TEIL ZWEI

Der Pferdestall, ein bescheidenes Wellblechgebäude mit sechs Boxen, befand sich direkt am äußeren Zaun. Als Carson den Stall betrat, sah er, daß in vier der Boxen Pferde standen. Es war eine Stunde vor Sonnenaufgang, und die Venus leuchtete hell am östlichen Horizont. Carson betrachtete die Pferde, die mit hängenden Köpfen vor sich hindösten. Als er leise pfiff, hoben sie die Köpfe und stellten die Ohren auf.

»Welche von euch häßlichen alten Schindmähren hätte denn Lust auf einen kleinen Ausritt?« flüsterte Carson. Eines der Pferde wieherte leise.

Er besah sich die Tiere der Reihe nach. Sie waren ein bunt gemischter Haufen, den man offensichtlich auf verschiedenen Ranches zusammengekauft hatte: ein leicht gänsebrüstiger Appaloosa, zwei alte Quarterhorses und ein Pferd, dessen Rasse Carson nicht genau kannte. Muerto, Nyes prächtiger, gefleckter Wallach, den Carson bei einem früheren Besuch im Stall gesehen hatte, war nicht da. Offenbar hatte sich der Engländer schon in aller Frühe zu einem seiner mysteriösen Wüstenritte aufgemacht. Dem geht das Ganze hier wohl auch auf die Nerven, dachte Carson. Trotzdem kam es ihm seltsam vor, daß sich der Sicherheitschef zu dieser Stunde aus dem Gelände entfernte. Carson selbst hatte wenigstens eine Entschuldigung dafür, daß er nicht arbeitete, denn der Sicherheitsbereich war immer noch geschlossen und würde es noch mindestens einen weiteren Tag lang bleiben, bis ein Inspektor von der Gesundheitsbehörde kam, um BrandonSmith' Tod zu untersuchen.

Selbst wenn der Fiebertank geöffnet gewesen wäre, wäre Carson an diesem Tag nicht in der Lage gewesen zu arbeiten. Er verzog in der vom Pferdegeruch gesättigten Dunkelheit des Stalles das Gesicht. Gerade als er zu dem Entschluß gekommen war, daß er für BrandonSmith' Unfall nicht verantwortlich war, war die Wissenschaftlerin an X-FLU gestorben. Czerny, der zwar nicht mit X-FLU infiziert, aber mit den Nerven vollkommen am Ende war, hatte man mit einem Krankenwagen weggebracht. Danach wurde der ganze Fiebertank gründlich dekontaminiert und dann versiegelt. Bis der Inspektor kam, konnte nicht gearbeitet werden, und Carson hielt das Herumsitzen in der bedrückten Atmosphäre des Wohnbereichs nicht mehr aus. Er mußte einen freien Kopf bekommen, um in Ruhe über das X-FLU-Problem nachdenken und herausfinden zu können, was wirklich schiefgelaufen war. Noch viel wichtiger aber war, daß er sein inneres Gleichgewicht wiedererlangen mußte. Und dazu war nichts besser geeignet als ein langer, einsamer Ritt durch die Wüste. Carson sah sich das Pferd, dessen Rasse er nicht kannte, näher an. Es war ein brauner Wallach mit einem im Verhältnis zu seinem Körper viel zu großen Kopf, der jung und stark aussah. Unter seiner struppigen Mähne blickte er Carson mit wachen Augen an.

Carson trat in den Stall und ließ seine Hand über die Flanke des Pferdes gleiten. Das Fell war dicht und drahtig, und das Fleisch darunter fühlte sich fest an. Das Pferd zuckte nicht zusammen, als er es berührte, es drehte lediglich den Kopf und roch an Carsons Schulter. Das Tier hatte einen ruhigen, aber aufmerksamen Ausdruck in den Augen, der Carson auf Anhieb gefiel. Er beugte sich hinunter und hob einen Vorderlauf des Pferdes hoch. Der Huf war in gutem Zustand, auch wenn das Hufeisen offensichtlich von einem Stümper angebracht worden war. Als Carson den Huf mit einem kleinen Messer reinigte, ließ das Pferd es geduldig über sich ergehen. Carson säuberte noch den zweiten Vorderhuf, dann richtete er sich auf und tätschelte es am Hals. »Du bist ein braves Pferd«, sagte er, »aber häßlich bist du auch.«

Das Pferd wieherte, als hätte es ihn verstanden. Carson legte ihm ein Zaumzeug über den Kopf und führte es nach draußen auf den Sattelplatz. Es war jetzt schon zwei Jahre her, seit er das letzte Mal auf dem Rücken eines Pferdes gesessen hatte, aber er spürte, wie die alten Instinkte wiederkehrten. Er ging in die Sattelkammer und sah sich Sättel und Zaumzeug an.

Es war ganz offensichtlich, daß die meisten seiner Kollegen nicht allzu begeisterte Reiter waren. Einer der Sättel hatte einen gebrochenen Vorderzwiesel, ein anderer war notdürftig geflickt und würde sich wohl wieder in seine Einzelteile auflösen, sobald ein Pferd unter ihm anfinge zu traben. Lediglich ein alter Abiquiu-Sattel mit weit hochgezogenem Hinterzwiesel sah so aus, als könne man ihn noch gebrauchen. Carson nahm ihn und brachte ihn zusammen mit einer Decke und einem Sattelkissen hinaus zu dem Pferd. Dann befestigte er seine alten Sporen an den Stiefeln und bemerkte dabei, daß eines der Spornrädchen kaputt war.

»Na, wie heißt du denn?« fragte er leise das Pferd, während er ihm mit der Hand übers Fell strich. Das Pferd sah ihn stumm und fragend an. »Na schön, dann werde ich dich Roscoe nennen.« Er faltete die Decke, warf sie dem Pferd über den Rücken und legte Sattelkissen und Sattel darauf. Als er den Sattelgurt festzog, bemerkte er, daß das Pferd seinen Bauch mit Luft aufblies und damit verhindern wollte, daß er den Gurt zu fest zog. »Du bist mir vielleicht ein Schlingel«, sagte Carson und machte den Gurt nur locker zu. Als sich das Pferd einen Augenblick später wieder entspannt hatte, drückte er ihm ein Knie in die Seite und zog den Lederriemen straff. Roscoe legte die Ohren an.

»Hab ich dich erwischt«, sagte Carson. Im Osten wurde der Himmel nun schon heller, und die Venus war merklich verblaßt und kaum mehr zu sehen. Carson legte dem Pferd die Satteltaschen über, in denen er sich etwas zu essen mitgenommen hatte, befestigte eine Feldflasche mit Wasser am Horn des Sattels und stieg auf.

Das Wachhaus am hinteren Tor des Geländes war nicht besetzt, also ritt Carson zu dem Tastenfeld am Zaun, tippte seinen Code ein, und das Tor schwang automatisch auf. Im Trab ritt er hinaus in die Wüste und atmete tief durch. Nach fast drei Wochen Gefangenschaft im Labor fühlte er sich endlich frei. Frei von der Platzangst im Fiebertank und frei von den Schrecken der vergangenen Tage. Morgen, wenn der Inspektor der Gesundheitsbehörde den Sicherheitstank freigegeben hatte, würde die Arbeit in der Tretmühle von neuem beginnen, und er war fest entschlossen, den ihm verbleibenden freien Tag optimal zu nutzen.

Roscoe war ein schneller, starker Traber. Carson lenkte ihn nach Südwesten und ritt auf die alte indianische Ruine zu, deren wenige stehengebliebene Wände aus einem großen Haufen Schutt hervorragten. Seit Carson die Ruine aus dem Fenster von Singers Büro gesehen hatte, hatte er sich vorgenommen, sie eines Tages zu erkunden.

Jetzt, als er ganz nahe daran vorbeiritt, sah Carson, daß die Ruine zu einem Großteil mit Flugsand bedeckt war. Nur hier und da konnte er noch die Umrisse einer zusammengefallenen Mauer und kleinerer Wohnräume erkennen. Die Ruine sah auch nicht anders aus als die vielen verfallenen Indianerbauten, die er in seiner Jugend gesehen hatte. Bald war sie nur mehr ein immer kleiner werdender Fleck in der Wüste, den er weit hinter sich gelassen hatte.

Als er mehrere Kilometer vom Labor entfernt war, ließ Carson das Pferd wieder in Schritt fallen und sah sich um. Mount Dragon war nichts weiter als ein Haufen weißer Punkte am nördlichen Horizont. Die Vegetation der Jornada-Wüste war hier etwas anders als rund um das Laborgelände. Hier gab es eine Menge Kreosotbüsche, die aussahen, als wären die Abstände zwischen ihnen nach einem strengen mathematischen Muster berechnet worden.

Carson ritt weiter in südlicher Richtung und genoß das Auf und Ab des trabenden Pferdes. Auf einer Düne sah er eine Gabelantilope, die wie versteinert dastand und zu ihm herübersah. Kurz darauf gesellte sich ihr eine zweite hinzu, dann machten beide Tiere wie auf ein unhörbares Kommando mit einemmal kehrt und ergriffen die Flucht. Offenbar hatte ihnen der Wind seine Witterung zugetragen. Hinter der Düne erreichte Carson einen kleinen Hain von Yuccapalmen, die aussahen wie eine Ansammlung von Menschen, die allesamt die Köpfe hängen ließen. Bei ihrem Anblick erinnerte er sich an eine Geschichte, die seit Generationen in seiner Familie erzählt wurde: Sein Vorfahr Kit Carson hatte einmal mitten in der Wüste seinem Treck befohlen, eine Wagenburg zu bilden, und fünfzehn Minuten lang auf eine Horde feindlicher Indianer feuern lassen, bis er merkte, daß es sich bei den vermeintlichen Angreifern in Wirklichkeit um einen solchen Yuccapalmenhain gehandelt hatte. Um die Mittagszeit schätzte Carson, daß er etwa fünfundzwanzig Kilometer von Mount Dragon entfernt war. Das einzige, was er davon noch sah, war der Berg selber, der wie ein schwarzes Dreieck am nördlichen Horizont stand. Die Laborgebäude waren schon seit geraumer Zeit aus Carsons Blickkreis verschwunden. Im Westen war dafür eine Kette niedriger Hügel aufgetaucht, und Carson hatte sein Pferd in ihre Richtung gelenkt. Bald kam er an den Rand eines Lavafeldes, auf dessen scharfkantigem schwarzem Gestein viele blühende Ocatillas wuchsen. Er hatte einen Ausläufer der ausgedehnten, El Malpais genannten Lavaformation erreicht, die sich vielverzweigt über Hunderte von Quadratkilometern erstreckte. Die Hügel im Westen waren nun schon so nahe, daß Carson in ihnen eine Reihe von erloschenen Vulkankegeln erkannte, die ganz ähnlich aussahen wie der Mount Dragon. Carson ritt am Rand der Lava entlang, der sich in unregelmäßigen Biegungen durch die Wüste wand und ein komplexes, von vielen Höhlen durchzogenes Labyrinth aus Buchten, Inseln und Plateaus bildete.

In der Ferne, über der Hügelkette, braute sich mit beängstigender Geschwindigkeit ein Sommergewitter zusammen. Ein mächtiger, dunkler Wolkenberg, der oben abgeflacht wie ein Amboß war, stieg hoch hinauf in den blauen Himmel. Carson spürte, wie ein kühler Wind aufkam und ihm einen leichten Geruch nach Ozon in die Nase wehte. Bald verdeckten die Wolken die Sonne, und eine seltsame Stille wie in einer Kathedrale legte sich über die Landschaft. Ein paar Minuten später sah Carson, wie aus den Wolken in ein paar Kilometern Entfernung ein Regenschauer niederging, der aussah wie eine Wand aus blau angelaufenem Stahl. Carson trieb Roscoe zu einem leichten Trab an und suchte den Rand des Lavafeldes nach einer Höhle ab, in der er das nahende Gewitter überstehen konnte. Die Regenwand kam immer näher, und der böige Wind blies den Sand vom Boden in die Luft. Aus den Wolken zuckten jetzt Blitze zur Erde, und Donnerschläge rollten über die Wüste wie das Geräusch einer fernen Schlacht. Eine Art tiefes Stöhnen erfüllte die Luft, und der Geruch nach nassem Sand und Elektrizität wurde stärker.

Als Carson eine Spitze des Lavastroms umrundet hatte, sah er zwischen den zu grotesken Strängen verdrehten Basaltströmen eine vielversprechend aussehende Höhle. Er stieg vom Pferd, band Roscoe mit dem Zügel an einen Felsen und nahm ihm die Satteltaschen ab. Dann kletterte er über die Lava zum Eingang der Höhle.

Es war ein dunkler, kühler Schlund mit einem weichen Boden aus hereingewehtem Sand. Kaum hatte Carson sie betreten, da fielen draußen auch schon klatschend die ersten, schweren Regentropfen. Carson sah, wie sich Roscoe an seinem langen Zügel so drehte, bis sein Hinterteil dem Wind zugewandt war. Der Sattel würde jetzt naß werden, aber das war egal. Wenn es ein besserer Sattel gewesen wäre, hätte ihn Carson mit in die Höhle genommen, aber ein solcher Sattel verdiente keine besondere Pflege. Wenn er wieder zurück war, würde er das Leder einölen, mehr nicht.

Auf einmal verschwand die Wüste rings um Carson im strömenden Regen. Die Berge waren nicht mehr zu sehen, und aus der schwarzen Lava ringsum wurde eine undeutliche, graue Masse. Carson lag in der halbdunklen Höhle auf dem Rücken und dachte über das nach, was in Mount Dragon in den vergangenen paar Tagen geschehen war. Nicht einmal hier konnte er dem Labor entkommen, das immer noch etwas Unwirkliches für ihn hatte, auch wenn der Tod von BrandonSmith rauhe Wirklichkeit gewesen war. Wieder quälte er sich mit Selbstvorwürfen. Wenn sein Gen-Splicing funktioniert hätte, wäre BrandonSmith jetzt noch am Leben. In gewisser Hinsicht hatte sein übergroßes Vertrauen in seine Methode ihren Tod mitverschuldet. Obwohl ein Teil von ihm wußte, wie irrational diese Ge danken waren, konnte er sich nicht gegen sie wehren. Dabei wußte Carson genau, daß er sein Bestes gegeben hatte und daß Fillsons und BrandonSmith' eigene Nachlässigkeit an dem Unfall mit dem Affen schuld waren. Aber er konnte sich das tausendmal sagen, trotzdem wurde er ein gewisses Schuldgefühl nicht los.

Carson schloß die Augen und versuchte, sich auf die Geräusche des Regens und des Windes zu konzentrieren. Nach einer Weile setzte er sich auf und starrte hinaus in die Wüste. Roscoe stand still und ohne erkennbare Angst im strömenden Regen. Er hatte bestimmt schon viele solche Gewitter erlebt. Carson bedauerte ihn, wußte aber auch, daß seit Urzeiten unzählige Pferde draußen in der Nässe hatten stehen müssen, während ihre Reiter Zuflucht in irgendwelchen Höhlen gesucht hatten. Er hockte sich wieder hin und wartete darauf, daß das Gewitter sich legte. Als er dabei geistesabwesend mit den Fingern durch den Sand des Höhlenbodens fuhr, spürte er auf einmal etwas Kühles und Hartes im Sand. Es war eine Speerspitze aus grauem Feuerstein, dünn und wohlgeformt wie das Blatt eines Baumes. Carson erinnerte sich, daß er in seiner Jugend einmal auf der Ranch seines Vaters eine Pfeilspitze aus ähnlichem Material gefunden hatte. Als er sie zu Hause seinem Großonkel Charley gezeigt hatte, hatte dieser gemeint, daß sie so etwas wie ein Glücksbringer sei und daß Guy sie immer bei sich tragen solle. Sein Großonkel hatte ihm sogar einen ledernen Medizinbeutel für die Pfeilspitze genäht, sie mit Blütenpollen bestäubt und dabei ein heiliges Indianerlied gesungen. Carsons Vater war das alles furchtbar peinlich gewesen. Einige Zeit später hatte Carson den Beutel weggeworfen und seinem Großonkel gesagt, daß er ihn verloren hätte.

Carson stand auf, steckte die Speerspitze in seine Hemdtasche und trat an den Eingang der Höhle. Seit seinem Fund fühlte er sich besser. Irgendwie hatte er das Gefühl, daß er jetzt alles durchstehen und eine Möglichkeit finden würde, das X-FLU-Virus zu neutralisieren, und wenn es nur deshalb war, um zu beweisen, daß BrandonSmith nicht umsonst gestorben war. Als der Sturm nachließ, trat Carson aus seiner Lavahöhle. Die Sonne brach gerade durch die Wolken, und über den Hügeln im Süden stand ein prächtiger, doppelter Regenbogen. Carson band Roscoe los, tätschelte ihm den Hals und entschuldigte sich bei ihm dafür, daß er ihn im Regen hatte stehen lassen. Dann wischte er den Sattel trocken und stieg auf. Roscoes Hufe versanken im aufgeweichten Sand, als Carson ihn in Richtung Berge in Bewegung setzte. In Minutenschnelle war es wieder so heiß, daß die Wüste zu dampfen anfing. Carson bekam Durst, aber weil er seinen Wasservorrat noch nicht anbrechen wollte, holte er sich einen Kaugummi aus der Hemdtasche. Gerade als er ihn sich in den Mund schieben wollte, sah er etwas, das ihn erstarren ließ. Auf halbem Wege eine kleine Anhöhe hinauf sah er im feuchten Sand die Spuren eines Pferdes, das ähnlich schlechte Hufeisen trug wie Roscoe. Die Spuren konnten erst nach dem Regen entstanden sein. Carson schob sich rasch den Kaugummi in den Mund und folgte der Spur. Oben auf der Anhöhe sah er, daß auf der nächsten Düne ein Pferd mit Reiter zwischen zwei Lavafelsen stand. Als er den absurden Tropenhelm und den dunklen Anzug bemerkte, wußte Carson sofort, wen er vor sich hatte. Rasch dirigierte Carson Roscoe wieder die Anhöhe hinunter, stieg ab und spähte auf dem Bauch liegend über ihren Kamm. Nye trabte im englischen Reitstil die Düne entlang. Dann zog er am Zügel, brachte das Pferd zum Stillstand und holte ein Stück Papier aus der Brusttasche seines Jacketts. Er strich es über dem Sattelhorn glatt und nahm einen Kompaß aus der Tasche. Mit diesem machte er eine Peilung direkt in die Sonne, verglich das Ergebnis mit dem Papier und drehte sein Pferd um neunzig Grad. Dann gab er ihm die Sporen und war kurz darauf hinter dem Dünenkamm verschwunden.

Neugierig geworden, stieg Carson wieder aufs Pferd. Im Vertrauen auf seine Kenntnisse im Spurenlesen ließ er Nye einen guten Vorsprung, bevor er ihm nachritt.

Die Spur, die Nye hinterließ, war mehr als seltsam. Einen Kilometer ritt er genau geradeaus, dann machte er eine weitere scharfe Wendung um neunzig Grad und ritt wieder einen Kilometer weiter, wo er abermals um neunzig Grad drehte. Er durchmaß die Wüste in rechten Winkeln, als folge er dem Muster eines Schachbretts. Bei jeder Richtungsänderung erkannte Carson an den Spuren, daß Nye einige Zeit angehalten hatte.

Carson folgte fasziniert diesem rätselhaften Kurs. Was zum Teufel machte Nye bloß? Das war kein harmloser Spazierritt, soviel stand fest. Es wurde schon spät, und der Sicherheitschef plante ganz offensichtlich, die Nacht hier draußen zwischen diesen gottverdammten Vulkankegeln zu verbringen, über dreißig Kilometer von Mount Dragon entfernt.

Carson stieg ab und untersuchte noch einmal die Spur. Nye war jetzt offenbar schneller unterwegs, denn er ritt leichten Galopp. Er hatte ein gutes Pferd, das in besserer körperlicher Verfassung war als Roscoe, und Carson war klar, daß er ihm nicht mehr sehr lange folgen konnte, ohne sein eigenes Pferd dabei zu überanstrengen. Mit etwas mehr Training hätte Roscoe es vielleicht sogar mit Nyes Wallach aufnehmen können, aber er war zu lange im Stall gestanden, und der weite Ritt vom Laborgelände bis hierher hatte ihn schon ziemlich strapaziert. Außerdem hatten sie noch einen langen Rückweg vor sich. Selbst wenn er auf der Stelle umkehrte, würde Carson erst um Mittemacht wieder in Mount Dragon ankommen. Es war an der Zeit, die Verfolgung abzubrechen.

Gerade als er sich wieder in den Sattel schwingen wollte, hörte Carson von hinten eine scharfe Stimme. Er drehte sich um und sah, daß Nye auf ihn zuritt.

»Was in drei Teufels Namen tun Sie hier?« fragte der Engländer. »Ich mache einen Ausritt, genau wie Sie«, antwortete Carson und hoffte, daß seine Stimme nicht verriet, wie überrascht er war. Nye hatte offenbar bemerkt, daß jemand ihm folgte, und war einen weiten Kreis geritten, um zu sehen, wer ihm da auf den Fersen war.

»Das ist eine Lüge. Sie haben mir hinterherspioniert.«

»Ich wurde neugierig, als ich...«, begann Carson zu erklären. Nye dirigierte Muerto mit einem unauffälligen Schenkeldruck näher an Carson heran und legte gleichzeitig seine Hand an das Gewehr, das in einem Halfter vor dem Sattel steckte. »Sie lügen«, zischte er. »Ich weiß genau, was Sie im Schilde führen, Carson, also spielen Sie mir bloß nicht den Ahnungslosen vor. Wenn ich Sie jemals wieder dabei erwische, daß Sie mir folgen, bringe ich Sie um, haben Sie mich verstanden? Ich werde Sie irgendwo hier draußen verscharren, und niemand wird jemals mitbekommen, was aus Ihrem stinkenden Kadaver geworden ist.«

Carson stieg rasch aufsein Pferd. »So was muß ich mir von Ihnen nicht sagen lassen!« rief er.

»Ich sage, was mir paßt«, entgegnete Nye und zog das Gewehr aus dem Halfter.

Carson rammte seinem Pferd die Sporen in die Flanken, so daß es einen raschen Satz nach vorne machte. Überrascht riß Nye das Gewehr hoch und versuchte, es in Carsons Richtung zu drehen, aber Roscoe rammte den Wallach des Sicherheitschefs mit solcher Wucht, daß Nye fast aus dem Sattel fiel. Carson ließ die Zügel los, griff mit beiden Händen nach dem Gewehr und entriß es Nye mit einer abrupten Drehung. Ohne Nye aus den Augen zu lassen, zog Carson das Magazin heraus und warf es fort. Dann öffnete er den Verschluß, nahm seinen Kaugummi aus dem Mund und drückte ihn in die Patronenkammer des Gewehrs. Schließlich klappte er es wieder zu und schleuderte es in hohem Bogen den Hügel hinab. »Das wird Sie lehren, nie wieder ein Gewehr auf mich zu richten«, sagte Carson mit ruhiger Stimme. Nye saß mit hochrotem Kopf und schwer atmend auf seinem Pferd. Er wollte zu seinem Gewehr reiten, aber Carson verstellte ihm mit Roscoe den Weg.

»Für einen Engländer sind Sie ein ganz schön ungehobelter Mistkerl«, sagte Carson.

»Dieses Gewehr hat dreitausend Dollar gekostet«, entgegnete Nye.

»Ein Grund mehr, damit nicht anderen Leuten vor der Nase herumzufuchteln«, sagte Carson und deutete den Hügel hinunter. »Sollten Sie versuchen, es jetzt zu benützen, wird es einen Rohrkrepierer geben und Ihnen Ihren hübschen Pferdeschwanz wegblasen. Und bis Sie es gesäubert haben, bin ich längst fort.«

Längere Zeit sagte keiner der beiden Männer etwas. Die gelbliche Sonne des späten Nachmittags spiegelte sich in Nyes Augen und verlieh ihnen eine seltsam goldene Farbe. Als Carson sie jedoch länger betrachtete, wurde ihm klar, daß ihr feuriger Ton nicht allein von der Sonne herrührte. Die Augen dieses Mannes hatten einen rötlichen Schimmer, als loderte hinter ihnen das Feuer einer geheimen Leidenschaft. Ohne ein weiteres Wort wendete Carson sein Pferd und machte sich in scharfem Trab auf in Richtung Norden. Nach ein paar Minuten blieb er stehen und sah sich um. Nye saß immer noch bewegungslos auf seinem Wallach und starrte ihm nach. »Passen Sie auf, daß Sie mir bloß nie den Rücken zudrehen, Carson!« rief er ihm zu. Auf die Entfernung klang seine Stimme ganz leise, und als Carson weiterritt, glaubte er, noch ein seltsames Lachen zu hören, bevor der Abendwind es verwehte.

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Der tragbare CD-Spieler lag, in zwanzig bis dreißig Einzelteile zerlegt, auf einer ausgebreiteten Seite des Wall Street Journal. Ein Mann in einem schmutzigen T-Shirt beugte sich mit konzentriertem Gesicht darüber. Auf dem T-Shirt stand BESUCHT DIE SCHÖNE SOWJETREPUBLIK GEORGIEN! über einem Bild von einem häßlichen, bunkerartigen Regierungsgebäude im stalinistischen Baustil.

De Vaca stand neben dem Mann in dem ordentlich aufgeräumten Kontrollraum und fragte sich, ob das T-Shirt ernst gemeint war oder ein Witz sein sollte. »Sie haben noch nie zuvor einen CD-Spieler repariert, stimmt's?«

»Da«, antwortete der Mann, ohne aufzublicken. »Woher wissen Sie denn dann, wie...«De Vaca ließ den Satz absichtlich unvollendet.

Der Mann am Tisch murmelte etwas Unverständliches und zog einen elektronischen Chip aus der Leiterplatte des CD-Spielers. Er hielt das kleine Bauteil mit einer Zange mit plastikummantelten Enden hoch, besah es kurz und warf es achtlos auf die Zeitung. Dann zog er einen zweiten Chip aus der Leiterplatte. »Vielleicht war das keine so gute Idee, daß ich den CD-Spieler zu Ihnen gebracht habe«, sagte de Vaca. Der Mann sah sie über eine auf seine Nase gerutschte Lesebrille hinweg an. »Aber ist doch noch gar nicht gerichtet«, protestierte er in schlechtem Englisch.

De Vaca zuckte mit den Achseln und bereute es, sich an Pawel Wladimirowitsch gewandt zu haben. Man hatte ihr zwar gesagt, daß der Mann ein elektronisches Genie sei, aber bisher hatte sie davon herzlich wenig bemerkt. Außerdem hatte er gerade unumwunden zugegeben, daß er noch nie in seinem Leben einen solchen CD-Spieler gesehen, geschweige denn repariert hatte.

Wladimirowitsch seufzte tief, ließ auch den zweiten Chip auf die Zeitung fallen und schob sich die Brille wieder hoch. »Ist kaputt«, verkündete er.

»Das weiß ich auch«, entgegnete de Vaca. »Deshalb habe ich ihn ja auch zu Ihnen gebracht.«

Wladimirowitsch nickte und bedeutete de Vaca mit einer Handbewegung, sich zu setzen.

»Können Sie das Ding nun reparieren oder nicht?« fragte de Vaca und blieb stehen.

Er nickte. »Da, keine Sorge. Ich kann reparieren. Ist Problem mit Chip, das kontrolliert Laserdiode.«

De Vaca setzte sich auf einen Stuhl neben ihn. »Haben Sie denn einen Ersatzchip?« fragte sie.

Wladimirowitsch nickte und rieb sich seinen verschwitzten Hals. Dann stand er auf, ging zu einem Schrank und holte eine kleine Schachtel mit grünen Elektronikplatinen heraus. »Ich werde jetzt reparieren«, sagte er mit einem Nicken. De Vaca sah ihm bewundernd zu, wie er die Platinen ausschlachtete und Bauteile daraus in den CD-Spieler einbaute. Keine fünf Minuten später hatte er ihn wieder zusammengeschraubt und die CD eingelegt, die de Vaca mitgebracht hatte. Kurz darauf dröhnte der Sound von B-52 aus dem Kopfhörer. »Puh!« rief Wladimirowitsch und schaltete den CD-Spieler aus. »Nekultumy, was für ein Lärm. Ist immer noch kaputt.« Er brach über seinen eigenen Witz in schallendes Gelächter aus. »Vielen Dank«, sagte de Vaca hocherfreut. »Ich benütze das Ding jeden Abend. Ohne meine Musik wüßte ich nicht, wie ich das alles hier durchstehen sollte. Wie haben Sie das bloß hingekriegt?«

»Hier viele Extrateile von Sicherheitssystem«, radebrechte der Russe. »Ich nehmen einfach Chip von da. Ist einfache kleine Maschine, nicht so wie das da!« Er deutete stolz auf die langen Reihen von Kontrollpulten, Computerterminals und Konsolen. »Wofür ist das alles eigentlich?« fragte de Vaca. »Für viele Sachen«, rief Wladimirowitsch und ging hinüber zu einer der Kontrolltafeln. »Da ist Kontrolle für Luftzirkulation. Da für Brenner für Luftreinigung. Und da für Kühlung von Luft.«

»Kühlung?«

»Da. Sie wollen sicher nicht haben fünfhundert Grad heiße Luft in Labor. Also muß gekühlt werden.«

»Warum saugt man nicht einfach Frischluft an?«

»Wenn man ansaugt Frischluft, man muß ausstoßen gebrauchte Luft. Ist nicht gut. Das hier ist geschlossenes System. Wir sind einziges Labor auf der Welt mit solcher Belüftung. Geht zurück auf Zeit, als Militärs hier waren. Ist spezielles Sicherheitssystem für Labor Stufe fünf.«

»Sie haben dieses System vorher schon einmal erwähnt. Was ist das eigentlich genau? Ich habe bisher noch nichts darüber gehört.«

»Ist für Alarmstufe null.«

»Es gibt keine Alarmstufe null. Der schlimmste Fall ist Stufe eins, mehr gibt es nicht.«

»Aber damals es gab Alarmstufe null«, sagte Wladimirowitsch mit einem Achsekucken. »Vielleicht kommen Terroristen in Stufe fünf, vielleicht wird ganzes Labor verseucht. Dann man kann leiten fünfhundert Grad heiße Luft in Labor und alles sterilisieren. Nicht bloß sterilisieren, ausbrennen kann man ganzes Labor. Wumrn!«

»Ich verstehe«, sagte de Vaca ein wenig besorgt. »Aber so eine Alarmstufe null kann doch hoffentlich nicht versehentlich ausgelöst werden, oder?«

»Unmöglich«, kicherte Pawel. »Als Zivilisten Labor übernahmen, wurde System deaktiviert.« Er deutete auf einen Computerterminal in der Nähe. »Geht nur, wenn der da wieder eingeschaltet wird.«

»Gut«, sagte de Vaca erleichtert. »Ich würde da unten nur ungern gegrillt werden, bloß weil ihr hier oben mal auf den falschen Knopf drückt.«

»Stimmt«, pflichtete Pawel ihr bei. »Ist schon heiß genug hier, ohne daß eingeheizt wird, njet. Scharko.« Er schüttelte den Kopf und blickte geistesabwesend auf die ausgebreitete Zeitung. Dann fuhr er plötzlich zusammen und deutete mit seinem Finger auf eine Meldung in dem Blatt. »Haben Sie das gesehen?« fragte er.

»Nein«, sagte de Vaca und überflog eine Reihe kleingedruckter Zahlen. Wladimirowitsch hatte die Zeitung offenbar aus der Bibliothek mitgehen lassen, in der ein gutes Dutzend noch nicht online publizierte Zeitungen und Zeitschriften auslag. Diese Zeitungen waren die einzigen gedruckten Informationen, die am Mount Dragon erlaubt waren.

»Aktien von GeneDyne schon wieder halben Punkt gesunken! Wissen Sie, was das bedeutet?« De Vaca schüttelte den Kopf. »Wir verlieren Geld!«

»Wieso verliere ich Geld?«

»Weil Sie haben Aktien. Weil ich haben Aktien. Weil Aktien halben Punkt weniger wert. Ich verliere hundertfünfzig Dollar. Was hätte ich machen können mit dem Geld!«

Wladimirowitsch vergrub das Gesicht in seinen Händen. »Aber war das nicht vorauszusehen?« fragte de Vaca. »Schto?«

»Gehen denn die Aktienkurse nicht jeden Tag rauf und runter?«

»Da! Am Montag habe ich gewonnen sechshundert Dollar.«

»Na also. Was ist dann so schlimm, wenn der Kurs mal wieder ein wenig runtergeht?«

»Ist schlimm. Und ob! Letzten Montag ich war sechshundert Dollar reicher, jetzt alles wieder weg. Peng. Nix mehr.« Wladimirowitsch streckte in einer Geste der Verzweiflung die Arme aus.

De Vaca mußte sich zusammennehmen, um nicht laut loszulachen. Der Mann verfolgte offenbar täglich die Aktienkurse und ließ sich davon verrückt machen. Wenn sie stiegen, malte er sich aus, was er mit dem gewonnenen Geld alles anstellen würde, wenn sie fielen, war er am Boden zerstört. Das kam dabei heraus, wenn man Leuten Aktien gab, die nie zuvor welche besessen hatten. Dennoch war sich de Vaca sicher, daß alles in allem der Kurs der GeneDyne-Aktie gestiegen sein mußte. Sie hatte sich zwar seit ihrer Ankunft am Mount Dragon nicht mehr dafür interessiert, aber bis dahin hatte sie mit ihren Firmenanteilen einen schönen Profit gemacht.

Wladimirowitsch schüttelte den Kopf. »Letzte paar Tage waren schlimm. Aktien haben viele Punkte verloren.« De Vaca runzelte die Stirn. »Das wußte ich gar nicht.«

»Haben Sie nicht gehört, was man in Kantine sagt? Ist dieser Professor aus Boston. Levine heißt er. Redet immer schlecht über GeneDyne und Brent Scopes. Jetzt sagt er noch was Schlechteres - weiß nicht, was , aber die Aktien fallen runter. KGB hätte gewußt, was man mit Typen wie ihm muß machen.« Er seufzte tief und gab de Vaca ihren CD-Spieler. »Jetzt wo ich gehört habe Ihre dekadente, konterrevolutionäre Musik, es tut mir leid, daß ich ihn habe repariert.« De Vaca lachte und verabschiedete sich. Jetzt wußte sie genau, daß das T-Shirt ein Witz war. Wenn der Mann schon zur Militärzeit in Mount Dragon gearbeitet hatte, dann mußte er vom Geheimdienst auf Herz und Nieren überprüft worden sein. Sie müßte sich einmal einen Abend lang mit ihm in der Kantine zusammensetzen und sich die ganze Geschichte erzählen lassen, dachte sie.

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Die erste Hitze des Sommers lag wie eine feuchtheiße Decke über dem Universitätsgelände von Harvard. Die Blätter hingen schlapp an den großen Eichen und Kastanienbäumen, in deren Schatten die Zikaden sangen. Im Gehen zog Charles Levine sein abgewetztes Sakko aus, warf es sich über die Schulter und sog den intensiven Geruch von frisch gemähtem Gras ein. Im Vorzimmer saß Ray und stocherte sich mit einer Büroklammer in den Zähnen herum. Als er Levine zur Tür hereinkommen sah, hörte er damit auf und brummte: »Sie haben Besuch.« Levine blieb stehen und runzelte die Stirn. »Drinnen?« fragte er und deutete auf die geschlossene Tür zu seinem Büro. »Denen hat es hier draußen bei mir irgendwie nicht gefallen«, erklärte Ray.

Als Levine die Tür öffnete, begrüßte ihn lächelnd Erwin Landsberg, der Rektor der Universität.

»Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen, Charles«, sagte er mit seiner heiseren Stimme und streckte Levine die Hand hin. »Ich möchte Sie mit Leonard Stafford bekannt machen, dem neuen Dekan Ihrer Fakultät.« Mit diesen Worten deutete er auf einen zweiten Mann in einem grauen Anzug, der neben ihm stand.

Während Levine Landsbergs schlaffe Hand schüttelte, blickte er sich verstohlen im Büro um und sah, daß der Laptop aufgeklappt und mit eingestecktem Telefonkabel auf dem Schreibtisch stand. Wie blöd von mir, ihn so da stehen zu lassen, dachte Levine. Der Anruf, auf den er wartete, mußte in etwa fünf Minuten kommen.

»Warm hier drinnen«, sagte der Rektor. »Warum lassen Sie sich nicht endlich eine Klimaanlage einbauen, Charles? Die Universität würde alle Kosten übernehmen.«

»Ich mag die Hitze. Von Klimaanlagen bekomme ich bloß Stirnhöhlenentzündung«, antwortete Levine und setzte sich an den Schreibtisch. »Was führt Sie zu mir, meine Herren?« Die beiden Besucher nahmen ebenfalls wieder Platz, wobei der neue Dekan mit sichtlichem Widerwillen die Unordnung in Levines Büro musterte. »Nun, Charles«, begann der Rektor, »wir sind hier wegen dem Rechtsstreit.«

»Wegen welchem genau?«

Der Rektor warf Levine einen geschmerzten Blick zu. »Wir nehmen solche Dinge - ganz offenbar im Gegensatz zu Ihnen sehr ernst.« Als Levine nichts darauf erwiderte, fuhr er fort: »Ich meine natürlich den jüngsten Rechtsstreit, den GeneDyne gegen Sie anstrengt.«

»Das ist bloß ein Versuch, mich einzuschüchtern«, antwortete Levine. »Das Verfahren wird eingestellt, das verspreche ich Ihnen, so wahr ich hier sitze.«

»Ich fürchte, wir sind da anderer Ansicht, Dr. Levine«, sagte der Dekan und beugte sich vor.» Diese Anklage ist kein Pappenstiel. GeneDyne beschuldigt Sie des Diebstahls von Firmengeheimnissen und elektronischer Industriespionage, außerdem der Verleumdung und der üblen Nachrede. Und das ist noch nicht einmal alles.«

Der Rektor nickte. »GeneDynes Anschuldigungen sind sehr ernst. Dabei geht es diesmal nicht um das, was Sie sagen, sondern um Ihre Vorgehensweise, und das beunruhigt mich persönlich am meisten.«

»Was ist mit meiner Vorgehensweise?«

»Bitte regen Sie sich nicht auf«, sagte der Rektor und zupfte sich die Manschetten zurecht. »Sie waren schon häufiger in Schwierigkeiten, und wir haben noch jedes Mal zu Ihnen gehalten. Das war nicht immer einfach, Charles. Es gibt einige Kuratoren und zwar ziemlich einflußreiche -, die es nicht ungern gesehen hätten, wenn wir Sie den Wölfen zum Fraß vorgeworfen hätten. Aber wenn jetzt auch noch Ihre Methoden öffentlich ins Zwielicht geraten...nun, dann müssen wir den guten Ruf unserer Universität verteidigen. Sie wissen genau, was legal ist und was nicht, und ich möchte Sie dringend ersuchen, in Zukunft die Grenzen des Erlaubten nicht mehr zu überschreiten. Ich hoffe, wir haben uns verstanden.« Das Lächeln des Rektors verschwand für einen Augenblick aus seinem Gesicht. »Das ist die letzte Warnung, Charles.«

»Dr. Landsberg, ich glaube nicht, daß Sie auch nur annähernd wissen, worum es hier wirklich geht. Dies ist kein akademischer Schlagabtausch mehr, sondern es steht die Zukunft der gesamten Menschheit auf dem Spiel.« Levine warf einen verstohlenen Blick auf seine Uhr. Nur noch zwei Minuten. Mist. Landsberg hob fragend eine Augenbraue. »Die Zukunft der gesamten Menschheit?«

»Wir befinden uns in einer Art Krieg. Daß GeneDyne seit neuestem versucht, die menschlichen Keimzellen zu verändern, ist ein Anschlag auf das menschliche Leben an sich. Extremismus in der Verteidigung von Freiheit ist kein Laster<. Erinnern Sie sich an diesen Ausspruch? Als man im Dritten Reich die Juden aus den Ghettos in die Vernichtungslager bringen wollte, hatten die Opfer auch keine Zeit mehr, um sich lange Gedanken über Ethik oder Legalität zu machen. Damals ging es um einen tödlichen Rassenwahn, und jetzt experimentieren unverantwortliche Wissenschaftler am menschlichen Genom herum. Das kann ich beweisen.«

»Ihr Vergleich ist ziemlich weit hergeholt«, sagte Landsberg. »Wir sind hier nicht in Nazideutschland, und GeneDyne ist nicht die SS, ganz gleich, was Sie persönlich von dieser Firma halten. Mit solchen Vergleichen untergraben Sie die gute Arbeit, die Sie für das Andenken an den Holocaust geleistet haben.«

»Ach ja? Dann sagen Sie mir doch mal den Unterschied zwischen Hitlers Eugenik und dem Projekt, an dem GeneDyne zur Zeit in Mount Dragon arbeitet.«

Landsberg lehnte sich in seinem Stuhl zurück und seufzte gereizt. »Wenn Sie den Unterschied nicht selber sehen, Charles, dann haben Sie eine ziemlich verquere Vorstellung von Moral. Ich vermute, das Ganze hat viel mehr mit einer persönlichen Fehde zwischen Ihnen und Brent Scopes zu tun als mit der Sorge um die Zukunft der Menschheit. Ich weiß nicht, was diesen seit zwanzig Jahren schwelenden Kleinkrieg zwischen Ihnen ausgelöst hat, und ich möchte es auch gar nicht wissen. Wir sind lediglich gekommen, um Ihnen zu sagen, daß Sie GeneDyne in Ruhe lassen sollen.«

»Das hat überhaupt nichts mit irgendeinem Kleinkrieg zu tun, sondern...«

Der Dekan brachte Levine mit einer ungeduldigen Handbewegung zum Verstummen. »Sie müssen auch Verständnis für die Position der Universität in diesem Fall haben, Dr. Levine. Wir können Sie nicht einfach frei herumlaufen und zwielichtige Aktionen durchführen lassen, wenn GeneDyne uns deshalb mit einer Klage auf zweihundert Millionen Dollar Schadensersatz droht.«

»Ich betrachte Ihr Ansinnen als einen unzulässigen Eingriff in die Handlungsfreiheit der Stiftung«, sagte Levine. »Scopes hat Sie unter Druck gesetzt, nicht wahr?«

Landsberg runzelte die Stirn. »Wenn Sie eine Klage über solche Summen als >Druck< bezeichnen wollen, dann haben Sie mit Ihrer Annahme wohl recht.«

Das Telefon klingelte, und gleich darauf nahm der Computer mit einem schrillen Pfeifen den Anruf entgegen. Das Display leuchtete auf und zeigte das Bild eines Clowns, der die Weltkugel auf der Fingerspitze balancierte.

Levine beugte sich so beiläufig wie möglich nach vorn, um den beiden die Sicht auf den Computer zu versperren. »Entschuldigen Sie mich jetzt bitte«, sagte er. »Ich habe zu arbeiten.«

»Irgendwie habe ich das Gefühl, als wäre unsere Warnung nicht richtig angekommen, Charles«, sagte der Rektor. »Wir können die Stiftung jederzeit auflösen, vergessen Sie das nicht. Und das werden wir auch, wenn Sie uns keine andere Möglichkeit lassen.«

»Das würden Sie nie wagen«, sagte Levine. »Die Presse würde Sie in der Luft zerreißen. Außerdem habe ich eine ordentliche Professur.«

Landsberg stand abrupt auf und wandte sich mit hochrotem Gesicht zum Gehen. Der Dekan ließ sich mit dem Aufstehen etwas mehr Zeit und strich sich mit den Händen den Anzug glatt. Er beugte sich hinüber zu Levine und sagte: »Schon mal was von >moralischer Verworfenheit gehört? Lesen Sie diesen Punkt doch mal in Ihrem Lehrvertrag nach.« Er ging in Richtung Tür, blieb aber noch einmal stehen und sah Levine fragend an.

Die Weltkugel drehte sich schneller und schneller, und der Clown, der sie hielt, schnitt eine ungeduldige Grimasse. »War nett, mit Ihnen zu plaudern«, sagte Levine. »Bitte machen Sie doch die Tür hinter sich zu, wenn Sie hinausgehen.«

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Als Carson den kühlen, weißen Konferenzraum am Mount Dragon betrat, waren dort schon fast alle Mitarbeiter des Labors versammelt und redeten aufgeregt durcheinander. Heute verbarg sich die Elektronik hinter Wandpaneelen, und der große Bildschirm war dunkel. An einem langen Tisch entlang der Wand standen Kaffeekannen und Tabletts mit Gebäck, um die sich die Wissenschaftler scharten.

Carson sah in einer Ecke Andrew Vanderwagon und George Harper stehen. Harper winkte ihn heran. »Gleich geht die große Sitzung los«, sagte er. »Sind Sie bereit?«

»Bereit wozu?«

»Wenn ich das nur wüßte«, antwortete Harper und fuhr sich mit der Hand durch sein schütteres, braunes Haar. »Bereit dazu, sich einen anderen Job zu suchen, möglicherweise. Ich habe gehört, daß wir praktisch zusperren können, wenn der Inspektor hier etwas findet, was ihm nicht paßt.«

Carson schüttelte den Kopf. »Das können die nicht machen. Nicht wegen eines einzigen Unfalls.«

»Aber ich habe gehört, daß der Bursche das Recht hat, gerichtliche Verfügungen auszusprechen und uns sogar unter Anklage zu stellen«, brummte Harper.

»Das möchte ich bezweifeln«, sagte Carson. »Wo haben Sie das denn gehört?«

»Da, wo man in Mount Dragon solche Gerüchte eben hört: in der Kantine. Ich habe Sie gestern da gar nicht gesehen. Dabei kann man doch bis zur Wiedereröffnung des Fiebertanks gar nichts anderes tun, als dort herumzusitzen - außer natürlich, Sie hocken sich den ganzen Tag in die Bibliothek oder spielen Tennis bei vierzig Grad im Schatten.«

»Ich habe einen Ausritt gemacht«, sagte Carson. »So, so, einen Ausritt. Vermutlich mit Ihrer schnuckeligen kleinen Assistentin, habe ich recht?« sagte Harper mit einem dreckigen Lachen.

Carson rollte mit den Augen. Harper konnte einem manchmal ganz schön auf den Geist gehen. Er hatte beschlossen, niemandem von seiner Begegnung mit Nye zu erzählen, denn das hätte bloß für weitere Probleme gesorgt. Harper wandte sich an Vanderwagon, der an seiner Unterlippe herumkaute und mit ausdruckslosem Gesicht im Konferenzraum herumblickte. »Wenn ich jetzt so drüber nachdenke, fällt mir auf, daß ich dich auch nicht in der Kantine gesehen habe. Hast du wieder mal den ganzen Tag in deinem Zimmer verbracht, Andrew?«

Carson runzelte die Stirn. Vanderwagon hatte die Ereignisse im Fiebertank und den Rüffel, den er von Scopes bekommen hatte, offenbar immer noch nicht verwunden. Seinen blutunterlaufenen Augen nach zu schließen, hatte er in letzter Zeit nicht allzuviel Schlaf gefunden. Harper schien das nicht zu stören. Der Texaner hatte weniger Taktgefühl als eine entsicherte Handgranate.

Gerade als Vanderwagon sich umdrehte und Harper etwas erwidern wollte, wurde es im Konferenzraum auf einmal ganz still. Vier Männer waren eingetreten: Singer, Nye, Mike Marr und ein schwächlich aussehender, vornübergebeugt gehender Mann in einem schlechtsitzenden braunen Anzug. Er hatte eine überdimensionierte Aktentasche dabei, die ihm beim Gehen gegen die Beine schlug. Sein sandfarbenes Haar war an den Schläfen bereits leicht ergraut, und eine dunkle Hornbrille ließ seine blasse Haut noch bleicher wirken. Der Mann machte auf Carson einen ziemlich kränklichen Eindruck.

»Das muß der Inspektor von der Gesundheitsbehörde sein«, flüsterte Harper. »Mir kommt er ja nicht gerade furchterweckend vor.«

»Sieht eher wie ein Buchhalter aus«, ergänzte Carson. »So bleich, wie er ist, wird er sich hier mit Sicherheit einen bösen Sonnenbrand holen.«

Singer trat ans Rednerpult, klopfte zur Probe aufs Mikrophon und hob eine Hand. Sein ansonsten so gemütliches, rundes Gesicht sah todmüde und abgespannt aus. »Wie Ihnen allen ja bekannt ist«, begann er, »müssen tragische Unfälle wie der, der sich letzte Woche hier ereignet hat, den zuständigen Behörden mitgeteilt werden. Mr. Teece hier neben mir ist leitender Inspektor beim staatlichen Gesundheitsamt. Er wird ein paar Tage hier in Mount Dragon verbringen, die Ursache des Unfalls untersuchen und unsere Sicherheitsvorkehrungen einer genauen Prüfung unterziehen.«

Nye, der direkt neben Singer stand, ließ die Blicke über die versammelten Wissenschaftler streifen. Dabei mahlten seine Kiefer, als würde er permanent mit den Zähnen knirschen, und sein sehniger Körper in dem schwarzen Anzug wirkte angespannt. Neben ihm grinste Mike Marr vor sich hin, der seinen schwarzen Hut so tief ins Gesicht gezogen hatte, daß die breite Krempe seine Augen verdeckte. Carson wußte, daß Nye als Sicherheitschef letztendlich die Verantwortung für den Unfall hatte. Man konnte es ihm deutlich ansehen, daß er sich dieser Verantwortung bewußt war. Sein Blick blieb einen Moment lang auf Carson ruhen, dann wanderte er weiter. Vielleicht ist das ja eine Erklärung dafür, weshalb er sich gestern in der Wüste so unmöglich aufgeführt hat, dachte Carson. Aber was hat er dort nur gemacht? Eines ist sicher, es muß eine ziemlich wichtige Sache gewesen sein, denn sonst hätte er vor einem Termin wie diesem wohl kaum die Nacht im Freien verbracht. »Weil es hier auch um Firmengeheimnisse von GeneDyne geht«, sagte Singer, »werden die Einzelheiten unseres Forschungsvorhabens nicht veröffentlicht, ganz gleich, zu welchem Ergebnis Mr. Teeces Untersuchung auch kommt. Die Presse wird von diesen Vorgängen nichts erfahren.« Singer trat von einem Fuß auf den anderen. »Eines noch möchte ich in aller Deutlichkeit sagen: Ich erwarte von allen hier beschäftigten Personen, daß sie Mr. Teece in allen Belangen vorbehaltlos unterstützen. Das ist übrigens eine Anweisung von Brent Scopes persönlich. Ich nehme an, daß ich mich klar genug ausgedrückt habe.«

Als sich niemand zu Wort meldete, nickte Singer zufrieden. »Gut. Nun würde Mr. Teece Ihnen gerne ein paar Worte sagen.«

Der kleine, blasse Mann mit der großen Aktentasche trat langsam ans Mikrophon.

»Hallo allerseits«, sagte er, während ein flüchtiges Lächeln über seine dünnen Lippen huschte. »Mein Name ist Gilbert Teece, aber nennen Sie mich bitte Gil. Ich schätze, daß ich etwa eine Woche bei Ihnen bleiben und meine Nase in lauter Dinge stecken werde, die mich nichts angehen.« Er lachte kurz und trocken über seinen eigenen Scherz. »Aber das ist nun mal die Vorschrift für einen Fall wie diesen. Bei meinen Untersuchungen werde ich mit den meisten von Ihnen persönlich sprechen. Deshalb möchte ich Sie an dieser Stelle schon im voraus um Ihre Unterstützung bitten, denn ohne Sie kann ich mir kein umfassendes Bild von den Vorfällen machen. Dabei habe ich natürlich volles Verständnis dafür, daß der tragische Tod Ihrer Kollegin Ihnen allen noch sehr nahe geht.«

Teece verstummte, und es sah so aus, als wisse er schon nicht mehr, was er noch sagen sollte. Schließlich fügte er fast schüchtern hinzu: »Gibt es noch irgendwelche Fragen?« Als sich niemand rührte, schlurfte Teece zurück zu Singer, der daraufhin wieder ans Rednerpult trat und noch einmal das Wort ergriff. »Jetzt, wo Mr. Teece hier ist und alles gründlich dekontaminiert wurde, sind wir übereingekommen, den Sicherheitsbereich Stufe fünf ab sofort wieder zugänglich zu machen. Ich erwarte, daß Sie alle morgen früh wieder Ihre gewohnte Arbeit aufnehmen, auch wenn das manchem von Ihnen vielleicht schwerfallen mag. Wir haben viel Zeit verloren und müssen alles tun, um das Versäumte so schnell wie möglich nachzuholen.« Er wischte sich mit der Hand über die Stirn. »Das wäre alles. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.« Als er vom Rednerpult abtreten wollte, hob Teece einen Finger und fragte: »Mr. Singer, dürfte ich noch einmal ein paar Worte sagen?«

Singer nickte, und Teece trat wieder ans Mikrophon. »Daß das Labor Stufe fünf wieder geöffnet wird, geschieht zwar nicht auf meine Veranlassung«, sagte er, »aber es hilft mir vielleicht bei meinen Untersuchungen, wenn dort normal gearbeitet wird. Ich finde es übrigens ein wenig seltsam, daß Mr. Scopes heute nicht zugegen ist. Soviel ich weiß, legt er sonst großen Wert darauf, an solchen Treffen teilzunehmen -wenn auch zumeist in elektronischer Form.« Teece hielt inne und sah Singer und Nye erwartungsvoll an, als erwarte er sich von ihnen eine Antwort. »Da dem nun einmal so ist«, fuhr Teece fort, als die beiden stumm blieben, »stelle ich meine Frage, die ich eigentlich Mr. Scopes stellen wollte, an Sie alle. Die Antwort darauf sollten Sie mir nicht jetzt, sondern in dem persönlichen Gespräch geben, das ich mit allen von Ihnen im Lauf der nächsten Tage führen werde.«

Teece machte eine kurze Pause.

»Ich würde gerne wissen, warum die Autopsie an Mrs. BrandonSmith in aller Heimlichkeit vorgenommen wurde und weshalb man ihre Leiche so ungewöhnlich rasch verbrannt hat.« Wieder sagte niemand ein Wort. Teece, der sich immer noch an seiner Aktentasche festhielt, lächelte noch einmal dünnlippig in die Runde und verließ dann zusammen mit Singer den Raum.

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Obwohl es Carson am nächsten Morgen nicht besonders eilig gehabt hatte, in den Umkleideraum zu kommen, war er nicht allzu überrascht, als er die meisten Schutzanzüge noch in ihren Spinden hängen sah. Niemand riß sich darum, wieder im Fiebertank zu arbeiten.

Beim Umziehen spürte er, wie sich sein Magen zusammen krampfte. In der Woche seit dem Unfall hatte Carson trotz der immer wiederkehrenden Bilder von BrandonSmith' zerfetztem Schutzanzug und ihrer blutenden Wunde die Gedanken an den Fiebertank selbst weitgehend verdrängen können. Jetzt kam alles auf einmal zurück: die bedrückende Enge, die abgestandene Luft im Schutzanzug, das ständige Gefühl lauernder Gefahr. Carson schloß einen Moment lang die Augen und versuchte, Angst und Panik hinunterzuschlucken.

Als er sich gerade den Helm aufsetzen wollte, ging mit einem Zischen die äußere Tür auf, und de Vaca kam durch die Luftschleuse herein.

»Sie machen ja keinen allzu munteren Eindruck«, sagte sie zu Carson.

Carson zuckte mit den Schultern.

»Wahrscheinlich ist das bei mir genauso«, gab de Vaca zu. Dann machte sich zwischen den beiden eine peinliche Stille breit. Seit ihrem spätabendlichen Gespräch in dem Labor waren sie sich aus dem Weg gegangen. Carson vermutete, daß de Vaca seine Schuldgefühle in bezug auf den Unfall irgendwie gespürt haben mußte.

»Wenigstens hat der Wachmann überlebt«, sagte de Vaca nach einer Weile.

Carson nickte. Er hatte jetzt zu nichts weniger Lust, als über den Unfall zu diskutieren. Er blickte zu der Tür aus rostfreiem Edelstahl am anderen Ende des Raumes, auf der unübersehbar das Zeichen prangte, das vor gefährlichen Mikroorganismen warnte. So hatte er sich immer die Tür zu einer Gaskammer vorgestellt.

De Vaca fing an, in ihren Anzug zu steigen. Carson wartete, bis sie fertig war. Irgendwie schaffte er es heute nicht, allein durch diese Tür zu gehen.

»Ich habe vorgestern einen Ausritt gemacht«, sagte er. »Wenn man erst einmal außer Sichtweite von Mount Dragon ist, kann es da draußen sogar richtig schön sein.« De Vaca nickte. »Ich habe die Wüste immer gemocht«, sagte sie. »Die meisten Leute finden sie häßlich und öde, aber für mich zählt sie zu dem Schönsten, was es auf der Welt gibt. Welches Pferd hatten Sie denn?«

»Den braunen Wallach mit dem großen Kopf. Er ist nicht schlecht. Einer meiner Sporen war kaputt, aber ich habe sie gar nicht gebraucht. Wissen Sie vielleicht, wer einem hier ein Spornrädchen ersetzen kann?«

De Vaca band ihr Haar zu einem Knoten zusammen. »Kennen Sie den alten Russen, der als Mechaniker in der Luftreinigungsanlage arbeitet? Pawel Wladimirowitsch heißt er, oder so ähnlich. Der kann praktisch alles reparieren. Ich habe ihm neulich einen kaputten CD-Spieler gebracht, und er hat ihn aufgeschraubt und vor meinen Augen wieder in Ordnung gebracht, obwohl er angeblich noch nie zuvor so ein Ding gesehen hat.«

»Erstaunlich«, sagte Carson. »Wenn er einen CD-Spieler richten kann, dann kann er auch ein Spornrädchen ersetzen. Vielleicht sollte ich mal zu ihm gehen.«

»Wissen Sie schon, wann der Inspektor zu uns kommen wird?« fragte de Vaca.

»Nein«, antwortete Carson. »Aber vermutlich eher bald, weil ich ja...« Er brach den Satz ab und dachte: Weil ich ja schließlich an BrandonSmith' Tod die Mitschuld trage. »Yamashito, einer der Videotechniker, hat mir gesagt, daß der Inspektor sich heute den ganzen Tag lang die Videobänder aus den Kameras des Sicherungssystems ansehen will«, sagte de Vaca und schlüpfte mit den Armen in ihren Anzug. Nachdem sie beide die Helme aufgesetzt und gegenseitig die Anzüge überprüft hatten, gingen sie zusammen durch die Luftschleuse. Carson holte noch einmal tief Luft, bevor er unter die chemische Dusche trat, und kämpfte gegen die Übelkeit an, die ihn regelmäßig befiel, wenn er die giftige, gelbe Flüssigkeit an seinem Visier herablaufen sah.

Carson hatte insgeheim gehofft, daß der Fiebertank sich nach der gründlichen Dekontaminierung irgendwie verändert hätte, aber dem war nicht so. Labor C sah noch genauso aus wie vor einer Woche, als er es verlassen hatte und BrandonSmith zur Schimpansen-Quarantäne-Station gefolgt war. Sein Stuhl stand noch in genau demselben Winkel vor dem Tisch, und sein Labor-PowerBook war immer noch aufgeklappt und mit der Datensteckdose an der Wand verbunden. Als wäre nichts geschehen, setzte sich Carson davor und loggte sich ins Firmennetz ein.

Nach der gewohnten Verbindungsprozedur startete die Textverarbeitung und lud den Bericht, an dem Carson als letztes gearbeitet hatte. Der Cursor blinkte am Ende des noch nicht vollendeten Satzes und wartete kalt und unbeteiligt darauf, daß er weitermachte. Carson atmete tief durch und setzte sich in seinem Stuhl zurecht.

Auf einmal wurde das Display schwarz. Carson wartete einen Augenblick, dann drückte er einige Tasten. Als sich nichts tat, fluchte er leise vor sich hin. Vielleicht ist der Akku leer, dachte er, aber dann sah er, daß der Computer am Stromnetz hing. Seltsam.

Dann tat sich auf einmal etwas auf dem Display. Das muß Scopes sein, dachte Carson. Der oberste Boß von GeneDyne war dafür bekannt, daß er gerne mit den Computern anderer Leute herumspielte. Vielleicht war das der Auftakt zu einer Motivierungskampagne, mit der er seine Mitarbeiter wieder im Fiebertank willkommen hieß.

In der Mitte des Displays sah Carson jetzt ein kleines Bild, einen Clown, der eine sich langsam drehende Weltkugel auf dem Zeigefinger balancierte. Carson drückte die Escape-Taste, aber nichts tat sich.

Dann erschienen an Stelle der kleinen Figur auf einmal folgende Worte: Guy Carson? Ja, tippte Carson. Guy Carson persönlich? Wer sollte es denn sonst sein? Okay, Guy. Wurde höchste Zeit, daß Sie sich mal wieder eingeloggt haben. Ich habe schon seit Tagen auf Sie gewartet. Partner. Aber bevor wir weitermachen, muß ich sichergehen, daß Sie auch wirklich Guy Carson sind. Bitte geben Sie das Geburtsdatum Ihrer Mutter ein.

2.Juni 1936.

Wer sind Sie?

Vielen Dank, ich bin der Clown, und ich habe eine wichtige Nachricht für Sie. Von einem alten Bekannten.

Clown? Sind Sie das, Harper?

Nein, ich bin nicht Harper. aber empfehle Ihnen, dafür zu sorgen, daß niemand in ihrer Umgebung die Nachricht mitlesen kann, die ich ihnen gleich übermitteln werde. Sagen Sie es mir, wenn Sie bereit sind.

Carson warf einen Blick hinüber zu de Vaca, die am anderen Ende des Labors ihre Arbeit tat.

Wer ist da, verdammt noch mai? tippte er ärgerlich in den Computer.

Hoppla, nicht so stürmisch. Den Clown beschimpft man nicht, denn sonst wird der Clown böse. Und das würde Ihnen bestimmt nicht gefallen.

Moment mal, das hier gefällt mir ganz und gar nicht...

Wollen Sie die Nachricht haben oder nicht?

Nein, ich will sie nicht.

Das habe ich auch nicht anders erwartet. Aber ich schicke sie Ihnen trotzdem. Vorher möchte ich Ihnen aber noch sagen, daß das hier eine absolut sichere Leitung ist und daß ich, der Clown, das Netz von GeneDyne geknackt habe. Niemand in der Firma ahnt etwas davon, und niemand kann unsere Unterhaltung mitlesen. Ich habe das zu Ihrer eigenen Sicherheit gemacht, Cowboy. Sollte zufällig jemand vorbeikommen, während Sie die folgende Nachricht lesen, brauchen Sie nur auf die Befehlstaste zu drücken, und sofort erscheint ein genetischer Code auf Ihrem Display. Eigentlich ist es gar kein wirklicher genetischer Code, sondern der Text von Dr. Longhairs Ball the Wall, den ich durch ein Graphikprogramm gejagt habe, aber die Muster sehen ziemlich echt aus. Wenn Sie die Befehlstaste ein zweites Mal drücken, kommen Sie wieder zurück zu der Nachricht. Jippie - ist das nicht toll? Und jetzt halten Sie sich gut fest.

Carson sah noch einmal hinüber zu de Vaca. Vielleicht war das ja doch Scopes, der sich einen schlechten Scherz mit ihm erlaubte. Der Mann war schließlich bekannt für seinen ziemlich merkwürdigen Sinn für Humor. Andererseits hatte Scopes ihm seit dem Unfall nicht eine einzige Zeile zukommen lassen. Vielleicht hatte er sich so sehr über Carson geärgert, daß er jetzt seine Loyalität mit solchen seltsamen Spielchen testen wollte. Carson hatte kein gutes Gefühl, als er wieder auf das Display des Computers sah. Es wurde einen Augenblick lang dunkel, dann konnte er folgende Nachricht lesen:

Lieber Guy,

hier ist Charles Levine, Ihr früherer Biochemie-Professor. Erinnern Sie sich? Ich will gleich zur Sache kommen, denn ich kann mir gut vorstellen, daß Sie diese Zeilen nicht allzu entspannt lesen werden.

Großer Gott, dachte Carson. Das dürfte wohl die Untertreibung des Jahres sein. Träumte er, oder hatte sich tatsächlich Dr. Levine ins Netzwerk von GeneDyne eingeschlichen? Das durfte doch nicht wahr sein. Aber wenn es wirklich Levine war und Scopes das herausfand, dann...Carsons Finger wanderte wieder zur Escape-Taste und drückte sie mehrmals ohne Erfolg.

Guy, ich habe von einer Quelle in Regierungskreisen erfahren, daß es in Mount Dragon einen Unfall gegeben haben soll. Natürlich wurde darüber eine absolute Nachrichtensperre verhängt, so daß ich nur erfahren konnte, daß sich jemand mit einem Virus infiziert haben soll. Angeblich soll es sich dabei um ein extrem tödliches Virus handeln. Ich brauche Ihre Hilfe, Guy. Ich muß wissen, was in Mount Dragon wirklich vor sich geht. Was ist das für ein Virus? Was machen Sie damit? Ist es wirklich so gefährlich, wie die Gerüchte es andeuten? Die Menschen in diesem Land haben ein Recht darauf, daß diese Fragen beantwortet werden. Wenn es stimmt - wenn Sie wirklich da draußen in der Wüste mit etwas herumexperimentieren, das weitaus gefährlicher ist als die Atombombe -dann ist unser aller Gesundheit in höchster Gefahr. Ich erinnere mich noch gut an Sie, Guy. Sie waren ein unbequemer Student, aber einer, der sich seine eigenen Gedanken machte. Ein Skeptiker. Sie haben nie sofort geglaubt, was man Ihnen sagte; Sie mußten es immer selbst nachprüfen. Das ist eine seltene Gabe, und ich hoffe sehr, daß Sie sie nicht verloren haben. Ich ersuche Sie, diese Skepsis jetzt auf Ihre Arbeit in Mount Dragon anzuwenden. Glauben Sie nicht unbesehen, was man Ihnen erzählt. Tief in Ihrem Inneren wissen Sie, daß nichts von Menschen Geschaffenes perfekt funktionieren kann, daß es keine Sicherheitsvorkehrung gibt, die wirklich hundertprozentig sicher ist. Wenn die Gerüchte stimmen, dann haben Sie das soeben am eigenen Leib erfahren. Bitte stellen Sie sich die Frage: Ist es das wert? Ich werde später noch einmal über den Clown mit Ihnen in Verbindung treten, der ein Spezialist im Knacken von Netzwerken ist. Das nächste Mal können wir uns vielleicht online unterhalten, aber fürs erste hält der Clown das für zu gefährlich. Bitte, Guy, denken Sie über das nach, was ich Ihnen geschrieben habe.

Mit besten Grüßen

Ihr

Charles Levine.

Das Display wurde schwarz. Mit klopfendem Herzen schaltete Carson das PowerBook aus und wünschte sich, er hätte das getan, bevor er diese Nachricht gelesen hatte. War das wirklich Levine gewesen? Sein Gefühl sagte Carson, daß er es war. Aber der Mann mußte verrückt sein, daß er auf diese Weise mit ihm in Kontakt trat und damit seine, Carsons, Karriere aufs Spiel setzte. Je mehr Carson darüber nachdachte, desto wütender wurde er. Wie konnte Levine so sicher sein, daß sein Kontaktversuch nicht doch von Scopes bemerkt worden war? Carson erinnerte sich noch gut an Levine, wie er im Hörsaal unruhig auf und ab gelaufen war, leidenschaftlich doziert und mit laut quietschender Kreide etwas auf die Tafel gekritzelt hatte. Einmal hatte er eine so lange Formel aufgeschrieben, daß er vom Podium vor der Tafel gestürzt und auf den Boden des Hörsaals gefallen war. In vielerlei Hinsicht war Levine ein außergewöhnlicher Professor gewesen: ein revolutionärer Visionär, der, ohne mit der Wimper zu zucken, alte Theorien über den Haufen warf, aber auch leicht erregbar, jähzornig und stark zu Übertreibungen neigend. Carson erinnerte sich noch gut an all diese Eigenschaften, aber das, was Levine jetzt getan hatte, ging eindeutig zu weit. Der Mann war ganz offensichtlich zum eifernden Fanatiker geworden.

Carson schaltete das PowerBook wieder ein und ging zum zweiten Mal ins Firmennetz. Sollte Levine sich wirklich noch einmal bei ihm melden, würde er ihm unumwunden sagen, was er von seinen Methoden hielt. Und dann würde er die Verbindung beenden, noch bevor Levine ihm darauf antworten konnte. Als er wieder auf das Display schaute, blieb ihm fast das Herz stehen.

Nachricht von Brent Scopes. Für Gespräch Befehlstaste drücken.

Carson bezähmte seine urplötzlich aufsteigende Angst und drückte die angegebene Taste. Hatte Scopes die Nachricht von Levine abgefangen?

Ciao, Guy. Hallo, Brent.

Ich wollte Sie nur nach der langen Pause an Ihrem Arbeitsplatz willkommen heißen. Wie hat T. H. Huxley einmal so schön gesagt: »Die Tragödie der Wissenschaft ist das Erschlagen einer schönen Hypothese durch eine häßliche Tatsache.« Genau das ist Ihnen widerfahren, Guy. Sie hatten eine wunderbare Idee, aber leider hat sie nicht funktioniert. Jetzt aber müssen Sie diese Niederlage vergessen und mit ganzer Kraft weitermachen, denn jeder Tag, der ergebnislos verstreicht, kostet GeneDyne fast eine Million Dollar. Wir alle warten darauf, daß das Virus neutralisiert wird. Bevor das nicht geschafft ist, können wir nicht weitermachen. Alle hängen wir jetzt davon ab, daß Sie Erfolg haben.

Das weiß ich, schrieb Carson, und ich verspreche Ihnen, daß ich mein Bestes tun werde.

Das lobe ich mir, Guy. Daß Sie Ihr Bestes tun, ist ein guter Anfang. Aber dann brauchen wir Ergebnisse. Einen Fehlschlag können wir verkraften, denn auch gescheiterte Experimente gehören nun einmal zur Wissenschaft. Aber dann muß sich ein Erfolg einstellen, und ich weiß, daß Sie das Zeug zu einem solchen Erfolg haben. Ich zähle auf Sie, Guy. Ich baue darauf, daß Sie es schaffen. Sie hatten jetzt fast eine Woche Zeit, um sich etwas Neues auszudenken. Ich hoffe. Sie haben schon eine Idee, wie Sie weiter vorgehen wollen. Wir werden den Test wiederholen, um herauszufinden, ob wir etwas übersehen haben. Außerdem werden wir für alle Fälle das Gen neu kartieren. Tun Sie das, aber tun Sie es schnell. Ich möchte aber auch, daß Sie noch etwas anderes tun. Wir verdanken diesem Fehlschlag nämlich eine wichtige Information. Ich habe gerade den Autopsiebericht von BrandonSmith' Leiche vor mir liegen. Dr. Grady hat ausgezeichnete Arbeit geleistet. Aus irgendeinem Grund war der Virenstamm, den Sie erzeugt haben, noch viel virulenter als der normale X-FLU Stamm. Er hat sie so schnell umgebracht, daß die ersten Antikörper gegen das Virus nur wenige Stunden vor ihrem Tod in ihrer Blutbahn auftauchten. !ich möchte wissen, weshalb der Stamm so gefährlich ist. Deshalb habe ich veranlaßt, daß er aus BrandonSmith' Gehirnmasse auf Kulturen gebracht wurde, bevor wir ihre Leiche eingeäschert haben. Ich werde Ihnen diese Kulturen zukommen lassen und schlage vor, daß wir diesen Stamm X-FLU !1 nennen. Ich möchte, daß Sie das Virus genauestens untersuchen und herausfinden, wie es funktioniert. Bei ihrem Versuch, es zu neutralisieren, haben Sie zufällig einen Weg gefunden, es noch gefährlicher zu machen.

ich verstehe nicht ganz, was Sie damit...

Du meine Güte, Guy, wenn Sie herausfinden, was das Virus gefährlicher gemacht hat, dann entdecken Sie womöglich auch, wie man es WENIGER gefährlich machen kann. Ehrlich gesagt, es erstaunt mich ein wenig, daß Sie nicht von selber auf diese Möglichkeit gekommen sind. Und nun machen Sie sich an die Arbeit.

Das Kommunikationsfenster auf dem Bildschirm schloß sich wieder. Carson lehnte sich zurück und atmete langsam aus. Scopes hatte natürlich recht, aber wenn er daran dachte, daß er mit einem Virus arbeiten sollte, das aus BrandonSmith' Gehirnmasse kultiviert worden war, lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter. Als habe er auf sein Stichwort gewartet, kam auch gleich ein Laborassistent zur Tür herein und brachte ein Tablett aus rostfreiem Stahl, auf dem sich eine Reihe von Kulturschalen aus durchsichtigem Plastik befanden. Auf jeder dieser Schalen befand sich ein gelber Gefahrenaufkleber mit der Aufschrift: X-FLU II.

»Ein Geschenk für Guy Carson«, sagte der Assistent mit einem makabren Kichern.

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Die späte Nachmittagssonne, die durch die nach Westen gerichteten Fenster in Singers Büro fiel, tauchte den Raum in ein warmes, goldenes Licht. Nye saß auf dem Sofa und starrte schweigend in den offenen Kamin, während der Direktor hinter seinem Computer stand, hinaus in die Wüste blickte und Nye dabei den Rücken zudrehte.

Eine kleine Gestalt mit einer überdimensionierten Aktentasche erschien in der Tür und machte durch ein höfliches Hüsteln auf sich aufmerksam.

»Kommen Sie herein«, sagte Singer.

Gilbert Teece trat in den Raum und nickte den beiden Männern zu. Die Kopfhaut unter seinem schütteren, sandfarbenen Haar war von der Sonne rot verbrannt, und seine Nase schälte sich bereits. Er lächelte schüchtern, als schäme er sich dafür, daß er der feindlichen Wüstensonne nicht gewachsen war.

»Setzen Sie sich, wo Sie wollen«, sagte Singer und deutete auf ein paar Sitzgelegenheiten, die im Büro verteilt herumstanden. Teece ignorierte die leeren Sessel und Stühle und ging schnurstracks auf Nyes Sofa zu, wo er sich mit einem wohligen Geräusch niederließ. Der Sicherheitschef zuckte zusammen und rückte indigniert zur Seite.

»Wollen wir gleich anfangen?« fragte Singer und setzte sich ebenfalls. »Ich möchte nicht zu spät zu meinem allabendlichen Cocktail kommen.«

Teece, der am Schloß seiner Aktentasche herumgefingert hatte, blickte auf und lächelte Singer an. Dann öffnete er die Tasche und holte ein kleines Diktiergerät heraus, das er vorsichtig vor sich auf den Couchtisch legte.

»Ich werde Sie nicht länger aufhalten als unbedingt nötig«, sagte er.

Nye hatte inzwischen sein eigenes Diktiergerät aus der Anzugtasche genommen und es neben das von Teece gelegt. »Sehr gut«, sagte dieser. »Es ist immer gut, wenn man wichtige Unterhaltungen auf Tonband festhält, nicht wahr, Mr. Nye?«

»Ja«, antwortete Nye einsilbig.

»Ah!« sagte Teece so erstaunt, als habe er Nye nie zuvor sprechen gehört. »Sie sind Engländer, nicht wahr?« Nye drehte sich langsam in seine Richtung und sah ihn durchdringend an. »Ja, ich komme aus England.«

»Ich auch«, sagte Teece. »Mein Vater war Sir Wilberforce Teece, der Baron von Teecewood Hall im Pennine-Gebirge. Mein älterer Bruder hat den Titel und die Ländereien geerbt, und mich hat man mit einer Fahrkarte nach Amerika abgespeist. Kennen Sie es? Teecewood Hall, meine ich.«

»Nein«, sagte Nye.

»Tatsächlich nicht? Das ist einer der schönsten Flecken in ganz England. Das Anwesen ist im Hamsterley Forest, ganz in der Nähe von Cumberland. Es ist wundervoll dort, besonders jetzt, um diese Jahreszeit. Grasmere, Troutbeck...und natürlich der Windermere Lake. Ein herrlicher See.«

Die Luft im Büro schien auf einmal zum Schneiden dick zu sein. Nye sah den versonnen lächelnden Teece mit kalten Augen an. »Ich würde vorschlagen, Mr. Teece, daß Sie jetzt mit den höflichen Floskeln aufhören und ihre Befragung beginnen.«

»Aber Mr. Nye«, entgegnete Teece erstaunt, »die Befragung hat doch längst begonnen. Soviel ich weiß, waren Sie früher einmal für die Sicherheit im Kernkraftwerk Windermere verantwortlich. Das war in den späten siebziger Jahren, glaube ich, als es dort diesen schrecklichen Unfall gab.« Teece schüttelte den Kopf. »Ich kann mir einfach nicht merken, ob es damals sechzehn oder sechzig Tote gab. Aber wie dem auch sei, Sie haben jedenfalls zehn Jahre lang keine Arbeit mehr als Sicherheitschef bekommen, bevor man Ihnen einen Job bei der englischen Niederlassung von GeneDyne anbot. Das ist doch richtig, oder? In der Zwischenzeit mußten Sie für eine Ölfirma im Nahen Osten arbeiten. Die Informationen darüber, was Sie dort genau gemacht haben, sind leider äußerst lückenhaft.« Teece kratzte sich ein Stück Haut von seiner verbrannten Nase. »Das hat überhaupt nichts mit Ihrem Auftrag hier zu tun«, sagte Nye langsam.

»Dafür aber viel mit Ihrer Loyalität gegenüber Brent Scopes«, sagte Teece. »Und diese Loyalität kann bei meiner Untersuchung von entscheidender Bedeutung sein.«

»Das ist eine Farce«, fauchte Nye. »Ich werde Ihr Benehmen Ihren Vorgesetzten melden.«

»Was für ein Benehmen?« fragte Teece mit einem schwachen Lächeln. Und dann fügte er, ohne auf eine Antwort zu warten, noch an: »Und welchen Vorgesetzten?« Nye beugte sich zu ihm herüber und sagte ganz leise: »Hören Sie endlich auf, den Harmlosen zu spielen. Sie wissen genau, was in Windermere passiert ist. Sie brauchen mir diese Fragen also überhaupt nicht zu stellen, und deshalb werden Sie von mir auch einen Scheißdreck darüber erfahren.«

»Aber meine Herren«, sagte Singer mit bemühter Herzlichkeit. »Mr. Nye, wir sollten vielleicht...«

Teece hob die Hand. »Es tut mir leid. Mr. Nye hat vollkommen recht. Ich weiß wirklich alles über den Vorfall. Ich habe lediglich die Angewohnheit, mir meine Informationen aus erster Hand bestätigen zu lassen. Diese Berichte« -dabei klopfte er auf seine Aktentasche -»sind ja oft sehr ungenau. Die werden für gewöhnlich von Regierungsangestellten verfaßt, und man kann nie wissen, was irgend so ein hirnloser Bürokrat über einen zusammenschreibt, nicht wahr, Mr. Nye? Ich dachte, Sie würden die Gelegenheit begrüßen, dies oder jenes ins rechte Licht zu rücken und eventuelle falsche Anschuldigungen zu entkräften.«

Nye saß stocksteif und schweigend da.

Teece zuckte mit den Achseln und zog einen großen, braunen Briefumschlag aus seiner Aktentasche. »Wie Sie wollen, Mr. Nye, dann lassen Sie uns fortfahren. Könnten Sie mir bitte schildern, was aus Ihrer Sicht am Morgen des Unfalls hier geschehen ist?«

Nye räusperte sich. »Um neun Uhr fünfzig erhielt ich die Nachricht, daß im Sicherheitsbereich Stufe fünf ein Alarm der Stufe zwei ausgelöst wurde.«

»Was bedeuten diese Zahlen?«

»Alarm Stufe zwei bedeutet, daß bei einem oder mehreren Menschen eine Beschädigung der Schutzkleidung vorliegt. In diesem Fall handelte es sich um den Anzug einer Wissenschaftlerin.«

»Und wer hat das gemeldet?«

»Carson. Guy Carson. Er hat dazu den globalen Notfallkanal der Sprechanlage benützt.«

»Verstehe«, sagte Teece. »Und was geschah dann?«

»Ich begab mich unverzüglich in die Sicherheitszentrale, machte mir ein Bild von der Situation und übernahm dann für die Zeit des Alarms die Leitung des Labors.«

»Das haben Sie getan? Ohne Dr. Singer vorher davon zu informieren?« Teece blickte hinüber zum Direktor. »So sind nun mal die Vorschriften«, sagte Nye trocken. »Und Sie, Dr. Singer, haben es natürlich freudig akzeptiert, daß Mr. Nye Ihnen die Befehlsgewalt aus der Hand nahm, oder?«

»Natürlich«, antwortete Singer.

»Dr. Singer«, sagte Teece in einem etwas schärferen Ton. »Ich habe mir den ganzen Nachmittag lang die Videobänder der automatischen Überwachungskameras angesehen. Dabei habe ich auch praktisch alles mitbekommen, was geredet wurde.

Würden Sie mir jetzt bitte meine Frage noch einmal beantworten?«

Singer blieb eine Weile stumm. »Nun«, sagte er schließlich, »in Wirklichkeit war ich nicht allzu glücklich darüber. Aber ich habe es akzeptiert.«

»Sie, Mr. Nye, haben eben behauptet, die Übernahme der Weisungsbefugnis sei eine firmeninterne Vorschrift. Meinen Informationen zufolge dürfen Sie das aber nur dann tun, wenn Sie der Auffassung sind, daß der Direktor seinen Pflichten nur ungenügend nachkommt.«

»So ist es«, sagte Nye.

»Aber daraus kann ich nur schließen, daß Sie aufgrund einer bereits gemachten Erfahrung der Ansicht waren, daß Dr. Singer der Situation möglicherweise nicht gewachsen war.« Nye sagte eine ganze Weile nichts, dann sagte er abermals: »So ist es.«

»Das ist doch absurd«, rief Singer. »Es bestand überhaupt keine Notwendigkeit zu diesem Schritt. Ich hatte die Situation völlig unter Kontrolle.«

Nye saß mit versteinertem Gesicht da.

»Was war es denn«, fragte Teece seelenruhig, »das Sie zu der Annahme veranlaßte, Dr. Singer würde mit dem Störfall nicht fertig werden?«

Diesmal zögerte Nye keinen Augenblick. »Ich hatte das Gefühl, daß Dr. Singer seinen Untergebenen zu nahe stand. Er mag ein guter Wissenschaftler sein, aber er reagiert viel zu emotional und kann mit Streßsituationen nicht gut umgehen. Hätte ich ihn den Störfall behandeln lassen, wäre die Sache möglicherweise ganz anders ausgegangen.«

Singer sprang auf. »Was ist denn so falsch daran, wenn man die Leute freundlich behandelt?« ereiferte er sich. »Es dürfte Ihnen selbst nach dieser kurzen Unterredung aufgefallen sein, Mr. Teece, mit was für einem Mann Sie es bei Mr. Nye zu tun haben. Er leidet unter Größenwahn und ist bei der gesamten Belegschaft hier ausgesprochen unbeliebt. Praktisch jedes Wochenende verschwindet er in der Wüste und treibt dort weiß Gott was. Warum Scopes ihn nicht schon längst gefeuert hat, ist allen ein Rätsel.«

»Verstehe«, sagte Teece gutgelaunt und las etwas in seinen Unterlagen nach. Eine unangenehme Stille erfüllte das Büro. Singer stand auf und ging wieder ans Fenster, wo er Nye und Teece den Rücken zudrehte. Teece machte sich ein paar Notizen. Dann fuchtelte er Nye mit dem Kugelschreiber vor dem Gesicht herum. »Diese altmodischen Dinger sind hier streng verboten, stimmt's? Wie gut, daß man bei mir eine Ausnahme gemacht hat, denn ich hasse Computer und den ganzen elektronischen Firlefanz.« Mit diesen Worten steckte er den Kugelschreiber sorgfältig zurück in die Brusttasche. »Lassen Sie uns jetzt zu dem Virus kommen, an dem Sie gerade arbeiten, Dr. Singer. Mein Informationsmaterial darüber ist leider mehr als dürftig. Was macht dieses Virus so tödlich?«

»Wenn wir das wüßten«, sagte Singer, »dann könnten wir auch etwas dagegen tun.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich meine damit, daß wir das Virus sicher machen könnten, wenn wir wüßten, weshalb es so gefährlich ist.«

»Warum arbeiten Sie denn ausgerechnet mit einem so gefährlichen Mikroorganismus?«

Singer drehte sich um. »Daß das Virus so tödlich wurde, lag nicht in unserer Absicht, glauben Sie mir. Seine Virulenz entstand erst dadurch, daß wir ihm das Gen eines Bonobo einsetzten. Wir arbeiten mit Hochdruck daran, es wieder ungefährlich zu machen, und wenn unser Produkt fertig ist, wird von diesen Problemen nicht mehr die Rede sein.« Singer hielt inne. »Es ist ein wirklich tragischer Unglücksfall, daß Rosalind in diesem Stadium des Experiments mit dem Virus infiziert wurde.«

»Rosalind BrandonSmith«, wiederholte Teece langsam. »Sie wissen ja, daß meine Behörde nicht gerade glücklich über die Art und Weise ist, wie die Autopsie ihrer Leiche durchgeführt wurde.«

»Wir sind dabei genau nach den geltenden Vorschriften vorgegangen«, protestierte Nye. »Die Autopsie wurde von einem Arzt in Schutzkleidung im Sicherheitsbereich Stufe fünf durchgeführt. Danach wurde die Leiche verbrannt und das gesamte Labor dekontaminiert.«

»Mir geht es hier weniger um das Einhalten von Vorschriften, Mr. Nye«, sagte Teece. »Was mir nicht gefällt, ist die Kürze des Autopsieberichts, bei der eine ganze Menge Fragen offenbleiben. Zum Beispiel ersehe ich daraus, daß BrandonSmith' Gehirn förmlich explodiert sein muß. Warum, so frage ich mich, war sie dann auf der Quarantänestation eingeschlossen, wo ihr nur ungenügende medizinische Hilfe zuteil werden konnte?«

»Wir wußten nicht, ob sie infiziert war oder nicht«, antwortete Singer.

»Wie soll ich das verstehen? Sie wurde doch von einem infizierten Schimpansen gekratzt. Da haben Sie doch sicher ihr Blut regelmäßig auf Antikörper getestet.«

»Das haben wir auch, aber in diesem Fall war die Zeit zwischen dem Auftreten der Antikörper und dem Eintritt des Todes sehr kurz.«

Teece runzelte die Stirn. »Beunruhigend kurz, finde ich.«

»Sie dürfen nicht vergessen, daß es das erste Mal war, daß ein Mensch mit dem X-FLU-Virus infiziert wurde - und hoffentlich auch das letzte Mal. Wir wußten nicht, was wir zu erwarten hatten. Außerdem ist dieser Stamm des Virus besonders virulent. Als wir die ersten positiven Testergebnisse hatten, war Dr. BrandonSmith bereits tot.«

»Aus dem Obduktionsbericht entnehme ich, daß Dr. BrandonSmith schon vor ihrem Tod massive innere Blutungen gehabt haben muß.« Teece konsultierte seine Akten und fuhr einen Absatz mit dem Finger nach. »Hier steht, daß die Organe der Toten praktisch im Blut geschwommen haben müssen. Der Bericht fuhrt das auf durchlässig gewordene Blutgefäße zurück.«

»Das ist offenbar ein Symptom der Erkrankung am X-FLU-Virus«, sagte Singer. »So etwas ist nicht gänzlich neu. Auch beim Ebola-Virus beobachtet man dieses Phänomen.«

»Aber aus den Autopsieberichten der verendeten Schimpansen ersehe ich nichts dergleichen.«

»Anscheinend ruft die Krankheit beim Menschen andere Symptome hervor als beim Schimpansen. Das ist nichts Ungewöhnliches.«

»Möglicherweise nicht«, sagte Teece und blätterte in seiner Akte. »Aber es gibt noch andere Merkwürdigkeiten in diesem Bericht. Zum Beispiel wurden im Gehirn der Toten ungewöhnlich hohe Konzentrationen der beiden Neurotransmitter Dopamin und Serotonin festgestellt.«

Singer breitete die Arme aus. »Na und? Das muß wohl ein weiteres Symptom von X-FLU sein.«

Teece klappte die Akte zu. »Und wiederum zeigten die infizierten Schimpansen keine solchen Auffälligkeiten.«

»Worauf wollen Sie hinaus, Mr. Teece?« fragte Singer seufzend. »Glauben Sie mir, wir sind uns der Gefährlichkeit dieses Virus vollauf bewußt. Deshalb strengen wir uns auch so an, es zu neutralisieren. Guy Carson, einer unserer fähigsten Wissenschaftler, befaßt sich ausschließlich mit diesem Problem.«

»Carson. Ach ja. Das ist der Ersatzmann für Franklin Burt, nicht wahr? Der arme Dr. Burt. Er ist jetzt im Featherwood-Park-Sanatorium untergebracht. Und wissen Sie was, Dr. Singer?«, fragte Teece mit gedämpfter Stimme. »Ich habe mit David Fossey gesprochen, dem behandelnden Arzt. Auch Burt hat durchlässige Blutgefäße. Und sein Dopamin- wie auch sein Serotoninspiegel sind beide stark erhöht.« Nye und Singer waren sichtlich erstaunt.

»Großer Gott«, sagte Singer nach kurzem Schweigen. Seine Augen blickten ins Leere, als würde er angestrengt über etwas nachdenken.

Teece hob einen Finger. »Aber jetzt kommt das wirklich Merkwürdige: Burt weist bis jetzt, nachdem er mehrere Wochen von Mount Dragon weg ist, keine Antikörper gegen X-FLU auf. Er kann die Krankheit also gar nicht haben.« Singer und Nye entspannten sich zusehends. »Dann muß das ein Zufall sein«, sagte Nye und lehnte sich wieder zurück. »Wohl kaum. Arbeiten Sie hier noch mit anderen Krankheitserregern?«

Singer schüttelte den Kopf. »Wir haben zwar das Übliche in der Tiefkühltruhe -Marburg, Ebola, Zaire, Lassa -, aber keiner dieser Erreger kann beim Menschen Wahnsinn auslösen.«

»Das stimmt«, bestätigte Teece. »Und sonst haben Sie nichts hier?«

»Überhaupt nichts.«

Teece wandte sich an den Sicherheitschef. »Was ist denn nun mit Dr. Burt genau passiert?«

»Dr. Singer hat empfohlen, ihn auszuwechseln«, sagte Nye einfach.

»Weshalb haben Sie das getan, Dr. Singer?«

»Dr. Burt wurde in zunehmendem Maße verwirrt und erregbar«, antwortete Singer zögernd. »Wir waren Freunde, Franklin und ich. Er war ein außergewöhnlich sensibler Mensch, immer freundlich und voller Anteilnahme. Auch wenn er mit mir nur selten darüber sprach, so hat er seine Frau hier draußen doch sehr vermißt. Der Streß im Fiebertank ist außergewöhnlich hoch...Da muß man eine dicke Haut haben, und Dr. Burt hatte sie nicht. Die ständige Anspannung hat ihn schließlich fertiggemacht. Als ich an ihm die ersten Anzeichen einer fortschreitenden Paranoia bemerkte, empfahl ich, ihn zur Beobachtung ins Krankenhaus nach Albuquerque zu bringen.«

»So, so, der Streß hat ihn fertiggemacht«, murmelte Teece.

»Entschuldigen Sie bitte, Dr. Singer, aber ich glaube nicht so recht daran, daß Franklin Burt einen gewöhnlichen Nervenzusammenbruch hatte.« Er konsultierte wieder seine Unterlagen. »Soviel ich weiß, hat Dr. Burt seinen Dr. med. und seinen Dr. phil. an der Johns-Hopkins-Universität gemacht. Und das in gerade mal fünf Jahren -normale Leute brauchen für so etwas doppelt so lange.«

»Ja«, sagte Singer. »Franklin war...er ist...ein brillanter Kopf.«

»Wenn die Informationen, die ich habe, richtig sind, dann hat Dr. Burt nach seinem Studium als Assistenzarzt in der Notaufnahme im Harlem-Meer-Krankenhaus an der Ecke 944 East und 155th Street gearbeitet. Waren Sie jemals in dieser Gegend?«

»Nein«, sagte Singer.

»Die Polizei nennt die Leute, die dort leben, >Eintagsfliegen<, was eine makabre Anspielung darauf ist, daß ein Menschenleben in diesem Viertel nicht allzuviel wert ist. Burt arbeitete dort unter Bedingungen, die als >Sechsunddreißiger Spezialschicht< bekannt sind. Das bedeutet, daß er sechsunddreißig Stunden auf der Notfallstation Dienst tat und danach zwölf Stunden frei hatte. Dann wieder sechsunddreißig Stunden Dienst und zwölf Stunden frei. Und das Woche für Woche, drei volle Monate lang.«

»Das wußte ich nicht«, sagte Singer. »Er hat mir eigentlich nie von seiner Vergangenheit erzählt.«

»Danach folgten zwei Jahre als Arzt an einem anderen Krankenhaus, in denen Dr. Burt nebenbei ein vierhundertseitiges wissenschaftliches Werk über Metastasen schrieb, eines der besten, die es zu diesem Thema gibt. Dabei lebte er zu dieser Zeit auch noch mit seiner ersten Frau in Scheidung.« Teece hielt einen Augenblick inne, dann fuhr er mit lauter Stimme fort: »Wollen Sie mir jetzt immer noch erzählen, der Mann habe keinen Streß ausgehalten?« Er lachte laut, aber in seinem Gesicht war keine Spur von Fröhlichkeit mehr zu entdecken. Der Inspektor erhob sich. »Meine Herren, ich glaube, ich habe Ihnen fürs erste genug von Ihrer wertvollen Zeit gestohlen.« Er steckte das Diktiergerät und seine Unterlagen wieder in die Aktentasche und wandte sich zum Gehen. »Aber wir werden uns sicher noch ein paarmal unterhalten, wenn ich erst einmal mit Ihren Kollegen gesprochen habe.« Dabei rubbelte er sich ein Stück Haut von der Nase und lächelte schicksalsergeben. »Manche Leute werden braun, und andere bekommen einen Sonnenbrand«, sagte er. »Ich schätze, ich gehöre in letztere Kategorie.«

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Die Nacht war über River Pointe, einer Vorstadt von Cleveland, hereingebrochen. Ein warmer Maiwind wehte um ein weißgestrichenes Haus an der Ecke Church Street und Sycamore Terrace, raschelte in den Blättern der Bäume und trug das entfernte Gebell eines Hundes und den einsamen Pfiff einer Lokomotive durch das offene Giebelfenster im ersten Stock. Das Licht, das aus diesem Fenster drang, hatte nicht die übliche, warmgelbe Farbe. Es war ein gedämpftes Blau wie das eines Fernsehapparats, änderte aber weder Farbe noch Intensität. Ein Passant, der unten auf der Straße vor dem offenen Fenster stehengeblieben wäre, hätte aus diesem Fenster ab und zu ein merkwürdiges Piepsen und Klicken vernommen, aber in diesem Viertel gab es um diese Zeit kaum Passanten. In dem Zimmer saß eine kleine Gestalt vor einer nackten Wand, in der eine einfache, hölzerne Tür eingelassen war. An allen anderen Wänden waren in vom Fußboden bis zur Decke reichenden Metallgestellen elektronische Platinen, Monitore, Festplattensysteme mit gigantischer Speicherkapazität und jede Menge Vorrichtungen, nach denen sich der Geheimdienst von so manchem kleineren Land sämtliche Finger abgeschleckt hätte: Geräte, mit denen man Computernetze überwachen und Faxe abfangen konnte, Schaltungen, die das Monitorbild weit entfernter Computer kopieren, persönliche Paßwörter knacken oder Funktelefone abhören konnten. Ein schwacher Geruch nach heißem Metall und Ozon drang aus diesen Gestellen, durch die sich dicke Kabelstränge wanden wie Schlangen durch den Regenwald.

Die Gestalt saß in einem Rollstuhl, der leise knarzte, als sie sich darin bewegte. Ein kurzer Arm näherte sich einer Spezialtastatur, die fest mit dem Rollstuhl verbunden war. Ein einzelner, gebogener Finger drückte im bläulichen Licht des Raumes ein paar der Tasten, die einen besonders weichen Anschlag hatten. Kurz darauf war eine Folge von leisen Wähltönen zu hören, und an der Wand wurde ein Monitor hell. Nachdem eine lange Reihe von Buchstaben und Zahlen darübergehuscht war, erschien auf dem Bildschirm ein kleines Firmen logo. Der Finger drückte einen von mehreren großen, mit Farben gekennzeichneten Knöpfen auf der Tastatur. Danach war es minutenlang vollkommen still in dem Raum. Die Gestalt im Rollstuhl hielt nichts davon, Firmennetze mit brutalen Hackermethoden zu knacken. Ihr Programm erledigte das sehr viel eleganter, indem es sich am Internet-Zugang der jeweiligen Firma auf die Lauer legte, sich an eine unverdächtige Nachricht hängte und dann huckepack auf dieser alle Sicherheitssperren umging. Der Nachteil dieser Methode war, daß man warten mußte, bis so eine Nachricht hereinkam. Schließlich aber explodierte der Bildschirm förmlich in einer plötzlich über ihn hereinbrechenden Flut von Zeichen, und der schwache Arm fing an zu tippen. Langsam zuerst und dann zunehmend schneller schrieb er Ausdrücke in hexadezimalem Computercode auf den Bildschirm und wartete zwischendurch immer wieder auf das, was sich daraufhin auf dem Monitor tat.

Dann erschienen auf rotem Grund die Worte »GeneDyne Online System -Unterabteilung Systemwartung«, zusammen mit einem kurzen Menü.

Wieder einmal war es der Gestalt gelungen, hinter die Sicherheitsbarrieren von GeneDyne zu gelangen. Der unterentwickelte Arm hob sich ein drittes Mal und startete zwei Programme, die Hand in Hand arbeiteten: Das erste veränderte vorübergehend eine der Systemdateien dergestalt, daß diese das zweite Programm für ein harmloses Utility hielt, während es in Wirklichkeit eine abhörsichere Netzwerkverbindung mit dem Labor von Mount Dragon herstellte. Die Gestalt im Rollstuhl wartete geduldig, während sich die beiden Programme immer tiefer ins Computernetz von GeneDyne hineinarbeiteten. Dann erklang ein tiefer Summton, und auf dem Bildschirm war abzulesen, über welche Netzwerkknoten die sichere Verbindung lief.

Die Hand wanderte wieder zur Tastatur, und bald erfüllte das schrille Pfeifen eines Modems den Raum. Ein zweiter Bildschirm schaltete sich an, auf dem ein von einer unsichtbaren Hand getippter Satz erschien. Sie wollten mich doch schon vor einer Stunde anrufen! Wegen Ihnen habe ich einige wichtige Termine absagen müssen. Der verschrumpelte Finger gab seine Antwort auf der weichen Spezialtastatur ein: Ich mag es, wenn Sie so rechtschaffen wütend werden. Professorchen. Wie schaffen Sie das bloß? Außerdem ist es jetzt zu spät. Er ist bestimmt nicht mehr in seinem Labor.

Der Finger tippte wieder etwas ein. Kein Grund zu verzagen, kleinmütiger Professor! Ganz bestimmt hat Dr. Carson einen zweiten Computer in seinem Privatzimmer. Dort sind wir auch sicher, daß wir seine ungeteilte Aufmerksamkeit genießen. Aber vergessen Sie nicht, was wir abgemacht haben. Okay. Lassen Sie uns endlich anfangen.

Der Finger drückte eine Taste, die durch das Netzwerk von GeneDyne eine schon vorher getippte, anonyme Nachricht an Guy Carson schickte. Diesmal verzichtete der Clown auf seine elektronische Visitenkarte - vielleicht schaltete ja Carson seinen Computer ab, sobald er das Logo mit der Weltkugel sah. Es dauerte eine Weile, bis aus der Wüste von New Mexico eine Antwort kam. Hier Guy Carson, Wer ist da?

Der Finger drückte wieder eine der farbigen Tasten und schickte damit eine weitere vorbereitete Nachricht durchs Netzwerk. Ich bin's, der Clown, der Überbringer von Nachrichten. Ich gebe Ihnen jetzt Professor Levine, Cowboy. Der Clown drückte eine weitere Taste und schaltete Levine auf die sichere Leitung. Lassen Sie mich in Ruhe, kam prompt Carsons Antwort. Machen Sie, daß Sie aus unserem System rauskommen. Bitte, Guy, hier ist Charles Levine. Geben Sie mir eine Minute. Ich muß mit Ihnen reden. Nein. Ich werde jetzt den Computer neu starten.

Der Clown drückte auf einen Knopf und schickte eine weitere vorbereitete Nachricht an Carson. He, Moment mai, Partner. Sie haben es hier mit dem Clown zu tun, vergessen Sie das nicht. Ich kann am Netzwerk mehr herummanipulieren, als Sie es sich vorstellen können. Ich habe in Ihren Anschluß eine kleine Falle eingebaut, und wenn Sie Ihren Computer jetzt neu starten, dann lösen Sie einen internen Netzalarm aus. Und das wiederum bedeutet, daß Sie Ihrem lieben Mr. Scopes eine ganze Menge zu erklären haben. Seien Sie also so freundlich und leihen Sie Ihrem alten Professor für ein paar Minuten ihr Ohr. Aber vorher noch was Technisches: Auf Ansuchen des Professors habe ich eine Möglichkeit geschaffen, über die Sie ihn ständig erreichen können. Seilten Sie ihm also etwas mitteilen wollen, dann brauchen Sie bloß übers Netz eine Anfrage für ein persönliches Gespräch mit Ihnen selbst loslassen. Ja, Sie haben richtig gelesen: mit Ihnen selbst. Damit aktivieren Sie einen kleinen Kommunikationskobold, den ich in euer Netzwerk eingeschmuggelt habe. Der Kobold nimmt Verbindung mit draußen auf und verbindet Sie mit unserem Freund, dem Professor, solange Ihr treuer Computer online bleibt. Das war's von mir. Jetzt übergebe ich Sie wieder an Professor Levine. Wenn Sie meinen, daß Sie mich auf diese Weise rumkriegen, Levine, dann haben Sie sich getäuscht Sie setzen mit diesen Spielchen meine ganze Karriere aufs Spiel, ist ihnen das klar? Ich will nichts mit Ihnen und ihrem Kreuzzug zu tun haben, ganz gleich, um was es sich auch handeln mag. Ich habe leider keine andere Wahl, Guy. Das Virus, an dem Sie arbeiten, ist ein echter Killer. Wir haben die besten Sicherheitsvorkehrungen auf der ganzen Welt... Aber offenbar sind sie nicht gut genug. Was hier passiert ist, war ein unglücklicher Zufall, sonst nichts. Die meisten Unfälle sind unglückliche Zufälle. Wir arbeiten hier an einem medizinischen Produkt, das der Menschheit unermeßlich viel Gutes bringen und Jahr für Jahr Millionen von Menschenleben retten wird. Sagen Sie mir jetzt nicht, daß wir damit etwas Falsches tun. ich glaube ihnen ja, Guy. Aber warum müssen Sie, um Leben zu retten, mit einem derart tödlichen Virus herumexperimentieren? Weil wir das Virus neutralisieren und für den Menschen ungefährlich machen müssen. Und jetzt verschwinden Sie bitte aus unserem Netz. Noch nicht. Was soll das denn für ein medizinisches Wunder sein, an dem Ihre Firma gerade arbeitet?

Darüber kann ich nicht sprechen.

Aber eine Frage müssen Sie mir einfach beantworten: Verändert dieses Virus die DNA in den menschlichen Keimzellen oder nur in den Körperzellen?

In den Keimzellen.

Das dachte ich mir. Guy, glauben Sie wirklich, daß Sie das moralische Recht haben, das menschliche Genom zu verändern?

Warum nicht, wenn es zum Wohl der Menschheit geschieht?

Wenn wir damit die Menschen für immer von einer schrecklichen Krankheit befreien können? Was soll daran unmoralisch sein?

Von welcher Krankheit? Das geht Sie nichts an.

Verstanden. Sie wollen also das Virus verwenden, um eine Veränderung im Erbgut zu bewirken. Aber was tut das Virus, solange Sie es noch nicht unschädlich gemacht haben? Ist es dazu geeignet, die ganze Menschheit auszulöschen? Wenn Sie mir diese Frage beantworten, lasse ich Sie sofort in Ruhe.

Das kann ich nicht. Die epidemiologische Wirkung auf den Menschen ist noch weitgehend unbekannt, aber bei Schimpansen wirkt es hundertprozentig tödlich. Wir haben natürlich alle Schutzmaßnahmen ergriffen, besonders jetzt, nach dem Unfall.

Geschieht die Infektion mit dem Virus über die Atemluft?

Ja.

Wie lange ist die Inkubationszeit?

Eine bis zwei Wochen, je nach Virenstamm.

Wieviel Zeit vergeht zwischen dem Auftreten der ersten Symptome und dem Eintritt des Todes?

Das läßt sich mit Sicherheit unmöglich sagen. Zwischen ein paar Minuten und mehreren Stunden.

Ein paar Minuten? Großer Gott! Und wie stirbt man an dem Virus?

Ich habe jetzt schon genug von ihren Fragen beantwortet. Lassen Sie mich in Ruhe.

Wie stirbt man an dem Virus?

Es erzeugt eine extrem starke Überproduktion von Gehirnflüssigkeit, die im Gehirn Blutungen und Ödeme auslöst. Das klingt verdammt nach einem echten Killervirus. Wie heißt es? Das war's, Levine. Ich beantworte keine weiteren Fragen mehr. Sehen Sie zu, daß Sie aus dem Netz verschwinden, und setzen Sie sich nie wieder mit mir in Verbindung. In dem kleinen Haus an der Ecke Church Street und Sycamore Terrace in Cleveland drückte der Finger ein paar Tasten. Auf einem der Bildschirme war zu sehen, wie das Hackerprogramm die Verbindung beendete und sich unbemerkt aus dem Netzwerk von GeneDyne stahl. Auf dein anderen Bildschirm erschienen Levines aufgeregte Worte: Verdammt! Wir sind getrennt worden, Clown! Ich brauche mehr Zeit!

Der Finger bewegte sich langsam über die Tasten und tippte: Beruhigen Sie sich doch, Professor, zuviel Aufregung ist schlecht für die Gesundheit. Machen Sie lieber Ihren Computer bereit, damit ich Ihnen eine interessante, kleine Datei zukommen Sassen kann. Ich konnte Ihnen nämlich die Informationen beschaffen, um die Sie mich gebeten haben. War auch nicht anders zu erwarten, oder? Aber leicht war es nicht, das kann ich Ihnen sagen, und Sie wären erstaunt, wenn Sie wüßten, wieviel Telefongebühren dabei aufgelaufen sind. Eine gewisse Mrs. Harnet Smythe in Northfield, Minnesota, wird wohl einen ziemlichen Schreck kriegen, wenn sie ihre nächste Telefonrechnung liest.

Der Finger drückte einige weitere Tasten und veranlaßte, daß eine Datei an den Computer von Levine geschickt wurde. Dann wurden die beiden Bildschirme gleichzeitig dunkel. Eine ganze Weile waren die einzigen Geräusche in dem Raum das leise Summen der Computerlüfter und das durchs offene Fenster hereindringende Zirpen einer einzelnen Grille. Dann ertönte auf einmal ein leises Gelächter, das sich immer mehr zu einem wahren Ausbruch von Fröhlichkeit steigerte, der den verbrauchten, verschrumpelten Körper in seinem Rollstuhl erbeben ließ.

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Der Koch in Mount Dragon -ein Italiener namens Ricciolini liebte es, Komplimente für seine Kochkunst einzustreichen. Weil er es sich deshalb nicht nehmen ließ, den Hauptgang beim Dinner höchstpersönlich zu servieren, dauerte es bisweilen unglaublich lange, bis man sein Abendessen bekam. Carson saß mit Harper und Vanderwagon an einem Tisch in der Mitte der Kantine und kämpfte ohne großen Erfolg gegen ein übles Kopfweh an, das ihn den ganzen Tag schon plagte. Trotz des enormen Drucks, den Scopes auf ihn ausübte, hatte er heute fast überhaupt nichts geschafft, weil er ständig über die Online-Unterhaltung nachgedacht hatte, die er mit Levine am Abend vorher geführt hatte. Immer wieder hatte er sich gefragt, wie es Levine gelungen sein könnte, ins Firmennetz von GeneDyne einzudringen, und warum der Professor überhaupt Kontakt mit ihm aufgenommen hatte. Wenigstens ist es niemandem aufgefallen, dachte Carson. Jedenfalls soweit ich es mitbekommen habe.

Der kleine Koch kam an den Tisch, stellte mit großartiger Geste den drei Wissenschaftlern das Essen hin und trat mit erwartungsvollem Gesicht einen Schritt zurück. Carson sah skeptisch auf seinen Teller und entdeckte merkwürdige Innereien, die er noch nie gesehen hatte.

»Sieht herrlich aus«, sagte Harper, der genau wußte, was der Koch hören wollte. »Eine kulinarische Meisterleistung.« Der Italiener verbeugte sich und machte ein zufriedenes Gesicht.

Vanderwagon saß schweigend da und rieb seine Gabel mit der Serviette blank. »Was ist das?« fragte Carson.

»Anime con Iviarsala e funglu!« verkündete der Koch stolz. »Kalbsbries mit Wein und Pilzen.«

»Und was ist Bries?«

Verwirrung machte sich auf dem Gesicht des Kochs breit. »Habe ich etwas Falsches gesagt? Kennen Sie das Wort Bries nicht?«

»Ich wollte eigentlich wissen, um welchen Teil des Kalbs es sich dabei genau handelt.« Harper gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken und sagte: »Manchmal ist es besser, nicht alles zu wissen, Carson.«

Der Italiener lächelte verlegen und verschwand wieder in der Küche.

»Die sollten sich mal eine neue Spülmaschine anschaffen«, murmelte Vanderwagon und wischte sein Weinglas mit der Serviette ab. Dann hielt er es gegen das Licht und polierte es noch einmal.

Harper blickte quer durch den Raum, wo Teece allein an einem Tisch saß. Die Tischmanieren des Inspektors waren so perfekt, daß es fast schon wieder lächerlich war.

»Hat er mit Ihnen schon geredet?« flüsterte Harper Carson zu. »Nein. Mit Ihnen?«

»Mich hat er sich heute vormittag vorgeknöpft.«

»Und was wollte er wissen?« mischte Vanderwagon sich ein. »Er hat mir eine Menge spitzfindiger Fragen über den Unfall gestellt. Laßt euch von seinem Aussehen nicht täuschen. Der Kerl ist alles andere als ein Dummkopf.«

»Spitzfindige Fragen«, wiederholte Vanderwagon und wischte nun auch sein Messer sorgfältig mit der Serviette ab. »Wieso kriegt man hier nicht wenigstens ab und zu mal ein vernünftiges Steak?« maulte Carson. »Bei diesem Zeug weiß man nie, was man eigentlich ißt.«

»Nehmen Sie es als Bereicherung in Sachen internationaler Kochkultur«, sagte Harper, der gerade ein Stück Bries abschnitt und den wabbeligen Happen in den Mund steckte. »Köstlich«, sagte er mit vollem Mund.

Auch Carson versuchte einen Bissen. »He, das schmeckt gar nicht mal so schlecht«, sagte er erstaunt. »Aber trotzdem wüßte ich gerne, was für ein Teil vom Tier das ist.«

»Es ist die Thymusdrüse«, sagte Vanderwagon. Carson ließ die Gabel fallen. »Danke, das reicht.«

»Was waren das für spitzfindige Fragen?« fragte Vanderwagon.

»Das darf ich nicht sagen«, entgegnete Harper und zwinkerte Carson zu.

Vanderwagon sah Harper durchdringend an. »Waren es Fragen über mich?«

»Nein, nicht über dich, Andrew. Oder doch. Aber nur ein paar. Du warst ja schließlich - wie soll ich es nennen - irgendwie mittendrin im Geschehen.«

Vanderwagon schob seinen unberührten Teller zur Seite und sagte nichts.

Carson beugte sich zu ihm hinüber. »Ist das wirklich die Thymusdrüse von einem Kalb?«

»Na und? Wen interessiert das schon?« sagte Harper und schob sich eine weitere Gabelvoll in den Mund. »Dieser Ricciolini kann einfach alles kochen. Außerdem haben Sie doch in Ihrer Jugend bestimmt Hammelhoden gegessen.«

»Nein, niemals. So was kriegen bei uns nur die Touristen«, entgegnete Carson.

»Wenn aber dein rechtes Auge dir Anlaß zur Sünde gibt...«, sagte Vanderwagon auf einmal.

Die beiden anderen drehten sich erstaunt in seine Richtung. »Wirst du jetzt auf einmal religiös?« fragte Harper. »Ja«, sagte Vanderwagon und fuhr fort: »...so reiß es aus und wirf es von dir.«

Einen Augenblick lang herrschte betretenes Schweigen. »Sind Sie in Ordnung, Andrew?« fragte Carson. »Ja, natürlich«, antwortete Vanderwagon. »Sag mal, Andrew, haben wir nicht im Biologieunterricht gelernt, daß in der Thymusdrüse irgendwelche Hormone drin sind?«

»Bitte nicht!« flehte Carson.

»Doch, doch, jetzt erinnere ich mich. Thymosin und Thymopetin heißen sie, glaube ich«, fuhr Harper ungerührt fort. Vanderwagon starrte auf seinen Teller, dann nahm er langsam sein Messer zur Hand und schnitt ein Stück Bries in der Mitte durch. Er nahm eine Hälfte davon in die Hand, besah sich eingehend die Schnittstelle, roch daran und ließ den Brocken wieder auf den Teller fallen, so daß Sauce und Pike aufs weiße Tischtuch spritzten. Dann goß er etwas Wasser auf seine Serviette und säuberte sich damit sorgfältig die Hände. »Nein«, sagte er.

»Was meinst du mit nein?«

»Da sind keine Hormone drin.«

Harper kicherte amüsiert vor sich hin. »Sei bloß vorsichtig. Wenn Ricciolini sieht, was du mit seinem Essen machst, dann mischt er dir beim nächsten Mal Gift in den Kartoffelbrei.«

»Was?« sagte Vanderwagon laut. »Ich habe doch nur Spaß gemacht. Beruhige dich.«

»Ich meine nicht dich«, sagte Vanderwagon und deutete auf eine Stelle neben Harper. »Ich rede mit ihm.« Harper und Carson waren still.

»Jawohl, Sir! Zu Befehl, Sir!« Vanderwagon sprang so plötzlich auf, daß er seinen Stuhl umwarf. Er packte die Gabel mit der einen und das Messer mit der anderen Hand und hob die Gabel so, daß die Zinken auf sein Gesicht zeigten. Seine Bewegungen sahen genau abgezirkelt aus, als gehorchten sie unhörbaren Befehlen. Vanderwagon schien einen Bissen von der leeren Gabel nehmen zu wollen.

»Andrew, was hast du denn vor?« fragte Harper mit einem nervösen Kichern. »Was soll man bloß dazu sagen, Carson?« Vanderwagon hob die Gabel noch ein paar Zentimeter höher. »Um Gottes willen, setz dich wieder hin, Andrew«, sagte Harper.

Die Zinken der Gabel in Vanderwagons zitternder Hand kamen seinem Gesicht immer näher.

Als Carson zu ahnen begann, was er damit vorhatte, war es schon zu spät. Ohne mit der Wimper zu zucken, setzte Vanderwagon die Gabel an sein rechtes Auge und drückte sie mit einer langsamen und bestimmten Bewegung hinein. Carson sah voller Grauen, wie die Hornhaut unter den spitzen Zinken nachgab. Dann hörte er ein Geräusch wie von einer zerplatzenden Traube, und eine klare Flüssigkeit spritzte in einem scharfen Strahl über den Tisch. Carson sprang auf, packte Vanderwagons Arm und zog ihn zurück. Die Gabel kam aus dem Auge heraus und fiel mit einem klirrenden Geräusch auf den Boden. Vanderwagon gab ein hohes, winselndes Geheul von sich. Harper sprang auf, um Carson zu helfen, aber Vanderwagon griff ihn mit dem Messer an. Harper fiel zurück in seinen Stuhl und starrte ungläubig auf einen roten Streifen, der sich quer über seine Brust zog und rasch breiter wurde. Vanderwagon wollte noch einmal auf ihn losgehen, aber Carson sprang dazwischen und holte zu einem Magenschwinger aus, aber Vanderwagon drehte sich zur Seite, so daß Carson ihn nur noch an der Hüfte traf. Vanderwagon nutzte das Überraschungsmoment und schlug Carson derart fest an den Kopf, daß dieser rückwärts taumelte und sich dabei verfluchte, weil er den Mann unterschätzt hatte. Als Vanderwagon nachsetzte, zielte Carson besser und verpaßte ihm mit der rechten Faust einen Schlag direkt an die Schläfe. Vanderwagon fiel wie ein gefällter Baum zu Boden. Carson packte die Hand, die immer noch das Messer umklammert hielt, und schlug sie mit voller Kraft mehrfach auf den Boden, bis sie losließ. Vanderwagon krümmte sich zusammen und schrie wirres Zeug. Carson sah, daß immer noch Flüssigkeit aus seinem zerstochenen Auge rann. Als Vanderwagon Anstalten machte, sich wieder aufzurappeln, gab er ihm einen gutgezielten Kinnhaken, und mit einemmal hörte das Schreien auf.

Carson richtete sich auf und hörte, daß alle um ihn herum aufgeregt durcheinanderredeten. Sein Herz schlug wie wild, und seine Hand tat ihm weh. Die anderen Kantinenbesucher bildeten einen engen Kreis um den Tisch, an dem Harper saß und sich eine blutige Serviette an die Brust drückte. »Der Arzt ist schon verständigt«, sagte jemand, und Carson blickte hinüber zu Harper. Der nickte ihm zu und keuchte: »Ich bin in Ordnung.«

Dann spürte Carson eine Hand auf seiner Schulter, und als er sich umdrehte, blickte er in das schmale Gesicht von Gilbert Teece. Der Inspektor mit der sich häutenden Nase kniete sich neben Vanderwagon auf den Boden. »Andrew?«

Vanderwagons unverletztes Auge sah Teece an. »Warum haben Sie das getan?« fragte der Inspektor mitfühlend. »Was denn?«

Teece schürzte die Lippen. »Ach, nichts«, sagte er. »Er sagt es immer wieder...immer wieder...«, stammelte Vanderwagon.

»Ist ja gut«, sagte Teece. »Stich es aus...«

»Wer hat Ihnen gesagt, daß Sie Ihr Auge ausstechen sollen?«

»Bringt mich hier raus!« kreischte Vanderwagon auf einmal. »Genau das werden wir tun«, sagte Mike Marr, der sich einen Weg durch die Umstehenden gebahnt hatte und Teece brutal zur Seite stieß. Zwei Sanitäter hoben Vanderwagon auf eine Trage. Der Inspektor folgte der Gruppe bis zur Tür und fragte Vanderwagon immer wieder: »Wer? Wer hat Ihnen das gesagt?« Aber einer der Sanitäter hatte Vanderwagon bereits eine Injektion verpaßt, und das unverletzte Auge des Wissenschaftlers drehte sich unter dem Einfluß des rasch wirkenden Beruhigungsmittels nach oben.

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Der sogenannte Grüne Raum im Gebäude der Fernsehstation war überhaupt nicht grün, sondern fahlgelb gestrichen. An den Wänden standen ein Sofa und mehrere Sessel, und in der Mitte lagen auf einem verkratzten Couchtisch im Bauhaus-Design mehrere Ausgaben von People, Newsweek und The Economist. Auf einem Tisch in der Ecke befanden sich eine Kanne mit schon vor längerer Zeit aufgebrühtem Kaffee, ein Stapel Styroporbecher und ein Kännchen nicht mehr ganz frische Kaffeesahne. Daneben lag ein unordentlicher Haufen Papierbriefchen mit Zucker und Süßstoff.

Levine beschloß, den Kaffee lieber nicht zu probieren. Er rutschte unruhig auf dem Sofa herum und sah zum x-ten Mal hinüber zu dem älteren, bleichgesichtigen Mann im karierten Anzug, der außer ihm und Toni Wheeler, der Pressereferentin der Stiftung, der einzige Mensch im Raum war. Als hätte er Levines Blicke gespürt, sah der Mann auf, aber gleich wieder weg. Er tupfte sich mit einem seidenen Taschentuch den Schweiß von der Stirn und widmete sich wieder dem Buch, in dem er die ganze Zeit schon gelesen hatte. Es hieß Mut zum Anderssein und war von einem Autor namens Barrold Leighton. Toni Wheeler flüsterte Levine etwas ins Ohr, aber er bekam nicht alles mit, was sie sagte.

»...ein Fehler. Wir hätten nicht hierherkommen sollen, das wissen Sie genau. Diese Art von Öffentlichkeit brauchen wir nicht.«

»Das haben wir doch alles schon besprochen, Toni«, sagte Levine und seufzte. »Mr. Sanchez ist sehr interessiert an unserer Sache.«

»Sanchez ist nur an einem interessiert, und zwar daran, wie er seine Gäste am besten gegeneinander ausspielen kann. Wieso bezahlen Sie mich eigentlich, wenn Sie meinen Rat ja doch nie annehmen? Wir müssen Sie als gediegenen, gebildeten Professor verkaufen, der einen moralischen Feldzug gegen gefährliche Auswüchse der Wissenschaft führt. In einer Talkshow wie dieser wird das garantiert nicht rüberkommen.«

»Was ich brauche, ist kein Image, sondern mehr Öffentlichkeit«, entgegnete Levine. »Die Leute müssen die Wahrheit über die Gentechnologie erfahren. Was ich in der letzten Zeit erfahren habe, wird sie aufrütteln. Wenn die Zuschauer erst einmal das hier hören« - er klopfte auf die Brusttasche seines Jacketts -, »werden sie erkennen, wie gefährlich diese Wissenschaft wirklich ist.«

Toni Wheeler schüttelte den Kopf. »Unsere Zielgruppenstudie hat ergeben, daß Sie Gefahr laufen, in zunehmendem Maße als Exzentriker angesehen zu werden. Prozesse wie der, den GeneDyne in jüngster Zeit gegen Sie angestrengt hat, untergraben nun mal Ihre Glaubwürdigkeit.«

»Also, meine Glaubwürdigkeit untergraben sie bestimmt nicht. Eher schon die der Gegenseite.« Als wäre die Angelegenheit damit für ihn beendet, deutete Levine verstohlen hinüber zu dem schwitzenden Mann. »Jede Wette, daß das Barrold Leighton höchstpersönlich ist?« flüsterte er Toni Wheeler zu. »Der will hier bestimmt Reklame für sein Buch machen. Ist vermutlich sein erster Fernsehauftritt überhaupt. Sieht so aus, als brauchte er heute tatsächlich Mut zum Anderssein. Mir kommt er allerdings nicht gerade wie ein Ausbund an Mut vor.«

»Schweifen Sie nicht vom Thema ab«, sagte Toni Wheeler. »Ihre Glaubwürdigkeit ist wirklich in Gefahr, trotz Ihrer Professur in Harvard und Ihrer Verdienste für den Holocaust Memorial Fund. Wir müssen jetzt auf der Hut sein, den Schaden begrenzen und Ihnen ein neues Image für die Öffentlichkeit aufbauen. Und deshalb bitte ich Sie noch einmal, Charles: Treten Sie nicht in dieser Sendung auf.«

Toni Wheeler hatte noch nicht ausgeredet, da streckte eine Frau den Kopf durch die Tür und sagte mit ausdrucksloser Stimme: »Dr. Levine bitte.«

Levine stand lächelnd auf und winkte seiner Pressereferentin noch einmal zu, bevor er der Frau in die Maske folgte. Schaden begrenzen, dachte er. Was mache ich denn anderes? Er setzte sich auf einen Friseurstuhl und ließ sich von der Maskenbildnerin das Gesicht pudern. Toni Wheeler klang manchmal eher wie der Kapitän eines Unterseeboots und nicht wie eine Pressefrau. Sie war intelligent und wortgewandt, aber sie neigte dazu, der Öffentlichkeit ein viel zu idealisiertes Bild von ihm zu vermitteln. Dabei wollte sie einfach nicht verstehen, daß es nicht Levines Art war, angesichts von Schwierigkeiten vornehme Zurückhaltung zu üben. Jetzt zum Beispiel brauchte er dringend ein Forum, wie diese Talkshow es ihm bot. Seine Enthüllungen über die Katastrophe von Nowo Druschina hatten bei weitem nicht das Presseecho gefunden, das er sich davon erhofft hatte. Der Vorfall war einfach räumlich und zeitlich zu weit entfernt, als daß er zu mehr als ein paar Meldungen in lokalen Blättern gereicht hätte. Bei der Sammy Sanchez Show war das anders. Sie wurde nicht nur hier in Boston, sondern über eine Kette von Stationen im ganzen Land ausgestrahlt. Auch wenn sie nicht so viele Zuschauer hatte wie beispielsweise Geraldo, so war sie für den Anfang schon nicht schlecht. Levine prüfte, ob die beiden mitgebrachten Umschläge sich auch wirklich noch in den Taschen seines Jacketts befanden. Er war gutgelaunt und voller Zuversicht, daß dies ein erfolgreicher Abend für ihn werden würde.

Studio C war ein Talkshowstudio wie viele andere auch. Kulissen mit dunklen, altmodischen Tapeten und schwere Mahagonimöbel sollten ihm den Anstrich eines gediegenen viktorianischen Salons geben und wirkten inmitten eines Gewirrs von Scheinwerfern, Kameras und Kabeln merkwürdig deplaziert. Levine wußte, wer die beiden anderen Talkgäste waren, die bereits im ersten Teil der Sendung miteinander diskutiert hatten: Finley Squires, ein bärbeißiger, mit allen Wassern gewaschener Pressemann der Pharmaindustrie, und die bekannte Verbraucherschützerin Theresa Court. Daß er erst jetzt, im zweiten Talkblock, zu der Runde stieß, sah Levine nicht als Nachteil. Vorsichtig darauf bedacht, nicht über ein Kabel zu stolpern, näherte er sich der Bühne. Sammy Sanchez saß auf einem Drehstuhl hinter einem runden Tisch und zeigte Levine seinen Platz. Dabei grinste er wie ein hungriges Raubtier beim Nahen frischer Beute. Die Werbung war fast zu Ende, und der Countdown für die zweite Hälfte der Show begann. Als sie auf Sendung waren, stellte Sanchez den etwa zwei Millionen Zuschauern zu Hause an den Bildschirmen seinen neuen Talkgast vor und erteilte dann Squires das Wort. Auf dem Monitor in der Maske hatte Levine mitbekommen, wie Squires im ersten Teil der Sendung in höchsten Tönen die Segnungen der Gentechnik gepriesen hatte. Levine, der sich fühlte wie ein Boxer in Topform, der soeben in den Ring gestiegen ist, konnte es kaum erwarten, ihm gehörig über den Mund zu fahren. »Haben Sie ein Kind, das am Tay-Sachs-Syndrom leidet?« fragte Squires die Zuschauer und blickte mit besorgtem Gesicht direkt in die Kamera. »Oder an Sichelzellenanämie oder der Bluterkrankheit?«

Dann deutete er auf Levine, ohne ihn dabei direkt anzublicken. »Dr. Levine hier will Ihnen Ihr verfassungsmäßig verbrieftes Recht beschneiden, Ihrem Kind die bestmögliche medizinische Behandlung zukommen zu lassen. Wenn er mit seinen Forderungen Erfolg hätte, würde Millionen an einer Erbkrankheit leidenden Patienten die mögliche Heilung verwehrt werden.« Squires verfiel einen Augenblick in betroffenes Schweigen, fuhr dann aber gleich fort: »Dr. Levine nennt seine Organisation Stiftung für Verantwortungsbewußte Gentechnologie, aber lassen Sie sich davon bloß nicht täuschen. Bei dieser Organisation handelt es sich nicht um eine Stiftung, die das Allgemeinwohl im Auge hat. Sie ist vielmehr eine knallharte Lobby, deren Ziel es ist, Ihnen die phantastischen medizinischen Fortschritte, die nun einmal nur durch die Gentechnologie möglich sind, auf immer zu verwehren. Dr. Levine will nichts anderes, als Ihnen Ihr Recht auf freie Wahl der Behandlungsmethoden zu beschneiden, und fügt damit unter Umständen Ihren Kindern unnötiges Leid zu.«

Sammy Sanchez drehte sich in seinem Stuhl herum und sah Levine mit einer erhobenen Augenbraue an. »Stimmt das, Dr. Levine? Würden Sie denn meinen Kindern wirklich eine solche Behandlung verwehren?«

»Aber natürlich nicht«, antwortete Levine mit einem gelassenen Lächeln. »Schließlich ist die Gentechnik auch mein wissenschaftliches Arbeitsgebiet. Ich war zum Beispiel maßgeblich an der Entwicklung der Maissorte X-RUST beteiligt. Allerdings habe ich es abgelehnt, daraus Profit zu schlagen, aber das ist eine andere Geschichte. Dr. Squires hat meine Ansichten gerade ausgesprochen verzerrt dargestellt.«

»Das habe ich nicht«, konterte Squires. »Die Gentechnologie bedeutet Hoffnung für unzählige kranke Menschen, was aber macht Dr. Levine? Er versucht, uns allen Angst vor dieser zukunftsweisenden Technologie einzujagen. Was er eine >vorsichtige, verantwortliche Forschungskritik< nennt, ist in Wirklichkeit nichts weiter als paranoide Wissenschaftsfeindlichkeit, die viel eher ins Mittelalter gehört als in unsere Zeit.« Theresa Court wollte etwas sagen, überlegte es sich aber offenbar wieder anders. Levine taxierte sie vorsichtig und erkannte, daß sie sich in dieser Diskussion letztendlich auf die Seite des Gewinners schlagen würde.

»Ich glaube, Dr. Levine plädiert eher für ein größeres Verantwortungsbewußtsein bei Firmen, die Genforschung betreiben«, sagte Sanchez. »Habe ich recht, Dr. Levine?«

»Unter anderem«, antwortete Levine und war zufrieden darüber, daß Sanchez eine seiner Forderungen schon benannt hatte. »Aber wir brauchen auch eine viel stärkere Kontrolle seitens der Regierung. Zur Zeit können x-beliebige Firmen mit allen möglichen Genen frei herumexperimentieren -ganz gleich, ob von Menschen, Tieren, Pflanzen oder tödlichen Viren - und werden dabei von den Behörden überhaupt nicht oder nur sehr ungenügend überwacht. In unseren Labors entstehen dabei Krankheitserreger von unvorstellbar tödlicher Wirkung. Es bedarf nur eines einzigen Unfalls, und wir erleben den Ausbruch einer Seuche, die möglicherweise die gesamte Menschheit auszurotten imstande ist.«

Nun erst würdigte Squires Levine eines verächtlichen Blickes. »Mehr Regierungskontrolle. Mehr Verbote. Mehr Bürokratie. Mehr Unterdrückung des freien Unternehmertums. Genau das ist es, was dieses Land eben nicht braucht. Als Wissenschaftler sollte Dr. Levine das eigentlich besser wissen. Und dennoch verbreitet er ständig Unwahrheiten, die in den Menschen eine vollkommen unbegründete Angst vor der Gentechnologie hervorrufen.«

Levine beschloß, daß die Zeit jetzt reif war. »Da Dr. Squires versucht, mich hier als Lügner hinzustellen«, sagte Levine und griff in die Brusttasche seines Jacketts, »würde ich ihm gerne einmal etwas zeigen.«

Er zog einen grellroten Umschlag hervor und hielt ihn direkt in die Kamera. »Ich finde, daß ein Professor für Mikrobiologie, wie Dr. Squires einer ist, nur der Wahrheit verpflichtet sein sollte und sonst niemandem.«

Levine wedelte ein wenig mit dem Umschlag herum und hoffte, daß Toni Wheeler im Grünen Zimmer ihn jetzt auf dem Monitor sah. Die Wahl der Umschlagfarbe war ein besonderer Geniestreich gewesen. Er wußte, daß nun, als die Kamera den Umschlag zeigte und unzählige Zuschauer gespannt darauf warteten, daß er geöffnet werden würde.

»Was aber wäre, wenn der Inhalt dieses Umschlags beweisen würde, daß Dr. Squires eine Viertelmillion Dollar von der Firma GeneDyne bekommen hat? Von einem der führenden gentechnischen Unternehmen der Welt? Was wäre, wenn ich Ihnen weiter beweisen könnte, daß Dr. Squires diese Einkünfte sogar seiner eigenen Universität verschwiegen hat? Würde das vielleicht seine hier so nachdrücklich bekundete Überzeugung in Frage stellen?« Er legte den Umschlag vor Squires auf den Tisch.

»Bitte, machen Sie ihn doch auf, und zeigen Sie seinen Inhalt der Kamera.«

Squires sah den Umschlag an, als wisse er nicht, in welche Falle Levine ihn locken wollte. »Das ist doch lächerlich«, sagte er und wischte den Umschlag vom Tisch.

Levine, der sein Glück kaum glauben konnte, wandte sich mit einem triumphierenden Lächeln direkt in die Kamera. »Sehen Sie, er weiß genau, was drinnen ist.«

»Was Sie hier an den Tag legen, ist ein unerhörtes und höchst unprofessionelles Verhalten«, geiferte Squires. »Na los«, stichelte Levine. »Machen Sie ihn doch auf.« Weil der Umschlag jetzt auf dein Boden lag, hätte Squires sich bücken müssen, um ihn aufzuheben. Was immer er auch tat, dachte Levine, der Zug war für Finley Squires längst abgefahren. Nur wenn er den Umschlag sofort und ohne zu zögern aufgemacht hätte, wäre es ihm vielleicht noch gelungen, sich einen Rest an Glaubwürdigkeit zu bewahren.

Sanchez blickte zwischen den beiden Wissenschaftlern hin und her. Langsam begann es Squires zu dämmern, was hier gespielt wurde. »Das ist ja wohl die mieseste, abgefeimteste Attacke, die mir in meinem ganzen Leben untergekommen ist«, sagte er. »Sie sollten sich schämen, Dr. Levine.«

Squires hing zwar in den Seilen, aber er hatte den Kampf noch nicht aufgegeben. Also holte Levine den zweiten Umschlag aus seinem Jackett. »Und hier, Dr. Squires«, sagte er ruhig, »habe ich Informationen über die jüngsten Forschungen, die GeneDyne in einem geheimen Labor namens Mount Dragon in der Wüste von New Mexico durchführen läßt. Dieses Projekt ist äußerst bedenklich und sollte jeden Wissenschaftler alarmieren, dem das Wohl der Menschheit nicht gleichgültig ist.« Er legte auch den zweiten Umschlag vor Squires auf den Tisch. »Wenn Sie den anderen Umschlag schon nicht öffnen wollen, machen Sie wenigstens diesen hier auf. Seien Sie derjenige, der die gefährlichen Machenschaften von GeneDyne ans Licht der Öffentlichkeit bringt. Beweisen Sie uns, daß Sie kein persönliches Interesse an dieser Firma haben.«

Squires saß stocksteif da. »Mich werden Sie mit Ihrem intellektuellen Terrorismus nicht einschüchtern.« Levine spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Das war ja fast zu schön, um wahr zu sein. Der Mann tappte blind in jede Falle, die man vor ihm aufbaute.

»Ich würde den Umschlag ja gerne selber aufmachen«, sagte er, »aber ich darf nicht. GeneDyne hat meine Stiftung auf zweihundert Millionen Dollar verklagt, um mich zum Schweigen zu bringen. Deshalb muß jemand anders diesen Umschlag öffnen.« Die Kameras nahmen den Umschlag, der immer noch auf dem Tisch lag, jetzt groß ins Bild. Sanchez drehte sich in seinem Stuhl herum und sah fragend in die Runde seiner Gäste.

Schließlich beugte sich Theresa Court über den Tisch und schnappte sich den Umschlag. »Wenn sich niemand anders traut, ihn zu öffnen, dann werde ich das tun.« Auf die gute, alte Theresa ist eben Verlaß, dachte Levine. Er hatte genau gewußt, daß sie dieser Versuchung, sich publikumswirksam in Szene zu setzen, nicht würde widerstehen können. In dem Umschlag befand sich ein einzelnes, vom Computer bedrucktes Blatt Papier, auf dem folgendes stand:

NAME DES VIRUS: Unbekannt

INKUBATIONSZEIT: Eine Woche

ZEIT ZWISCHEN DEM AUFTRETEN ERSTER SYMPTOME UND DEM TOD DES PATIENTEN: 5 Minuten bis 2 Stunden

TODESART: Schwere Gehirnödeme

INFEKTUOSITÄT: Ansteckender als eine normale Grippe

STERBLICHKEITSRATE: 100% - alle infizierten sterben

HERSTELLER: GeneDyne

ZWECK DER HERSTELLUNG: Unbekannt, da ein Firmengeheimnis, das von den Gesetzen der Vereinigten Staaten geschützt wird. Die Arbeit an diesem Virus wird ohne nennenswerte Kontrolle von Seiten der zuständigen Behörden fortgesetzt.

BEMERKUNGEN: Innerhalb der vergangenen zwei Wochen wurde ein namentlich nicht bekannter Wissenschaftler im geheimen Labor der Firma GeneDyne mit diesem Virus infiziert. Der Wissenschaftler wurde offenbar unter Quarantäne gestellt und starb drei Tage nach der Infektion. Wäre die Quarantäne nicht erfolgreich gewesen, dann hätte das Virus die Bevölkerung der USA infizieren können. In diesem Fall wären viele von uns möglicherweise bereits tot.

Während Theresa Court das Dokument laut vorlas, hielt sie immer wieder einmal inne, um erstaunt hinüber zu Levine zu blicken. Als sie damit fertig war, drehte sich Sanchez in seinem Stuhl hinüber zu Finley Squires.

»Irgendwelche Kommentare dazu?« fragte er.

»Wieso sollte ich einen Kommentar zu so etwas abgeben?« entgegnete Squires gereizt. »Ich habe nicht das geringste mit GeneDyne zu tun.«

»Sollten wir dann nicht den ersten Umschlag öffnen?« fragte Sanchez, während ein kurzes, aber gemeines Lächeln über sein bleiches Gesicht huschte.

»Von mir aus«, sagte Squires. »Der Inhalt kann ohnehin nur eine Fälschung sein.«

Sanchez stand auf und holte den Umschlag. »Theresa, Sie sind hier diejenige, die den meisten Mut bewiesen hat«, sagte er und reichte ihn der Verbraucherschützerin.

Theresa Court riß den Umschlag auf. Darin befand sich ein Computerausdruck, der darüber Aufschluß gab, daß die Niederlassung von GeneDyne in Hongkong zweihundertfünfundsechzigtausend Dollar auf ein Nummernkonto des Bankhauses Rigel auf den Niederländischen Antillen überwiesen hatte. »Aber da steht kein Name auf der Überweisung«, sagte Sanchez, nachdem er den Beleg genauer begutachtet hatte. »Dann zeigen Sie der Kamera doch einmal die zweite Seite«, sagte Levine.

Die Schrift auf der zweiten Seite war undeutlich, aber dennoch lesbar. Es war ganz offenbar der Screenshot eines Computerbildschirms, den sich jemand mittels eines verbotenen und sündteuren Gerätes aus einem Datennetz hatte machen lassen. Er enthielt genaue Anweisungen von Finley Squires zur Eröffnung eines Nummernkontos bei der Rigel-Bank auf den Niederländischen Antillen. Die Nummer des Kontos war mit der auf dem Überweisungsbeleg identisch.

Im Studio herrschte betretenes Schweigen, und Sanchez beendete den zweiten Teil der Sendung mit dem Hinweis an die Zuschauer, während der Werbung dranzubleiben und sich auf den dritten Teil zu freuen, in dem Barrold Leighton zur Talkrunde stoßen würde.

Sobald die Kameras abgeschaltet waren, stand Squires empört auf. »Dieser Auftritt wird ein gerichtliches Nachspiel für Sie haben«, sagte er gequält und ging.

Sanchez drehte sich zu Levine und schürzte anerkennend die Lippen. »War eine ausgezeichnete Show«, sagte er. »Ich hoffe allerdings für Sie, daß Sie Ihre Anschuldigungen auch wirklich beweisen können.«

Levine antwortete nicht, sondern lächelte wissend vor sich hin.

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Mit ein paar Testergebnissen aus der Pathologie kehrte Carson durch die engen Gänge zurück zu seinem Labor. Es war schon nach sechs, und der Fiebertank hatte sich merklich geleert. De Vaca war schon vor einigen Stunden gegangen, um ein paar Enzymtests draußen im Computerlabor durchzuführen. Nun schickte sich auch Carson an, seine Arbeit zu beenden und sich auf den langwierigen Rückweg nach draußen zu machen. Obwohl er den Fiebertank noch immer haßte, hatte Carson heute keine besondere Eile, in die Kantine zu gelangen. Keiner seiner sonstigen Tischnachbarn würde zum Abendessen kommen, denn Vanderwagon hatte man gleich nach dem Zwischenfall weggebracht, und Harper mußte noch einen Tag auf der Krankenstation bleiben.

An der Tür zu seinem Labor hielt Carson inne. Drinnen stand eine Gestalt im Schutzanzug, die sich an seinem Arbeitstisch zu schaffen machte. Carson drückte auf den Knopf der Sprechanlage am Ärmel seines Anzugs. »Suchen Sie was Bestimmtes?« fragte er.

Die Gestalt im Schutzanzug richtete sich auf, und als er sich umdrehte, sah Carson hinter der Scheibe des Visiers das sonnenverbrannte Gesicht von Gilbert Teece. »Dr. Carson«, sagte er. »Wie nett, daß ich endlich mal Ihre Bekanntschaft machen kann. Hätten Sie vielleicht ein paar Minuten Zeit für mich?« Mit diesen Worten streckte er Carson seine Hand hin. »Warum nicht«, sagte Carson, der es ziemlich albern fand, dem Inspektor durch mehrere Schichten Gummi getrennt die Hand zu schütteln. »Setzen Sie sich doch.«

Teece sah sich um. »Ich weiß immer noch nicht so recht, wie ich das in diesem blöden Anzug tun soll.«

»Dann müssen Sie wohl stehen«, sagte Carson und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Arbeitstisch. »Nun, wie dem auch sei«, sagte Teece, »auch so ist es mir eine Ehre, mit einem Nachkommen des berühmten Kit Carson zu sprechen.«

»Da sind Sie aber der einzige«, sagte Carson. »Sie sind viel zu bescheiden, Mr. Carson«, sagte Teece. »Und deshalb wissen die meisten hier im Labor auch nicht, mit wem sie es zu tun haben. In Ihrer Personalakte allerdings steht es schon. Mr. Scopes hat es die damit verbundene historische Ironie offenbar angetan.« Teece hielt kurz inne. »Ist eine ziemlich faszinierende Persönlichkeit, Ihr Mr. Scopes.«

»Er ist großartig«, sagte Carson und musterte den Inspektor kritisch. »Warum haben Sie neulich im Konferenzraum die Autopsie von BrandonSmith' Leiche zur Sprache gebracht?« Nach kurzem Schweigen hörte Carson über die Sprechanlage, wie Teece lachte. »Sie sind doch praktisch mitten unter den Apachen aufgewachsen, stimmt's? Dann kennen Sie doch sicherlich auch das alte Sprichwort dieses Stammes: >Manche Fragen sind länger als andere. < Die Frage, die ich in dem Konferenzraum gestellt habe, ist sehr lang.« Er lächelte. »Aber da Sie noch relativ neu hier sind, war sie nicht an Sie gerichtet. Ich würde mit Ihnen lieber über Mr. Vanderwagon sprechen. Ja, ich weiß«, fügte er an, als er Carsons Gesichtsausdruck sah, »schreckliche Geschichte. Kannten Sie ihn gut?«

»Wir sind nach meiner Ankunft hier relativ rasch Freunde geworden.«

»Wie war er denn so?«

»Er stammt aus Connecticut. Zunächst machte er einen ziemlich dünkelhaften Eindruck auf mich, aber irgendwie mochte ich ihn trotzdem. Unter seiner ernsten Oberfläche hat er ein en köstlichen Sinn für Humor.«

»Ist Ihnen vor diesem Vorfall in der Kantine schon einmal etwas an ihm aufgefallen? Irgendein seltsames Benehmen? Persönlichkeitsveränderungen?«

Carson zuckte mit den Achseln. »In der vergangenen Woche kam er mir irgendwie geistesabwesend und in sich gekehrt vor. Häufig gab er keine Antwort, wenn man mit ihm sprach. Aber ich habe dem nicht viel Bedeutung beigemessen, schließlich war BrandonSmith' Tod für uns alle ein ziemlicher Schock gewesen. Außerdem hat die ständige Anspannung, unter der man hier steht, zur Folge, daß sich die Leute fast alle ein wenig seltsam benehmen. Man nennt es das Mount-Dragon-Fieber. Es ist ein Gefühl, als würde einem die Decke auf den Kopf fallen, nur viel schlimmer.«

»Ich glaube, das habe ich auch«, sagte Teece und kicherte. »Nach dem Vorfall mit BrandonSmith wurde Andrew von Brent Scopes persönlich in aller Öffentlichkeit zurechtgewiesen. Ich glaube, das hat er sich sehr zu Herzen genommen.« Teece nickte. »Wenn aber dein rechtes Auge dir Anlaß zur Sünde gibt...«, murmelte er. »Ich habe auf einem der Videobänder gesehen, wie Scopes Vanderwagon gegenüber dieses Zitat gebraucht hat. Aber daß Vanderwagon sich deshalb gleich das Auge aussticht, finde ich eine etwas zu heftige Reaktion -Streß hin, Streß her. Wie hat Cornwall gleich wieder in König Lear gesagt? >Heraus, du schnöder Gallert! - Wo ist dein Glanz nun?<«

Carson sagte nichts.

»Wissen Sie etwas über Vanderwagons bisherige Arbeit bei GeneDyne?« fragte Teece.

»Ich weiß nur, daß er ein brillanter Wissenschaftler war, auf den seine Kollegen große Stücke hielten. Und daß er bereits zum zweiten Mal hier war. Er hat auf der Universität von Chicago seinen Abschluß gemacht. Aber das haben Sie doch bestimmt schon alles in seiner Personalakte gelesen.«

»Hat er mit Ihnen über irgendwelche Sorgen oder Probleme gesprochen, die ihn möglicherweise bedrückten?«

»Nein, außer natürlich, daß er sich, wie alle hier, über die Isolation beklagt hat. Als passionierter Skifahrer fühlte er sich hier mitten in der Wüste auch nicht sonderlich wohl, das hat er mir mehrmals gesagt. Vanderwagon hat ziemlich liberale Ansichten, was zwischen ihm und Harper oft zu langen, politischen Diskussionen führte.«

»Hat er eine Freundin?«

Carson dachte einen Augenblick nach. »Er hat mal eine Frau erwähnt. Sie heißt Lucy, glaube ich zumindest, und lebt in Vermont.« Carson rutschte nervös auf seinem Stuhl herum. »Sagen Sie mal, wo hat man ihn eigentlich hingebracht? Und weiß man schon, was ihm fehlt?«

»Die Untersuchungen laufen noch. Bisher weiß ich nur sehr wenig, aber das liegt auch daran, daß es hier keine normale Telefon Verbindung zur Außenwelt gibt. Trotzdem zeichnen sich schon einige sehr merkwürdige Entwicklungen ab. Ich werde Ihnen gleich mehr davon erzählen, vorher aber möchte ich Sie bitten, über alles, was ich Ihnen sage, bis auf weiteres strengstes Stillschweigen zu bewahren.« Carson nickte.

»Erste Tests haben bei Vanderwagon ziemlich merkwürdige körperliche Veränderungen an den Tag gebracht: Er hat durchlässige Kapillaren und erhöhte Dopamin- und Serotoninspiegel.«

»Was sind denn durchlässige Kapillaren?«

»Blutgefäße, die nicht mehr dicht halten. Irgendwie ist ein kleiner Prozentsatz seiner Blutgefäße durchlässig geworden, so daß Hämoglobin in einige Teile seines Körpers eingedrungen ist. Nacktes Hämoglobin wirkt, wie Sie vielleicht wissen, auf menschliches Gewebe wie ein Gift.«

»Könnte das etwas mit seinem Zusammenbruch zu tun haben?«

»Das kann man jetzt noch nicht sagen«, antwortete Teece. »Allerdings kommen dafür auch eher die erhöhten Dopamin- und Serotoninspiegel in Frage. Was wissen Sie über Dopamin und Serotonin?«

»Nicht viel. Nur, daß beide Neurotransmitter sind.«

»Richtig. Solange ihre Konzentration im normalen Bereich liegt, bereiten sie uns keine Probleme. Befindet sich aber zuviel von einem dieser Stoffe im menschlichen Gehirn, kann es zu dramatischen Verhaltensveränderungen kommen. Paranoid schizophrene Menschen weisen zum Beispiel einen stark erhöhten Dopaminspiegel auf, und LSD-Trips entstehen durch einen künstlich herbeigeführten Anstieg desselben Neurotransmitters.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Carson. »Daß die erhöhten Spiegel der beiden Neurotransmitter ein Zeichen dafür sind, daß er verrückt ist?«

»Das wäre möglich«, antwortete Teece. »Aber vielleicht verhält es sich ja auch andersherum, nämlich daß die Spiegel aus irgendeinem anderen Grund anstiegen und er sich deshalb so merkwürdig verhielt. Aber solche Spekulationen machen nicht viel Sinn, solange wir nicht mehr darüber wissen. Lassen Sie uns also auf den eigentlichen Grund meines Besuchs kommen. Sprechen wir über den X-FLU-Stamm, an dem Sie gerade arbeiten. Es würde mich interessieren, wieso er noch tödlicher ist als seine Vorgänger, obwohl es Ihre Absicht gewesen war, ihn ungefährlich zu machen.«

»Meine Güte, wenn ich Ihnen diese Frage nur beantworten könnte...«, sagte Carson und dachte nach. »Wir wissen noch immer nicht, worauf die tödliche Wirkung des Virus eigentlich basiert. Wenn man Gene zwischen zwei Organismen austauscht, kann man nie genau vorhersagen, was passieren wird. Gene stehen in komplizierter Wechselwirkung zueinander, und wenn man nun eines entfernt oder ein anderes hinzufügt, dann ruft das oft sehr unerwartete Effekte hervor. In gewisser Weise ist ein genetischer Code wie ein unglaublich komplexes Computerprogramm, das niemand wirklich versteht. Auch hier kann das Einschleusen falscher Daten oder auch nur die Änderung einer einzigen Zeile des Programmcodes ungeahnte Folgen haben. Das Ganze ist eine Art Vabanquespiel: Es kann sein, daß sich überhaupt nichts verändert oder daß alles nach der Manipulation sehr viel besser läuft. Es kann aber auch sein, daß das ganze Programm abstürzt.« Bei seinen Worten hatte Carson immer stärker das Gefühl, daß er mit dem Inspektor der Gesundheitsbehörde offener sprach, als es Brent Scopes vielleicht lieb sein könnte. Aber andererseits kannte Teece sich in der Gentechnologie aus, so daß es sinnlos war, ihm so grundlegende Risiken zu verschweigen.

»Warum haben Sie eigentlich kein weniger gefährliches Virus als Vektor für das X-FLU-Gen verwendet?« fragte Teece. »Da muß ich ein wenig weiter ausholen. Sie wissen ja sicher, daß es zwei Arten von Zellen gibt: somatische Zellen und Keimzellen. Um eine permanente Immunität gegen Grippe zu erreichen - eine, die auch auf die Nachkommen übertragen werden kann -, müssen wir das Resistenz-Gen in die menschliche Keimbahn bringen. Und nur das X-FLU-Virus ist in der Lage, auch Keimzellen zu infizieren.«

»Aber was ist mit all den moralischen Bedenken, die gegen eine Veränderung des menschlichen Erbguts erhoben werden? Sind die in Mount Dragon schon einmal diskutiert worden?« Carson fragte sich, weshalb dieses Thema immer wieder aufkam. »Passen Sie auf«, sagte er. »Indem wir ein Gen einsetzen, das lediglich ein paar hundert Basenpaare lang ist, nehmen wir ja nur einen ganz winzigen Eingriff ins menschliche Erbgut vor und machen die Menschheit dafür auf alle Zeiten immun gegen Grippe. Darin kann ich beim besten Willen nichts moralisch Verwerfliches erkennen.«

»Aber haben Sie nicht eben selbst gesagt, daß auch die kleinste Änderung am genetischen Code unvorhersehbare Folgen haben kann?«

Carson hielt es auf seinem Stuhl nicht mehr aus und stand auf. »Natürlich!« sagte er ungeduldig. »Aber genau das ist ja der Grand, weshalb wir hier alles so intensiv testen. Damit schließen wir diese unvorhersehbaren Nebeneffekte aus. Die Testreihen, die unsere Gentherapie gegen Grippe durchlaufen muß, werden GeneDyne viele Millionen Dollar kosten.«

»Wird es auch Tests an Menschen geben?«

»Natürlich. Man fängt mit Labortests und Tierversuchen an. Ist dann die Alpha-Testphase erreicht, wird das Medikament an einer kleinen Gruppe von Menschen ausprobiert. Verlaufen diese Tests erfolgreich, geht man mit einer größeren Gruppe von Probanden in die Beta-Phase. Beide Tests sind natürlich als Doppelblindstudien angelegt, die GeneDyne sorgfältig auswertet. Aber das wissen Sie bestimmt ebensogut wie ich.« Teece nickte. »Entschuldigen Sie bitte, wenn ich trotzdem noch einmal nachhake, Dr. Carson. Sollte es bei Ihrem Anti-Grippe-Gen >unerwünschte Nebeneffekte< geben, dann würden diese doch einmal ins Erbgut der Menschheit an sich übergehen, selbst wenn Sie das Gen nur bei einer relativ geringen Anzahl von Menschen in die Keimbahn bringen. Könnte auf diese Weise nicht eine neue Erbkrankheit entstehen? Oder eine Menschenrasse, die sich in irgend etwas von allen anderen unterscheidet? Sie wissen doch, daß es lediglich der Mutation eines einzigen Individuums bedurfte, um das Gen der Bluterkrankheit ins menschliche Erbgut einzuführen. Jetzt gibt es abertausend Bluter auf der ganzen Welt.«

»Wenn Mr. Scopes diese Möglichkeiten nicht berücksichtigt hätte, hätte er wohl kaum eine halbe Milliarde Dollar in dieses Projekt gesteckt«, gab Carson zurück und fragte sich, weshalb er sich plötzlich in die Defensive gedrängt fühlte. »Sie haben es bei GeneDyne schließlich nicht mit irgendeiner Hinterhoffirma zu tun.« Carson ging um den Arbeitstisch herum und baute sich vor dem Inspektor auf. »Meine Aufgabe ist es lediglich, das zum Transport des Gens verwendete Virus ungefährlich zu machen. Und Sie können mir glauben, daß ich damit mehr als ausgelastet bin. Was GeneDyne mit dem Virus macht, wenn es erst einmal unschädlich ist, geht mich nichts weiter an. Und überhaupt wird man bei einer solchen Entwicklung sowieso auf Schritt und Tritt von irgendwelchen Vorschriften der Regierung geknebelt, aber damit sage ich Ihnen bestimmt nichts Neues. Vermutlich haben Sie die Hälfte dieser Regeln sogar selber aufgestellt.« Aus den Lautsprechern in Carsons Helm ertönten auf einmal drei Gongschläge. »Wir müssen jetzt gehen«, sagte er. »Heute abend wird das Labor früher als sonst dekontaminiert.«

»Okay«, entgegnete Teece. »Würde es Ihnen etwas ausmachen vorauszugehen? Ich habe sonst Angst, mich hier unten heillos zu verlaufen.«

Draußen blieb Carson einen Augenblick lang schweigend stehen. Er schloß die Augen, ließ sich den warmen Wüstenwind übers Gesicht streichen und spürte, wie sich die über den Tag angestaute Spannung langsam löste. Als er die Augen wieder öffnete, sah er, daß der vom Sonnenuntergang erleuchtete Himmel eine ungewöhnliche Farbe hatte. Er runzelte die Stirn und wandte sich an Teece.

»Tut mir leid, daß ich vorhin ein wenig brüsk zu Ihnen war«, sagte er. »Die Arbeit im Labor geht mir wirklich an die Nieren, und heute war ein langer Tag.«

»Das kann ich sehr gut verstehen«, sagte der Inspektor und streckte sich. Dann kratzte er an seiner sich häutenden Nase herum und sah hinüber zu den weißen Gebäuden, die von der untergehenden Sonne in dramatische Farben getaucht wurden. »Sobald die Sonne untergegangen ist, ist es hier nicht mehr ganz so unerträglich«, sagte er und sah auf die Uhr. »Ich schätze, wir müssen uns beeilen, wenn wir noch etwas zu essen bekommen wollen.«

»Da haben Sie recht«, sagte Carson, aber sein Ton verriet, wie wenig begeistert er von dein Vorschlag war.

»Sie klingen nicht gerade so, als hätten Sie große Lust, in die Kantine zu gehen. Ehrlich gesagt, mir geht es genauso.«

Carson zuckte mit den Achseln. »Ich habe heute einfach keinen Hunger.«

»Ich auch nicht«, gestand der Inspektor. »Warum gehen wir statt dessen nicht in die Sauna?«

Carson sah ihn ungläubig an. »Wohin wollen Sie?«

»In die Sauna. Treffen wir uns doch dort in fünfzehn Minuten.«

»Sind Sie verrückt? Das letzte, was ich jetzt...«, fing Carson an, aber dann bemerkte er den Gesichtsausdruck des Inspektors.

Seine Aufforderung war mehr ein Befehl als ein Vorschlag gewesen.

»Na schön, dann sehen wir uns in einer Viertelstunde dort«, sagte er und ging ohne ein weiteres Wort auf sein Zimmer.

Die Planer des Labors in Mount Dragon hatten großen Wert darauf gelegt, den dort praktisch in der Wüste eingesperrten Menschen so viele Freizeit- und Entspannungsmöglichkeiten wie möglich zu schaffen. So kam es, daß das in einem langgestreckten, niedrigen Gebäude neben dem Wohnbereich untergebrachte Sport- und Erholungszentrum besser ausgerüstet war als so mancher Fitneßclub in der Großstadt. Hier gab es nicht nur sämtliche Leichtathletikeinrichtungen bis hin zur Vierhundertmeterbahn, sondern auch Squash- und Badmintonplätze, einen Swimmingpool und ein Bodybuildingstudio. Daß die meisten Wissenschaftler in Mount Dragon so sehr in ihrer Arbeit aufgingen, daß sie für sportliche Betätigung meist weder Zeit noch Lust hatten, hatten die Planer allerdings nicht bedacht. So kam es, daß von der gegenwärtigen Besatzung der Anlage lediglich Carson, der abends gerne ein paar Runden lief, und Mike Marr, der stundenlang an den Gewichten trainierte, die Sportanlagen nutzten.

Die im Sommer wohl am wenigsten genutzte Einrichtung des ganzen Erholungszentrums war die Sauna, die sich dafür aber in den kalten Wüstenwintem, die es in Mount Dragon auch gab, um so größerer Beliebtheit erfreute. Sie war ein mit allen Schikanen ausgestattetes, original schwedisches Modell mit Wänden und Bänken aus Zedernholz und stand vollkommen leer. Als sich Carson vom Umkleideraum her der Sauna näherte, erkannte er durch das kleine Fenster in der Tür die bleiche Gestalt von Teece. Er trat ein und spürte, wie ein Schwall heißer Luft ihm entgegenschlug. Der Inspektor hockte in der hintersten Ecke der Sauna direkt neben dem Ofen und hatte sich ein weißes Handtuch um die mageren Hüften geschlungen. Sein blasser Körper bildete einen grotesken Kontrast zu seinem sonnenverbrannten Gesicht. Der Schweiß stand ihm in großen Tropfen auf der Stirn und auf seiner sich schälenden Nase. Carson nahm in gebührender Entfernung Platz und atmete ganz flach in der heißen Luft.

»Okay, Mr. Teece«, sagte er ärgerlich. »Was soll das alles?« Der Inspektor sah ihn mit einem schiefen Lächeln an. »Sie sollten sich mal sehen, Dr. Carson«, keuchte er. »So voll rechtschaffener, männlicher Indigniertheit. Aber es besteht überhaupt kein Grund dafür, sich aufzuregen. Ich habe Sie nämlich aus einem ganz bestimmten Grund hierhergebeten.«

»Und aus welchem, wenn ich fragen darf?« Carson spürte, wie ihm schon jetzt der Schweiß aus allen Poren drang. Teece muß dieses verdammte Ding auf über hundert Grad eingestellt haben, dachte er.

»Ich würde gerne etwas mit Ihnen besprechen«, sagte Teece. »Stört es Sie, wenn ich einen Aufguß mache?« Noch bevor Carson protestieren konnte, nahm der Inspektor die Holzkelle aus dem Wassereimer und goß einen Schöpfer voll über die Schamottesteine auf dem Ofen. Es zischte, und die Luftfeuchtigkeit stieg so stark an, daß Carson der Schweiß aus allen Poren lief.

»Wieso mußte ich denn unbedingt hierherkommen?« krächzte Carson, dem schon der Kopf zu schwirren begann. »Aus einem einfachen Grund, Mr. Carson. Normalerweise ist es mir egal, ob jemand meine Unterhaltungen mithört«, sagte Teece. »Um ehrlich zu sein, manchmal benütze ich diesen Umstand sogar für meine Zwecke, so wie bei unserem Gespräch heute nachmittag in Ihrem Labor. Aber jetzt würde ich gerne unter vier Augen mit Ihnen sprechen.« Langsam dämmerte es Carson, was Teece damit meinte. Man munkelte schon seit längerer Zeit in Mount Dragon, daß samt' liehe über die Anzugsprechanlagen geführten Gespräche mitgeschnitten würden. Offenbar wollte das Teece bei diesem Gespräch vermeiden. Aber warum traf er sich mit ihm dann nicht in der Kantine oder im Wohnbereich? Kaum hatte sich Carson diese Frage gestellt, erinnerte er sich an bestimmte Gerüchte, denen zufolge Nye auch dort überall Wanzen installiert haben sollte. Teece hatte diese Gerüchte offenbar auch gehört und die Sauna aus diesem Grund gewählt. Hier wäre wegen der Hitze und der ständig wechselnden Luftfeuchtigkeit ein Mikrophon nicht lange heil geblieben.

»Hätten wir nicht einfach einen Spaziergang am Zaun entlang machen können?« fragte Carson keuchend. Teece kam herüber und hockte sich direkt neben Carson. »Tut mir leid«, sagte er kopfschüttelnd, »aber ich habe panische Angst vor Skorpionen. Aber nun hören Sie mir bitte einen Augenblick lang zu. Vielleicht fragen Sie sich ja, warum ich ausgerechnet Sie hierhergebeten habe. Dafür gibt es zwei Gründe. Der erste ist, daß ich mir Ihr Verhalten bei dem Zwischenfall mit BrandonSmith ein paarmal auf dem Video angesehen habe und zu dem Schluß gelangt bin, daß Sie von allen Wissenschaftlern, die direkt mit dieser Tragödie zu tun hatten, der einzige waren, der sich in dieser Situation vernünftig verhalten hat. Es kann sein, daß ich in den kommenden Tagen jemanden brauchen werde, der einen kühlen Kopf bewahren kann. Deshalb habe ich auch mit Ihnen als letztem von Ihren Kollegen gesprochen.«

»Haben Sie denn wirklich schon alle anderen befragt?« wollte Carson wissen. Teece war erst wenige Tage da. »Das Labor ist nicht groß, und ich habe eine Menge erfahren. Aber mindestens ebensoviel kann ich nur vermuten, ohne daß ich Beweise dafür habe.« Er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Der zweite und sehr viel wichtigere Grund hat etwas mit Ihrem Vorgänger hier zu tun.«

»Meinen Sie damit Franklin Burt? Was ist mit ihm?«

»In Ihrem Labor habe ich erwähnt, daß Andrew Vanderwagon durchlässige Blutgefäße und erhöhte Dopamin- und Serotoninspiegel hat, erinnern Sie sich? Nicht erzählt habe ich Ihnen, daß Franklin Burt exakt dieselben Symptome zeigt. Ähnliches wenn auch nicht ganz so ausgeprägt wie bei den anderen - hat man bei der Autopsie von Rosalind BrandonSmith gefunden. Können Sie sich vorstellen, warum das so ist?« Carson dachte eine Weile nach. Das ergab doch überhaupt keinen Sinn. Außer...Trotz der Hitze in der Sauna durchlief ihn auf einmal ein eiskalter Schauer.

»Meinen Sie vielleicht, daß sie sich mit etwas infiziert haben? Einem Virus vielleicht?« Großer Gott, dachte er angsterfüllt, doch hoffentlich nicht mit einem Stamm von X-FLU, der eine extrem lange Inkubationszeit hat.

Teece wischte sich die Hände an seinem Handtuch ab und grinste. »Was ist denn auf einmal mit Ihrem blinden Glauben an die Wirksamkeit Ihrer Sicherheitsmaßnahmen? Beruhigen Sie sich, Sie sind nicht der erste, dem dieser Gedanke kommt. Weder Burt noch Vanderwagon haben Antikörper gegen XFLU im Blut, sie können sich also mit dem Virus nicht infiziert haben. Bei BrandonSmith allerdings hat man Antikörper in großer Zahl gefunden. In dieser Hinsicht besteht also kein Zusammenhang zwischen den dreien.«

»Dann kann ich es mir auch nicht erklären«, sagte Carson und atmete hörbar aus. »Das Ganze kommt mir äußerst seltsam vor.«

»Mir auch«, murmelte Teece.

Der Inspektor goß noch eine Kelle Wasser auf die Steine, und Carson wartete darauf, daß er etwas sagte. »Ich nehme an, daß Sie sich gleich nach Ihrer Ankunft mit Dr. Burts Arbeit vertraut gemacht haben«, fuhr Teece schließlich fort.

Carson nickte.

»Dann haben Sie wohl auch seine elektronischen Notizen gelesen?«

»Das habe ich«, bestätigte Carson. »Vermutlich sogar mehrmals.«

»Ich kann sie fast schon auswendig.«

»Und wo, meinen Sie, ist der Rest davon?«

»Wie meinen Sie das?« fragte Carson nach kurzem Schweigen. »Als ich die Notizen durchging, fiel mir etwas auf. Es war wie eine Melodie, in der ein paar Noten fehlen. Also habe ich mir mal die durchschnittliche Länge der einzelnen Einträge angesehen und herausgefunden, daß sie im letzten Monat von Dr. Burts Aufenthalt in Mount Dragon von über zweitausend Wörtern auf ein paar hundert abgenommen hat. Das wiederum hat mich zu der Annahme gebracht, daß Burt, aus welchen Gründen auch immer, nebenher ein privates Notizbuch geführt haben muß. Eines, das Scopes und seine Leute nicht einsehen konnten.«

»Schriftliche Aufzeichnungen sind in Mount Dragon streng verboten«, sagte Carson, obwohl Teece das natürlich längst wußte.

»Ich möchte bezweifeln, daß sich Dr. Burt zu diesem Zeitpunkt noch allzuviel um Verbote scherte. Soweit ich weiß, hat Mr. Scopes die Angewohnheit, nachts den Cyberspace unsicher zu machen und seine Nase in die Daten seiner Mitarbeiter zu stecken. Wer das nicht will, hat gar keine andere Wahl: Er muß sich geheime Aufzeichnungen machen. Ich bin mir sicher, daß Dr. Burt nicht der einzige war. Vermutlich tun das auch andere, geistig vollkommen gesunde Leute bei GeneDyne.« Carson nickte, während er angestrengt nachdachte. »Aber das würde ja bedeuten...«, fing er an. »Ja?« drängte ihn Teece.

»Nun, Burt hat in seinen letzten Eintragungen häufiger einen gewissen >Schlüsselfaktor< erwähnt. Sollte es wirklich ein geheimes Tagebuch geben, dann würde sich darin vielleicht dieser Schlüsselfaktor finden. Möglicherweise ist er genau die Information, die ich brauche, um das Virus unschädlich zu machen.«

»Vielleicht«, sagte Teece. Dann fügte er nach einer kurzen Pause an: »Burt hat hier doch vor X-FLU schon an anderen Projekten gearbeitet, nicht wahr?«

»Ja. Er hat zum Beispiel den GEF-Prozeß erfunden, eine spezielle Filtertechnik, die nur GeneDyne anwendet. Außerdem hat er PurBlood bis zur Serienreife entwickelt.«

»Ach ja, PurBlood«, sagte Teece und schürzte angeekelt die Lippen. »Ein gräßliches Zeug.«

»Wieso?« fragte Carson erstaunt. »Ein solcher Blutersatz kann doch unzähligen Menschen das Leben retten, denken Sie bloß an die Engpässe in der Blutversorgung. Außerdem spart man sich bei einer Transfusion die Bestimmung der Blutgruppe, und nicht zuletzt fällt auch das Infektionsrisiko durch verseuchtes Blut weg...«

»Das mag ja alles sein«, unterbrach ihn Teece. »Trotzdem finde ich den Gedanken, so etwas in meine Adern zu bekommen, nicht gerade angenehm. Soweit ich weiß, wird es von gentechnisch manipulierten Bakterien erzeugt, denen man das Gen für menschliches Hämoglobin eingepflanzt hat. Wenn ich mir vorstelle, wo diese Bakterien sonst zu finden sind, dann...« Teece ließ den Satz unvollendet.

Carson mußte lachen. »Sie haben recht. Diese Streptokokken findet man im Erdreich oder, wenn Sie so wollen, in jedem Stück Dreck. Aber gerade von diesen Bakterien wissen wir hier bei GeneDyne mehr als von jedem anderen Lebewesen. Sie sind die einzigen Organismen außer dem E-Coli-Bakterium, deren Genom von Anfang bis Ende kartiert ist. Damit sind sie die perfekten Organismen für gentechnische Veränderungen. Bloß weil sie im Dreck vorkommen, müssen sie noch lange nicht ekelhaft oder gefährlich sein.«

»Mag sein, daß ich da ein wenig altmodisch bin«, sagte Teece. »Aber ich bin ohnehin vom Thema abgeschweift. Der Arzt, der Burt behandelt, hat mir erzählt, daß er ständig einen offenbar unsinnigen Satz vor sich hermurmelt: >Armer Alpha. < Haben Sie irgendeine Idee, was er damit meinen könnte? Vielleicht den Anfang eines längeren Satzes? Oder ist Alpha vielleicht ein Spitzname?«

Carson dachte kurz nach und schüttelte den Kopf. »Wenn es ein Spitzname ist, dann kenne ich ihn nicht.« Teece runzelte die Stirn. »Und schon wieder stehen wir vor einem Rätsel. Vielleicht würde uns Burts geheimes Tagebuch helfen, auch dieses zu lösen. Ich kann mir sogar vorstellen, wo man danach suchen müßte. Wenn ich wiederkomme, werde ich mich darum kümmern.«

»Wenn Sie wiederkommen?« wiederholte Carson in fragendem Ton.

Teece nickte. »Ich werde morgen nach Radium Springs fahren, um meinen ersten Vorbericht durchzugeben. Hier gibt es außer dem GeneDyne-Firmennetz ja keine Verbindung zur Außenwelt. Außerdem muß ich mich mit meinen Kollegen beratschlagen. Vorher aber wollte ich mit Ihnen sprechen, denn Sie sind derjenige, der hier mit der Arbeit von Dr. Burt am besten vertraut ist. Ich schätze, ich werde Sie in dieser Angelegenheit noch öfter um Ihre Hilfe bitten müssen. Irgendwie scheint mir Burt der Schlüssel zu dem Ganzen zu sein. Wir müssen bald eine Entscheidung fällen.«

»Was für eine Entscheidung denn?«

»Ob wir GeneDyne erlauben sollen, dieses Projekt fortzusetzen, oder nicht.«

Carson sagte nichts. Irgendwie konnte er sich nicht vorstellen, daß Scopes tatenlos zusehen würde, wie die Regierung die Entwicklung von X-FLU stoppte. Teece stand auf und wickelte sich das Handtuch enger um seine Hüften. »Ich würde Ihnen davon abraten«, sagte Carson. »Wovon?«

»Von einer Fahrt nach Radium Springs. Da draußen braut sich ein Sandsturm zusammen.«

»Aber davon hat der Wetterbericht gar nichts gesagt«, meinte Teece mit gerunzelter Stirn.

»Es gibt keinen Wetterbericht für die Jornada-del-Muerto-Wüste, Mr. Teece. Ist Ihnen denn nicht der merkwürdige orange Farbstich am südlichen Himmel aufgefallen, als wir vorhin aus dem Fiebertank kamen? Ich kenne diesen Farbstich. Er verheißt nichts Gutes.«

»Dr. Singer leiht mir einen von Ihren Geländewagen. Die Dinger sind so robust wie ein Lastzug.«

Zum erstenmal, seit er Teece kannte, glaubte Carson eine Spur Unsicherheit im Gesicht des Inspektors erkennen zu können. »Ich werde Sie nicht aufhalten«, sagte er mit einem Achselzucken. »Aber wenn ich Sie wäre, dann würde ich erst nach dem Sandsturm fahren.«

Teece schüttelte den Kopf. »Das, was ich tun muß, verträgt keinen Aufschub.«

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Die Sturmfront hatte sich über dem Golf von Mexiko zusammengebraut und war dann nach Nordwesten gezogen, wo sie im Staat Tarnaulipas auf die mexikanische Küste traf. Hier mußten die Wolken die Sierra Madre Oriental übersteigen, wo sie sich zunächst einmal kräftig abregneten. Bis die Sturmfront über der Chihuahua-Wüste eintraf, war sämtliche Feuchtigkeit aus ihr verschwunden. Vollkommen ausgetrocknet zog sie durch Nordmexiko, bis sie um sechs Uhr früh von Süden kommend die Jornada-del-Muerto-Wüste erreichte.

Die Sturmfront war so knochentrocken, daß weder Wolken noch Regen von ihrer Ankunft kündeten. Von dem einstigen Gewittersturm über dem Golf von Mexiko war einzig und allein der Wind übriggeblieben, der aus dem enormen Energiepotential zwischen der vierzig Grad heißen Wüstenluft und der gut zwanzig Grad kühleren Sturmfront resultierte. Mit der Geschwindigkeit eines Schnellzugs brach der Sturm, der bei seinem Eintritt in die Jornada eine anderthalb Kilometer hohe, orangefarbene Staubwand bildete, über die Wüste herein. Mit sich führte er zerfetzte Steppenpflanzen, Tonstaub, Sand und feine Salzkristalle aus den weiter südlich gelegenen Playas, und in einer Höhe von bis zu zwei Metern über dem Erdboden blies er sogar ganze Zweige, vertrocknete Kakteen und scharfkantige Kieselsteine vor sich her.

Ein solcher Wüstensturm, der glücklicherweise nur alle paar Jahre einmal auftritt, kann in Minutenschnelle die Scheiben eines Autos bis zur Undurchsichtigkeit verkratzen. Er schmirgelt lackierte Flächen blank, reißt Wohnwagen die Dächer ab und drückt ausgewachsene Pferde in Stacheldrahtzäune. Um sieben Uhr früh, als der Sturm die Mitte der Jornada-Wüste erreichte, war Gilbert Teece, der kleine Inspektor mit der dicken Aktentasche, in einem Geländewagen bereits seit fünfzig Minuten in Richtung Radium Springs unterwegs.

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Scopes saß an seinem Piano und schien tief in Gedanken versunken zu sein. Seine Finger ruhten bewegungslos auf den Tasten aus Elfenbein und schwarzem Rosenholz. Neben ihm, auf dem handgeschnitzten Notenhalter, lag eine zerfetzte und zerknitterte Boulevardzeitung, die aussah, als hätte sie jemand in einem Anfall von Wut zusammengeknüllt und dann wieder glattgestrichen. Die Schlagzeile des Blattes lautete: »Grausiger Unfall: Harvard-Professor beschuldigt Gen-Firma.« Nach längerem Nachdenken stand Scopes plötzlich auf, ging in den Lichtkreis in der Mitte des Raumes und ließ sich auf sein Sofa fallen. Dort nahm er die Tastatur auf den Schoß und tippte eine rasche Folge von Befehlen. Kurz darauf wurde der riesige Videoschirm an der Wand vor ihm hell. Nachdem ein paar Zeilen Computercode darübergehuscht waren, war darauf das Gesicht eines Mannes zu sehen. Er hatte einen fleischigen, von einem mindestens zwei Nummern zu kleinen Hemdkragen eingezwängten Hals und entblößte die Zähne wie jemand, der es nicht gewohnt ist zu lächeln. »Guten Tag«, sagte Scopes auf deutsch.

»Möchten Sie lieber Englisch sprechen, Mr. Scopes?« fragte der Mann und blickte devot in die Kamera.

»Nein«, sagte Scopes und fuhr in schlechtem Deutsch fort: »Ich will praktizieren mehr meine Deutsch. Bitte sprechen Sie langsam und klar. Und sagen Sie alles zweimal.«

»Wie Sie wollen«, sagte der Mann. »Zweimal, bitte!«

»Wie Sie wollen. Wie Sie wollen.«

»Gut, Herr Saltzmann. Unser Freund hat mir gesagt, daß Sie haben Zugriff auf alte Nazi-Akten in Leipzig.«

»Das ist richtig. Das ist richtig.«

»Und da sind auch die Akten aus dem Ghetto von Lodz, nicht wahr?«

»Ja. Ja.«

»Sehr gut. Ich brauche etwas aus diese - wie sagt man auf deutsch? Aus diese Archiv. Dafür sind Sie spezialisiert, nicht wahr? Ich zahle sehr gut, Herr Saltzmann. Einhunderttausend Deutschmarks.«

Jetzt kam das Grinsen des Mannes von Herzen. Scopes schilderte dem Mann in gebrochenem Deutsch, was er von ihm wollte. Während sein Gesprächspartner ihm aufmerksam zuhörte, verflüchtigte sich das Grinsen immer mehr aus seinem Gesicht.

Etwas später, als der Schirm wieder dunkel war, gab das Telefon auf dem Couchtisch einen leisen, kaum hörbaren Ton von sich.

Scopes, der noch immer mit der Tastatur auf dem Schoß dasaß, beugte sich vor und drückte auf einen Knopf. »Ja?«

»Ihr Mittagessen ist fertig, Sir.«

»Wunderbar.«

Kurz darauf trat Spencer Fairley ein -in Pantoffeln, was einen fast schon lächerlichen Kontrast zu seinem korrekten, grauen Anzug bildete. Lautlos kam er an den Tisch und stellte eine Schachtel mit Pizza und eine Dose Coca-Cola auf einen der Couchtische.

»Benötigen Sie sonst noch etwas, Sir?« fragte Fairley. »Haben Sie heute früh den Herold gelesen?« Fairley schüttelte den Kopf. »Nein, Sir, ich bin eingefleischter Globe-Leser.«

»Natürlich«, sagte Scopes. »Aber ab und zu sollten Sie vielleicht doch einmal auch einen Blick in den Herold werfen. Er ist soviel flotter gemacht als der Globe.«

»Das mag sein, Sir.«

»Sehen Sie sich doch einmal das Exemplar dort drüben an«, sagte Scopes und deutete auf das Piano.

Fairley ging hinüber und holte die verknitterte Zeitung. »Was für ein widerwärtiger Artikel«, sagte er, nachdem er die Seite überflogen hatte. Scopes grinste. »Nein, das finde ich überhaupt nicht. Es ist einfach grandios. Dieser verrückte Hurensohn Levine hat sich damit selbst das Messer an die Kehle gesetzt. Ich muß nur noch seinem Arm einen winzigen Stoß geben.« Scopes zog einen klein zusammengefalteten Computerausdruck aus der Brusttasche seines Hemds. »Hier ist meine Wohltätigkeitsliste für diesen Monat. Sie hat diesmal nur einen Eintrag: Spenden Sie eine Million Dollar dem Holocaust Memorial Fund.«

Fairley blickte verwundert auf. »Aber das ist doch Levines Organisation.«

»Natürlich ist sie das. Und diesmal möchte ich, daß Sie die Spende unter meinem Namen machen, aber auf eine dezente und unauffällige Art.«

»Darf ich fragen, weshalb, Sir?« Fairley hob eine Augenbraue. »Weshalb?« wiederholte Scopes langsam. »Weil es sich hier um eine Organisation handelt, die unsere Unterstützung verdient hat. Außerdem wird sie demnächst wohl einen ihrer rührigsten Spendenbeschaffer verlieren, aber das, Fairley, bleibt bitte unter uns.«

Fairley nickte.

»Wenn Sie mal länger darüber nachdenken, werden auch Sie zu dem Schluß kommen, daß es aus strategischen Gründen angeraten erscheint, Levines liebste Wohlfahrtsvereinigung aus der viel zu starken Abhängigkeit von ihm zu befreien.«

»Ja, Sir.«

»Ach, noch was, Fairley. Sehen Sie mal her, mein Jackett hat ein Loch im Ellenbogen. Hätten Sie nicht Lust, mir ein neues zu kaufen?«

Ein Anflug tiefen Widerwillens zeigte sich für einen Augenblick auf Fairleys Gesicht. »Nein, Sir, vielen Dank«, sagte er mit fester Stimme.

Scopes wartete, bis Fairley die Tür hinter sich geschlossen hatte, dann legte er die Tastatur beiseite und nahm sich ein Stück Pizza aus der Pappschachtel. Es war fast kalt, genau so, wie er es am liebsten mochte. Als er davon abbiß, schloß er verzückt die Augen.

»Auf Wiedersehen, Charles«, murmelte er auf deutsch.

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Als Carson um fünf Uhr nachmittags wieder an die Erdoberfläche kam, blieb er erstaunt stehen. Der Sandsturm hatte alles um ihn herum mit orangefarbenem Staub überzogen, aus dem die Gebäude von Mount Dragon hervorragten wie Gebilde aus einer anderen Welt. Ringsum war es totenstill. Carson sog vorsichtig die Luft ein. Sie war trocken und seltsam kühl und roch ein wenig wie Ziegelmehl. Als er einen Schritt nach vorn trat, versanken seine Stiefel drei Zentimeter tief in der Schicht aus Sand und Staub.

Am Morgen war er schon vor Sonnenaufgang in den Fiebertank gegangen, um endlich die Analyse des X-FLU-II-Virus zu Ende zu bringen. Bei der konzentrierten Arbeit hatte er fast vergessen, daß über der unterirdischen Stille des Fiebertanks ein schlimmer Sandsturm getobt hatte. Als de Vaca eine Stunde nach ihm ins Labor gekommen war, hatte sie ihm erzählt, daß sie es gerade noch vom Wohnbereich hinüber zum Fiebertank geschafft hätte.

Sieht aus wie auf der Oberfläche des Mondes, dachte Carson. Oder wie nach dem Weltuntergang. In seiner Jugend auf der Ranch hatte er viele Sandstürme miterlebt, aber keiner war so heftig gewesen wie dieser. Es war ein unheimliches monochromes Bild, das sich Carsons Blicken bot. Die weißen Gebäude ringsum hatten überall, sogar auf den Fensterscheiben, einen Überzug aus rötlichem Staub, und hinter jedem Pfosten, jeder Erhebung hatten sich lange, schmale Sandhaufen gebildet. Als er hinüber zum Wohnbereich sah, konnte er in der immer noch staubigen Luft keine zwanzig Meter weit blicken. Nach kurzem Nachdenken ging er zum Pferdestall, um zu sehen, wie es Roscoe ergangen war. Manchmal drehten die Tiere bei einem Sturm in ihren Boxen durch und schlugen so wild um sich, daß sie sich dabei ein Bein brachen.

Die Pferde waren zwar mit einer Staubschicht bedeckt, ansonsten aber ging es ihnen gut. Roscoe wieherte zur Begrüßung, und Carson streichelte ihm den Hals und wünschte, er hätte eine Karotte oder ein Stück Zucker dabei. Nachdem er das Tier genau untersucht hatte, trat er erleichtert einen Schritt zurück. Dann drang von der Koppel her ein gedämpftes Geräusch an sein Ohr. Er sah hinaus, konnte aber durch die staubgeschwängerte Luft nicht viel mehr als einen großen, dunklen Schatten sehen, der sich langsam näherte. Mein Gott, dachte Carson, da draußen bewegt sich etwas. Er hörte, wie das Tor aufging, und sah, wie der Schatten herein ins Laborgelände kam. Dann schälte sich die Gestalt eines Pferdes mit Reiter aus der staubigen Luft. Der Kopf des Reiters hing erschöpft zwischen den Schultern nach unten, und auch das Pferd schleppte sich auf zitternden Beinen dahin, als könne es jeden Augenblick zusammenbrechen. Der Reiter war Nye.

Carson trat von der Tür des Stalls einen Schritt zurück ins Halbdunkel und versteckte sich in einer leeren Box. Er hatte keine Lust auf eine weitere unangenehme Begegnung mit dem Sicherheitschef.

Carson hörte, wie die Stalltür geschlossen wurde, dann näherten sich auf dem mit Sägemehl bestreuten Boden langsame Schritte. Carson duckte sich und spähte durch ein Astloch in der Wand der Box.

Der Sicherheitschef war von oben bis unten mit dunkelgrauem Staub bedeckt. Nur seine schwarzen Augen und die aufgesprungenen Lippen sahen aus diesem dichten Überzug heraus. Nye, der sein Pferd am Zügel führte, blieb am Sattelplatz stehen und nahm dem Tier langsam Gewehrscheide und Satteltaschen ab. Dann machte er den Sattel los, nahm ihn dem Pferd vom Rücken und setzte ihn auf einen Ständer. Bei jeder Bewegung stiegen kleine, graue Staubwolken auf.

Als Nye das Pferd zu seiner Box führte, verschwand er aus Carsons Blickfeld. Dann konnte Carson hören, wie er das Pferd striegelte und dabei beruhigend auf es einsprach. Er hörte, wie ein Heuballen aufgerissen, knisternd trockenes Heu in die Futterkrippe gelegt und Wasser in einen Eimer gefüllt wurde. Kurz darauf kam Nye wieder in Carsons Blickfeld. Er hatte Muertos Satteltaschen in der Hand und legte sie auf eine große Kiste, in der das Ersatzzaumzeug aufbewahrt wurde. Carson sah zu, wie Nye aus einer der Satteltaschen etwas hervorholte, das aussah wie ein ziemlich mitgenommenes Stück Papier. Nye faltete den in Mount Dragon strengstens verbotenen Gegenstand auseinander und schüttelte ihn, damit der Staub von ihm abfiel. Carson drückte sein Auge ganz nahe an das Astloch und schaute sich das Papier in Nyes Händen genau an. Es schien alt und verblichen und war mit handgeschriebenen Worten und merkwürdigen Zeichen bedeckt.

Auf einmal sah Nye sich aufmerksam um, als habe er eben ein Geräusch gehört. Carson blieb mucksmäuschenstill in seiner dunklen Box hocken, bis er das Klicken eines Schlosses hörte, gefolgt von einem schleifenden Geräusch und schweren Schritten, die sich in Richtung Ausgang entfernten. Als er wieder aus seinem Versteck herausspähte, sah er, wie Nye den Stall verließ. Carson wartete noch eine Weile, dann stand er auf, warf einen Blick auf die Kiste mit dem Zaumzeug, die jetzt wieder in der Ecke stand, und ging hinüber zur Box von Nyes Pferd. Muerto, dem braun gefärbter Speichel aus dem Maul lief, stand schwer atmend da. Carson griff nach unten und überprüfte die Sehnen der Vorderbeine. Sie waren warm, aber nicht heiß und deshalb offenbar auch nicht entzündet. Die Hufkronen waren in einem guten Zustand und die Augen des Tieres klar. Trotzdem war offensichtlich, daß Nye, was auch immer er getan haben mochte, sein Pferd bis ans Ende seiner Leistungsfähigkeit beansprucht hatte. Muerto sah so aus, als sei er in den vergangenen zwölf Stunden an die hundertfünfzig Kilometer weit gelaufen, aber er hatte offenbar keinen bleibenden Schaden davongetragen. Er war immer noch gesund und würde in ein, zwei Tagen wieder vollkommen in Ordnung sein. Nye hatte gewußt, was er ihm zumuten konnte. Schließlich war Muerto ein phantastisches Pferd. Zwei Brandzeichen an Hals und Kiefer zeigten, daß er bei der American Paint Horse Association ebenso wie bei der American Quarterhorse Association registriert war. Carson klopfte ihm anerkennend auf die Flanke.

»Du bist mir vielleicht ein toller Kerl«, sagte er bewundernd. Carson verließ die Box und ging zur Stalltür, wo er hinaus in die Staubwolken blickte, die immer noch wie Rauchschwaden in der Luft hingen. Nye war nirgends zu entdecken. Carson schloß leise die Tür und ging rasch aufsein Zimmer. Er fragte sich, wofür Nye da draußen im Sandsturm sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte und weshalb er seinen Job riskierte, indem er hier in Mount Dragon irgendein altes Stück Papier versteckte.

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Mit dem abgeschabten Banjokasten in der Hand ging Carson durch die Kantine hinaus auf die Terrasse. Es war eine dunkle Nacht, in der sich der Mond hinter Wolken versteckte, aber Carson wußte, daß es sich bei der Gestalt, die da bewegungslos auf einem Stuhl saß, nur um Singer handeln konnte. Seit ihrer ersten Unterhaltung auf der Terrasse hatte Carson am Abend häufig Singer mit seiner alten Gitarre hier draußen sitzen sehen. Jedesmal hatte er ihm lächelnd zugewinkt oder ihm ein paar freundliche Worte zugerufen. Seit dem Tod von Brandon Smith allerdings war der Direktor immer stiller und zurückgezogener geworden. Die Ankunft von Teece und Vanderwagons plötzlicher Anfall in der Kantine hatten Singers trübe Stimmung noch verstärkt, so daß er jetzt, wenn er am Abend auf der Terrasse saß, die Gitarre meist unbenutzt neben seinem Stuhl stehen ließ und Carson höchstens einmal stumm zunickte. Während seiner ersten paar Wochen in Mount Dragon hatte Carson sich oft neben den Direktor gesetzt und mit ihm ein wenig geplaudert. Mit der Zeit war der Erfolgsdruck, der auf Carson lastete, so stark geworden, daß er seine Abende meist mit Online-Recherchen am Computer oder dem Ausarbeiten von Arbeitsberichten in seinem Zimmer zugebracht hatte. An diesem Abend aber nahm er sich bewußt Zeit für Singer, denn er mochte ihn und konnte es nicht mit ansehen, wie er vor sich hinbrütete und sich womöglich für die jüngsten Zwischenfälle und Rückschläge verantwortlich machte. Vielleicht konnte Carson ihn ja für eine Weile aus seiner traurigen Stimmung herausholen. Außerdem quälten ihn seit der Unterhaltung mit Teece nagende Zweifel an seiner Arbeit. Wer anders als Singer mit seinem unerschütterlichen Glauben an die Reinheit der Wissenschaft wäre besser dazu geeignet gewesen, sie zu zerstreuen?

Der Mond schaute hinter den Wolken hervor und tauchte die Terrasse in sein bleiches Licht. »Wer ist da?« fragte Singer scharf. Als er Carson erblickte, sagte er sichtlich entspannt: »Hallo, Guy.«

»Guten Abend«, erwiderte Carson und nahm neben dem Direktor Platz. Obwohl man die Terrasse vom Sand befreit hatte, stieg immer noch eine kleine Staubwolke auf, als er sich setzte. »Eine schöne Nacht«, meinte Carson, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte.

»Haben Sie den Sonnenuntergang mitbekommen?« fragte Singer leise. »Herrlich.« Als habe sie nach dem Sandsturm wieder etwas gutzumachen, hatte die Wüste für einen so farbenprächtigen Sonnenuntergang wie schon lange nicht mehr gesorgt. Ohne ein weiteres Wort beugte sich Carson über den Banjokasten und nahm sein Instrument heraus. Als Singer das sah, glomm in seinen müden Augen ein Funken von Interesse auf. »Ist das ein Gibson RB-drei?« fragte er.

Carson nickte. »Und zwar eines mit einem vierziglöchrigen Tonring. Dürfte etwa Baujahr 1932 sein.«

»Es ist wunderschön«, sagte Singer und betrachtete das Instrument im Mondlicht.» Du meine Güte, das ist ja noch mit echtem Kalbsleder bespannt.«

»Richtig«, sagte Carson und trommelte mit zwei Fingern auf dem Fell herum. »Aber das ist hier im trockenen Wüstenklima ein echter Nachteil, weil ich es ständig nachspannen muß. Wenn das so weitergeht, werde ich mir wohl doch eines aus Plastik kaufen. Da, sehen Sie es sich ruhig an.« Er gab Singer das Banjo.

Der Direktor begutachtete das Instrument von allen Seiten. »Hals und Klangkörper sind aus Mahagoni«, sagte er anerkennend, »und es hat sogar noch den original Presto-Saitenhalter. Der Flansch ist aus einer Bleikupferlegierung, habe ich recht?«

»Ja, deshalb verzieht er sich auch so leicht.«

»Ein echtes Museumsstück«, sagte Singer, als er Carson das Banjo zurückgab. »Wo haben Sie es her?«

»Von einem Cowboy, der auf der Ranch meines Großvaters gearbeitet hat. Er mußte eines Tages ganz schnell verschwinden und ließ dabei das Banjo zurück. Es lag jahrzehntelang auf einem Regal und setzte Staub an, bis ich aufs College ging und mir den Bluegrass-Bazillus einfing.«

Während die beiden miteinander sprachen, ließ Singers Anspannung merklich nach. »Lassen Sie doch mal hören, wie das gute Stück klingt«, sagte er und nahm seine alte Martin-Gitarre zur Hand. Er schlug nachdenklich einen Akkord an, stimmte ein paar Saiten und fing dann an, das Stück Sah Creek zu spielen.

Carson hörte zu, nickte im Takt mit und begann schließlich, Singer auf dem Banjo zu begleiten. Er hatte seit Monaten nicht mehr gespielt, und seine Chops waren nicht mehr so gut wie damals in Harvard. Langsam aber lösten sich seine Finger so weit, daß er ein paar Rolls versuchen konnte. Nun spielte Singer auf einmal die Begleitung, und Carson fand sich in der Rolle des Solisten. Er lächelte erleichtert, als seine Pulloffs noch so präzise klangen wie früher und ihm auch das Melodiespiel recht sauber von der Hand ging.

Als sie mit dem Stück fertig waren, stimmte Singer Clinch Mountain Backstep an. Carson begleitete ihn und bewunderte des Direktors Virtuosität. Singer ging völlig in der Musik auf und spielte wie ein Mann, dem soeben eine Zentnerlast von der Seele genommen worden war.

Zusammen spielten sie noch Rocky Top, Mountain Dew und Litte Maggie, und Carson wurde zunehmend sicherer. Schließlich erlaubte er sich sogar noch ein weiteres, fulminantes Solo, das ihm ein anerkennendes Nicken von seiten des Direktors einbrachte. Nachdem Singer selbst noch ein Solo zum besten gegeben hatte, beendeten die beiden ihr Spiel mit einem prachtvollen G-Akkord. Als dieser verklungen war, glaubte Carson leisen Applaus aus der Richtung des Wohnbereichs zu hören. »Danke, Guy«, sagte Singer, während er die Gitarre wegstellte und sich zufrieden die Hände rieb. »Wir hätten schon längst mal miteinander so eine Session machen sollen. Sie sind ein exzellenter Musiker.«

»Aber lange nicht so gut wie Sie«, sagte Carson. »Trotzdem danke für das Kompliment.«

Eine Weile starrten die beiden Männer wortlos hinaus in die Nacht. Dann stand Singer auf und ging in die Kantine, um sich einen Drink zu holen. Während Carson auf ihn wartete, ging ein schlampig gekleideter Mann an der Terrasse vorbei, der irgend etwas an den Fingern abzählte und laut in einer Sprache vor sich hinmurmelte, die Carson für Russisch hielt. Das muß Pawel sein, dachte Carson, der Bursche, von dem de Vaca mir erzählt hat. Noch immer murmelnd, verschwand der Mann um die Ecke. Kurz darauf kam Singer zurück, und Carson erkannte schon an seinen schweren Schritten, daß ihn die bedrückenden Gedanken, die ihn vorhin beim Musikmachen eine Zeitlang verlassen hatten, wieder in Beschlag genommen hatten. »Wie geht es Ihnen eigentlich mit Ihrer Arbeit, Guy?« fragte er, während er sich wieder setzte. »Wir haben ja schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr miteinander gesprochen.«

»Ich schätze, Sie hatten mit Mr. Teece beide Hände voll zu tun«, sagte Carson. Der Mond war jetzt wieder hinter dichten Wolken verschwunden, so daß Carson mehr erahnen als sehen konnte, wie der Direktor bei der Nennung dieses Namens zusammenzuckte.

»Der geht mir vielleicht auf die Nerven«, sagte Singer und nahm einen Schluck von seinem Drink, während Carson geduldig darauf wartete, daß er weitersprach. »Ich kann nicht gerade sagen, daß ich große Stücke auf ihn halte. Er ist einer von diesen Besserwissern, die einen an ihrem Wissen nicht teilhaben lassen wollen. Die meisten Informationen scheint er dadurch zu bekommen, daß er die Leute gegeneinander ausspielt. Wissen Sie, was ich meine?«

Carson wählte seine Worte mit Sorgfalt, als er antwortete. »Dazu habe ich nicht lange genug mit ihm gesprochen, aber er schien unsere Arbeit hier nicht allzu positiv zu beurteilen.« Singer seufzte. »Man kann nicht von allen Leuten erwarten, daß sie verstehen, geschweige denn gutheißen, was wir hier zu erreichen versuchen, Guy. Das gilt natürlich in besonderem Maße für Bürokraten und Aufpasser wie Teece. Ich kenne solche Leute zur Genüge. Viele von ihnen sind gescheiterte Wissenschaftler, die anderen den Erfolg neiden, der ihnen verwehrt geblieben ist.« Er nahm einen Schluck und fuhr fort: »Na ja, früher oder später wird er wohl mit seinem Bericht über uns herausrücken müssen.«

»Ich denke eher früher«, entgegnete Carson und bereute augenblicklich, daß er das gesagt hatte. Er spürte, wie Singer ihn aus der Dunkelheit heraus anstarrte.

»Das glaube ich auch«, sagte Singer. »Sonst hätte er es nicht so eilig gehabt, von hier nach Radium Springs zu kommen. Er bestand darauf, daß ich ihm einen Geländewagen lieh. Sie scheinen mir der letzte zu sein, mit dem er vor seiner Abfahrt gesprochen hat.«

»Er sagte, er habe sich denjenigen, der am meisten mit dem X-FLU-Virus zu tun hat, bis zum Schluß aufgespart.«

»Hmmm«, brummte Singer und trank sein Glas leer. Er stellte es auf den Boden und sah wieder hinüber zu Carson. »Nun, dann wird er in Radium Springs ja vermutlich die Geschichte mit Levine erfahren. Das wird es für uns auch nicht einfacher machen. Wenn er wiederkommt, hat er jede Menge neuer Fragen, die er uns stellen kann, darauf wette ich jeden Betrag.«

Carson spürte, wie es ihm eiskalt den Rücken hinunterlief. »Was für eine Geschichte mit Levine?« fragte er so beiläufig wie möglich.

Singer blickte ihn immer noch an. »Wundert mich, daß Sie noch nichts davon gehört haben, das Gerücht geht doch schon länger in der Kantine um. Charles Levine, der Vorsitzende der Stiftung für Verantwortungsbewußte Gentechnologie, hat vor ein paar Tagen in einer überregional ausgestrahlten Talkshow einige ziemlich geschäftsschädigende Dinge über uns verbreitet. Daraufhin ist der Kurs der GeneDyne-Aktie stark gefallen.«

»Tatsächlich?«

»Heute allein waren es fünfeinhalb Punkte. Bis jetzt hat die Firma dadurch einen Verlust von einer halben Milliarde Dollar hinnehmen müssen. Ich brauche Ihnen ja wohl nicht zu sagen, was das für unsere Belegschaftsaktien bedeutet.« Carson fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. Die wenigen GeneDyne-Aktien, die er besaß, waren ihm zwar ziemlich egal, aber etwas anderes machte ihm große Sorgen. »Was hat dieser Levine denn gesagt?«