Trepanierte
Schädel
Sobald Lyra ihrer Wege gezogen war, betrat Will eine Telefonzelle und wählte die Nummer der Anwaltskanzlei, die auf dem Brief stand, den er in der Tasche hatte.
»Hallo? Ich möchte bitte mit Mr. Perkins sprechen.« »Wer ist da?«
»Es geht um Mr. John Parry. Ich bin sein Sohn.«
»Augenblick, bitte …«
Nach einer Weile meldete sich die Stimme eines Mannes:
»Hallo, hier Alan Perkins. Mit wem spreche ich?«
»William Parry. Entschuldigen Sie die Störung. Ich rufe wegen meines Vaters an. Sie überweisen doch alle drei Monate Geld von meinem Vater auf das Konto meiner Mutter.« »Richtig …«
»Gut, und ich möchte bitte wissen, wo mein Vater ist. Lebt er oder ist er tot?«
»Wie alt bist du denn, William?«
»Zwölf. Ich möchte wissen, wo er ist.«
»Hm … Hat deine Mutter … ist sie … weiß sie, dass du mich anrufst?«
Will überlegte.
»Nein«, sagte er. »Aber es geht ihr gesundheitlich nicht gut.
Sie kann mir nicht viel sagen, aber ich will es wissen.« »Ja, verstehe. Wo bist du jetzt? Zu Hause?«
»Nein, ich … ich bin in Oxford.«
»Ganz allein?«
»Ja.«
»Und deiner Mutter geht es nicht gut, sagst du?«
»Nein.«
»Ist sie im Krankenhaus?«
»So ähnlich. Können Sie es mir jetzt sagen oder nicht?« »Hm, ich kann dir etwas sagen, aber nicht viel und nicht jetzt gleich, und ich würde es lieber nicht übers Telefon tun. In fünf Minuten kommt ein Klient… Kannst du um halb drei in mein Büro kommen?«
»Nein«, sagte Will. Das war zu riskant. Vielleicht wusste der Anwalt dann bereits schon, dass die Polizei ihn suchte. Er dachte schnell nach und sagte dann: »Ich muss einen Bus nach Nottingham kriegen und will ihn nicht verpassen. Aber können Sie mir nicht am Telefon sagen, was ich wissen will? Ich will nur wissen, ob mein Vater lebt und wenn ja, wo ich ihn finden kann. Das können Sie mir doch sicher sagen?«
»So einfach ist das nicht. Ich darf vertrauliche Informationen über einen Klienten eigentlich nur dann weitergeben, wenn ich sicher weiß, dass das in seinem Sinn ist. Außerdem müsstest du dich mir gegenüber sowieso irgendwie ausweisen.«
»Ja, ich verstehe das, aber können Sie mir nicht trotzdem sagen, ob er lebt oder tot ist?«
»Hm … nein, das wäre nicht vertraulich, aber leider kann ich es dir sowieso nicht sagen, weil ich es gar nicht weiß.«
»Was?«
»Das Geld kommt von einem Treuhandkonto. Dein Vater hat mich angewiesen, es auszuzahlen, bis ich etwas anderes von ihm höre. Ich habe aber bis heute nichts von ihm gehört. Das heißt im Grunde, dass er … tja, er scheint verschwunden zu sein. Deshalb kann ich deine Frage nicht beantworten.«
»Verschwunden … einfach so?«
»Die Zeitungen haben damals darüber berichtet. Sieh mal, warum kommst du nicht einfach in mein Büro und–«
»Ich kann nicht. Ich muss doch nach Nottingham.«
»Gut, dann schreibe mir oder sage deiner Mutter, sie soll mir schreiben, und dann sage ich dir, was ich sagen darf. Aber du musst verstehen, dass ich am Telefon nicht viel tun kann.«
»Gut, Sie haben sicher Recht. Aber können Sie mir sagen, wo er verschwand?«
»Wie gesagt, darüber wurde damals öffentlich berichtet, in verschiedenen Zeitungen. Du weißt, dass er Forschungsreisender war?«
»Meine Mutter hat mir ein paar Dinge gesagt, ja …«
»Er leitete eine Expedition, die dann spurlos verschwand. Vor ungefähr zehn Jahren.«
»Wo?«
»Im hohen Norden, in Alaska, glaube ich. Du kannst es in der Stadtbibliothek nachlesen. Aber warum–«
In diesem Augenblick war Wills Geld aufgebraucht und er hatte keine Münzen mehr. Der Wählton summte in seinem Ohr. Er legte den Hörer auf und sah sich um.
Am liebsten hätte er jetzt mit seiner Mutter gesprochen. Er musste sich mit aller Kraft davon abhalten, Mrs. Coopers Nummer zu wählen, denn wenn er die Stimme seiner Mutter hörte, würde er es kaum übers Herz bringen, nicht zu ihr zu gehen, und das würde sie beide in Gefahr bringen. Aber er konnte ihr eine Postkarte schicken.
Er wählte eine Stadtansicht und schrieb:
Liebe Mum,
mir geht es gut, und ich werde dich bald wiedersehen. Ich hoffe, bei dir ist auch alles gut.
In Liebe, Will.
Er adressierte die Karte, kaufte eine Briefmarke und drückte die Karte eine Minute lang an sich, bevor er sie in den Briefkasten fallen ließ.
Es war mitten am Vormittag, und er stand auf der Haupteinkaufsstraße, wo Busse sich den Weg durch Massen von Fußgängern bahnten. Plötzlich wurde ihm bewusst, wie sehr er hier auffiel. Es war ein Werktag, an dem ein Kind wie er eigentlich in der Schule zu sein hatte. Wohin sollte er gehen?
Er brauchte nicht lange, um sich zu tarnen. Zu verschwinden war für ihn keine Schwierigkeit, schließlich war er darin geübt; er war sogar stolz darauf. Er machte sich auf ähnliche Weise unsichtbar wie Serafina Pekkala auf dem Schiff: indem er sich darauf konzentrierte, nicht aufzufallen. Er verschmolz mit dem Hintergrund.
Mit den Gepflogenheiten seiner Welt wohlvertraut, ging er in ein Papiergeschäft und kaufte einen Kugelschreiber, einen Block und ein Klemmbrett. Schulen schickten oft Gruppen von Schülern los, um eine Umfrage über Einkaufsgewohnheiten der Bevölkerung oder etwas Ähnliches zu machen, und wenn der Eindruck entstand, als nehme er an einem solchen Projekt teil, würde es nicht so aussehen, als habe er nichts zu tun.
Und dann zog er los, tat so, als mache er sich Notizen, und hielt die Augen nach der Stadtbibliothek offen.
Zur selben Zeit suchte Lyra nach einem ruhigen Ort, an dem sie das Alethiometer befragen konnte. In ihrem Oxford wäre sie zu Fuß in fünf Minuten an einem Dutzend solcher Orte gewesen, aber dieses Oxford war verwirrend anders – ab wechselnd so vertraut, dass es geradezu wehtat, und dann wieder exotisch und fremd. Warum hatte man gelbe Striche auf die Straße gemalt? Was waren die kleinen weißen Flecken, die die Gehwege sprenkelten? (In Lyras Welt waren Kaugummis unbekannt.) Was bedeuteten die roten und grünen Lichter an der Straßenecke? All das war viel schwieriger zu verstehen als das Alethiometer.
Doch hier kam das Tor von St. John’s College, über das sie und Roger einmal nach Einbruch der Dunkelheit geklettert waren, um Feuerwerkskörper in die Blumenbeete zu stecken. Und der abgenutzte Stein an der Ecke von Catte Street – er trug sogar die Initialen S P, die Simon Parsley hineingekratzt hatte, genau dieselben! Sie hatte ihm dabei zugesehen! Jemand aus dieser Welt mit denselben Initialen musste hier stehen geblieben sein und genau dasselbe getan haben.
Vielleicht gab es in dieser Welt auch einen Simon Parsley. Vielleicht gab es auch eine Lyra.
Ein Frösteln lief ihr über den Rücken, und Pantalaimon in Gestalt einer Maus zitterte in ihrer Tasche. Sie schüttelte den Gedanken ab. Es gab genug Geheimnisse, ohne dass man noch welche dazu erfand.
Und in noch einer Hinsicht unterschied sich dieses Oxford von ihrem: Gewaltige Ströme von Menschen schoben sich über die Gehwege und in die Gebäude hinein und wieder heraus, Menschen aller Art, Frauen, die wie Männer gekleidet waren, Afrikaner, sogar eine Gruppe von Tataren, die demütig hinter ihrem Führer her trotteten, alle adrett gekleidet und mit kleinen, schwarzen Kästchen behängt. Lyra starrte all diese Menschen zuerst entsetzt an, weil sie keine Dæmonen hatten und damit in ihrer Welt böse Geister oder Schlimmeres gewesen wären.
Dabei sahen diese Wesen – was das Seltsamste war – alle ganz lebendig aus. Sie gingen eifrig hierhin und dorthin, als ob sie Menschen wären, was sie, wie Lyra zugeben musste, wahrscheinlich auch waren, nur dass sie ihre Dæmonen in sich trugen wie Will.
Als sie etwa eine Stunde herumgelaufen und das falsche Oxford erkundet hatte, bekam sie Hunger und kaufte von dem 20-Pfund-Schein eine Tafel Chocolatl. Der Verkäufer sah sie seltsam an, aber er kam aus Indonesien und verstand vielleicht ihre Aussprache nicht, obwohl sie sehr deutlich fragte. Vom Geld, das sie herausbekam, kaufte sie einen Apfel in der Markthalle, die schon viel eher an das richtige Oxford erinnerte, und ging zum Park weiter. Dort kam sie an ein mächtiges Gebäude, das wie ein Gebäude aus dem echten Oxford aussah; zwar existierte es in ihrer Welt nicht, aber es hätte dort hingepasst. Sie setzte sich auf den davorliegenden Rasen, um zu essen, und betrachtete das Gebäude wohlwollend.
Sie entdeckte, dass es sich um ein Museum handelte. Die Tür war offen, und drinnen standen ausgestopfte Tiere, versteinerte Skelette und Glasschränke mit Mineralien, genau wie im Royal Geological Museum, das sie mit Mrs. Coulter in ihrem London besucht hatte. Am hinteren Ende des großen Saals aus Stahl und Glas befand sich der Eingang in einen an deren Teil des Museums, und weil dort fast niemand war, ging sie hinein und sah sich um. Das Befragen des Alethiometers war immer noch die dringendste Sache, die sie erledigen musste, aber in diesem zweiten Raum sah sie sich plötzlich von ganz vertrauten Dingen umringt: Hier standen Vitrinen mit Kleidern aus der Arktis, die genauso aussahen wie ihre Pelze, ferner Vitrinen mit Schlitten, geschnitzten Walrosszähnen, Harpunen für die Seehundjagd und einem bunten Durcheinander verschiedener Trophäen und Relikte und magischer Objekte und Werkzeuge und Waffen, nicht nur aus der Arktis, wie sie jetzt sah, sondern aus allen Teilen dieser Welt.
Es war wirklich seltsam. Die Karibupelze sahen wirklich genauso aus wie ihre, aber die Zugriemen bei diesem Schlitten waren vollkommen falsch befestigt. Und hier hing ein Photogramm einiger samojedischer Jäger, die denen, die Lyra geschnappt und nach Bolvangar verkauft hatten, zum Verwechseln ähnlich sahen. Tatsächlich! Es waren dieselben Männer! Und dieses Seil war sogar an genau derselben Stelle gerissen und wieder zusammengeknotet worden. Wie gut sie es kannte, war sie doch auf genau diesem Schlitten einige qualvolle stundenlang damit gefesselt gewesen … Was waren das für Geheimnisse? Gab es doch nur eine Welt, die von anderen Welten träumte?
Und dann sah sie etwas, das sie wieder an das Alethiometer denken ließ. In einer alten Vitrine mit einem schwarz angemalten, hölzernen Rahmen befanden sich eine Reihe menschlicher Schädel, und einige von ihnen hatten vorne, seitlich oder oben Löcher. Der Schädel in der Mitte hatte sogar zwei. Es handelte sich hier, so besagte eine krakelige Schrift auf einem Schild, um sogenannte Trepanationen. Auf dem Schild stand auch, dass alle Löcher zu Lebzeiten der Besitzer in die Schädel gebohrt worden seien, da der Knochen am Rand geheilt sei und sich verwachsen habe. Nur bei einem Schädel war es anders: Das Loch war von einer bronzenen Pfeilspitze verursacht worden, die immer noch in ihm steckte, und es hatte scharfe, gesplitterte Ränder, so dass man den Unter schied leicht sehen konnte.
So etwas machten die nördlichen Tataren. Und Stanislaus Grumman hatte es bei sich selbst gemacht, laut Auskunft der Wissenschaftler von Jordan College, die ihn gekannt hatten. Lyra sah sich rasch um und holte, als sie niemanden sah, das Alethiometer heraus und hielt es in das staubige Licht, das durch das Glasdach schräg an den Galerien vorbeifiel.
Sie konzentrierte sich auf den mittleren Schädel und fragte: Wem gehörte dieser Schädel und warum hat er diese Löcher?
So vertieft war sie, dass sie nicht bemerkte, dass sie beobachtet wurde.
Auf der Galerie über ihr stand ein kräftig aussehender Mann in den Sechzigern in einem maßgeschneiderten Leinenanzug und mit einem Panamahut in der Hand und sah über das eiserne Geländer herunter.
Seine grauen Haare waren sorgfältig aus der glatten, gebräunten und kaum von Falten durchzogenen Stirn gekämmt. Er hatte große, dunkle und stechende Augen mit langen Wimpern, und etwa einmal in der Minute erschien seine spitze, dunkle Zunge im Mundwinkel und fuhr in einer schnellen Bewegung feucht über seine Lippen. Das schneeweiße Tüchlein in seiner Brusttasche verströmte einen schweren Duft ähnlich jenen Gewächshauspflanzen, die so intensiv duften, dass man die Fäulnis an ihren Wurzeln riecht.
Er beobachtete Lyra schon seit einigen Minuten. Er war ihr auf der Galerie gefolgt, wenn sie unten weiterging, und als sie vor der Vitrine mit den Schädeln stehen blieb, betrachtete er sie eingehend: ihre ungebärdigen, ungekämmten Haare, den blauen Fleck auf ihrer Wange, die neuen Kleider, den nackten, über das Alethiometer gebeugten Hals und die nackten Beine.
Er entfaltete das Brusttuch und tupfte sich damit die Stirn ab, dann ging er zur Treppe.
Lyra war vollkommen in das Alethiometer vertieft. Sie erfuhr seltsame Dinge. Die Schädel waren unvorstellbar alt. Auf den Kärtchen in der Vitrine stand nur »Bronzezeit«, aber das Alethiometer, das nie log, sagte, der Mann mit dem mittleren Schädel habe dreiunddreißigtausend-zweihundert-und-vierundfünfzig Jahre vor der Gegenwart gelebt; er sei Zauberer gewesen, und das Loch sei gebohrt worden, um die Götter in seinen Kopf zu lassen. Und in der beiläufigen Art, mit der es manchmal Fragen beantwortete, die Lyra gar nicht gestellt hatte, fügte es hinzu, die trepanierten Schädel seien von deutlich mehr Staub umgeben als der Schädel mit der Pfeilspitze.
Was um alles in der Welt hatte das zu bedeuten? Als Lyra wieder aus der konzentrierten Ruhe auftauchte, in der sie mit dem Alethiometer kommunizierte, und nach und nach in die Gegenwart zurückkehrte, merkte sie, dass sie nicht mehr al lein war. Ein älterer, süßlich riechender Herr in einem hellen Anzug sah aufmerksam in die Vitrine neben ihr. Er erinnerte sie an jemanden, doch fiel ihr nicht ein, an wen.
Er merkte, dass Lyra ihn anstarrte, und blickte lächelnd auf.
»Du siehst dir die trepanierten Schädel an?«, fragte er. »Was für seltsame Dinge die Menschen doch mit sich anstellen.«
»Mhm«, sagte sie ausdruckslos.
»Weißt du, dass einige Leute das heute noch tun?«
»Ja«, sagte sie gedehnt.
»Hippies zum Beispiel, solche Leute. Aber natürlich, du bist viel zu jung, um zu wissen, was Hippies sind. Sie behaupten, solche Löcher seien noch viel wirksamer als Drogen.«
Lyra hatte das Alethiometer wieder in ihren Rucksack gesteckt und überlegte, wie sie dem Mann entkommen konnte. Die wichtigste Frage hatte sie noch gar nicht gestellt und jetzt verwickelte dieser Mann sie in ein Gespräch. Wenigstens schien er ganz nett, und auf jeden Fall roch er gut. Er war näher gekommen. Als er sich über die Vitrine mit den Schädeln beugte, streifte seine Hand die ihre.
»Macht einen neugierig, oder? Kein Betäubungsmittel, kein Desinfektionsmittel, und wahrscheinlich mit Steinwerk zeugen gemacht. Diese Menschen müssen einiges ausgehalten haben, wie? Ich glaube nicht, dass ich dich hier schon gesehen habe. Ich komme oft her. Wie heißt du?«
»Lizzie«, sagte sie ohne zu zögern.
»Lizzie. Guten Tag, Lizzie. Ich bin Charles. Gehst du in Oxford zur Schule?«
Sie wusste nicht, was sie antworten sollte.
»Nein«, sagte sie.
»Nur auf Besuch hier? Tja, da hast du dir ein sehr sehenswertes Museum ausgesucht. Was interessiert dich denn besonders?«
Es war schon lange her, dass jemand sie so verunsichert hatte wie dieser Mann. Auf der einen Seite war er nett und freundlich und sehr sauber und elegant angezogen, auf der anderen Seite regte sich Pantalaimon unruhig in ihrer Brusttasche und beschwor sie vorsichtig zu sein, weil der Mann auch ihn vage an etwas erinnerte. Und von irgendwoher kam ein Geruch oder eigentlich nur die Andeutung eines Geruches nach Kot und Verwesung. Iofur Raknisons Palast fiel ihr ein, mit seiner parfümierten Luft und dem dick mit Schmutz bedeckten Boden.
»Was mich interessiert?«, fragte sie. »Och, alles Mögliche. Aber diese interessanten Schädel habe ich eben erst gesehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand das mit sich machen lässt. Das ist doch schrecklich.«
»Na, mir würde es auch nicht gefallen, aber ich versichere dir, es passiert heute noch. Ich könnte dich sogar mit jemandem bekannt machen, der es hat machen lassen.« Er sah sie so freundlich und hilfsbereit an, dass sie versucht war, auf sein Angebot einzugehen. Doch dann kam seine kleine, dunkle, spitze Zunge heraus und züngelte schnell wie die Zunge einer Schlange über seine Lippen. Lyra schüttelte den Kopf.
»Ich muss gehen«, sagte sie. »Vielen Dank für das Angebot, aber ich möchte lieber nicht. Außerdem muss ich jetzt los, weil ich mit jemandem verabredet bin. Mit meiner Freundin«, fügte sie hinzu, »bei der ich wohne.«
»Ja, natürlich«, sagte er freundlich. »Na denn, es war nett, mit dir zu plaudern. Auf Wiedersehen, Lizzie.«
»Wiedersehen«, sagte sie.
»Ach – nur für den Fall – mein Name und meine Adresse.« Er reichte ihr ein kleines Kärtchen. »Falls du doch einmal mehr über diese Dinge wissen willst.«
»Danke«, sagte sie höflich und steckte die Karte in die kleine Außentasche ihres Rucksacks. Dann ging sie. Sie spürte, wie er ihr nachsah, bis sie draußen war.
Sie verließ das Museum und ging tiefer in den Park hinein, in dem in ihrer Welt Kricket und andere Sportarten gespielt wurden. Schließlich fand sie unter einigen Bäumen ein ruhiges Plätzchen und packte dort erneut das Alethiometer aus.
Diesmal fragte sie, wo sie einen Wissenschaftler finden konnte, der über Staub Bescheid wusste. Die Antwort, die sie bekam, war einfach: in einem ganz bestimmten Zimmer in dem hohen, massigen Gebäude hinter ihr. Die Antwort war so direkt und so schnell gekommen, dass Lyra sicher war, das Alethiometer hatte noch etwas zu sagen. Sie spürte inzwischen, dass es Launen hatte wie ein Mensch, und merkte, wann es noch mehr mitteilen wollte.
Und so war es auch jetzt. Es sagte: Kümmere dich um den Jun gen. Deine Aufgabe ist, ihm zu helfen seinen Vater zu finden. Konzentriere dich darauf.
Sie starrte das Instrument an, aufrichtig verblüfft. Will war aus dem Nirgendwo aufgetaucht, um ihr zu helfen, soviel war klar. Dass umgekehrt auch sie den ganzen Weg bisher zurück gelegt hatte, um ihm zu helfen, verschlug ihr den Atem.
Doch das Alethiometer war noch nicht fertig. Wieder zuckte die Nadel, und sie las: Lüge die Person, die du jetzt auf suchst, nicht an.
Sie wickelte das Alethiometer wieder in den Samt ein und steckte es in den Rucksack. Dann stand sie auf und wandte sich dem Gebäude zu, in dem sie ihren Wissenschaftler fin den sollte. Befangen und trotzig machte sie sich auf den Weg.
Will hatte keine Mühe, die Bibliothek zu finden, und der Bibliothekar in der Nachschlageabteilung glaubte ihm auch so fort, dass er für ein Geographieprojekt in der Schule recherchierte, und suchte ihm die gebundenen Indexbände der Times für das Jahr seiner Geburt heraus, das Jahr in dem sein Vater verschwunden war. Will setzte sich und blätterte sie durch. Und tatsächlich, er fand einige Verweise auf John Parry in Zusammenhang mit einer archäologischen Expedition.
Jeder Monat der Times, stellte Will fest, war auf einem eigenen Mikrofilm. Nacheinander legte er die Filme in das Lesegerät ein, durchsuchte sie, bis er den entsprechenden Artikel gefunden hatte, und las mit grimmiger Aufmerksamkeit. Der erste Artikel berichtete über den Aufbruch einer Expedition ins nördliche Alaska. Finanziert wurde sie vom Institut für Archäologie der Universität Oxford, und sie sollte ein Gebiet untersuchen, in dem man hoffte, Spuren früher menschlicher Besiedlung nachweisen zu können. Begleitet wurde die Expedition von John Parry, vormals bei der Marineinfanterie, von Beruf Forschungsreisender.
Der zweite Bericht war sechs Wochen später verfasst worden. Er besagte in Kürze, die Expedition habe die nordamerikanische Vermessungsstation in Noatak in Alaska erreicht.
Der dritte Bericht war zwei Monate später erschienen. Darin stand, Signale der Station seien nicht erwidert worden, John Parry und seine Begleiter seien vermisst.
Es folgte eine kurze Serie von Artikeln über Gruppen, die die Vermissten vergeblich gesucht hatten, Suchflüge über dem Beringmeer, Reaktionen des archäologischen Instituts, Interviews mit Angehörigen …
Wills Herz klopfte, denn da war ein Bild seiner Mutter, mit einem Baby im Arm. Das Baby war er.
Der Reporter hatte die übliche tränenreiche Geschichte von der ängstlich auf ein Lebenszeichen wartenden Frau geschrieben, und Will fand darin enttäuschend wenig tatsächliche Fakten. In einem kurzen Absatz hieß es, John Parry habe erfolgreich bei der Marineinfanterie gedient, sie aber verlassen, um sich auf die Organisation geographischer und wissenschaftlicher Expeditionen zu spezialisieren. Das war alles.
Der Index enthielt keinen weiteren Verweis. Verwirrt stand Will auf. Irgendwo musste es weitere Informationen geben, aber wohin sollte er sich als Nächstes wenden? Und wenn er für die Suche zu lange brauchte, würden sie ihn auf spüren …
Er gab die Mikrofilme zurück und fragte den Bibliothekar: »Können Sie mir bitte die Adresse des Instituts für Archäologie sagen?«
»Ich kann nachschauen … Von welcher Schule kommst du denn?«
»St. Peter’s«, sagte Will.
»Das ist nicht in Oxford, oder?«
»Nein, in Hampshire. Ich bin mit meiner Klasse auf Exkursion. Wir machen eine Umfrage zum Umweltbewusstsein der Bevölkerung.«
»Ach so, ja. Was wolltest du noch gleich … Archäologie … hier haben wir es.«
Will schrieb sich Adresse und Telefonnummer auf, und da er ja guten Gewissens behaupten konnte, sich in Oxford nicht auszukennen, fragte er nach dem Weg. Es war nicht weit. Er bedankte sich und marschierte los.
Im Innern des Gebäudes kam Lyra an einen großen Tisch am Fuß der Treppe, hinter dem ein Pförtner saß.
»Wo willst du hin?«, fragte er.
Genau wie zu Hause, stellte sie erfreut fest und tastete nach Pan in ihrer Brusttasche.
»Ich habe eine Nachricht für jemanden im zweiten Stock«, sagte sie.
»Für wen?«
»Dr. Lister.«
»Dr. Lister ist im dritten Stock. Wenn du etwas für ihn hast, kannst du es hier abgeben. Ich benachrichtige ihn dann.«
»Ja, aber es ist etwas, das er dringend braucht. Er hat soeben darum gebeten. Genau genommen handelt es sich gar nicht um einen Gegenstand, sondern um etwas, das ich ihm sagen muss.«
Der Pförtner sah sie misstrauisch an, wusste der nichtssagenden Höflichkeit, über die Lyra verfügte, wenn sie wollte, aber nichts entgegenzusetzen. Er nickte schließlich und vertiefte sich wieder in seine Zeitung.
Das Alethiometer nannte Lyra natürlich keine Namen. Den Namen von Dr. Lister hatte sie von einem Fach an der Wand hinter dem Pförtner abgelesen, denn wenn man vorgab, jemanden zu kennen, wurde man eher reingelassen. In mancher Hinsicht kannte Lyra Wills Welt besser als er.
Im zweiten Stock kam sie auf einen langen Gang. Hinter einer offenen Tür sah sie einen Hörsaal, hinter einer anderen ein kleineres Zimmer, in dem zwei Wissenschaftler vor einer Tafel diskutierten. Die Räume und die Wände des Ganges waren kahl und schmucklos, sie passten besser zu armen Leuten, fand Lyra, nicht zu Wissenschaftlern und der Pracht von Oxford; doch waren die Ziegelwände sauber gestrichen, die Türen aus schwerem Holz und die Treppengeländer aus poliertem Stahl, also kostspielig. Auch das war seltsam an dieser Welt.
Sie fand die Tür, die das Alethiometer ihr genannt hatte, rasch. Auf dem Türschild stand »Forschungslabor für dunkle Materie«, und darunter hatte jemand von Hand R.I.P. gekritzelt. Eine andere Hand hatte mit Bleistift hinzugefügt »Direktor: Lazarus«.
Lyra verstand nicht, was damit gemeint war. Sie klopfte und die Stimme einer Frau sagte: »Herein.«
Sie betrat ein kleines Zimmer, dessen Boden voll gestellt war mit schwankenden Bücherstapeln und Stößen von Papier; die Tafeln an den Wänden waren mit Zahlen und Gleichungen bedeckt. An die Rückseite der Tür hatte jemand die Zeichnung eines Musters geheftet, das chinesisch aussah. Durch eine offene Tür sah Lyra in ein weiteres Zimmer, indem so etwas wie ein komplizierter anbarischer Apparat stand.
Lyra war überrascht, dass der gesuchte Wissenschaftler eine Frau war, aber das Alethiometer hatte ja nicht von einem Mann gesprochen, und schließlich befand sie sich in einer merkwürdigen Welt. Die Frau saß an einer Maschine mit einem kleinen Bildschirm aus Glas, auf dem alle möglichen Ziffern und Zeichen zu sehen waren, und vor sich hatte sie auf einem graugelben Tablett die Buchstaben des Alphabets auf kleinen, verschmutzten Blöcken liegen. Sie drückte einen davon und der Bildschirm wurde leer.
»Wer bist du?«, fragte sie.
Lyra machte die Tür hinter sich zu. Sie erinnerte sich, was das Alethiometer ihr gesagt hatte, und versuchte deshalb etwas, was sie sonst nicht getan hätte: die Wahrheit zu sagen.
»Lyra Listenreich«, antwortete sie. »Und Sie?«
Die Frau sah sie überrascht an. Lyra schätzte sie auf Ende dreißig, etwas älter vielleicht als Mrs. Coulter. Sie hatte schwarze Haare und rote Wangen und trug einen weißen Mantel über einem grünen Hemd und blauen Leinenhosen, wie sie so viele Leute in dieser Welt trugen.
Die Frau fuhr sich auf Lyras Frage mit einer Hand durch die Haare und sagte dann: »Du bist heute schon das zweite unerwartete Ereignis. Ich bin Doktor Mary Malone. Was willst du?«
»Ich möchte, dass Sie mir erklären, was Staub ist«, sagte Lyra, nachdem sie sich umgesehen und vergewissert hatte, dass sie allein waren. »Ich weiß, dass Sie es wissen. Ich kann es beweisen. Sie müssen es mir unbedingt sagen.«
»Staub? Wovon redest du?«
»Vielleicht nennt man es hier anders. Ich meine Elementarteilchen. In meiner Welt sagen die Wissenschaftler auch Rusakow-Teilchen dazu, aber normalerweise sagen sie Staub. Es ist nicht leicht, sie zu erkennen, aber sie kommen aus dem Weltall und bleiben an den Menschen hängen. Das heißt, weniger an Kindern, sondern hauptsächlich an Erwachsenen. Und was ich erst heute herausgefunden habe – also ich war in dem Museum da drüben, und da gab es einige alte Schädel mit Löchern drin, wie sie die Tataren machen, und um diese war viel mehr Staub als um den anderen Schädel, der nicht diese Art von Loch hatte. Wann war die Bronzezeit?«
Die Frau sah sie mit aufgerissenen Augen an.
»Die Bronzezeit?«, sagte sie. »Du meine Güte, ich weiß nicht, vielleicht vor fünftausend Jahren.«
»Hm, dann haben sie das Schild falsch beschriftet. Der Schädel mit den beiden Löchern ist dreiunddreißigtausend Jahre alt.«
Lyra hielt inne, weil Dr. Malone aussah, als ob sie gleich in Ohnmacht fallen würde. Die rote Farbe war vollkommen aus ihren Wangen gewichen, und sie hatte eine Hand an die Brust gelegt, während sie mit der anderen die Armlehne ihres Schreibtischstuhls umklammerte. Ihr Unterkiefer war nach unten gesackt.
Verblüfft wartete Lyra darauf, dass sie sich erholte.
»Wer bist du?«, fragte die Frau schließlich.
»Lyra Listen-«
»Nein, woher kommst du? Was bist du? Woher weißt du solche Dinge?«
Lyra seufzte ungeduldig; sie hatte vergessen, wie umständlich Wissenschaftler sein konnten. Es war wirklich schwer, ihnen die Wahrheit zu sagen, wenn sie eine Lüge so viel leichter verstanden hätten.
»Ich komme aus einer anderen Welt«, begann sie. »Und in meiner Welt gibt es ein Oxford wie das hier, nur anders, und da bin ich her. Und –«
»Halt, halt, halt. Du kommst woher?«
»Von anderswo«, sagte Lyra, vorsichtiger geworden. »Nicht von hier.«
»Aha, von anderswo«, sagte die Frau. »Verstehe. Ja, ich glaube, ich verstehe.«
»Und ich muss wissen, was Staub ist«, erklärte Lyra. »Weil die Leute von der Kirche aus meiner Welt, ja, die haben Angst vor Staub, weil sie glauben, er sei die Erbsünde. Deshalb ist es so wichtig. Und mein Vater … nein«, sagte sie heftig und stampfte mit dem Fuß auf, »das wollte ich gar nicht sagen. Ich habe ganz verkehrt angefangen.«
Dr. Malone sah Lyras verzweifelt gerunzelte Stirn und die geballten Fäuste und die blauen Flecken auf ihrer Wange und ihrem Bein und sagte: »Du meine Güte, Kind, so beruhige dich doch …«
Sie brach ab und rieb sich die Augen, die rot waren vor Müdigkeit.
»Warum höre ich dir überhaupt zu?«, fuhr sie fort. »Ich muss verrückt sein. Tatsache ist, dass hier der einzige Ort der Welt ist, wo du die Antwort, die du willst, bekommen kannst, aber unser Labor soll geschlossen werden … Dein Staub, von dem du da redest, klingt wie etwas, das wir seit einer Weile untersuchen, und was du über die Schädel im Museum sagst, hat mich erschreckt, weil… Nein, es ist einfach zuviel. Ich bin zu müde. Ich will dir ja gern zuhören, glaub mir, aber bitte nicht jetzt. Habe ich gesagt, dass das Labor geschlossen werden soll? Ich habe eine Woche Zeit für einen Antrag an den Ausschuss, der die Gelder bewilligt, aber wir haben keinerlei Hoffnung …«
Sie gähnte heftig.
»Was war das erste unerwartete Ereignis heute?«, fragte Lyra.
»Ach so, ja. Jemand, mit dessen Unterstützung ich für unseren Antrag gerechnet habe, hat sich zurückgezogen. So unerwartet war das ja im Grunde gar nicht.«
Sie gähnte wieder.
»Ich mache Kaffee«, sagte sie, »sonst schlafe ich noch ein. Willst du auch welchen?«
Sie füllte einen Wasserkocher und löffelte Pulverkaffee in zwei Becher. Lyra betrachtete derweil das chinesische Muster auf der Rückseite der Tür.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Das ist chinesisch. Die Symbole des Yijing. Weißt du, was das Yijing ist? Gibt es das in deiner Welt auch?«
Lyra wusste nicht, ob das ironisch gemeint war, und sah sie misstrauisch an. »Einige Dinge sind bei uns gleich und einige sind verschieden. Ich kenne nicht alles, was es in meiner Welt gibt. Vielleicht gibt es dieses Yijing auch.«
»Entschuldigung«, sagte Dr. Malone. »Ja, du magst Recht haben.«
»Was ist dunkle Materie?«, fragte Lyra. »Steht das nicht draußen an der Tür?«
Dr. Malone setzte sich wieder und schob Lyra mit dem Fuß einen Stuhl zu.
»Dunkle Materie ist das, wonach mein Forschungsteam sucht. Niemand weiß, was es ist. Die Sache ist die: Draußen im All gibt es mehr Materie, als wir sehen können. Wir sehen die Sterne und Galaxien und alles, was scheint, aber damit das alles zusammenhält und nicht auseinander fliegt, muss noch viel mehr da sein – damit das mit der Schwerkraft funktioniert. Aber noch niemand hat dieses fehlende Etwas entdecken können. Deshalb gibt es viele verschiedene Forschungsprojekte, die herauszufinden versuchen, was es ist, darunter dieses.«
Lyra hörte ihr mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Endlich redete die Frau ernsthaft mit ihr.
»Und was glauben Sie, was es ist?«, fragte sie.
»Hm, was wir glauben, ist…«, begann sie, doch das Wasser kochte, und sie stand auf. Während sie den Kaffee anrührte, fuhr sie fort: »Wir glauben, dass es sich um eine Art Elementarteilchen handelt, etwas vollkommen anderes als alles bisher Entdeckte. Aber es ist sehr schwierig, diese Teilchen nachzuweisen … Wo gehst du zur Schule? Hast du schon Physik?«
Pantalaimon zwickte Lyra in die Hand, als Warnung, nicht wütend zu werden. Es war ja schön und gut, wenn das Alethiometer sagte, sie solle die Wahrheit sagen, aber sie wusste, was passieren würde, wenn sie die ganze Wahrheit sagte. Sie musste vorsichtig sein und sich darauf beschränken, direkte Lügen zu vermeiden.
»Ja«, sagte sie, »ein paar Sachen weiß ich schon. Aber nichts über dunkle Materie.«
»Also wir versuchen, diese kaum auffindbaren Teilchen irgendwo in dem Lärm, den die ganzen anderen Teilchen machen, wenn sie zusammenstoßen, zu entdecken. Normaler weise stellt man ein paar hundert Meter unter der Erde Detektoren auf, aber wir erzeugen stattdessen um den Detektor ein elektromagnetisches Feld, das die Dinge, die wir nicht brauchen können, abhält, und die, die wir brauchen, durch lässt. Dann verstärken wir das Signal und schicken es durch einen Computer.«
Sie reichte Lyra einen Becher mit Kaffee. Milch und Zucker gab es nicht, aber in einer Schublade fand sie einige Ingwerplätzchen. Hungrig nahm Lyra eines.
»Und wir haben sogar ein Teilchen gefunden, das passt«, fuhr Dr. Malone fort, »zumindest glauben wir, dass es passt. Aber es ist so seltsam … Warum erzähle ich dir das eigentlich? Das sollte ich doch gar nicht. Das Ganze ist weder veröffentlicht noch von einem unabhängigen Gutachter beurteilt worden, es existiert noch nicht einmal schriftlich. Ich glaube, ich bin heute Nachmittag nicht ganz bei Trost.«
Sie gähnte so lange, dass Lyra schon glaubte, sie würde nie aufhören. »Also … unsere Teilchen sind wirklich seltsame kleine Teufel. Wir nennen sie Schattenteilchen, oder Schatten. Weißt du, warum ich gerade fast vom Stuhl gefallen wäre, als du die Schädel vom Museum erwähnt hast? Einer aus unserem Team ist Amateurarchäologe. Und er hat eines Tages etwas entdeckt, das wir nicht glauben konnten. Aber wir konnten es auch nicht ignorieren, weil es zur verrücktesten Eigenschaft dieser Schatten passte. Denn weißt du was? Sie haben Bewusstsein. Jawohl, Schatten sind Bewusstseins-Teilchen. Hast du schon mal so was Blödsinniges gehört? Kein Wunder, dass wir kein Geld mehr bekommen.«
Sie nippte an ihrem Kaffee. Lyra sog ihre Worte auf wie eine durstige Blume Wasser.
»Ja«, fuhr Dr. Malone fort, »diese Teilchen wissen, dass wir hier sind, und antworten uns. Und jetzt kommt das Verrückte: Man sieht sie nur dann, wenn man damit rechnet, wenn man sich in einen ganz bestimmten geistigen Zustand versetzt. Man muss daran glauben, dass man sie sehen wird, und sich zugleich entspannen, man muss in der Lage sein – wo ist dieses Zitat …«
Sie suchte in dem Wust von Papieren auf ihrem Schreibtisch und fand schließlich einen Zettel, auf den jemand mit grüner Tinte etwas geschrieben hatte.
»›… dazu imstand‹«, las sie vor, »›in Ungewissheiten, Rätseln, Zweifeln auszuharren, ohne ungeduldig nach Tat- und Ursache zu verlangen‹ – in diesen Zustand muss man sich versetzen. Die Zeile stammt übrigens von dem Dichter Keats, ich bin gestern auf sie gestoßen. Man versetzt sich also in die richtige geistige Verfassung und sucht dann in der Höhle –«
»Der Höhle?«, fragte Lyra.
»Entschuldigung, im Computer. Wir nennen ihn Höhle. Die Schatten an der Wand der Höhle, weißt du, von Platon. Das ist wieder von unserem gebildeten Amateurarchäologen. Er ist zu einem Bewerbungsgespräch nach Genf gefahren, und ich glaube nicht, dass er wiederkommt … Wo war ich stehen geblieben? Ach ja richtig, bei der Höhle. Sobald die Verbindung da ist und man denkt, antworten die Schatten. Es kann keinen Zweifel geben. Deine Gedanken ziehen sie an wie einen Schwarm Vögel …«
»Und die Schädel?«
»Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Oliver Payne, dieser Kollege von mir, untersuchte eines Tages nur so zum Spaß einige Dinge mit der Höhle. Und es war so seltsam, es machte überhaupt keinen Sinn, wie ihn ein Physikerer warten würde. Er untersuchte ein Stück Elfenbein, ein unbearbeitetes Stück, und fand keine Schatten. Es reagierte nicht. Aber eine aus Elfenbein geschnitzte Schachfigur reagierte. Ein von einer Planke abgebrochener Holzsplitter reagierte nicht, ein hölzernes Lineal dagegen schon. Und eine aus Holz geschnitzte kleine Statue hatte mehr … mein Gott, ich spreche hier doch von Elementarteilchen, winzigen Partikeln aus im Grunde nichts. Aber sie wussten, um welche Gegenstände es sich handelte. Alles, was mit menschlichem Denken zu tun hatte, was von Menschen bearbeitet worden war, war von Schatten umgeben … Und dann bekam Oliver, also Dr. Payne, von einem Freund im Museum einige fossile Schädel und untersuchte sie, um festzustellen, wie weit dieser Sachverhalt zeitlich zurückging. Es gab einen Wendepunkt vor ungefähr dreißig- bis vierzigtausend Jahren. Davor keine Schatten, danach jede Menge. Und das ist in etwa die Zeit, als die ersten modernen Menschen auftauchten. Ich meine unsere entfernten Vorfahren, die sich von uns aber im Grunde nicht unter scheiden …«
»Das ist Staub«, sagte Lyra bestimmt, »nichts anderes.«
»Aber man kann so was in einem Antrag auf Forschungsgelder nicht sagen, wenn man ernst genommen werden will. Es ergibt keinen Sinn, so etwas kann es nicht geben. Es ist unmöglich, und wenn nicht unmöglich, dann belanglos oder, wenn es weder das eine noch das andere ist, nur peinlich.«
»Ich möchte die Höhle sehen«, sagte Lyra. Sie stand auf.
Dr. Malone fuhr sich mit den Händen durch die Haare und schloss ein paarmal die Lider, um das Brennen ihrer müden Augen zu lindern.
»Ja, warum eigentlich nicht«, sagte sie, »vielleicht haben wir sie schon morgen nicht mehr. Komm mit.«
Sie ging Lyra voraus in das andere Zimmer. Es war größer und voll gestopft mit elektronischen Apparaturen.
»Hier ist sie«, sagte sie und zeigte auf einen leeren, grauen Bildschirm. »Hinter diesem Drahtgewirr befindet sich der Detektor. Um die Schatten zu sehen, muss man sich an einige Elektroden anschließen, wie wenn man Gehirnströme misst.«
»Ich möchte das ausprobieren«, sagte Lyra.
»Du wirst nichts sehen. Außerdem bin ich zu müde. Es ist zu kompliziert.«
»Bitte! Ich weiß genau, was ich tun muss!«
»Ja, wirklich? Ich wollte, ich wüsste es. Nein, um Himmels willen. Das hier ist ein teures und extrem schwieriges wissenschaftliches Experiment. Du kannst hier nicht einfach reinplatzen und damit spielen wollen, als sei das ein Flipper … Wo kommst du überhaupt her? Musst du nicht zur Schule? Wie hast du zu mir gefunden?«
Und wieder rieb sie sich die Augen, als wache sie gerade auf.
Lyra zitterte. Sag die Wahrheit, dachte sie. »Damit«, sagte sie und zog das Alethiometer heraus.
»Was um alles in der Welt ist das? Ein Kompass?«
Lyra gab ihr das Instrument. Dr. Malone machte große Augen, als sie das Gewicht spürte.
»Mein Gott, das ist ja aus Gold. Wo um alles –«
»Ich glaube, es macht dasselbe wie Ihre Höhle, und das möchte ich herausfinden«, sagte Lyra verzweifelt. »Wenn ich eine Frage richtig beantworten kann, etwas, das nur Sie wissen und ich nicht, darf ich dann Ihre Höhle benutzen?«
»Was, sind wir jetzt beim Wahrsagen angelangt? Was ist das für ein Ding?«
»Bitte! Fragen sie mich was!«
Dr. Malone zuckte die Schultern. »Also gut. Sage mir … sage mir, was ich getan habe, bevor ich anfing hier zu arbeiten.«
Eifrig nahm Lyra das Alethiometer und stellte die Frage. Sie spürte, wie ihre Gedanken bei den richtigen Bildern waren, noch bevor die Zeiger auf sie zeigten, und wie die lange, dünne Nadel als Antwort darauf zu zucken und um das Zifferblatt zu kreisen begann. Sie folgte ihr aufmerksam mit den Augen, zog Schlüsse und sah, wie sich zahllose Symbole zu Bedeutungen und schließlich zur Wahrheit zusammen setzten.
Mit einem Seufzen und Blinzeln tauchte sie aus ihrer vorübergehenden Trance auf.
»Sie waren eine Nonne«, sagte sie. »Das hätte ich nie erraten. Nonnen müssen eigentlich für immer in ihren Klöstern bleiben. Aber Sie konnten nicht mehr an die kirchlichen Dinge glauben und man ließ Sie gehen. Das ist wirklich ganz anders als in meiner Welt.«
Dr. Malone war in den einzigen Stuhl des Zimmers gesunken und starrte sie an.
»Stimmt doch, oder?«, fragte Lyra.
»Ja. Und das sagt dir dieses …«
»Mein Alethiometer. Ich glaube, es arbeitet mit Staub. Ich bin nur deshalb den ganzen Weg hierher gekommen, um mehr über Staub zu erfahren, und das Alethiometer hat mich hierher geführt. Deshalb nehme ich an, dass Ihre dunkle Materie dasselbe ist. Kann ich jetzt Ihre Höhle ausprobieren?«
Dr. Malone schüttelte den Kopf, aber nicht, um nein zu sagen, sondern nur aus Hilflosigkeit. Sie breitete die Hände aus. »Also gut«, sagte sie, »wahrscheinlich träume ich. Dann kann ich genauso gut weitermachen.«
Sie drehte sich auf ihrem Stuhl und drückte einige Tasten, worauf die Apparaturen zu summen begannen. Lyra fuhr hoch und konnte gerade noch einen Schrei unterdrücken. Das Summen klang genauso wie das Geräusch, das sie in jener glitzernden Schreckenskammer in Bolvangar gehört hatte, wo die silberne Guillotine sie und Pantalaimon fast getrennt hätte. Sie spürte, wie Pantalaimon in ihrer Brusttasche zitterte, und drückte ihn sanft zur Beruhigung.
Dr. Malone bemerkte davon nichts. Sie war zu beschäftigt damit, Schalter einzustellen und auf einem weiteren dieser graugelben Tabletts auf Buchstaben zu drücken. Der Bildschirm wechselte die Farbe und einige kleine Buchstaben und Zeichen erschienen darauf.
»Jetzt setz du dich hier hin«, sagte sie und überließ Lyra den Stuhl. Dann öffnete sie einen kleinen Topf. »Ich schmiere dir etwas Gel auf die Haut, damit der elektrische Kontakt besser ist. Es lässt sich leicht wieder ab waschen. Halte jetzt still.«
Dr. Malone nahm sechs Kabel, die jeweils in einem flachen Pfropfen endeten, und befestigte sie an verschiedenen Stellen von Lyras Kopf. Lyra saß regungslos da, doch atmete sie schnell und ihr Herz schlug heftig.
Dr. Malone holte sich einen zweiten Stuhl und setzte sich. »Gut, jetzt bist du angeschlossen«, sagte sie. »Das Zimmer ist voller Schatten. Natürlich ist das ganze Universum voller Schatten, aber wir können sie nur sehen, indem wir unseren Kopf ganz leer machen und den Bildschirm ansehen. Also los.«
Lyra sah auf den Bildschirm. Die Scheibe war dunkel und leer. Sie sah schemenhaft ihr eigenes Spiegelbild, das war alles. Versuchsweise tat sie so, als lese sie das Alethiometer, und stellte sich eine Frage vor: Was weiß diese Frau über Staub? Was für Fragen stellt sie?
In Gedanken ließ sie die Zeiger des Alethiometers kreisen, und als sie das tat, begann der Bildschirm zu flimmern. Er staunt wachte sie aus ihrer Konzentration auf, und das Flimmern erstarb. Sie bemerkte nicht, wie sich Dr. Malone hinter ihr verblüfft aufrichtete, sondern beugte sich stirnrunzelnd vor und begann sich wieder zu konzentrieren.
Diesmal erfolgte die Antwort sofort. Ein ganzer Strom tanzender Lichter, zum Verwechseln ähnlich den schimmernden Vorhängen der Aurora, strahlte über die Scheibe. Die Lichter formten sich zu Mustern, die sich schon im nächsten Augen blick wieder auflösten und neu bildeten, in anderen Formen oder anderen Farben. Sie verschlangen sich zu Girlanden, breiteten sich aus und explodierten in leuchtenden Schauern, die im Zickzack hierhin und dorthin schwenkten wie eine Vogelschwarm, der am Himmel die Richtung ändert. Und während Lyra zusah, empfand sie dasselbe wie damals, als sie angefangen hatte, das Alethiometer zu lesen: eine innere Erregung am Rand des Verstehens.
Sie stellte noch eine Frage: Ist das Staub? Ist das, was diese Muster bildet, dasselbe, was die Nadel des Alethiometers bewegt?
Die Antwort erfolgte in weiteren Spiralen und Schlieren aus Licht. Lyra vermutete, dass sie »ja« bedeuteten. Dann fiel ihr etwas anderes ein. Sie wandte sich Dr. Malone zu, um etwas zu sagen, und sah, dass diese mit offenem Mund neben ihr saß, die Hand an die Stirn gelegt.
»Was ist denn?«, fragte sie.
Der Bildschirm wurde dunkel und Dr. Malone sah sie wie betäubt an.
»Was ist denn los?«, wiederholte Lyra.
»Eh – du hast gerade die beste Darstellung auf den Bild schirm geholt, die ich je gesehen habe, das ist alles«, sagte Dr. Malone. »Wie hast du das gemacht? Was hast du gedacht?«
»Ich dachte eben, man kann es noch deutlicher hinkriegen«, sagte Lyra.
»Noch deutlicher? So deutlich war es noch nie!«
»Aber was bedeuten die Formen? Können Sie sie lesen?«
»Nein«, sagte Dr. Malone, »man liest sie ja auch nicht, wie man eine Mitteilung liest, so geht das nicht. Was passiert ist, dass die Schatten auf die Aufmerksamkeit reagieren, die man ihnen widmet. Das allein ist schon revolutionär: Es ist dein Bewusstsein, auf das sie reagieren.«
Lyra schüttelte den Kopf. »Aber ich meine die Farben und Formen auf dem Bildschirm. Die Schatten könnten ja auch andere Formen bilden, alles was Sie wollen. Sie könnten auch Bilder formen, wenn Sie wollten. Sehen Sie.«
Sie wandte sich wieder dem Schirm zu und konzentrierte sich, aber diesmal tat sie, als sei der Schirm das Alethiometer mit allen sechsunddreißig kreisförmig auf dem Zifferblatt an geordneten Symbolen. So gut kannte sie diese, dass sich ihre Finger ganz von selbst in ihrem Schoß bewegten, während sie in Gedanken die Zeiger so stellte, dass sie auf die Kerze (für Verstehen), Alpha und Omega (für Sprache) und die Ameise (für Fleiß) zeigten; dazu formulierte sie die Frage: Was müssten die Wissenschaftler hier tun, wenn sie die Sprache der Schatten verstehen wollten?
Der Schirm antwortete mit der Geschwindigkeit eines Gedankens, und aus dem Durcheinander der Linien und Blitze entstand in vollkommener Klarheit eine Folge von Bildern: Kompass, noch einmal Alpha und Omega, Blitz und Engel. Jedes Bild blitzte verschieden oft auf, und dann kamen drei weitere Bilder: Kamel, Garten und Mond.
Lyra verstand ihre Bedeutung und tauchte aus ihrer Konzentration auf, um sie Dr. Malone zu erklären. Als sie sich diesmal zu ihr umdrehte, saß Dr. Malone zurückgelehnt in ihrem Stuhl, kreidebleich im Gesicht, und hielt sich an der Tischkante fest.
»Er spricht in meiner Sprache«, sagte Lyra, »in der Sprache der Bilder, wie das Alethiometer. Aber er sagt, er könnte auch ganz gewöhnliche Sprache verwenden, Wörter, wenn man es entsprechend einrichtet. Sie könnten der Höhle sagen, dass sie Wörter auf den Bildschirm schreiben soll. Man müsste das allerdings ganz genau in Zahlen ausrechnen – das bedeutet der Kompass –, und der Blitz steht für anbarische Energie, ich meine elektrischen Strom, davon brauchte man auch mehr. Und der Engel hat mit den übermittelten Nachrichten zu tun. Die Höhle will uns ganz bestimmte Dinge sagen. Als dann die zweite Folge von Bildern kam … Sie bedeuteten Asien, ganz weit im Osten, aber nicht ganz, keine Ahnung, was das für ein Land wäre – vielleicht China… Und dort reden sie auch mit dem Staub, ich meine den Schatten, wie Sie hier und ich – nur dass ich Bilder habe, und dort verwenden sie Stöckchen. Gemeint war, glaube ich, das Bild da an der Tür, aber ich habe es nicht genau verstanden. Als ich es vorhin sah, hatte ich gleich das Gefühl, dass es irgendwie wichtig ist, ich wusste nur nicht inwiefern. Offenbar kann man also auf viele Arten mit den Schatten reden.«
Dr. Malone hatte ihr mit angehaltenem Atem zugehört.
»Das Yijing«, sagte sie jetzt. »Ja, das ist chinesisch. Um die Zukunft vorauszusagen – also im Grunde Wahrsagerei … Und, ja, sie machen das mit Stöckchen. Das da oben hängt nur zum Schmuck da.« Sie sagte es, wie um zu betonen, dass sie nicht wirklich daran glaubte. »Du meinst also, dass Leute, die das Yijing befragen, in Wirklichkeit mit Schattenteilchen kommunizieren? Mit dunkler Materie?«
Lyra nickte. »Wie gesagt, es gibt viele Möglichkeiten. Das war mir bisher nicht klar. Ich dachte, es gebe nur eine.«
»Diese Bilder auf dem Schirm …«, begann Dr. Malone.
Lyra merkte, dass sich irgendwo am Rand ihres Bewusstseins ein Gedanke regte, und wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Sie hatte gerade erst begonnen, eine Frage zu formulieren, als weitere Bilder aufblitzten, so schnell hintereinander, dass Dr. Malone ihnen kaum folgen konnte. Doch Lyra wusste, was sie bedeuteten, und drehte sich wieder um.
»Es heißt da, dass auch Sie wichtig sind«, sagte sie, »und dass Sie etwas Wichtiges zu tun haben. Ich weiß nicht was, aber wenn es nicht so wäre, würde es nicht da stehen. Sie müssen die Schatten wahrscheinlich dazu bringen, Worte zu verwenden, damit Sie sie verstehen können.«
Dr. Malone schwieg. Dann sagte sie: »Also gut, noch einmal: Woher kommst du?«
Lyra verzog den Mund. Sie spürte, dass Dr. Malone, die bis jetzt aus Erschöpfung und Verzweiflung gehandelt hatte, unter normalen Umständen nie ihre Arbeit einem fremden Kind gezeigt hätte, das aus dem Nichts auftauchte, und dass sie allmählich begann, das zu bedauern. Aber sie musste ihr die Wahrheit sagen.
»Ich komme aus einer anderen Welt«, sagte sie. »Das stimmt wirklich. Ich bin erst heute hergekommen. Ich war … Ich musste fliehen, weil Leute aus meiner Welt hinter mir her waren und mich umbringen wollten. Und das Alethiometer kommt … es kommt auch von dort. Der Rektor von Jordan College hat es mir geschenkt. In meinem Oxford gibt es nämlich ein Jordan College, aber hier nicht. Ich habe nachgesehen. Und ich habe mir selbst beigebracht, wie man das Alethiometer liest. Ich mache meinen Kopf einfach ganz leer und lasse die Bilder auf mich wirken. Genau wie Sie gesagt haben … mit den Zweifeln und Rätseln und so. Als ich den Bildschirm an sah, habe ich es genauso gemacht, und es hat genauso gewirkt, also sind auch mein Staub und Ihre Schatten dasselbe. Gut…«
Dr. Malone war jetzt hellwach. Lyra nahm das Alethiometer und wickelte es liebevoll in den Samt ein wie eine Mutter ihr Kind. Dann steckte sie es in ihren Rucksack zurück.
»Gut«, sagte sie, »Sie könnten den Bildschirm, wenn Sie wollen, so einrichten, dass er in Worten zu Ihnen spricht. Dann könnten Sie mit den Schatten reden wie ich mit dem Alethiometer. Aber was ich wissen will, ist: Warum hassen die Menschen in meiner Welt ihn? Den Staub, meine ich, die Schatten, oder die dunkle Materie. Sie wollen sie zerstören, sie halten sie für böse. Aber ich glaube, dass das, was sie selber tun, böse ist. Ich habe gesehen, was sie tun. Was sind Schatten also? Gut oder böse, oder was?«
Dr. Malone massierte sich das Gesicht, worauf ihre Wangen noch röter wurden, als sie es schon waren.
»Das ist doch alles nur peinlich«, sagte sie. »Weißt du, wie peinlich es ist, in einem wissenschaftlichen Labor von gut und böse zu sprechen? Kannst du dir das überhaupt vorstellen? Ich bin unter anderem deshalb Wissenschaftlerin geworden, damit ich darüber nicht nachzudenken brauche.«
»Aber Sie müssen darüber nachdenken«, sagte Lyra streng. »Sie können nicht Schatten und Staub und was immer erforschen, wenn Sie darüber nicht nachdenken, über gut und böse und das. Und das müssen Sie, wie der Staub sagte, vergessen sie das nicht. Sie können sich nicht weigern. Wann soll das Labor geschlossen werden?«
»Der Ausschuss entscheidet darüber Ende der Woche … Warum?«
»Weil Sie dann heute Abend Zeit haben«, sagte Lyra. »Sie könnten diese Maschine so einrichten, dass sie Wörter auf dem Bildschirm zeigt statt Bilder wie bei mir. Sie könnten das leicht. Das könnten Sie denen dann zeigen, und die müssten Ihnen das Geld geben, um weiterzumachen. Und Sie könnten alles über Staub oder Schatten herausfinden und mir sagen. Denn sehen Sie –«, sie sagte es ein wenig hochmütig wie eine Herzogin, die über ein nicht ganz zufriedenstellendes Dienstmädchen spricht, »– das Alethiometer sagt mir nicht genau, was ich wissen muss. Aber Sie könnten das für mich tun. Sonst müsste ich es wahrscheinlich mit diesem Yijing versuchen, diesen Stäbchen. Nur mit Bildern kann man leichter arbeiten, ich jedenfalls. Ich nehme das jetzt ab.« Sie zog an den
Elektroden auf ihrem Kopf.
Dr. Malone gab ihr ein Papiertaschentuch, um das Gel abzuwischen, und rollte die Kabel auf.
»Du willst gehen?«, sagte sie. »Das war vielleicht eine seltsame Stunde mit dir, wirklich.«
»Und Sie stellen die Maschine auf Wörter um?«, fragte Lyra und nahm ihren Rucksack in die Hand.
»Das hätte ungefähr soviel Sinn, wie den Antrag auf die Gelder fertig auszufüllen, würde ich sagen. Nein, hör zu. Ich möchte, dass du morgen wiederkommst. Kannst du das? Ungefähr zur selben Zeit? Ich möchte, dass du das jemand anders zeigst.«
Lyra Augen verengten sich zu Schlitzen. War das eine Falle?
»Meinetwegen«, sagte sie. »Aber vergessen Sie nicht, um was ich Sie gebeten habe.«
»Nein, natürlich nicht. Du kommst auch wirklich?«
»Ja«, sagte Lyra. »Wenn ich das sage, tue ich es auch. Wahrscheinlich kann ich Ihnen helfen.«
Damit ging sie. Der Pförtner am Eingang sah kurz auf, dann wandte er sich wieder seiner Zeitung zu.
»Die Grabung von Nuniatak«, sagte der Archäologe und schwang auf seinem Drehstuhl herum. »Du bist diesen Monat schon der zweite, der danach fragt.«
»Wer war der andere?«, fragte Will, sofort auf der Hut.
»Ein Journalist, glaube ich, ich bin mir nicht sicher.«
»Warum hat er gefragt?«
»Er wollte etwas über einen der Männer wissen, die auf dieser Expedition verschwanden. Damals war der Kalte Krieg auf dem Höhepunkt. Du bist wahrscheinlich zu jung, um das zu wissen. Amerikaner und Russen bauten überall in der Arktis riesige Radaranlagen … Aber egal, was kann ich für dich tun?«
Will versuchte ruhig zu bleiben. »Ich wollte eigentlich nur mehr über diese Expedition wissen, für ein Projekt unserer Schule über prähistorische Menschen. Ich habe von der verschollenen Expedition gelesen und wurde neugierig.«
»Tja, da bist du nicht der Einzige. Die Sache erregte seinerzeit großes Aufsehen. Ich habe es für den Journalisten nach gesehen. Es handelte sich um eine vorbereitende Erkundung des Geländes, keine richtige Grabung. Man kann erst graben, wenn man weiß, dass es sich lohnt, also zogen einige Leute los, um sich verschiedene Orte anzusehen und darüber zu berichten. Insgesamt ein halbes Dutzend Teilnehmer. Auf solchen Expeditionen arbeitet man manchmal gemeinsam mit Vertretern anderer Disziplinen wie Geologen und teilt sich die Kosten. Die anderen sehen sich dann ihre Sachen an und wir unsere. In diesem Fall war ein Physiker mit von der Partie. Soviel ich weiß, beschäftigte er sich mit Teilchen in der hohen Erdatmosphäre, mit der Aurora, dem Nordlicht, wenn du weißt, was das ist. Dazu setzte er offenbar Ballone mit Funksendern ein. Und außer ihm war noch jemand dabei, ein ehemaliger Angehöriger der Marineinfanterie, eine Art professioneller Forschungsreisender. Die Expedition sollte in einige ziemlich unwegsame Gebiete führen, und in der Arktis gibt es überall gefährliche Eisbären. Archäologen können ja einige Dinge, aber nicht unbedingt schießen, und deshalb ist jemand, der schießen, navigieren, ein Lager aufschlagen und andere für das Überleben wichtige Dinge kann, sehr nützlich. Doch dann verschwand die Expedition. Sie war noch in Funk kontakt mit einer lokalen Vermessungsstation, doch eines Tages meldete sie sich nicht, und von da an hörte man nichts mehr von ihr. Es hatte einen Schneesturm gegeben, doch ist das nichts Ungewöhnliches. Die Suchexpedition fand das letzte Lager. Es war mehr oder weniger intakt, obwohl die Bären die Vorräte gefressen hatten, nur die Leute waren spurlos verschwunden. Mehr kann ich dir leider nicht sagen.«
»Ja, danke«, sagte Will und ging zur Tür. »Ach ja … dieser Journalist –« er blieb stehen »– Sie sagten, er habe sich für einen der Expeditionsteilnehmer interessiert. Für welchen denn?«
»Für den professionellen Forscher, einen Mann namens Parry.«
»Wie sah er aus? Der Journalist, meine ich.«
»Warum willst du das wissen?«
»Weil…« Will fiel kein einleuchtender Grund ein. Er hätte nicht fragen sollen. »Einfach so. Es hat mich einfach interessiert.«
»Soweit ich mich erinnern kann, war er groß und blond. Sehr helle Haare.«
»Ach so, danke.« Will wandte sich zum Gehen. Der Mann sah ihm stumm und mit gerunzelter Stirn nach. Aus dem Augenwinkel sah Will noch, wie er nach dem Telefonhörer langte, dann verließ er rasch das Gebäude.
Draußen merkte er, dass er zitterte. Der sogenannte Journalist war einer der Männer, denen er bei sich zu Hause begegnet war: ein hoch gewachsener Mann mit so hellblonden Haaren, dass er weder Augenbrauen noch Wimpern zu haben schien. Er war nicht der, den Will die Treppe hinuntergestoßen hatte, sondern der, der in der Wohnzimmertür aufgetaucht war, als Will die Treppe hinuntergerannt und über die Leiche gesprungen war.
Und er war kein Journalist.
In der Nähe befand sich ein großes Museum. Will ging hinein, in der Hand das Klemmbrett, als arbeite er, und setzte sich in einen Saal, in dem lauter Gemälde hingen. Er zitterte jetzt heftig, und ihm war übel, denn das Bewusstsein, dass er jemanden umgebracht hatte, dass er ein Mörder war, lag wie ein Alpdruck auf ihm. Bisher hatte er das verdrängt, aber jetzt holte es ihn allmählich ein. Er hatte einem Menschen das Leben genommen.
Eine halbe Stunde saß er da und rührte sich nicht, und es war die schlimmste halbe Stunde seines Lebens. Menschen kamen und gingen, sahen sich die Gemälde an und unterhielten sich leise, ohne ihn zu beachten. An der Tür stand für ein paar Minuten ein Museumsaufseher mit auf dem Rücken gefalteten Händen, dann entfernte er sich langsam. Will blieb bewegungslos sitzen, überwältigt vom Grauen über seine Tat.
Ganz allmählich beruhigte er sich. Schließlich hatte er seine Mutter verteidigt. Die Männer hatten ihr Angst gemacht, sie schikaniert, und bedrängt, und das trotz des Zustands, in dem sie sich befand. Er hatte das Recht, sein zu Hause zu verteidigen. Sein Vater hätte gewollt, dass er das tat. Er hatte es getan, weil es richtig war, und weil er verhindern wollte, dass die Männer die grüne Ledermappe stahlen. Er hatte es getan, um seinen Vater zu finden, und war nicht auch das sein gutes Recht? Die Spiele, die er als Kind gespielt hatte, fielen ihm ein, in denen sein Vater und er sich in seiner Vorstellung gegenseitig vor Lawinen oder angreifenden Piraten gerettet hatten. Jetzt war daraus Wirklichkeit geworden. »Ich werde dich finden«, sagte er in Gedanken. »Hilf mir, und ich finde dich, und dann kümmern wir uns um Mama, und alles wird wieder gut …«
Und schließlich hatte er ja jetzt ein Versteck, das so sicher war, dass niemand ihn finden würde. Und auch die Papiere in der Mappe, die er noch immer nicht hatte lesen können, waren in Sicherheit, unter der Matratze in Cittàgazze.
Nach einer Weile bemerkte er, dass die Besucher anfingen, alle in dieselbe Richtung zu gehen. Sie gingen zum Ausgang, weil der Aufseher ihnen sagte, dass das Museum in zehn Mi nuten schließen würde. Auch Will stand auf und ging. Er marschierte zur High Street, in der die Kanzlei des Anwalts lag, und überlegte, ob er ihn aufsuchen sollte, obwohl er gesagt hatte, er würde nicht kommen. Der Mann hatte so freundlich geklungen …
Gerade wollte er die Straße überqueren und hineingehen, als er wie angewurzelt stehen blieb.
Der hoch gewachsene Mann mit den hellen Augenbrauen stieg aus einem Auto.
Will drehte sich sofort um und starrte in das Fenster eines Juweliergeschäfts hinter ihm. Im Spiegel der Scheibe sah er, wie der Mann sich umblickte, den Knoten seiner Krawatte zurechtrückte und dann in die Kanzlei ging. Sobald er verschwunden war, entfernte Will sich mit heftig schlagendem Herzen. Er war nirgends sicher. Er machte sich auf den Weg zur Universitätsbibliothek, um dort auf Lyra zu warten.