«, sagte sie, während erneut Wein eingegossen wurde. »Und ich werde dich an dein Versprechen erinnern. Aber jetzt sage mir: Was machst du in dieser Welt? Warst du immer hier, wenn wir dachten, du seist in Brasilien oder Indien?«

»Ich habe diese Welt schon vor langer Zeit entdeckt, und es war ein so gutes Geheimnis, dass ich es niemandem verraten habe, nicht einmal dir, Marisa. Wie du siehst, habe ich mich hier recht schön eingerichtet. Dass ich zu Hause Mitglied des Staatsrates bin, erleichterte mir herauszufinden, wie die Macht in dieser Welt verteilt war. Ich wurde Spion, auch wenn ich meinen Auftraggebern nie alles sagte, was ich wusste. Die Geheimdienste dieser Welt haben sich jahrelang fast ausschließlich mit der Sowjetunion beschäftigt – mit unserem Moskowiterreich. Und obwohl das Moskowiterreich keine Bedrohung mehr darstellt, gibt es immer noch viele der früheren Horchposten und Lauscheinrichtungen, und ich stehe mit den Leitern der Spionage noch in Kontakt.

Vor kurzem erfuhr ich nun von einer schweren Störung des irdischen Magnetfelds. Die Geheimdienste sind alarmiert. Je  des Land, das physikalische Grundlagenforschung betreibt – dasselbe, was wir experimentelle Theologie nennen –, hat seine Wissenschaftler aufgefordert herauszufinden, was hier passiert. Denn dass etwas passiert, ist allen klar, und man hat den Verdacht, dass es mit anderen Welten zu tun hat. Man hat sogar einige Anhaltspunkte, um was es geht. So forscht man am Staub. Ja, er ist auch hier bekannt, es gibt sogar in dieser Stadt ein Gruppe von Wissenschaftlern, die daran forscht. Und etwas anderes: Vor zehn oder zwölf Jahren verschwand im Norden ein Mann, und die Leute vom Geheimdienst meinen, er habe etwas gewusst, das sie unbedingt auch wissen müssen – insbesondere die genaue Lage eines Durchgangs zwischen den Welten ähnlich dem, durch den du heute gekommen bist. Der Durchgang, den dieser Mann gefunden hat, ist der einzige, von dem sie wissen; du kannst dir denken, dass ich ihnen nicht gesagt habe, was ich weiß. Als diese neuen Störungen begannen, fingen sie an nach diesem Mann zu suchen. Und natürlich bin ich selbst auch neugierig, Marisa. Ich bin immer daran interessiert, mein Wissen zu erweitern.«

Will saß wie erstarrt da, und sein Herz klopfte so laut, dass er fürchtete, die beiden Erwachsenen könnten es hören. Sir Charles sprach von seinem Vater! Also das suchten die Männer, die bei ihm zu Hause gewesen waren, und sie gehörten zum Geheimdienst!

Will hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass außer Sir Charles und der Frau noch jemand im Zimmer war. Ein Schatten bewegte sich über den Boden oder zumindest den Teil des Bodens, den er an der Ecke des Sofas und den Beinen des acht  eckigen Tischchens vorbei sehen konnte. Doch sowohl Sir Charles als auch die Frau saßen ganz still. Der Schatten bewegte sich ruckartig hin und her und beunruhigte Will zu  nehmend. Die einzige Lichtquelle im Zimmer war eine Stehlampe neben dem Kamin, deshalb war der Schatten klar umrissen, doch blieb er nie so lange ruhig, dass Will ihn er  kennen konnte.

Dann passierten zwei Dinge. Zuerst erwähnte Sir Charles das Alethiometer.

»Dieses Instrument zum Beispiel«, fuhr er fort, »macht mich wirklich neugierig. Vielleicht kannst du mir sagen, wie es funktioniert.«

Und er legte das Alethiometer auf das achteckige Tischchen neben dem Sofa. Will sah es deutlich vor sich, er konnte es fast berühren.

Und noch etwas geschah: Der Schatten hörte auf, sich zu bewegen. Das Wesen, zu dem er gehörte, musste auf der Lehne von Mrs. Coulters Stuhl sitzen, denn das Licht, das es beleuchtete, warf seinen Schatten an die Wand dahinter. In dem Augenblick, in dem es aufhörte, sich zu bewegen, erkannte Will, dass es sich um den Dæmon der Frau handeln musste, einen zusammengekauerten Affen, der den Kopf suchend hin und her drehte.

Will hörte, wie Lyra hinter ihm erschrocken einatmete. Auch sie hatte den Affen entdeckt.

Leise drehte er sich um und flüsterte: »Geh zum anderen Fenster zurück, klettere hindurch und komm durch den Gar  ten. Nimm ein paar Steine und wirf sie ans Fenster des Arbeitszimmers. Das lenkt sie für einen Moment ab und ich kann das Alethiometer holen. Dann lauf sofort wieder zum Fenster zurück und warte dort auf mich.«

Lyra nickte und rannte geräuschlos über das Gras weg. Will drehte sich wieder um.

»… der Rektor von Jordan College ist ein alter Narr«, sagte die Frau gerade. »Ich habe keine Ahnung, warum er es ihr geschenkt hat; man muss sich jahrelang intensiv einarbeiten, um überhaupt etwas damit anfangen zu können. Aber jetzt musst du mir wieder einige Fragen beantworten, Carlo. Wie bist du an das Instrument gekommen? Und wo ist Lyra?«

»Ich beobachtete, wie sie es in einem Museum in der Stadt las. Natürlich erkannte ich sie, ich hatte sie ja damals auf deiner Cocktailparty kennen gelernt, und ich begriff, dass sie einen Durchgang gefunden haben musste. Und dann wurde mir klar, dass ich sie für meine eigenen Zwecke einspannen konnte. Als ich ihr also ein zweites Mal begegnete, habe ich es gestohlen.«

»Du bist sehr offen.«

»Warum darum herumreden? Wir sind beide erwachsen.«

»Und wo ist sie jetzt? Was hat sie getan, als sie entdeckte, dass es weg war?«

»Sie besuchte mich, was sie einigen Mut gekostet haben muss.«

»An Mut fehlt es ihr nicht. Und was willst du mit dem Alethiometer anfangen? Du hast von bestimmten Zwecken gesprochen.«

»Ich sagte ihr, sie könne es wiederhaben, vorausgesetzt, sie beschafft mir etwas anderes – etwas, an das ich selbst nicht komme.«

»Und das wäre?«

»Ich weiß nicht, ob du –«

In diesem Augenblick schlug der erste Stein an das Fenster des Zimmers.

Das Glas zerbrach mit lautem Klirren, und während die beiden Erwachsenen noch wie erstarrt zum Fenster blickten, war der Schatten des Affen bereits von der Stuhllehne gesprungen. Ein zweiter Schlag ertönte und dann noch einer, und Will spürte, wie das Sofa sich bewegte, als Sir Charles aufsprang.

Er beugte sich vor, schnappte das Alethiometer von dem Tischchen, steckte es ein und schlüpfte durch das Fenster zu  rück. Sobald er auf dem Gras von Cittàgazze stand, tastete er in der Luft nach den unsichtbaren Rändern des Fensters; dabei zwang er sich zur Ruhe und dazu, langsam zu atmen, die ganze Zeit bewusst, dass nur wenig Meter vor ihm eine schreckliche Gefahr drohte.

Dann ertönte ein Kreischen, das weder von einem Menschen noch von einem Tier stammte und schlimmer war als beides jemals sein konnte, und er wusste sofort, dass es von dem widerwärtigen Affen kam. Inzwischen hatte er den größten Teil des Fensters geschlossen, aber ein kleiner Spalt in Brusthöhe stand noch offen – und dann sprang er zurück, denn durch diesen Spalt erschien eine kleine, beharrte goldene Hand mit schwarzen Fingernägeln, gefolgt von einem Gesicht wie ein Alptraum. Der goldene Affe hatte die Zähne gefletscht, seine Augen glitzerten, und er strahlte eine so konzentrierte Bösartigkeit aus, dass es Will durch Mark und Bein ging.

Eine Sekunde mehr, und der Affe wäre durchgesprungen und alles wäre zu Ende gewesen; aber Will hielt noch immer das Messer in der Hand. Er zückte es und schnitt damit links, rechts über das Gesicht des Affen – oder über die Stelle, wo das Gesicht gewesen wäre, wenn der Affe sich nicht im letzten Moment zurückgezogen hätte. Will packte die Ränder des offenen Spalts und drückte sie zu.

Schlagartig war seine Welt verschwunden, und er stand al  lein im mondbeschienenen Park von Cittàgazze, keuchend und zitternd vor Angst.

Doch jetzt musste er Lyra helfen. Er rannte zum ersten Fenster zurück, das er in den Büschen geöffnet hatte, und sah hindurch. Die dunklen Blätter der Stechpalmen und Rhododendren verdeckten die Sicht, deshalb langte er durch und drückte sie zur Seite. Deutlich sah er jetzt die Seite des Hauses vor sich; der Mond spiegelte sich in dem zerbrochenen Fenster des Arbeitszimmers.

Er sah den Affen um die Ecke des Hauses kommen und schnell wie eine Katze über das Gras gleiten, und dann tauchte Sir Charles auf, dicht gefolgt von der Frau. Sir Charles hielt eine Pistole in der Hand. Die Frau sah im Mondlicht wunderschön aus, wie Will unwillkürlich und fast erschrocken feststellte. Ihre Augen glänzten dunkel und waren vor Erstaunen ganz groß, und sie bewegte sich voller Anmut. Doch als sie mit den Fingern schnalzte, blieb der Affe sofort stehen und sprang auf ihre Arme, und Will erkannte, dass die Frau mit dem anmutigen Gesicht und der böse Affe dasselbe Wesen waren.

Doch wo war Lyra?

Die Erwachsenen sahen sich um, und die Frau setzte den Affen hinunter, und er begann auf dem Rasen hin und her zu laufen, als nehme er Witterung auf oder suche nach Fußspuren. Alles war still. Wenn Lyra schon wieder in den Büschen war, konnte sie sich nicht regen, ohne Lärm zu machen, der sie sofort verraten würde.

Sir Charles entsicherte seine Pistole mit einem leisen Klicken. Aufmerksam spähte er in die Büsche; er schien Will direkt anzusehen, doch dann wanderte sein Blick weiter.

Plötzlich sahen beide Erwachsene nach links, denn der Affe hatte etwas gehört. Der Dæmon machte einen Satz nach vorn, dorthin, wo Lyra sein musste, und gleich würde er sie entdecken –

In diesem Moment sprang die getigerte Katze aus den Büschen auf das Gras und fauchte.

Der Affe hörte sie und zuckte mitten im Sprung zusammen, verblüfft, obwohl sicher nicht so verblüfft wie Will. Der Affe stand jetzt wieder auf dem Boden, das Gesicht der Katze zugewandt, die einen Buckel machte, den Schwanz zuckend ausstreckte und ihn fauchend und zischend erwartete.

Der Affe sprang auf sie zu, und die Katze bäumte sich auf und schlug rechts und links mit nadelscharfen Krallen zu, so schnell, dass man mit den Augen nicht folgen konnte, und dann stand Lyra vor Will und kletterte keuchend mit Pantalaimon durch das Fenster. Die Katze kreischte, und der Affe kreischte auch, als die Klauen der Katze ihm das Gesicht zerkratzten. Er wandte sich ab und sprang in Mrs. Coulters Arme, und die Katze schoss in die Büsche und verschwand in ihrer Welt.

Inzwischen war Lyra durch das Fenster geschlüpft, und Will tastete wieder nach den kaum spürbaren Rändern in der Luft und drückte sie der Länge nach zusammen, so schnell er konnte. Durch den kleiner werdenden Spalt hörte er das Geräusch von Schritten und splitternden Ästen –

Dann war das Loch nur noch so groß wie Wills Hand, und dann war es zu, und es herrschte wieder Stille. Will fiel im taunassen Gras auf die Knie und suchte mit der gesunden Hand nach dem Alethiometer.

»Hier«, sagte er zu Lyra.

Sie nahm es. Mit zitternden Händen schob Will das Messer in die Scheide zurück. Dann legte er sich am ganzen Körper bebend hin und schloss die Augen. Er spürte, wie der Mond ihn in silbernes Licht tauchte und wie Lyra seinen Verband vorsichtig abnahm und neu wickelte.

»Will«, hörte er sie sagen, »danke für das, was du getan hast, für alles …«

»Hoffentlich ist die Katze nicht verletzt«, murmelte er. »Sie sieht aus wie meine Moxie. Wahrscheinlich ist sie jetzt nach Hause zurückgekehrt, sie ist ja jetzt wieder in ihrer eigenen Welt. Dort geht es ihr sicher gut.«

»Weißt du was? Ich glaubte für einen Moment, sie sei dein Dæmon. Jedenfalls hat sie getan, was ein guter Dæmon getan hätte. Wir haben sie gerettet und sie hat uns gerettet. Stehjetzt auf, Will, du darfst nicht auf dem Gras liegen, es ist nass. Du musst in ein richtiges Bett, sonst bekommst du eine Erkältung. Lass uns in das große Haus da drüben gehen, dort wird es doch sicher Betten und etwas zu essen geben. Komm, ich mach dir einen neuen Verband, dann koche ich Kaffee und mache ein Omelette, oder was du willst, und dann gehen wir schlafen … Jetzt, wo wir das Alethiometer wiederhaben, sind wir in Sicherheit, du wirst sehen. Und ich helfe dir, deinen Vater zu finden, ich tue nichts anderes mehr, das verspreche ich dir …«

Sie half ihm auf, und langsam gingen sie durch den Garten auf das große, weiß im Mondlicht schimmernde Haus zu.