TEIL EINS
Als Guy Carson schon wieder an einer roten Ampel anhalten mußte, warf er einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett seines Wagens. Er würde nun schon zum zweiten Mal in dieser Woche zu spät zur Arbeit kommen. Die Schnellstraße durch Edison, New Jersey, machte wieder einmal ihrem Namen überhaupt keine Ehre. Die Ampel wurde grün, aber als Carson sich ein paar Wagenlängen weiter vorgeschoben hatte, war sie schon wieder rot. Es war ein Alptraum. »Verdammtes Mistding«, murmelte Carson und schlug mit der Faust aufs Armaturenbrett. Die Scheibenwischer schlappten über die Windschutzscheibe, auf die Dauerregen prasselte. Als die Ampel wieder grün wurde, schaffte Carson es sogar bis über die Kreuzung, nur um gleich darauf wieder am Ende einer langen Reihe von nacheinander aufleuchtenden Bremslichtern zum Stehen zu kommen. An diese ständigen Staus würde Carson sich ebensowenig gewöhnen wie an den verdammten Regen, das wußte er genau.
Nachdem er sich quälend langsam eine Anhöhe hinaufgearbeitet hatte, konnte Carson in fünfhundert Metern Entfernung hinter grünen Rasenflächen und künstlichen Teichen die blendendweiße Fassade des GeneDyne-Gebäudes in Edison sehen. Irgendwo in diesem postmodernen Meisterwerk lag Fred Peck auf der Lauer und wartete auf ihn.
Carson schaltete das Radio ein, und der pulsierende Sound der Gangsta Muthas erfüllte das Innere des Wagens. Carson drehte weiter, aber als aus dem Lautsprecher die schrille Stimme von Michael Jackson drang, drückte er angewidert auf den Ausschaltknopf. Daß es in diesem verdammten Drecksloch hier keinen einzigen anständigen Countrysender gab, war fast noch deprimierender als der Gedanke an Fred Peck.
Als Carson das Labor betrat, waren seine Kollegen alle schon längst bei der Arbeit, aber wenigstens war von Peck weit und breit nichts zu sehen. Carson schlüpfte hastig in seinen Laborkittel und nahm vor seinem Computerterminal Platz. Er wußte, daß die Einschaltzeit automatisch im Firmennetz gespeichert wurde. Selbst wenn Peck also heute krank sein sollte, würde er Carsons Zuspätkommen irgendwann einmal bemerken. Es sei denn, er wäre tot. Dieser Gedanke gab Carson wieder ein wenig Auftrieb. Peck sah sowieso ständig so aus, als stünde er kurz vor einem Herzinfarkt.
»Na, Mr. Carson, auch schon da?« hörte er auf einmal eine spöttische Stimme von hinten sagen, und seine Hoffnung schwand dahin. »Wie freundlich von Ihnen, uns heute morgen schon so zeitig mit Ihrer werten Anwesenheit zu beehren.« Carson schloß die Augen, atmete tief durch und drehte sich um.
Die Neonröhren an der Decke verliehen der plumpen Gestalt seines Vorgesetzten eine Art Heiligenschein. An dem Fleck auf Pecks brauner Krawatte konnte Carson erkennen, daß es bei ihm heute Rührei zum Frühstück gegeben hatte, und seine feisten Wangen waren vom Rasieren stark gerötet. Carson atmete durch die Nase aus und versuchte vergeblich, den herben Schwaden von Pecks billigem Aftershave zu entgehen. Schon an seinem ersten Arbeitstag hatte sich Carson darüber gewundert, bei GeneDyne - immerhin einer der führenden Biotechnik-Firmen der Welt -einen Mann wie Fred Peck vorzufinden. In den achtzehn Monaten, die inzwischen vergangen waren, hatte Peck Carson immer nur für die einfachsten und lästigsten Arbeiten im Labor eingeteilt. Offenbar ärgerte es Peck, der nur ein bescheidenes Diplom von der Syracuse University vorzuweisen hatte, daß Carson seinen Doktor am renommierten Massachusetts Institute of Technology gemacht hatte. Oder vielleicht hatte er auch bloß etwas gegen Farmersöhne aus dem Südwesten der Vereinigten Staaten.
»Tut mir leid«, sagte Carson und hoffte, daß er dabei ein aufrichtig zerknirschtes Gesicht machte. »Ich habe leider im Stau gesteckt.«
»So, so, im Stau«, wiederholte Peck, als ob er das Wort noch nie gehört habe.
»Ja«, sagte Carson, »da war eine Umleitung...«
»Eine Umleitung«, äffte Peck Carsons Dialekt nach.
»Die Schnellstraße war praktisch dicht, und ich...«
»Sieh mal einer an, die Schnellstraße«, höhnte Peck.
Carson sagte nichts mehr.
Peck räusperte sich. »War bestimmt ein furchtbarer Schock für Sie, daß Sie mitten im dichtesten Berufsverkehr in einen Stau gekommen sind, Sie Ärmster.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Um ein Haar hätten Sie auch noch Ihre Sitzung verpaßt.«
»Was für eine Sitzung?« fragte Carson. »Davon weiß ich ja gar nichts...«
»Wie sollten Sie auch? Ich habe es ja selbst erst vor ein paar Minuten erfahren. Auch das ist übrigens ein Grund, weshalb man pünktlich zur Arbeit erscheinen sollte, Carson.«
»Ja, Mr. Peck«, sagte Carson. Er stand auf und folgte seinem Vorgesetzten durch ein Labyrinth aus kleinen Arbeitsnischen, die alle einander glichen wie ein Ei dem anderen. Peck, Speck, Dreck, murmelte Carson unhörbar vor sich hin. Wie gerne hätte er dem schleimigen Kerl einmal ordentlich die Fresse poliert. Aber so ging man hier nicht miteinander um. Wenn Peck der Vorarbeiter auf einer Ranch gewesen wäre, dann wäre er längst schon einmal mit dem Hintern im Dreck gelandet. Peck öffnete eine Tür, auf der VIDEOKONFERENZRAUM II stand, und winkte Carson hinein. Erst als Carson den großen, leeren Tisch sah, fiel ihm ein, daß er immer noch seinen fleckigen Laborkittel trug.
»Setzen Sie sich«, sagte Peck.
»Wo sind denn die anderen?« fragte Carson.
»Es gibt keine anderen. Es ist eine Konferenz für Sie allein«, antwortete Peck und ging zur Tür.
»Und Sie? Bleiben Sie denn nicht hier?« Carson hatte auf einmal ein ungutes Gefühl. Er fragte sich, ob er nicht eine wichtige E-Mail übersehen hatte, die ihn auf diese Sitzung hätte vorbereiten sollen. »Worum geht's denn hier überhaupt?«
»Ich habe keine Ahnung«, entgegnete Peck. »Aber nach der Konferenz kommen Sie unverzüglich in mein Büro, Carson. Wir müssen uns dringend über Ihre Arbeitsmoral unterhalten.« Nachdem sich die schwere Eichentür mit einem satten Klicken geschlossen hatte, setzte sich Carson zögernd auf einen der Stühle an dem massiven Tisch aus Kirschholz und sah sich um. Eine Wand des Raumes, der geschmackvoll mit viel handpoliertem Holz ausgestattet war, bestand nur aus Fenstern, von denen aus man über die Wiesen und Teiche des Gene-Dyne-Geländes blickte. Dahinter erstreckte sich ein endloses, tristes Industriegebiet. Carson versuchte, sich im Geiste für das zu wappnen, was möglicherweise auf ihn zukam. Vielleicht hatte sich Peck ja bei der Personalabteilung so oft über ihn beschwert, daß ihm jetzt ein Rüffel vom Personalchef bevorstand, wenn nicht Schlimmeres.
Irgendwie, dachte er, hatte Peck sogar recht: Seine Arbeitsmoral war wirklich nicht die beste. Manchmal kam es Carson so vor, als müßte er dringend etwas gegen die Sturheit und Verbitterung tun, die schon seinem Vater zum Verhängnis geworden war. Niemals würde Carson den Tag vergessen, an dem sein Vater auf seiner Ranch einen Vertreter der Bank grün und blau geschlagen hatte. Aber auch mit diesem Gewaltakt hatte er die Zwangsversteigerung seines Besitzes nicht verhindern können. Carsons Vater war sich selbst sein schlimmster Feind gewesen, und Carson wollte um keinen Preis dieselben Fehler machen wie er. Auch wenn es noch so viele Pecks auf dieser Welt gab. Trotzdem war es eine Schande, daß die vergangenen eineinhalb Jahre hier in der Firma größtenteils für die Katz gewesen waren.
Dabei war der Job bei GeneDyne Carson zunächst wie die große Chance seines Lebens vorgekommen, für die er seine ganze Studienzeit über so hart gearbeitet hatte, und noch immer hatte er die Hoffnung nicht gänzlich aufgegeben, daß er bei dieser Firma doch noch etwas wirklich Bedeutendes zustande bringen könne. Aber an jedem neuen Tag in diesem fürchterlichen New Jersey, an dem er in seiner winzigen, vollgestopften Wohnung erwacht war, in den grauen Himmel voller Industrieabgase geblickt und mit Schrecken an Fred Peck gedacht hatte, war ihm ein kleines bißchen von dieser Hoffnung abhanden gekommen.
Die Lichter im Konferenzraum wurden dunkler und gingen schließlich ganz aus, während vor den Fenstern automatische Rollos heruntergingen. An der hinteren Wand fuhr ein Stück der Holztäfelung zur Seite und gab den Blick auf eine Reihe von Tastaturen und einen großen Videoprojektionsschirm frei. Als nach einigem Geflimmer auf dem Schirm das Gesicht eines Mannes erschien, wurde Carson starr vor Schreck. Zu gut kannte er die abstehenden Ohren, das sandfarbene Haar mit der störrischen Stirnlocke, die dicke Brille, das unvermeidliche schwarze T-Shirt und den leicht verschlafenen und dennoch zynischen Gesichtsausdruck. Es war kein anderer als Brentwood Scopes, der Gründer von GeneDyne, dessen Konterfei erst unlängst die Titelseite des Time -Magazins geziert hatte. Die Ausgabe lag noch immer auf Carsons Couchtisch. Scopes, der an der Wallstreet eine Legende war, den seine Angestellten vergötterten und seine Konkurrenten fürchteten, regierte seine Firma fast ausschließlich über elektronische Medien. Was sollte das hier sein? fragte sich Carson. Ein Motivationsfilmchen für Unverbesserliche?
»Hi«, sagte das Bild von Scopes auf dem Schirm. »Na, wie geht's, Guy?«
Einen Augenblick lang war Carson sprachlos. Du meine Güte, dachte er, das ist ja gar kein Film. »Äh, hallo, Mr. Scopes, Sir. Mir geht es gut, danke. Tut mir leid, daß ich nicht richtig angezogen bin für ein Gespräch mit...«
»Bitte, nennen Sie mich Brent. Und blicken Sie in Richtung Bildschirm, wenn Sie sprechen, dann kann ich Sie nämlich besser sehen.«
»Ja, Sir.«
»Nicht Sir. Brent.«
»Natürlich. Danke, Brent.« Carson fand es ausgesprochen schwierig, den obersten Boß von GeneDyne mit dem Vornamen anzusprechen.
»Ich sehe meine Angestellten gerne als Kollegen an«, sagte Scopes. »Schließlich haben Sie ja, wie alle anderen auch, bei Ihrem Eintritt in die Firma Aktien unseres Unternehmens bekommen. Das bedeutet, daß wir alle miteinander im selben Boot sitzen.«
»Ja, Brent.« Hinter Scopes konnte Carson unscharf einen großen, vieleckigen Raum erkennen.
Scopes lächelte, als freue er sich über die Nennung seines Vornamens, und sah dabei trotz seiner neununddreißig Jahre wie ein Teenager aus. Irgendwie kam Carson dieses Gespräch immer unwirklicher vor. Warum sollte Scopes, das Universalgenie, das aus ein paar alten Maiskörnern ein Vermögen von vier Milliarden Dollar gemacht hatte, ausgerechnet mit ihm sprechen wollen? Mist, ich habe wohl noch mehr verbockt, als ich gedacht habe.
Scopes blickte nach unten, und Carson konnte das Klicken einer Tastatur hören. »Ich habe mir mal Ihre Qualifikationen angeschaut, Guy«, sagte Scopes. »Sehr beeindruckend. Ich kann gut verstehen, warum meine Leute Sie eingestellt haben.« Carson hörte weiteres Tippen. »Nur will mir nicht so recht in den Sinn, weshalb Sie immer noch als...Moment...als Labortechniker der Stufe drei arbeiten.« Scopes blickte wieder auf. »Entschuldigen Sie bitte, Guy, wenn ich ohne Umschweife zur Sache komme. Es gibt hier in der Firma eine sehr wichtige Stelle, die momentan nicht besetzt ist. Ich glaube, daß Sie genau der Richtige dafür sind.«
»Was ist denn das für eine Stelle?« platzte Carson heraus und ärgerte sich darüber, daß er so aufgeregt klang. Scopes lächelte abermals. »Ich würde es Ihnen ja gerne erklären, aber sie hat etwas mit einem äußerst vertraulichen Projekt zu tun. Sie haben sicherlich Verständnis dafür, wenn ich sie Ihnen auf diesem Wege nur in ganz groben Zügen beschreiben kann.«
»Natürlich, Sir.«
»Guy, sehe ich für Sie wirklich wie ein >Sir< aus? Es ist noch gar nicht so lange her, da war ich nichts weiter als ein verpickelter Streber, der von den anderen Jungen auf dem Schulhof dauernd gehänselt wurde. Nun gut. Reden wir von der Stelle, die ich für Sie herausgesucht habe. Sie hat etwas mit dem wichtigsten Produkt in der Firmengeschichte von GeneDyne zu tun. Einem Produkt, das für die Menschheit von unschätzbarem Wert sein wird.«
Als Scopes Carsons Gesichtsausdruck sah, mußte er grinsen. »Es ist toll«, sagte er, »wenn man den Menschen helfen und gleichzeitig ein reicher Mann werden kann.« Er kam mit dem Gesicht ganz dicht an die Kamera. »Guy, was ich Ihnen anbiete, ist ein sechsmonatiger Aufenthalt in unserem Labor in der Jornadadel-Muerto-Wüste, das Ihnen vermutlich besser unter dem Namen Mount Dragon bekannt sein dürfte. Sie werden dort in einem erlesenen Team zusammen mit den besten Mikrobiologen arbeiten, über die unsere Firma zur Zeit verfügt.« Carson war auf einmal ganz aufgekratzt. Schon der Name Mount Dragon allein war in der Firma so etwas wie eine magische Geheimformel, eine Art wissenschaftliches Shangri-La. Jemand von außerhalb des Bildschirms legte neben Scopes eine Pizzaschachtel auf den Tisch. Er öffnete den Deckel und warf einen Blick hinein. »Aha! Sardellen. Wissen Sie, was Churchill einmal über Sardellen gesagt hat? >Eine Delikatesse, die von englischen Lords und italienischen Huren gleichermaßen geschätzt wird. <«
Nach einer kurzen Pause fragte Carson: »Dann werde ich also nach New Mexico gehen?«
»Sie haben's erfaßt, Guy. Das ist doch Ihr Heimatstaat, stimmt's?«
»Ja, ich bin dort aufgewachsen. In einer Ortschaft namens Cottonwood Tanks.«
»Ich erinnere mich dunkel daran, den Namen in Ihrer Personalakte gelesen zu haben. Womöglich finden Sie als Einheimischer ja Mount Dragon nicht ganz so schlimm wie viele andere, denen es in der Wüste viel zu heiß und zu einsam ist. Aber Ihnen macht das Leben dort vielleicht sogar Spaß. Wir haben dort zum Beispiel einen Stall mit einigen Pferden. Ich schätze mal, daß Sie als Sohn eines Ranchers ein ziemlich guter Reiter sind.«
»Sie haben recht, ich kenne mich wirklich ein wenig mit Pferden aus«, sagte Carson. Scopes hatte sich offenbar gründlich über ihn informiert.
»Allerdings werden Sie dort kaum Zeit zum Reiten haben, denn Sie müssen arbeitsmäßig wirklich ranklotzen, anders kann ich es nicht ausdrücken. Aber Sie werden finanziell voll dafür entschädigt. Ich zahle Ihnen für diese sechs Monate ein ganzes Jahresgehalt und außerdem eine Prämie von fünfzigtausend Dollar bei erfolgreichem Abschluß des Projekts. Darüber hinaus ist Ihnen meine persönliche Dankbarkeit sicher.« Carson konnte es kaum fassen. Die Prämie allein war schon mehr, als er in einem ganzen Jahr verdiente. »Sie wissen vermutlich, daß meine Managementmethoden ein wenig unorthodox sind«, fuhr Scopes fort. »Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein, Guy: Diese Medaille hat nämlich auch eine Kehrseite. Sollten Sie es nicht schaffen, innerhalb dieser sechs Monate das Projekt zu einem erfolgreichen Abschluß zu bringen, muß ich Sie leider entlassen.« Er grinste und entblößte dabei seine etwas zu großen Schneidezähne. »Aber ich setze mein volles Vertrauen in Sie. Ich würde Ihnen diese Stelle nie anbieten, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, daß Sie ihr auch gewachsen sind.«
»Ich frage mich natürlich, wieso Sie unter all den vielen Talenten hier in der Firma ausgerechnet mich ausgewählt haben.« Carson konnte nicht anders, er mußte diese Frage stellen. »Nicht ein mal das kann ich Ihnen jetzt beantworten. Aber bei Ihrem Einstellungsgespräch am Mount Dragon wird Ihnen alles klar werden, das verspreche ich Ihnen.«
»Wann soll ich anfangen?«
»Noch heute, Guy. Unsere Firma braucht das Produkt, deshalb haben wir keine Zeit zu verlieren. Ich möchte, daß Sie noch vor dem Mittagessen im Flugzeug nach New Mexico sitzen. Ich werde dafür sorgen, daß sich jemand um Ihre Wohnung, Ihr Auto und all die anderen lästigen Kleinigkeiten kümmert. Haben Sie eine Freundin?«
»Nein«, antwortete Carson.
»Das vereinfacht die Sache.« Scopes strich sich seine widerspenstige Stirnlocke glatt.
»Was ist mit Fred Peck, meinem Vorgesetzten? Soll ich dem...«
»Dazu ist jetzt keine Zeit. Nehmen Sie einfach Ihren Laptop und gehen Sie. Draußen wartet ein Fahrer, der Sie zu Ihrer Wohnung bringen wird, wo Sie ein paar Dinge zusammenpacken können. Ich werde diesem -wie war doch gleich der Name? Peck? - eine Nachricht zukommen lassen, die alles erklärt.«
»Brent, ich würde Ihnen noch gerne sagen, daß...« Scopes hob die Hand. »Bitte nicht. Dankbarkeitsbezeugungen sind mir zuwider. Am Schluß ist ja doch Undank der Welt Lohn, wie schon das Sprichwort sagt. Sie haben zehn Minuten, um sich mein Angebot zu überlegen, Guy. Aber bitte bleiben Sie hier im Konferenzraum.«
Bevor der Schirm schwarz wurde, sah Carson noch, wie Scopes mit der Hand in die Pizzaschachtel griff. Als das Licht wieder anging, verwandelte sich das unwirkliche Gefühl, das Carson bei dem Gespräch mit Scopes gehabt hatte, in eine nie gekannte Hochstimmung. Zwar fragte Carson sich nach wie vor, weshalb Brent Scopes unter den rund fünftausend promovierten Wissenschaftlern in Diensten von GeneDyne ausgerechnet auf ihn gekommen war, der in den letzten eineinhalb Jahren mit nichts anderem als endlosen Titrieranalysen und Qualitätskontrollen beschäftigt gewesen war, aber im Augenblick war ihm das egal Er stellte sich vor, was der Fettsack Peck wohl für ein Gesicht machen würde, wenn er von einem Dritten erfuhr, daß Scopes höchstpersönlich ihn, Carson, nach Mount Dragon versetzt hatte. Mit einem tiefen Summen fuhren die Rollos an den Fenstern wieder nach oben und gaben den Blick auf die triste, regenverhangene Industrielandschaft von New Jersey frei. In der grauen Feme konnte Carson die Hochspannungsleitungen und die Schornsteine sehen, aus denen irgendwelche giftigen Emissionen in die bleigrauen Wolken stiegen. Er dachte an den blauen Himmel, der sich viele tausend Kilometer weiter westlich über der Wüste mit ihren scharf riechenden Kreosotsträuchern wölbte, an die dunklen, schroffen Berge am Horizont und daran, daß man dort tage- und nächtelang reiten konnte, ohne einem einzigen Menschen zu begegnen. Mitten in dieser Wüste befand sich Mount Dragon, wo auf Carson die Chance seines Lebens wartete. Zehn Minuten später, als die Rollos herunterfuhren und der Projektionsschirm wieder hell wurde, wußte Carson, was er Scopes antworten würde.
Carson trat hinaus auf die windschiefe Veranda, stellte seinen Seesack neben die Tür und setzte sich in den alten, abgenutzten Schaukelstuhl. Der Stuhl knarzte laut, als nähme das alte Holz Carsons Gewicht nur unter Protest auf. Carson lehnte sich zurück, streckte die Beine aus und ließ die Blicke über die weite Jornada-del-Muerto-Wüste schweifen.
Die Sonne - ein brodelnder Ball aus explodierendem Wasserstoff zeigte sich gerade über der Silhouette der San-Andres-Berge. Obwohl es auf der morgendlichen Veranda mit fünfzehn bis achtzehn Grad noch relativ kühl war, spürte Carson bereits die Strahlung des Himmelskörpers auf seinem Gesicht. In weniger als einer Stunde würde es hier über vierzig Grad heiß sein. Der tiefviolette Himmel wurde langsam blau, später, in der Mittagshitze, würde er eine fast weiße Farbe annehmen. Carson schaute die ungeteerte Straße entlang, die vor dem Haus vorbeilief. Engle war einer jener Geisterorte, wie es sie in der Wüste von New Mexico häufig gibt: eine Handvoll Lehmziegelbauten mit schrägen Wellblechdächern, eine verwaiste Schule, ein aufgelassenes Postamt und eine Reihe toter Pappeln, denen der Wind längst die letzten Blätter geraubt hatte. Wenn hier überhaupt mal etwas vorbeikam, dann war es höchstens eine Windhose. Nur in einer Hinsicht war Engle keine typische Wüstenstadt: Die Firma GeneDyne hatte den ganzen Ort aufgekauft und verwendete ihn jetzt ab und zu als Zwischenstation für die Fahrt nach Mount Dragon.
Carson schaute auf den Horizont. Gut hundertfünfzig Kilometer entfernt, am anderen Ende eines staubigen, felsigen, sonnenverbrannten Streifens, den nur Einheimische eine Straße nannten, befand sich der Gebäudekomplex, der zwar offiziell »Testlabor der Firma GeneDyne« hieß, allgemein aber nach einem alten Vulkankegel gleich in der Nähe Mount Dragon genannt wurde. In diesem hochmodernen Labor machte GeneDyne gentechnische Experimente an Mikroorganismen, die für bewohntere Gebiete viel zu gefährlich waren.
Carson sog die trockene Wüstenluft tief in seine Lungen. Dieser Geruch nach Staub und Mesquitsträuchern war es, den er in den vergangenen eineinhalb Jahren am meisten vermißt hatte. Es war der saubere Geruch der Trockenheit. New Jersey kam ihm jetzt geradezu unwirklich vor, wie ein Alptraum aus einer fernen Vergangenheit. Er fühlte sich wie jemand, der gerade aus dem Gefängnis entlassen worden war, einem grünen, überfüllten und feuchten Gefängnis voller Autoabgase, Tankstellen und riesigen Einkaufszentren. Auch wenn sein Vater schon vor vielen Jahren seine gesamte Ranch an die Banken verloren hatte, fühlte sich Carson hier noch immer daheim. Trotzdem hatte diese Heimkehr einen merkwürdigen Aspekt, denn schließlich kam er nicht, um Vieh zu züchten, sondern um an einem Projekt im Grenzbereich der Wissenschaft zu arbeiten, bei dem er noch immer nicht wußte, worum es sich genau handelte.
Am fernen Horizont war jetzt im Dunst ein kleiner, dunkler Fleck auszumachen. Bald darauf erkannte Carson, daß es eine Staubwolke war, die sich in seine Richtung bewegte. Er beobachtete sie noch ein paar Minuten, dann stand er auf und ging ins Innere des alten Hauses, wo er den Rest kalten Kaffee in die Spüle schüttete und die Tasse auswusch. Als er drinnen nachsah, ob er alles eingepackt hatte, hörte er, wie draußen ein Auto vorfuhr. Carson trat hinaus auf die Veranda und sah einen großen, weißen Geländewagen, der in einer Staubwolke zum Stehen kam. Es war ein Hummer, die zivile Version des schweren Militärjeeps Humvee, den Carson aus den Fernsehberichten über den Golfkrieg kannte. Die getönten Fenster blieben geschlossen, und der kraftvolle Dieselmotor brummte im Leerlauf vor sich hin.
Dann stieg ein untersetzter, schwarzhaariger Mann mit Halbglatze aus, der ein Polohemd und weiße Shorts trug. Sein freundliches, offenes Gesicht hatte eine tief braune Farbe, die in einem merkwürdigen Gegensatz zu den blassen, in schweren Stiefeln steckenden Beinen stand. Der Mann trottete mit einem beflissenen Lächeln auf Carson zu und streckte ihm seine plumpe Hand entgegen.
»Sind Sie mein Fahrer?« fragte Carson und wunderte sich über den laschen Händedruck des Mannes.
»Irgendwie schon, Guy«, antwortete der Mann. »Mein Name ist Singer.«
»Dr. Singer!« sagte Carson erstaunt. »Ich hätte nie erwartet, vom Direktor persönlich abgeholt zu werden.«
»Bitte, nennen Sie mich doch John«, sagte Singer freundlich. Er nahm Carson seinen Seesack ab und öffnete den Kofferraum des Hummer. »Wir am Mount Dragon sprechen uns fast alle mit dem Vornamen an. Bis auf Nye natürlich. Haben Sie gut geschlafen?«
»So gut wie seit achtzehn Monaten nicht mehr«, sagte Carson und grinste.
»Tut mir leid, daß Sie hier übernachten mußten«, antwortete Singer und legte den Seesack in den Laderaum des Geländewagens, »aber es ist verboten, das Testgelände nach Einbruch der Dunkelheit zu verlassen. Nicht einmal ein Hubschrauber darf es überfliegen, außer im Notfall.« Er warf einen Blick auf den Banjokasten, der zu Carsons Füßen lag. »Ist das ein fünfseitiges?« fragte er.
»Richtig«, sagte Carson und trat auf den Wagen zu. »Und wie spielen Sie? Drei Finger? Rhythmus? Melodie?« Carson blieb auf dem Weg zum Kofferraum stehen und blickte Singer an, der ihm freundlich zulächelte. »Das wird ja lustiger, als ich dachte«, sagte der Direktor. »Steigen Sie ein.« Im Inneren des Wagens schlug Carson eine Welle eiskalter Luft entgegen. Er war erstaunt, wie bequem die Sitze waren. Singer saß eine Armlänge von ihm entfernt jenseits einer massiven Kühlbox, die sich zwischen den Vordersitzen befand. »Da kommt man sich ja fast wie in einem Panzer vor«, sagte Carson. »Für die Wüste gibt es nichts Besseres. Diese Dinger kann nur eine senkrechte Felswand stoppen. Sehen Sie diese Skala da? Das ist der Reifendruck, den man bei diesem Wagen sogar im Fahren über einen Kompressor verändern kann. Auf Knopfdruck kann ich ihn höher oder niedriger stellen, je nachdem, auf welchem Boden ich gerade fahre. Alle Geländewagen von Mount Dragon sind übrigens mit Reifen ausgerüstet, die auch mit einem Plattfuß noch fünfzig Kilometer weit fahren können.«
Gleich hinter dem Ort fuhren sie auch ein Viehtor, zu dessen beiden Seiten sich ein langer Stacheldrahtzaun endlos in die Ferne zu erstrecken schien. Im Abstand von dreißig Metern waren an diesem Zaun Schilder mit folgender Aufschrift angebracht:
ACHTUNG! MILITÄRISCHES SPERRGEBIET .
BETRETEN STRENGSTENS VERBOTEN.
WSRB-WEA.
»Hier beginnt das Gelände des Raketenversuchsgeländes White Sands«, sagte Singer. »Unser Labor am Mount Dragon liegt mittendrin auf einem Stück Land, das GeneDyne vom Verteidigungsministerium gepachtet hat. Das ist noch ein Überbleibsel aus der Zeit, in der wir fürs Militär gearbeitet haben.« Singer trat aufs Gas, und der Wagen beschleunigte auf der unebenen Schotterstraße und zog eine lange Staubwolke hinter sich her.
»Ich fühle mich wirklich geehrt, daß Sie persönlich gekommen sind, um mich abzuholen«, sagte Carson. »Das müssen Sie nicht. Ich bin immer froh, wenn ich einmal für eine Weile aus dem Labor herauskomme. Schließlich bin ich dort ja nur der Direktor. Die eigentliche Arbeit leisten andere.« Er schaute hinüber zu Carson. »Außerdem nehme ich gerne die Gelegenheit wahr, ganz ungestört mit Ihnen zu reden. Ich gehöre nämlich zu der Handvoll Menschen, die Ihre Dissertation gelesen und auch verstanden haben. Transformationen der tertiären und quartären Proteinstrukturen der Virushulk, das war doch der Titel, nicht wahr? Eine brillante Arbeit.«
»Danke«, sagte Carson. Aus dem Mund eines früheren Professors für Biologie an der CalTech-Universität war das ein großes Lob. »Allerdings muß ich gestehen, daß ich sie erst gestern gelesen habe«, sagte Singer und zwinkerte Carson verschmitzt zu. »Scopes hat sie mir zusammen mit Ihrer Personalakte übers Computernetz geschickt.« Er lehnte sich zurück und lenkte den Wagen mit einer Hand. Das schwere Fahrzeug bretterte mit hundert Stundenkilometern in einen quer über der Fahrspur Hegenden Sandstreifen und kam ins Schlingern. Unwillkürlich drückte Carson mit dem rechten Fuß ein imaginäres Bremspedal bis zum Bodenblech durch. Dieser Mann fuhr fast so schlimm wie sein Vater.
»Um was geht es eigentlich bei dem Projekt, an dem ich arbeiten soll?« fragte Carson.
»Was wollen Sie wissen?« Singer wandte den Blick von der Straße auf Carsons Gesicht.
»Nun, ich habe in New Jersey alles stehen- und liegengelassen und bin Hals über Kopf hier herausgekommen. Das macht einen nun mal neugierig.«
»Dazu ist noch genug Zeit, wenn wir erst einmal in Mount Dragon sind«, sagte Singer und lächelte. Der schwere Wagen war gefährlich nach links gedriftet und streifte mit dem Außenspiegel eine Yucca-Palme. Mit einem Ruck am Lenkrad brachte Singer ihn wieder auf Kurs.
»Dieser Job hier muß für Sie ja so etwas wie eine Heimkehr sein«, sagte er.
Carson nickte. Er hatte die Anspielung verstanden. »Meine Familie lebt schon seit Generationen hier im Westen.«
»Länger als die meisten anderen vermutlich.«
»Das stimmt. Kit Carson, einer der ersten Pioniere hier, war mein Ururgroßvater. Als Teenager hat er Vieh den Spanish Trau entlanggetrieben. Mein Urgroßvater war der einzige Sohn aus der Ehe mit seiner letzten Frau. Er hat sich im Hidalgo County Land gekauft und ist Rancher geworden.«
»Und Sie haben dann die heimatliche Ranch verlassen und sind auf die Universität gegangen«, spekulierte Singer. Carson schüttelte den Kopf. »Nein. Mein Vater war leider ein lausiger Geschäftsmann.
Wenn er sich mit der normalen Viehzucht begnügt hätte, wäre alles in Ordnung gewesen, aber er hatte hochfliegende Pläne. Einer davon war übrigens, eine völlig neue Rinderrasse zu züchten, und so bin ich schon als Junge mit der Genetik in Berührung gekommen. Das Projekt war, ebenso wie vieles andere, was mein Vater anpackte, ein Reinfall, und schließlich haben die Banken die Ranch bekommen.« Carson verstummte und betrachtete die unendlich weite Wüste ringsum. Die Sonne stand jetzt schon ziemlich hoch am Himmel, und ihr Licht war nicht mehr gelblich, sondern weiß. In einiger Entfernung sah Carson ein paar Gabelantilopen, die mit ihrem grauen Fell vor dem grauen Hintergrund der Wüste kaum zu erkennen waren. Singer summte fröhlich die Melodie von Soldier's Joy vor sich hin.
Nach längerer Fahrt begann vor ihnen ein dunkler Vulkankegel am Horizont aufzutauchen, dessen Gipfel von einem Kranz aus Funkmasten und Parabolantennen umgeben war. Als sie näher kamen, konnte Carson am Fuß des Berges einige schlichte weiße Gebäude erkennen. Im Licht der Morgensonne glitzerten sie wie ein Gitter aus Salzkristallen.
»Da ist es«, sagte Singer stolz und ging vom Gas. »Mount Dragon. Ihre Heimat für die nächsten sechs Monate.« Bald kam ein langer Maschendrahtzaun in Sicht, der mit zusätzlichem Stacheldraht vor dem Überklettern geschützt war. Vor dem Gebäudekomplex ragte ein Wachturm auf, der durch die Hitzeschlieren über dem Wüstenboden leicht zu schwanken schien.
»Momentan ist er nicht besetzt«, sagte Singer mit einem leisen Kichern. »Aber das soll nicht heißen, daß unser Sicherheitsdienst nicht verdammt effektiv wäre. Sie werden schon noch früh genug mit ihm in Berührung kommen. Den weitaus besten Schutz vor ungebetenen Besuchern bietet uns allerdings die Wüste.« Als sie näher kamen, nahmen die Gebäude langsam Gestalt an.
Carson, der eigentlich häßliche Betonbauten und Wellblechhütten erwartet hatte, war erstaunt: Die Häuser wirkten weiß und kühl und sahen direkt schön aus.
Singer bremste den Wagen vor einer Straßensperre aus Beton ab und hielt neben einem Wachhaus. Ein junger Mann - er trug ganz normale Zivilkleidung -kam heraus und ging auf den Wagen zu. An seinem Gang merkte Carson, daß er ein steifes Bein hatte.
Der Direktor ließ das Fenster herunter. Der Mann legte seine muskulösen Unterarme auf die Wagentür und steckte den kurzgeschorenen Kopf herein. Kaugummikauend grinste er die beiden Männer im Wagen an. Er hatte leuchtendgrüne Augen und ein von der Sonne fast schon lederartig verbranntes Gesicht.
»Howdy, John«, sagte er und ließ die Blicke durchs Innere des Geländewagens streifen, bis sie schließlich an Carson hängenblieben. »Wen haben wir denn da?«
»Das ist Guy Carson, unser neuer Wissenschaftler. Guy, das ist Mike Marr vom Sicherheitsdienst.«
Der Mann nickte und schaute sich noch einmal im Auto um, während er Singer seinen Ausweis zurückgab. »Papiere?« fragte er Carson mit einer fast verträumt klingenden Stimme. Carson gab ihm seine mitgebrachten Dokumente: Reisepaß, Geburtsurkunde und den Firmenausweis von GeneDyne. Marr sah sie ohne großes Interesse durch. »Und jetzt die Brieftasche, bitte.«
»Meinen Sie den Führerschein?«
»Nein, die ganze Brieftasche, wenn's recht ist.« Marr grinste kurz, und Carson sah, daß er gar nicht auf einem Kaugummi, sondern einem breiten, roten Gummiband herumkaute. Konsterniert gab er ihm seine Brieftasche.
»Ihr Gepäck müssen Sie auch noch beim Sicherheitsdienst zur Durchsuchung abgeben«, sagte Singer. »Aber machen Sie sich nichts draus, vor dem Abendessen bekommen Sie alles zurück.
Bis auf Ihren Paß natürlich. Der wird Ihnen erst wieder ausgehändigt, wenn Ihre sechs Monate hier vorüber sind.« Marr trat vom Wagenfenster zurück, holte Carsons Seesack und sein Banjo aus dem Gepäckraum und ging damit zurück in das klimatisierte Wachhaus. Dabei zog er sein steifes, rechtes Bein neben sich her, als könne es jeden Augenblick abfallen. Von drinnen fuhr er die Schranke hoch und winkte den Wagen durch. Im Vorbeifahren sah Carson durch die dicke, blau getönte Fensterscheibe, wie Marr den Inhalt seiner Brieftasche inspizierte.
»Hier gibt es keine Geheimnisse, fürchte ich, außer denen, die man im Kopf behält«, sagte Singer mit einem angedeuteten Lächeln. »Und selbst auf die muß man aufpassen.«
»Wozu soll das gut sein?« fragte Carson. Singer zuckte mit den Achseln. »Das ist wohl der Preis, den man dafür zahlen muß, daß man in einer Hochsicherheitseinrichtung arbeitet. Angst vor Industriespionage und unliebsamen Presseberichten und so weiter. Im Grunde ist es dasselbe wie bei GeneDyne in New Jersey, nur zehnmal schärfer.« Singer fuhr den Wagen auf den Autohof und schaltete den Motor ab. Als Carson ausstieg, schlug ihm die heiße Wüstenluft entgegen. Er sog sie tief in die Lungen. Diese Luft war wunderbar. Ein paar hundert Meter hinter den Gebäuden konnte er den mächtigen Kegel von Mount Dragon aufragen sehen. Eine offenbar erst vor kurzem angelegte Schotterstraße führte an einer seiner Flanken hinauf zu den Antennenmasten. »Und jetzt«, sagte Singer, »machen wir eine Betriebsbesichtigung. Danach gehen wir in mein Büro und unterhalten uns bei einem kühlen Drink.«
»Dieses Projekt...«, begann Carson.
Singer, der sich bereits in Bewegung gesetzt hatte, blieb abrupt stehen und drehte sich um.
»Scopes hat wohl nicht übertrieben, oder?« fragte Carson. »Es ist wirklich sehr wichtig, oder?«
Singer blinzelte gegen die Sonne hinaus in die weite, leere Wüste. »Wichtiger, als Sie es sich auch nur zu erträumen wagen«, sagte er.
Die Percival Lecture Hall an der Harvard University war voll bis auf den letzten Platz. Gut zweihundert Studenten saßen mit aufgeschlagenen Notizbüchern vor sich in den ansteigenden Stuhlreihen und blickten aufmerksam nach vorn. Dr. Charles Levine, ein kleiner, drahtiger Mann mit einem wildgelockten Haarkranz um den viel zu früh kahl gewordenen Kopf, ging vor den Studenten ruhelos auf und ab. Die Ärmel seines Jacketts waren weiß vom Kreidestaub, und an seinen derben Schuhen befanden sich noch immer die Salzflecken vom vergangenen Winter. Doch sein schlampiges Äußeres tat der intensiven Wirkung keinen Abbruch, die seine Gesten und Worte auf die Studenten hatten. Während er sprach, deutete er mit einem Stück Kreide immer wieder auf die hieroglyphenartig-komplizierten biochemischen Formeln und Nukleotidsequenzen an der großen Tafel hinter ihm.
In der letzten Stuhlreihe saß eine kleine Gruppe von Leuten mit Kassettenrecordern und Videokameras. Schon ihre Kleidung ließ erkennen, daß sie keine Studenten waren, außerdem wiesen sie an Jackenkragen und Gürtel gut sichtbar befestigte Plastikkarten als Presseleute aus. Medienpräsenz war bei Vorlesungen von Professor Levine keine Seltenheit, schließlich war der Vorsitzende der Stiftung für Verantwortungsbewußte Gentechnologie immer für eine Überraschung gut. Bei dieser Vorlesung allerdings hatte Genetic Policy, das Fachblatt der Stiftung, schon im Vorfeld dafür gesorgt, daß ihr ein gehöriges Medienecho sicher war.
Levine hörte auf herumzulaufen und trat ans Rednerpult. »Und damit möchte ich meine Erörterungen über die Tuittsche Konstante unter besonderer Berücksichtigung der Sterblichkeitsrate in Westeuropa abschließen, denn ich würde gerne Ihre Aufmerksamkeit noch auf etwas anderes richten«. Er räusperte sich. »Könnte ich bitte die Leinwand haben?« Das Licht im Hörsaal wurde dunkler, und von der Decke kam ein weißes Stück Stoff vor die Tafel heruntergefahren.
»In ein paar Minuten werde ich Ihnen auf dieser Leinwand ein Dia zeigen«, sagte Levine. »Ich habe keine Genehmigung, das zu tun, und mache mich damit genaugenommen sogar einer Verletzung der staatlichen Geheimhaltungsbestimmungen schuldig. Und wenn Sie jetzt hierbleiben, tun Sie das auch. Ich persönlich mache das ständig, wie Sie an meinen Artikeln in der Genetic Policy sicher schon erkannt haben. Es gibt eben nun mal Informationen, die öffentlich gemacht werden müssen, ganz gleich, um welchen Preis. Aber das nur nebenbei. Ich gebe jetzt allen, die lieber den Hörsaal verlassen möchten, Gelegenheit dazu. Bitte gehen Sie, wenn Sie wollen, denn ich kann von niemandem verlangen, daß er hierbleibt.« In dem schwach erhellten Saal waren aufgeregtes Geflüster und das Rascheln von Notizbuchseiten zu hören, aber niemand stand auf.
Levine blickte zufrieden in die Runde, bevor er dem Studenten am Diaprojektor zunickte. Kurz darauf war auf der Leinwand ein Schwarzweißbild zu sehen.
Levine, dessen Schatten am unteren Rand des Dias aussah wie der eines Mönches mit Tonsur, blickte hinauf zu dem Bild. »Diese Aufnahme wurde am 1. Juli 1985 vom Aufklärungssatelliten TB-17 gemacht, der in einer sonnensynchronen Bahn in achthundert Kilometern Höhe um die Erde kreist«, begann er. »Offiziell ist dieses Bild noch nicht für die Öffentlichkeit freigegeben, obwohl es das durchaus verdient hätte.« Levine lächelte, und im Hörsaal kam vereinzelt nervöses Gelächter auf.
»Was Sie sehen, ist der Ort Nowo Druschina in Westsibirien. An der Länge der Schatten können Sie erkennen, daß das Bild am frühen Vormittag aufgenommen wurde, was übrigens eine ideale Zeit für Aufklärungsaufnahmen ist. Beachten Sie bitte die beiden geparkten Autos an der Straße und die reifenden Kornfelder rings um den Ort.« Das Dia wurde durch ein anderes ersetzt. »Und hier sehen wir denselben Ort drei Monate später. Fällt Ihnen dabei etwas Besonderes auf?« Niemand im Hörsaal sagte etwas.
»Nun, die Autos stehen immer noch an genau derselben Stelle, und die Felder sind jetzt so reif, daß sie dringend abgeerntet werden müßten.«
Wieder war ein neues Dia zu sehen.
»Hier haben wir noch einmal den Ort Nowo Druschina, diesmal im April des folgenden Jahres. Die Autos haben sich noch immer nicht bewegt, und die Felder liegen brach. Das Getreide wurde noch immer nicht geerntet. Dieses Bild fanden die Fotoauswerter der CIA ausgesprochen interessant.« Levine machte eine Pause und blickte in die Runde der gespannt zuhörenden Studenten.
»Es war nämlich nicht nur hier so. Überall in der sogenannten Sperrzone vierzehn, einem etwa zweihundert Quadratkilometer großen Gebiet, in dem es außer Nowo Druschina noch ein weiteres halbes Dutzend Ortschaften gab, bot sich dasselbe Bild. Nirgends waren auch nur die geringsten menschlichen Aktivitäten zu beobachten. Also beschlossen unsere Militärs, sich die Sache aus der Nähe zu betrachten.« Ein neues Dia erschien.
»Das ist eine digital verstärkte Vergrößerung der ersten Aufnahme, bei der die meisten Aufnahmefehler elektronisch herausgefiltert wurden. Beachten Sie den verwischten, länglichen Gegenstand neben der Straße vor der Kirche. Er sieht zwar aus wie ein Holzscheit, ist aber eine menschliche Leiche, wie Ihnen jeder Fotoexperte des Pentagon bestätigen kann. Nun zeige ich Ihnen denselben Ausschnitt aus der Aufnahme sechs Monate später.«
Alles war genauso wie auf dem vorherigen Dia, nur daß der längliche Gegenstand jetzt nicht mehr grau, sondern weiß aussah.
»Die Leiche ist jetzt bereits vollständig skelettiert. Beim Auswerten vieler solcher Vergrößerungen fanden die Militärs unzählige Skelette, die, ohne begraben worden zu sein, auf den Straßen und mitten in den Feldern lagen. Zuerst wußten sie nicht, wie sie sich das erklären sollten, und es machte sogar die Mutmaßung die Runde, es könne sich um einen kollektiven Selbstmord handeln wie damals in Jonestown. Denn schließlich...«
Ein neues Dia war zu sehen.
»...war, wie Sie unschwer erkennen können, die Natur noch vollkommen lebendig. Pferde grasten auf den Wiesen, und hier, in der oberen linken Ecke, können Sie ein Rudel offenbar verwilderter Hunde sehen. Auf anderen Vergrößerungen hat man Rinder gefunden. Nur die Menschen waren tot, und dabei muß der Tod so rasch eingetreten sein, daß sie keine Zeit mehr hatten, in ihre Häuser zu gelangen.« Levine machte wieder eine Pause. »Es fragt sich bloß, woran sie gestorben sind.« Im Hörsaal war es still.
»Vielleicht hat man ihnen Essen aus unserer Mensa zukommen lassen?« schlug einer der Studenten vor. Alles brüllte, und Professor Levine stimmte herzhaft ins allgemeine Gelächter ein. Dann nickte er, und der Student am Projektor schob ein weiteres Dia ein. Es war wieder eine Luftaufnahme, auf der die stark zerstörte Ruine eines Gebäudekomplexes zu sehen war.
»Leider war es das nicht, mein Freund. Mit der Zeit fand die CIA nämlich heraus, daß es ein todbringender Stoff war, der in diesem Labor hier hergestellt wurde. An den Kratern können Sie sehen, daß es aus der Luft bombardiert wurde. Jahrelang war außerhalb Rußlands über diesen Vorfall nichts Genaueres zu erfahren gewesen, aber Anfang dieser Woche hat sich ein Oberst der russischen Armee in die Schweiz abgesetzt und einen dicken Packen von Akten der ehemaligen Sowjetarmee mitgebracht. Dieselbe Quelle, die mir das eben gezeigte Bildmaterial zur Verfügung gestellt hat, machte mich auch auf den Oberst aufmerksam. Ich flog sofort in die Schweiz und konnte als erster westlicher Wissenschaftler einen Blick in diese Akten werfen. Das, was ich Ihnen im folgenden darlegen werde, ist bisher noch nie öffentlich bekannt gemacht worden. Zunächst einmal war alles nur ein relativ primitives Experiment, dem niemand einen politischen, ökonomischen oder gar militärischen Wert beimaß. Sie wissen ja, daß vor zehn Jahren die Russen in der Genforschung noch meilenweit hinter uns herhinkten und alles taten, um den Anschluß zu finden. In dem geheimen Labor in Nowo Druschina experimentierten sie beispielsweise mit der Herstellung tödlicher Viren. Sie nahmen dazu ein einfaches Virus, das Herpex simplex Ia+, das wir alle als Verursacher von unangenehmen Hautbläschen kennen. Es ist ein Virus, das weitgehend erforscht ist und mit dem es sich gut arbeiten läßt. Die russischen Forscher experimentierten mit seinem Erbgut, indem sie ihm menschliche Gene in seine DNA einschleusten.
Wir wissen immer noch nicht, was sie genau mit diesem Herpesvirus gemacht haben, aber auf einmal hatten sie einen fürchterlichen, neuartigen Krankheitserreger erzeugt. Anfangs wußten die Russen noch nicht, was er genau beim Menschen bewirkte, außer daß das genmanipulierte Virus extrem langlebig war und sich per Inhalationsinfektion übertrug. Am 23. Mai 1985 schließlich ereignete sich in dem Labor von Nowo Druschina ein kleinerer Unfall. Offenbar hatte ein Angestellter beim Umgang mit dem Virus seinen Schutzanzug beschädigt. Spätestens seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl wissen wir ja, wie lächerlich niedrig die sowjetischen Sicherheitsstandards waren. Der Angestellte verschwieg den Vorfall seinen Vorgesetzten und ging am Abend, so als wäre nichts geschehen, nach Hause zu seiner Familie, die in einer nahen Siedlung wohnte.
Drei Wochen lang vermehrte sich das Virus unbemerkt in seiner Bauchhöhle, bis der Mann am 14-Juni hohes Fieber bekam und sich ins Bett legte. Wenige Stunden später klagte er über starken Druck in seinen Gedärmen und sonderte eine Menge übelriechender Gase ab. Seine Frau, der das alles nicht mehr geheuer war, rief einen Arzt.
Noch bevor dieser bei ihm war, hatte ihr Mann allerdings entschuldigen Sie bitte diese drastische Beschreibung -sich durch den After sämtlicher Gedärme entledigt, die sich in seinem Bauch in eine Art eitrigen Brei verwandelt hatten. Ich brauche wohl nicht extra zu erwähnen, daß der Mann lange vor dem Eintreffen des Arztes bereits tot war.« Levine hielt inne und blickte herum, als erwarte er eine Wortmeldung aus dem Hörsaal, die aber nicht kam. »Da dieser Vorfall geheimgehalten wurde, hat das Virus bis heute noch keinen offiziellen Namen. Es ist nach wie vor nur als Stamm 232 bekannt. Wir wissen jetzt, daß ein Mensch bereits vier Tage nach seiner Ansteckung andere damit anstecken kann, obwohl die eigentlichen Krankheitssymptome erst nach mehreren Wochen auftreten. Die Sterblichkeitsrate nach einer Infektion mit Stamm 232 liegt praktisch bei hundert Prozent. Bis der Arbeiter starb, hatte er Dutzende, wenn nicht Hunderte von Menschen in seiner Umgebung angesteckt, und drei Tage nach seinem Tod klagten alle von ihnen über denselben Druck in den Gedärmen und erlitten dasselbe grausame Schicksal wie er.
Eine weltweite Epidemie konnte nur deshalb verhindert werden, weil die Krankheit in einer sehr abgelegenen Gegend ausbrach. Im Jahr 1985 wurde das Sperrgebiet vierzehn so abgeriegelt, daß niemand mehr hinein - oder herauskam. Kurz nach Bekanntwerden der ersten Krankheitsfälle brach in Nowo Druschina und Umgebung eine Panik aus. Manche Menschen luden ihre Habe auf Autos, Lastwagen und Pferdefuhrwerke, während andere alles stehen- und liegenließen und versuchten, auf dem Fahrrad oder zu Fuß zu fliehen. Aus den Unterlagen, die der Oberst aus Rußland mitgebracht hat, wissen wir, wie die sowjetische Armee auf diese Massenflucht reagierte. Spezialeinheiten in Schutzanzügen errichteten Straßensperren und besetzten die Kontrollpunkte an den Zäunen, mit denen das Sperrgebiet rings um das geheime Labor gesichert war. So gelang es ihnen, die Ausbreitung der Krankheit auf die Gegend um Nowo Druschina zu begrenzen, wo ganze Familien auf Straßen, Plätzen oder Feldern starben. Zwischen dem Auftreten der ersten Symptome und dem qualvollen Tod des Infizierten lagen oft keine drei Stunden. Die Panik war so groß, daß die Soldaten an den Straßensperren den Befehl hatten, ausnahmslos auf jeden zu feuern, der auch nur in Sichtweite kam. Das taten sie und erschossen auch alte Männer, Kinder und schwangere Frauen. Flugzeuge warfen massenhaft Schützenminen über Feldern und Wäldern ab, und wen die nicht aufhielten, der starb im Stacheldraht oder den Panzerfallen am Zaun. Tausende von Menschen wurden so geopfert, damit die Seuche nicht auf den Rest des Landes übergreifen konnte. Schließlich wurde das Labor selbst mit einem Bombenteppich belegt. Natürlich geschah das nicht, um das Virus zu töten, dem Bomben nichts anhaben konnten, sondern um die Spuren des gräßlichen Unglücks vor den Augen des Westens zu verbergen.
Nach acht Wochen war im Quarantänegebiet kein menschliches Wesen mehr am Leben. Die Dörfer waren verlassen, Schweine und Hunde fraßen vor lauter Hunger die überall herumliegenden Leichen, und die Kühe liefen ungemolken herum. Über den verlassenen Ortschaften muß ein grauenvoller Verwesungsgestank gehangen haben.«
Levine nahm, einen Schluck Wasser, dann fuhr er fort: »Um ein Haar hätte dieser schreckliche Vorfall zum biologischen Äquivalent eines atomaren Holocausts geführt. Und ich hege die Befürchtung, daß die Gefahr, die von genmanipulierten Viren ausgeht, noch lange nicht gebannt ist. Radioaktiv verseuchte Gegenden kann man absperren, Unglücksfälle wie der von Nowo Druschina hingegen sind weitaus schwieriger unter Kontrolle zu bekommen. Viren sind ausgesprochen anpassungsfähige Lebewesen und bleiben nicht gerne inaktiv. Obwohl seine menschlichen Wirtsorganismen längst alle tot sind, besteht durchaus die Möglichkeit, daß Stamm 232 noch irgendwo in dieser verlassenen Landschaft lauert. Viele Viren suchen sich Ausweichorganismen, in denen sie dann schlummern, bis sich eine weitere Gelegenheit zum Ausbruch bietet. Mag sein, daß Stamm 232 inzwischen ausgestorben ist. Aber es ist ebenso gut möglich, daß sich eines Tages ein von ihm infiziertes Kaninchen unter dem Stacheldrahtzaun durchbuddelt, von einem Bauern geschossen und auf dem Markt zum Verkauf angeboten wird. Gut möglich, daß dann die Welt, wie wir sie kennen, aufhören wird zu existieren.«
Professor Levine machte eine längere Pause. »Und das«, rief er plötzlich in den Hörsaal hinein, »ist es, was uns die Gentechnologie in Wirklichkeit beschert!« Betretenes Schweigen legte sich über den Hörsaal. Levine tupfte sich die Stirn mit einem Taschentuch ab und sagte mit ruhiger Stimme: »Vielen Dank, das war das letzte Dia.« Der Projektor wurde ausgeschaltet.
»Meine Freunde«, sagte Levine in die Dunkelheit hinein, »wir Menschen sind als die Hüter dieser Schöpfung an einem kritischen Punkt angelangt, aber in unserer Vermessenheit wollen wir das nicht wahrhaben. Seit vielen Jahrtausenden gibt es menschliches Leben auf diesem Planeten, aber erst in den letzten fünf Jahrzehnten haben wir gelernt, wie wir uns nachhaltigen Schaden zufügen können. Zuerst haben wir die Nuklearwaffen entwickelt, und nun wagen wir uns daran - und das erachte ich für weitaus gefährlicher -, durch Eingriffe ins Erbgut die Natur neu zu erschaffen.«
Levine schüttelte den Kopf. »Es ist eine Binsenweisheit, daß die Natur keine Gnade kennt. Das Virus, das bei dem Unfall von Nowo Druschina freigesetzt wurde, hätte die gesamte Menschheit ausgerottet, wenn es dazu Gelegenheit gehabt hätte. Trotz dieser Gefahr experimentieren heute Firmen auf der ganzen Welt mit dem Erbgut von Viren und Bakterien und setzen es Pflanzen oder Tieren ein, ohne über die letztendlichen Konsequenzen ihres Tuns auch nur ansatzweise nachzudenken. Natürlich haben die technisch hervorragend ausgestatteten Forschungslaboratorien in Europa und Amerika einen Sicherheitsstandard, der mit dem der damaligen sowjetischen Einrichtungen nicht zu vergleichen ist. Aber sollte uns das beruhigen? Im Gegenteil!
Die Wissenschaftler in Nowo Druschina haben einfache Manipulationen an einem einfachen Virus vorgenommen und damit, ohne es zu wollen, eine Katastrophe verursacht. Heute aber werden nicht einmal einen Steinwurf von diesem Hörsaal entfernt sehr viel umfassendere Experimente an unendlich gefährlicheren Viren durchgeführt.
Der Virologe Edwin Kilbourne hat sich einmal Gedanken darüber gemacht, wie das bösartigste nur denkbare Virus beschaffen sein müßte. Es müßte so stabil sein wie das Kinderlähmungsvirus, so wandelbar wie das Grippevirus, so latent wie das Herpesvirus und eine so große Anzahl von Organismen befallen können wie das Tollwutvirus.
Diese Idee, die zu Kilbournes Zeit noch reine Utopie war, ist heute dabei, tödliche Wirklichkeit zu werden. Solch ein Supervirus könnte durchaus zur Stunde in einem gentechnischen Labor irgendwo auf der Welt entwickelt werden und wird vielleicht sogar bereits entwickelt. Ein Virus dieser Art würde bei weitem mehr Menschen töten als ein weltweiter atomarer Schlagabtausch. Ein Atomkrieg nämlich beendet sich irgendwann einmal von selbst, sollte aber jemals ein gentechnisch erzeugtes Killervirus auf die Menschheit losgelassen werden, so würde sich jede damit infizierte Person in eine wandelnde Zeitbombe verwandeln. Bei dem regen Reiseverkehr, der heutzutage zwischen allen Kontinenten stattfindet, würde sich das Virus in kurzer Zeit über die ganze Welt verbreiten.« Levine trat hinter dem Pult hervor und stellte sich vor seine Zuhörer. »Regime kommen und gehen, und politische Grenzen verschieben sich. Imperien blühen auf und verschwinden wieder. Aber diese Gefahren werden uns, wenn sie erst einmal losgelassen sind, bis in alle Ewigkeit bedrohen. Deshalb frage ich Sie: Sollen wir wirklich zulassen, daß in unseren Labors weiterhin unbeaufsichtigt und unreglementiert am Erbgut herummanipuliert werden darf? Dos ist die eigentliche Frage hinter der Katastrophe von Stamm 232.«
Er nickte, und das Licht ging wieder an. »In der nächsten Ausgabe von Genetic Policy werde ich einen vollständigen Bericht über den Vorfall von Nowo Druschina veröffentlichen«, sagte er und ging zum Pult, um seine Unterlagen einzupacken. »Dort können Sie alles dann schwarz auf weiß nachlesen.« Als ob ein Alpdruck von ihnen genommen wäre, standen nun auch die Studenten auf, packten ihre Sachen ein und strebten dem Ausgang zu. Die Reporter in der letzten Reihe hatten den Saal bereits verlassen. Sie hatten es eilig, mit Levines Geschichte in die Redaktionen zu kommen.
Von einer der oberen Reihen bahnte sich ein junger Mann seinen Weg durch die Studenten und trat langsam auf das Pult zu.
Levine blickte irritiert auf und sah sich verstohlen nach allen Seiten um. »Hat man Ihnen denn nicht gesagt, daß Sie mich nicht in der Öffentlichkeit ansprechen sollen?« fragte er.
Der junge Mann packte Levine am Ellenbogen und flüsterte ihm aufgeregt etwas ins Ohr.
Levine hörte damit auf, seine Papiere in die Aktentasche zu packen. »Carson?« fragte er. »Doch nicht der blitzgescheite Cowboy, der immer meine Vorlesungen unterbrach, um mit mir zu diskutieren?«
Der junge Mann nickte.
Dr. Levine schwieg eine Weile, dann ließ er das Schloß seiner Aktentasche zuschnappen.
»Sieh mal einer an«, sagte er.
Carson schaute vom Autohof hinüber zu den weißen Gebäuden mit ihren kühn geschwungenen Flächen und Kuppeln, die wie seltsame Pike aus dem Wüstensand hervorgewachsen zu sein schienen. Die Tatsache, daß ringsum auf jegliche künstlich bewässerten Grünflächen verzichtet wurde, ließ das Laborgelände ein wenig wie den Garten eines Zen-Klosters aussehen. Gläserne Gänge verbanden viele der Gebäude in einem komplizierten Zickzackmuster miteinander. Singer führte Carson einen dieser Verbindungsgänge entlang. »Brent glaubt fest daran, daß man mittels Architektur Menschen positiv beeinflussen kann«, sagte er. »Ich werde nie vergessen, als der New Yorker Architekt hier war - ich glaube, sein Name war Guareschi - um >ein Gefühl für die Landschaft zu kriegen.« Singer kicherte leise in sich hinein.
»Er kam in Anzug und quastengeschmückten Halbschuhen und trug einen lächerlichen Strohhut auf dem Kopf. Aber er hat sich tapfer gehalten, das muß man ihm lassen. Er übernachtete vier ganze Tage im Zelt, aber dann bekam er einen Hitzschlag und dampfte schleunigst wieder nach Manhattan ab.«
»Die Gebäude sind wirklich schön«, sagte Carson. »Das sind sie tatsächlich. Trotz seiner schlechten Erfahrungen hier hat der Mann das Wesen der Wüste sehr gut erkannt. Er hat zum Beispiel darauf bestanden, daß keine Grünflächen angelegt wurden. Einmal hätten wir sowieso nicht genügend Wasser dafür, aber außerdem wollte er, daß der Komplex ganz bewußt so aussah, als wäre er ein Teil der Wüste und nicht einfach in sie hineingestellt. Und weil die mörderische Hitze hier so einen Eindruck auf ihn gemacht hat, hat er allen Gebäuden einen weißen Anstrich verpaßt, bis hin zur Werkstatt, den Lagerbaracken und dem E-Werk dort drüben.« Er deutete auf einen langgestreckten Bau mit einem elegant geformten Dach. »Das ist das E-Werk?« fragte Carson ungläubig. »Sieht eher aus wie eine Gemäldegalerie. Das alles muß ja ein Vermögen gekostet haben.«
»Mehrere Vermögen«, sagte Singer. »Aber 1985, als man hier mit dem Bau begann, spielte Geld so gut wie keine Rolle.« Er führte Carson zum Wohnbereich der Anlage, der aus mehreren niedrigen Gebäuden mit geschwungenen Grundrissen bestand, die wie die Teile eines Puzzlespiels eng beieinander lagen. »Damals haben wir von der DATRADA einen Auftrag über 900 Millionen Dollar bekommen.«
»Von wem?«
»Von der Defense Advanced Technology, Research and Development Administration.«
»Nie gehört«, sagte Carson.
»Das wundert mich nicht. Es war eine geheime Unterabteilung des Pentagon, die nach dem Ende der Reagan-Ära aufgelöst wurde. Wir mußten damals alle eine Erklärung unterschreiben, in der wir uns zu Stillschweigen über unsere Arbeit verpflichteten. Damit wurden wir zu offiziellen Geheimnisträgern, und das wiederum bedeutete, daß sie jeden einzelnen von uns durchleuchteten -und zwar gründlich. Ich bekam damals Anrufe von Freundinnen, mit denen ich seit zwanzig Jahren nichts mehr zu tun gehabt hatte. Sie sagten mir, daß ein paar Typen ihnen über mich Löcher in den Bauch gefragt hätten, und wollten wissen, ob ich etwas ausgefressen hätte...« Singer lachte. »Dann sind Sie wohl schon von Anfang an hier dabeigewesen?« fragte Carson.
»Richtig. Nur die Wissenschaftler in den Labors können nach ihrem sechsmonatigen Aufenthalt hier wieder nach Hause, Bei mir hat man anscheinend weniger Angst, daß es zu einem Burnout kommt - vermutlich glauben die in der Firma, daß ich dafür nicht genügend arbeite«, sagte Singer lachend. »Ich und Nye sind sozusagen die Veteranen hier. Als nächste kommen dann der alte Otto Franz und Mike Marr, der Bursche, der uns vorhin am Tor kontrolliert hat. Seit die Militärs in Mount Dragon nicht mehr das Sagen haben, ist die Arbeit hier sehr viel angenehmer geworden. Diese sturen Kommißköpfe konnten einem manchmal ganz schön auf den Keks gehen.«
»Wie ist es denn zu der Umwandlung in ein ziviles Labor gekommen?« fragte Carson.
Singer hielt ihm eine Tür aus getöntem Glas auf, die in ein Gebäude auf der anderen Seite des Wohnbereichs führte. In dem Vorraum schieferfarbener Boden, weiße Wände, maulwurfsgraue Möbel -war es dank einer Klimaanlage angenehm kühl. »Zuerst haben wir nur fürs Verteidigungsministerium gearbeitet«, sagte Singer und hielt Carson eine weitere Tür auf, »und dafür hat man uns dieses Stück Land mitten im Raketentestgelände überlassen. Wir sollten an Impfstoffen für angeblich von den Sowjets entwickelte biologische Waffen arbeiten. Als dann 1990 die Sowjetunion auseinanderbrach, wurde uns der Auftrag entzogen. Fast hätten wir damals auch das gesamte Labor verloren, aber Scopes hat seine Verbindungen spielen lassen und es irgendwie geschafft, den Pachtvertrag im Rahmen des Rüstungskonversionsgesetzes auf weitere dreißig Jahre zu verlängern.« Die Tür führte in ein Labor mit einer langen Reihe von schwärzen Arbeitstischen, auf denen sauber geputzte Bunsenbrenner, Erlenmeyerkolben, Stereomikroskope und andere einfache Laborgeräte im Licht der Neonröhren glänzten. Carson hatte noch nie ein so ordentliches Labor gesehen. »Was ist das? Das Labor für die einfacheren Versuche?«
»Nein«, entgegnete Singer. »Hier wird überhaupt nicht gearbeitet. Das ganze Zeug dient lediglich als Blickfang für Kongreßabgeordnete und hohe Offiziere, die sich unter einer Forschungsstätte wie der unseren eine größere Version ihres alten Chemielabors am College vorstellen. Die wirkliche Arbeit wird ganz woanders gemacht. Wo, das zeige ich Ihnen später.« Sie betraten den nächsten Raum, der viel kleiner war als der vorherige. In der Mitte stand ein großer, glänzender Apparat, den Carson sofort erkannte.
»Das ist ein Ultra-Shave von Scientific Precision«, sagte Singer stolz. »Das beste Mikrotom, das es auf der Welt gibt, jedenfalls unserer Meinung nach. Es ist vollkommen computergesteuert und kann mit seinem Diamantmesser ein menschliches Haar in zweitausendfünfhundert Längsschnitte zerlegen. Diese Maschine steht natürlich ebenfalls nur zur Schau hier, aber wir haben noch zwei weitere.«
Sie traten wieder hinaus in die gnadenlose Hitze der Wüste. Singer steckte einen Finger in den Mund und hielt ihn in die Luft. »Der Wind kommt aus Südosten«, sagte er. »Wie immer. Das ist übrigens auch ein ganz wichtiger Grund dafür, daß sich unsere Einrichtung ausgerechnet hier befindet. Die nächste Ansiedlung in Windrichtung ist ein Weiler namens Claunch mit ganzen zweiundzwanzig Einwohnern in zweihundertfünfundzwanzig Kilometern Entfernung. Die Trinity Site, der Ort, an dem die erste Atombombe gezündet wurde, befindet sich keine fünfzig Kilometer nordwestlich von hier. Ein idealer Platz, um unbemerkt eine solche Bombe hochgehen zu lassen. Ein abgeschiedeneres Fleckchen Erde findet man wohl nur schwer.«
»In meiner Kindheit nannten wir diesen Wind immer den mexikanischen Zephyr«, sagte Carson. »Als Junge habe ich ihn gehaßt. Mein Vater sagte immer, daß er mehr Ärger mache als ein kurzschweifiges Pferd, das man zur Fliegenzeit zu kurz angebunden hat.«
Singer drehte sich zu Carson um. »Wie bitte? Ich verstehe nur Bahnhof, Guy.«
»Ein kurzschweifiges Pferd ist eines, dem man den Schweif abgeschnitten hat. Und wenn man das an eine kurze Leine bindet, an der es sich kaum bewegen kann und deshalb von den Fliegen gequält wird, kann es so fuchsteufelswild werden, daß es sich losreißt und wegrennt.«
»Verstehe«, sagte Singer ohne großen Enthusiasmus. Dann deutete er über Carsons Schulter. »Da hinten sind unsere Sportanlagen - eine Turnhalle, Tennisplätze und ein Pferdestall mit Koppel. Wenn es Sie interessiert, schauen Sie doch irgendwann einmal vorbei. Ich persönlich habe eine starke Abneigung gegen körperliche Ertüchtigung jeglicher Art.« Er lachte und strich sich liebevoll über seinen stattlichen Bierbauch. »Das häßliche Gebäude gleich daneben ist übrigens die Luftreinigungsstation für den Fiebertank.«
»Was ist denn ein Fiebertank?«
»Tut mir leid«, sagte Singer. »Ich meine natürlich unser Labor der Sicherheitsstufe fünf, in dem an den wirklich gefährlichen Mikroorganismen gearbeitet wird. Sie kennen ja die verschiedenen Sicherheitsstufen für biologische Labors: Stufe eins ist für die Arbeit mit praktisch ungefährlichen, kaum infektiösen Mikroben und Stufe vier für die mit den allergefährlichsten Organismen. In den Vereinigten Staaten gibt es nur zwei Labors der Stufe vier: eines in Atlanta, das der Bundesgesundheitsbehörde gehört, und das der Army in Fort Detrick. In diesen Labors wird an den gefährlichsten Viren und Bakterien gearbeitet, die es in der Natur gibt.«
»Das ist mir bekannt. Aber von einer Sicherheitsstufe fünf habe ich noch nie etwas gehört.«
Singer mußte grinsen. »Stufe fünf ist Brents ganzer Stolz. Unser Labor in Mount Dragon ist das einzige auf der ganzen Welt, das über diesen Sicherheitsstandard verfügt. Deshalb können wir hier auch mit genmanipulierten Viren und Bakterien experimentieren, die noch gefährlicher sind als sämtliche in der Natur vorkommenden Mikroorganismen. Irgendwer hat das Labor vor Jahren einmal den >Fiebertank< genannt, und dieser Name ist ihm geblieben. Sämtliche Abluft aus dem Labor wird auf tausend Grad Celsius erhitzt und vollkommen sterilisiert. Dann wird sie gekühlt und, mit Sauerstoff angereichert, wieder in den Kreislauf hineingepumpt.«
Die fremdartig aussehende Luftreinigungsanlage war das einzige Gebäude in Mount Dragon, das nicht blendend weiß war. »Dann arbeiten Sie hier also an einem luftlöslichen Pathogen?« fragte Carson.
»Gut erkannt. Das tun wir in der Tat, und zwar an einem äußerst gefährlichen. Mir jedenfalls war sehr viel wohler in meiner Haut, als wir hier noch PurBlood, unseren künstlichen Blutersatz, entwickelten.«
Carson schaute hinüber zur Pferdekoppel, wo er eine Scheune, einen Stall, mehrere Pferdewagen und eine große, eingezäunte Weide außerhalb des Firmengeländes entdeckte. »Darf man denn auch außerhalb des Geländes reiten?« fragte er. »Natürlich. Sie müssen sich nur am Wachhaus aus- und wieder eintragen.« Singer wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Mein Gott, ist das heute heiß. Ich werde mich wohl nie daran gewöhnen. Lassen Sie uns rasch wieder nach drinnen gehen.«
Mit »drinnen« meinte Singer das nochmals durch einen eigenen Maschendraht abgesicherte Herz des Laborkomplexes. Es gab, soweit Carson das überblicken konnte, nur einen Durchgang in diesem Zaun, und zwar bei einem kleinen Wachhaus, das direkt vor ihnen lag. Singer ging voran zu einem großen Gebäude innerhalb des Zaunes, dessen Eingangstür in ein angenehm kühles Foyer führte. Durch eine offene Tür konnte Carson eine Reihe von Computerterminals auf langen, weißen Tischen erkennen. Zwei Männer, die unter ihren weißen Laborkitteln Jeans trugen, saßen, den Firmenausweis an einer Kordel um den Hals, vor je einem Terminal und tippten etwas ein. Erstaunt stellte Carson fest, daß sie bis auf Singer und den Wachmann am Tor die ersten Menschen waren, die er auf dem Gelände sah. »Wir sind jetzt im Verwaltungsgebäude«, sagte Singer. »Hier sitzen Datenverarbeitung, Personalabteilung und so weiter. Wir hatten hier nie viel Belegschaft. Selbst als wir noch für die Militärs arbeiteten, waren selten mehr als dreißig Wissenschaftler gleichzeitig hier. Jetzt sind es gerade mal halb so viele, die alle an einem einzigen Projekt arbeiten.«
»Das sind tatsächlich nicht allzu viele.«
»Mit Masseneinsätzen lassen sich gentechnische Probleme in den seltensten Fällen lösen«, sagte Singer mit einem Achselzucken.
Er führte Carson aus dem Foyer in einen großen, mit Rauchglas überdachten Innenhof mit einem Boden aus schwarzen Granitplatten. Durch die getönten Scheiben fiel das Licht der Wüstensonne stark abgeschwächt auf einen kleinen Palmenhain in der Mitte des Innenhofs, von dem drei überdachte Verbindungsgänge ausgingen. »Diese Gänge führen zum Transfektions- und zum DNA-Sequenzierungs-Labor«, sagte er. »Da werden Sie zwar nicht allzuviel zu tun haben, aber Sie sollten es sich dennoch bei Gelegenheit mal von einem Ihrer Kollegen zeigen lassen. Wir müssen jetzt aber dorthin.« Er deutete auf ein Fenster, durch das Carson ein niedriges, rhombenförmiges Gebäude aus dem Wüstenboden herausschauen sah. »Das ist das Labor der Stufe fünf«, sagte Singer ohne Begeisterung. »Der Fiebertank.«
»Sieht ziemlich klein aus«, bemerkte Carson. »Es ist auch klein, das werden Sie bald selber merken. Aber was Sie da sehen, ist nur das Gehäuse für die Luftreinigungsfilter. Das Labor selbst befindet sich komplett unter der Erde. Damit ist die Umwelt im Fall von Erdbeben, Feuer und Explosionen optimal geschützt.« Singer zögerte einen Augenblick. »Na, dann lassen Sie uns mal hinübergehen.«
Die beiden fuhren mit einem engen, langsamen Aufzug nach unten, wo sie ein weißgekachelter, von orangefarbenen Lampen erhellter Korridor erwartete. Unter an der Decke angebrachten Videokameras gingen sie bis zu einer massiv wirkenden, grauen Metalltür, die mit einer dicken, schwarzen Gummidichtung hermetisch verschlossen war.
Rechts neben der Tür befand sich ein kleiner Metallkasten, in den Singer seinen Namen hineinsprach. Kurze Zeit später ertönte ein Summton, und über der Tür leuchtete ein grünes Licht auf.
»Stimmerkennung«, sagte Singer und öffnete die Tür. »Ist zwar nicht ganz so sicher wie Handlinienleser oder Augenscanner, aber die funktionieren nun mal nicht, wenn man einen Schutzanzug trägt. Aber dieses System hier kann man zumindest nicht mit einem Tonbandgerät hereinlegen. Ihr Stimmprofil wird heute nachmittag erstellt, im Rahmen Ihres Aufnahmegesprächs.«
Sie kamen in einen großen Raum, dessen eine Wand aus einer Reihe großer Metallspinde bestand. In der Wand gegenüber befand sich eine glänzende Tür aus rostfreiem Stahl. Auf ihr war ein großes, gelbes Warnschild mit der Aufschrift HOCHGEFÄHRLICHE MIKROORGANISMEN angebracht.
»Das hier ist der Umkleideraum«, sagte Singer. »In den Spinden befinden sich die Schutzanzüge, die jeder im Fiebertank tragen muß.«
Er ging auf einen der Spinde zu, hielt dann aber inne und drehte sich zu Carson um. »Wissen Sie was? Ich glaube, es ist besser, ich hole Ihnen mal rasch jemanden, der sich hier wirklich auskennt. Der kann Sie dann im Labor herumfuhren.« Er ging zu einem der Spinde und drückte auf einen Knopf. Mit einem Zischen öffnete sich die Tür. Drinnen hing ein klobiger, blauer Gummianzug in einer genau passenden Form, die aussah wie die Polsterung eines aufrecht stehenden Sarges. »Soviel ich weiß, haben Sie noch nie in einem Labor der Sicherheitsstufe vier gearbeitet, stimmt's?« fragte Singer. Als Carson nickte, fuhr er fort: »Dann hören Sie mir jetzt gut zu. Stufe fünf ist eigentlich nichts anderes als eine verschärfte Stufe vier. Die meisten Leute hier tragen unter dem Schutzanzug bequeme Sportklamotten, aber das ist keine Pflicht. Sollten Sie allerdings normale Straßenkleidung bevorzugen, müssen Sie peinlich darauf achten, daß Sie vorher Stifte, Uhr, Messer oder andere Gegenstände, die die Haut des Schutzanzugs verletzen könnten, aus den Taschen nehmen.« Carson leerte seine Taschen. »Haben Sie lange Fingernägel?« fragte Singer.
Carson sah auf seine Hände. »Nein.«
»Das ist gut. Ich als Nägelbeißer habe damit noch nie Probleme gehabt«, kicherte Singer. »In dem Fach links unten im Spind liegen die Schutzhandschuhe. Wenn Sie Ringe an den Fingern haben, nehmen Sie sie ab. Als erstes aber ziehen Sie Ihre Stiefel aus und diese Slipper hier an. Auch hier gilt: keine langen Zehennägel. Irgendwo in dem Spind müßte auch eine Nagelschere sein, falls Sie mal eine brauchen sollten.« Carson zog seine Stiefel aus.
»Und nun steigen Sie in den Anzug, und zwar zuerst mit dem rechten, dann mit dem linken Bein. Dann ziehen Sie den Anzug hoch und machen ihn zu. Aber lassen Sie das Visier offen, damit wir uns noch unterhalten können.«
Carson quälte sich in den störrischen Anzug, der sich nur mit Mühe über die Kleidung ziehen ließ. »Das Ding wiegt ja eine Tonne«, sagte er. »Dafür ist der Anzug aber auch voll klimatisiert. Sehen Sie das Metallventil an der Taille? Wenn Sie drinnen sind, können Sie daran einen Schlauch anschließen, über den Ihnen ständig Sauerstoff zugeführt wird. Für den Weg von einem Anschluß zum nächsten haben Sie im Anzug immer eine Luftreserve von zehn Minuten.« Singer ging zu einer Gegensprechanlage an der Wand und drückte eine Reihe von Knöpfen. »Rosalind?« fragte er.
»Was gibt's?« meldete sich nach einer kurzen Pause eine Frauenstimme aus dem Lautsprecher.
»Hier spricht Charles. Ich bin hier mit Guy Carson, unserem neuen Wissenschaftler. Wären Sie bitte so freundlich und würden ihn durchs Labor führen?«
Es folgte eine längere Pause, bis die Stimme wieder antwortete. »Aber ich stecke mitten in der Arbeit.«
»Nun kommen Sie schon, es dauert doch nur ein paar Minuten.«
»Na schön, wenn's unbedingt sein muß!« Die Gegensprechanlage verstummte schlagartig.
»Das war Rosalind BrandonSmith. Ich fürchte, sie ist ein wenig exzentrisch«, flüsterte Singer vertraulich in Carsons offenes Visier. »Eigentlich könnte man sie auch als ausgesprochen unhöflich bezeichnen, aber das sollte Sie nicht bekümmern. Rosalind war maßgeblich an der Entwicklung unseres Blutersatzprodukts beteiligt, und jetzt arbeitet sie mit voller Kraft an dem neuen Projekt. Sie hatte engen Kontakt mit Frank Burt, deshalb ist sie auf seinen Ersatzmann möglicherweise nicht allzu gut zu sprechen. Es ist besser, wenn Sie sich drinnen mit ihr treffen, denn wenn sie Sie hier abholt, muß sie sich zweimal dekontaminieren.«
»Wer ist denn Frank Burt?« fragte Carson. »Frank war ein großartiger Wissenschaftler. Und ein feiner Mensch dazu. Leider hat ihn die Arbeit hier etwas zu sehr mitgenommen, so daß er vor nicht allzu langer Zeit eine Art Nervenzusammenbruch hatte. Burt ist da übrigens nicht der einzige, etwa ein Viertel der Leute, die nach Mount Dragon kommen, bleiben nicht bis zum Ende der vorgesehenen Zeit.«
»Ich wußte gar nicht, daß ich der Ersatzmann für jemand anderen bin.«
»Aber das sind Sie nun mal. Ich werde es Ihnen später noch genauer erzählen. Es sind übrigens ziemlich große Fußstapfen, in die Sie da treten müssen.« Singer musterte Carson von Kopf bis Fuß. »Okay, jetzt machen Sie die Reißverschlüsse bis ganz oben zu. Achten Sie darauf, daß Sie alle drei sorgfältig sichern. Dann sollten Sie sich den Anzug noch einmal von einem Kollegen auf einwandfreien Sitz überprüfen lassen, bevor Sie ins Labor gehen.«
Singer kontrollierte sorgfältig Carsons Schutzanzug und erklärte ihm kurz die eingebaute Sprechanlage.
Dann deutete er auf die Tür mit der Aufschrift HOCHGEFÄHRLICHE MIKROORGANISMEN. »Auf der anderen Seite dieser Luftschleuse befindet sich eine chemische Dusche, die sich automatisch anschaltet, sobald Sie sie betreten. Das Duschen ist etwas unangenehm, aber es ist besser, Sie gewöhnen sich rasch daran, denn wenn Sie die Sicherheitszone wieder verlassen, wartet eine noch viel längere Dusche auf Sie. Nach der Dusche öffnet sich die innere Tür der Luftschleuse, und dahinter wartet hoffentlich schon Rosalind auf Sie. Und bewegen Sie sich vorsichtig, solange Sie sich noch nicht an den Anzug gewöhnt haben.«
»Vielen Dank«, sagte Carson mit lauter Stimme, damit Singer ihn durch die dicke Gummischicht des Schutzanzugs verstand. »Bitte«, hörte er ihn gedämpft antworten. »Tut mir leid, daß ich nicht mit hineingehe, aber...« Singer zögerte ein bißchen. »Aber niemand geht in den Fiebertank, wenn er nicht unbedingt muß. Sie werden schon noch merken, warum.« Carson trat durch die Tür, die sich hinter ihm mit einem Zischen schloß, und auf das Metallgitter einer Duschkabine. Er hörte ein glucksendes Geräusch, und kurz darauf wurde aus Düsen an Decke, Wänden und Boden eine gelbliche Chemikalie auf seinen Anzug gespritzt. Als die Dusche nach einer Minute aufhörte, ging vor Carson eine Tür auf. Sie führte in einen kleinen Raum, in dem ihm von allen Seiten ein kräftiger Luftzug entgegengeblasen wurde. Im Inneren des Anzugs fühlte sich diese Trockenprozedur wie ein merkwürdiger, weit entfernter Wind an, von dem Carson nicht sagen konnte, ob er warm oder kalt war. Dann öffnete sich eine weitere Tür, hinter der eine kräftig gebaute Frau stand, die ihn ungeduldig durch das Visier ihres Schutzanzugs ansah. Auch wenn er den Anzug wegrechnete, schätzte Carson ihr Gewicht auf gute hundertzehn Kilo. »Kommen Sie mit«, sagte sie über die Sprechanlage, drehte sich abrupt um und ging einen gekachelten Gang entlang, der so eng war, daß sie manchmal mit den Schultern die Wände streifte. Die Wände waren kahl und glatt, ohne vorspringende Ecken, an denen man sich den Schutzanzug aufreißen konnte. Alles der Boden, die Wände, die Decke - war blendend weiß. Carson drückte auf den Knopf an seinem linken Unterarm und sagte durch die Sprechanlage: »Ich bin Guy Carson.« »Was Sie nicht sagen«, antwortete die Frau, ohne sich umzudrehen. »Und jetzt passen Sie auf. Sehen Sie die Luftschläuche da oben?« Carson blickte zur Decke und sah, daß in regelmäßigen Abständen blaue Schläuche mit Metallventilen an den Enden herabhingen.
»Nehmen Sie sich einen davon und stecken Sie ihn in das Ventil an Ihrem Anzug. Und zwar vorsichtig. Drehen Sie ihn nach links, um ihn zu verriegeln. In jedem Labor gibt es solche Schläuche. Wenn Sie von einem Raum in den nächsten gehen, dann koppeln Sie sich von dem einen ab und am nächsten wieder an. Ihr Anzug hat nur einen begrenzten Luftvorrat, also sollten Sie besser nicht herumtrödeln.« Carson befolgte ihre Anweisungen und hörte, nachdem er das Ventil an seinem Anzug einschnappen hatte lassen, das beruhigende Zischen der Luft. In diesem. Schutzanzug fühlte er sich der Welt auf merkwürdige Weise entrückt, und seine Bewegungen kamen ihm langsam und linkisch vor. Weil er zwei Paar Handschuhe übereinander trug, hatte er zunächst Schwierigkeiten gehabt, den Schlauch an das Ventil anzuschließen.
»Dieses Labor hier ist wie ein Unterseeboot«, hörte er die Stimme von BrandonSmith aus der Sprechanlage. »Klein, eng und gefährlich. Hier hat alles und jeder seinen ganz bestimmten Platz.«
»Ich verstehe«, sagte Carson. »Tatsächlich?«
»Ja.«
»Das ist schön, denn hier im Fiebertank kann Schlamperei tödlich sein. Und nicht nur für Sie, sondern auch für andere. Verstanden?«
»Ja«, sagte Carson. Dumme Kuh.
BrandonSmith ging weiter den schmalen Gang entlang. Carson koppelte seinen Luftschlauch wieder ab und folgte ihr. Während er versuchte, sich an das Gehen im Schutzanzug zu gewöhnen, hörte er ein seltsames Geräusch im Hintergrund. Es war ein tiefes Brummen, das Carson mehr spürte, als daß er es hörte. Das muß der Generator des Fiebertanks sein, dachte er.
Auf einmal verschwand BrandonSmith' massige Gestalt durch eine enge Luke in der Seitenwand des Ganges. Carson folgte ihr und kam in ein Labor, in dem mehrere Leute in Schutzanzügen an mit Plexiglas abgedeckten Sicherheitswerkbänken standen. Sie streckten die Hände durch mit Gummimanschetten abgedichtete Löcher in die Plexiglasbehälter und reinigten Petrischalen. Das Licht in dem Raum war so hell, daß es fast in den Augen weh tat und jedes Objekt einen scharfen Schatten warf. Neben den Tischen standen mit Warnschildern versehene Abfallbehälter und eine Vorrichtung, mit der gefährliche Stoffe sofort sterilisiert werden konnten. An der Decke waren mehrere Videokameras angebracht.
»Hört mal alle her«, sagte BrandonSmith durch die Sprechanlage ihres Anzugs. »Das ist Guy Carson, der Ersatzmann für Burt.« Die Wissenschaftler hoben die Köpfe hinter den Visieren, blickten Carson neugierig an und begrüßten ihn über die Sprechanlage mit knappen Worten.
»Das hier ist die Produktion«, sagte BrandonSmith so kurz angebunden, daß Carson es nicht wagte, sie danach zu fragen, was die Leute an den Tischen überhaupt machten. Danach führte BrandonSmith Carson durch ein wahres Labyrinth aus Arbeitsräumen, schmalen Gängen und Luftschleusen, die ebenso gnadenlos grell beleuchtet waren wie alles andere hier. Sie hat recht, dachte Carson bei dieser Besichtigungstour. Dieses Labor hier hat wirklich was von einem Unterseeboot. Jedes kleinste Fleckchen Raum war vollgepackt mit teuren wissenschaftlichen Geräten, darunter Transmissions- und Rasterelektronenmikroskope, Autoklaven, Inkubatoren und Massenspektrometer. Die Apparate waren alle so konstruiert, daß sie von jemandem im Schutzanzug bedient werden konnten. An den weißgestrichenen, niedrigen Decken lief ein Gewirr von Leitungen entlang. Alle zehn Meter blieb BrandonSmith stehen, hängte sich an einen neuen Luftschlauch und wartete, bis Carson dasselbe getan hatte. Dadurch kamen sie nur sehr langsam voran.
»Mein Gott«, sagte Carson. »Diese Sicherheitsmaßnahmen sind ja schier unglaublich. Was haben Sie denn um Himmels willen für gefährliche Sachen hier drunten?«
»Alles, was das Herz begehrt«, antwortete BrandonSmith trocken. »Beulenpest, Lungenpest, das Marburg-Virus, das Hanta-Virus, Denguefieber, Ebola und Milzbrand, ganz zu schweigen von ein paar sowjetischen Spezialitäten. Lagert alles in unseren Tiefkühltruhen.«
Die Enge, der ungewohnte Anzug und das grelle Licht hatten Carson ziemlich durcheinandergebracht. Er atmete hastig und mußte gegen den Impuls ankämpfen, den Anzug auszuziehen und sich Luft zum Atmen zu verschaffen. Schließlich kamen sie in einen kleinen, runden Raum, von dem aus mehrere Gänge wie die Speichen eines Rades auseinanderliefen. »Was ist denn das hier?« fragte Carson und deutete auf ein großes Rohrverteilerstück an der Decke. »Der Luftabzug«, sagte BrandonSmith und stöpselte sich an einen neuen Sauerstoffschlauch an. »Wir sind hier im Zentrum des Fiebertanks. In der ganzen Anlage herrscht Unterdruck, der hier, in der Mitte, am stärksten ist. Durch diese Leitungen strömt die Luft nach oben in die Reinigungsanlage, wo sie keimfrei gemacht und wieder ins System eingespeist wird.« Dann deutete sie in einen der Korridore. »Da geht es zu Ihrem Labor, aber das sehen Sie sich gefälligst selber an. Ich habe schließlich noch etwas anderes zu tun, als Sie überall herumzuführen.«
»Und was ist dort unten?« fragte Carson und deutete auf einen engen Schacht zu ihren Füßen, in den eine glänzende Leiter aus rostfreiem Stahl hinunterführte.
»Unter uns gibt es noch drei Stockwerke«, antwortete BrandonSmith. »Dort befinden sich weitere Laborräume, die Gefriertruhen und außerdem der Generatorraum und das Kontrollzentrum des Sicherheitsdienstes.«
BrandonSmith ging einen der Korridore ein paar Schritte entlang und blieb dann vor einer Tür stehen. »Carson?«
»Ja.«
»Das hier ist der letzte Raum, den ich Ihnen zeigen werde. Wir nennen ihn den Zoo, weil dort die Schimpansen für unsere Versuche untergebracht sind. Halten Sie da drin bloß Abstand zu den Käfigen, denn wenn ein Tier Ihnen ein Loch in den Anzug reißt, werden Sie hier unten unter Quarantäne gestellt und sterben vielleicht, ohne jemals wieder das Tageslicht erblickt zu haben.«
Carson wollte fragen, was für Versuche an den Affen durchgeführt wurden, aber BrandonSmith hatte bereits die Tür geöffnet. Das seltsame Brummen, das Carson schon vorhin gehört hatte, schlug ihm jetzt sehr viel lauter entgegen. Es stammte nicht, wie er vermutet hatte, von einem Generator, sondern war das Gebrüll und Gekreisch von Affen, das gedämpft ins Innere seines Anzugs drang. Carson trat in den Raum und sah, daß eine der Wände vom Fußboden bis zur Decke mit übereinandergestapelten Käfigen verstellt war. Kaum hatten die schwarzen Knopfaugen hinter den Türen aus Maschendraht Carson und Brandon-Smlth entdeckt, erhöhte sich der Geräuschpegel um ein vielfaches, weil die gefangenen Tiere jetzt mit Händen und Füßen auf den Boden ihrer Käfige trommelten. »Sind das alles Schimpansen?« fragte Carson. »Was sonst?« gab BrandonSmith zurück. Eine kleine Gestalt im Schutzanzug, die am anderen Ende der Käfigreihe stand, drehte sich zu ihnen um. »Carson, das ist Bob Fillson. Bob kümmert sich um die Tiere.« Fillson nickte ihm kurz zu. Hinter dem Visier konnte Carson eine fliehende Stirn, eine dicke Nase und feuchte, leicht offenstehende Lippen erkennen. Der Mann drehte sich wieder um und arbeitete weiter.
»Weshalb sind es so viele?« fragte Carson. BrandonSmith sah ihn an. »Weil Schimpansen die einzigen Tiere sind, die annähernd dasselbe Immunsystem haben wie wir Menschen. Das müßten Sie eigentlich wissen, Carson.«
»Natürlich weiß ich das. Aber damit ist meine Frage...« BrandonSmith beachtete ihn nicht weiter und starrte wie gebannt in einen der Käfige. »Ach, du grüne Scheiße!« sagte sie.
Carson trat neben sie, wobei er sorgfältigen Abstand zu den durch die Maschen herausgestreckten Fingern hielt. In dem Käfig lag ein Schimpanse zitternd auf der Seite und schien nichts von dem Spektakel rings um ihn mitzubekommen. Das Gesicht des Tieres kam Carson irgendwie merkwürdig vor, aber es dauerte eine Weile, bis er wußte, weshalb. Es waren die Augen, die ihm ungewöhnlich groß vorkamen. Er sah näher hin und bemerkte, daß sie weit aus ihren Höhlen gequollen und einige Adern der Lederhaut geplatzt waren. Plötzlich wand sich der Schimpanse in Zuckungen und stieß einen lauten, gequälten Schrei aus.
»Bob«, sagte BrandonSmith durch die Sprechanlage, »der letzte von Burts Schimpansen geht über den Jordan.« Fillson schlurfte ohne erkennbare Eile herbei. Er war nicht viel mehr als einen Meter fünfzig groß und bewegte sich so bedächtig und langsam, daß er Carson an einen Taucher unter Wasser erinnerte.
Mit heiserer Stimme sagte er über die Sprechanlage zu Carson: »Sie müssen jetzt gehen. Und Sie ebenfalls, Rosalind. Ich darf keinen Käfig öffnen, wenn außer mir noch jemand anderer im Raum ist.«
Voller Grauen sah Carson, wie aus den Augenhöhlen des Affen eine blutige Flüssigkeit quoll und einen der Augäpfel vollends herausdrückte. Das Tier krümmte sich vor Schmerzen, schnappte mit den Zähnen und schlug wie besessen mit den Armen um sich, schrie aber nicht mehr.
»Was zum Teufel geht hier überhaupt vor?« stammelte Carson starr vor Schreck.
»Auf Wiedersehen«, sagte Fillson mit Nachdruck und holte etwas aus einem Schrank hinter ihm.
»Wiedersehen, Bob«, sagte BrandonSmith. Carson war nicht entgangen, daß sie dem Tierpfleger gegenüber einen sehr viel freundlicheren Ton angeschlagen hatte als bei ihm. Als sie nach draußen gingen, sah Carson noch, wie das gequälte Tier sich mit den Fingern verzweifelt im Gesicht herumfuhrwerkte, während Fillson aus einer Spraydose etwas in den Käfig sprühte.
BrandonSmith stampfte schweigend voran in einen anderen Korridor.
»Wollen Sie mir denn nicht sagen, was mit dem Schimpansen los war?« fragte Carson schließlich.
»Das war doch nun wirklich nicht zu übersehen«, fauchte sie. »Er hatte ein zerebrales Ödem.«
»Und was hat es hervorgerufen?«
Die Frau drehte sich um und sah ihn mit deutlichem Erstaunen an. »Wissen Sie es denn wirklich nicht, Carson?«
»Nein, ich weiß überhaupt nichts. Und nennen Sie mich nicht einfach Carson. Ich möchte, daß Sie mich entweder mit Guy oder mit Dr. Carson anreden. Suchen Sie sich eines von beiden raus.«
BrandonSmith schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Na schön, Guy, einige dieser Schimpansen sind X-FLU positiv. Der, den Sie gerade gesehen haben, war im dritten Stadium der Erkrankung. Das Virus ruft eine massive Überproduktion von Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit hervor, deren Druck irgendwann einmal das Gehirn durchs große Hinterhauptsloch hinausdrückt. Manche der Affen haben Glück und sterben daran, aber andere, wie dieser eben, halten so lange durch, bis die überschüssige Hirnflüssigkeit ihnen die Augen aus den Höhlen drückt.«
»Was ist X-FLU?« fragte Carson. Er spürte, wie er an der Stirn und unter den Achseln zu schwitzen begann und sein Anzug von innen beschlug.
BrandonSmith blieb wie angewurzelt stehen. Durch seine Sprechanlage konnte Carson hören, wie sie sich über den allgemeinen Kanal an Singer wandte: »He, Singer, können Sie mir vielleicht mal sagen, wieso dieser Spaßvogel hier nicht das geringste über X-FLU weiß?«
Als Singer antwortete, klang seine Stimme verzerrt und weit entfernt. »Weil ich ihn noch nicht über unser Projekt informiert habe. Das mache ich, wenn er mit seiner Tour durch den Fiebertank fertig ist.«
»Wieso einfach, wenn's auch umständlich geht«, murmelte BrandonSmith und wandte sich an Carson. »Okay, Guy, raus mit Ihnen. Die Führung ist beendet.«
Sie brachte ihn zur Luftschleuse am Ausgang und ließ ihn stehen. Carson begab sich ein weiteres Mal unter die chemische Dusche. Diesmal wurde sein Anzug volle sieben Minuten lang mit einer starken Desinfektionslösung besprüht. Als die Prozedur und die nachfolgende Trocknung überstanden waren, gelangte Carson wieder in den Umkleideraum. Leicht verärgert sah er Singer entspannt auf einem Stuhl sitzen und seelenruhig die Comic -Seite einer Zeitung lesen.
»Na, hat Ihnen die Tour gefallen?« fragte Singer und blickte von der Zeitung auf.
»Nein«, antwortete Carson, atmete tief durch und versuchte, das bedrückende Gefühl loszuwerden, das ihn drinnen im Fiebertank befallen hatte. »Diese BrandonSmith ist ja schlimmer als eine Klapperschlange in der Bratpfanne.« Singer lachte laut heraus und schüttelte seinen fast kahlen Kopf. »Gut erkannt. Trotzdem ist sie die brillanteste Wissenschaftlerin, die wir im Augenblick hier haben. Wenn wir dieses Projekt erfolgreich abschließen, werden wir alle steinreich, Sie mit eingeschlossen. Dafür kann man es schon eine Weile mit einer Rosalind BrandonSmith aushaken, finden Sie nicht auch? In Wirklichkeit ist sie unter all ihrem Fett nichts weiter als ein verunsichertes kleines Mädchen.«
Er half Carson aus seinem Anzug und zeigte ihm, wie er ihn wieder in dem Spind verstauen mußte.
»Ich schätze, es ist an der Zeit, daß Sie mich über dieses mysteriöse Projekt aufklären«, sagte Carson, als er die Tür zumachte. »Da haben Sie recht. Wollen wir auf einen kühlen Drink in mein Büro gehen?«
Carson nickte. »Da drinnen war ein Schimpanse, dem sind die Augen...«
Singer hob die Hand. »Ich weiß genau, was Sie gesehen haben.«
»Und was hat das Tier gehabt?«
»Grippe.«
»Wie bitte?« fragte Carson. »Die Grippe?«
Singer nickte.
»Aber bei einer Grippe drückt es einem nicht die Augen aus dem Kopf.«
»Na ja«, sagte Singer, »das ist auch eine ganz spezielle Grippe.« Er faßte Carson am Ellenbogen und führte ihn durch die Gänge des Hochsicherheitslabors zurück ins Licht der Wüstensonne.
Um genau zwei Minuten vor drei Uhr nachmittags öffnete Charles Levine die Tür seines Büros und geleitete eine junge Frau in Jeans und T-Shirt zurück ins Vorzimmer. »Vielen Dank, Miss Fields«, sagte er mit einem Lächeln. »Wir lassen es Sie wissen, wenn wir im nächsten Semester eine Beschäftigung für Sie haben.«
Während die Studentin zur Tür ging, sah Levine auf die Uhr. »Keine weiteren Besuche, Ray, oder?« fragte er seinen Sekretär. Nur mit Mühe gelang es Ray, die Augen von Miss Fields' Hinterteil wieder zurück auf den Terminkalender zu richten. Er strich mit der Hand über seine sorgfältig im Buddy-Holly-Stil frisierten Haare und kratzte sich unter dem ärmellosen, roten T-Shirt an der muskulösen Brust. »Das war's, Dr. Levine«, sagte er.
»Liegt sonst noch was an? Dringende Nachrichten? Gerichtliche Vorladungen? Heiratsanträge?«
Ray grinste und wartete mit seiner Antwort, bis sich die Tür hinter Miss Fields geschlossen hatte. »Borucki hat zweimal angerufen. Offenbar hat Ihr Artikel vom vergangenen Monat eine gewisse Pharmafirma in Little Rock nicht ganz kalt gelassen. Sie will Sie jetzt wegen übler Nachrede verklagen.«
»Um wie viel geht's diesmal?«
»Eine Million«, sagte Ray mit einem Achselzucken.
»Dann sollen meine Anwälte die üblichen Schritte einleiten«, sagte Levine und ging wieder zurück in sein Büro. »Und jetzt möchte ich nicht gestört werden, Ray.«
»Geht in Ordnung.« Levine schloß die Tür.
Seit er als Vorsitzender der Stiftung für Verantwortungsbewußte Gentechnologie eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte, war es mit der Ruhe an Levines Lehrstuhl für theoretische Genetik vorbei. Die Stiftung übte eine geradezu magische Anziehung auf Studenten vom Typ idealistischer Außenseiter aus, die alle auf der Suche nach einer Aufgabe waren, für die sie sich mit all ihrer Kraft einsetzen konnten. Darüber hinaus machten die Veröffentlichungen der Stiftung Levine und sein Büro zur Zielscheibe wütender Angriffe von seiten der Industrie. Deshalb hatte Levine, nachdem sein vorhergehender Sekretär nach einer Reihe von Drohanrufen entnervt gekündigt hatte, diverse Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Zunächst einmal hatte er ein neues Sicherheitsschloß an seiner Bürotür anbringen lassen, und dann hatte er Ray eingestellt. Rays Fähigkeiten als Sekretär ließen zwar eine Menge zu wünschen übrig, aber er war ein Garant dafür, daß es in Levines Vorzimmer immer ruhig blieb. Schließlich war Ray, bevor er wegen eines Herzfehlers den Dienst hatte quittieren müssen, Angehöriger einer Spezialkampftruppe der Marine gewesen. Seine Freizeit schien Ray zum Großteil damit zu verbringen, Frauen hinterherzujagen, hier im Büro aber legte er eine heitere Gelassenheit an den Tag und ließ sich von nichts und niemandem einschüchtern. Für Levine war er aus diesem Grund längst unentbehrlich geworden. Nachdem der schwere Bolzen des Sicherheitsschlosses mit einem beruhigenden Klicken eingeschnappt war, drehte Levine zur Sicherheit noch mal am Türknauf und ging dann zwischen Stapeln von unkorrigierten Seminararbeiten, wissenschaftlichen Zeitschriften und alten Ausgaben der Zeitschrift Genetic Policy zu seinem Schreibtisch. Die leutselige, unbeschwerte Art, die er während seiner Sprechstunde an den Tag gelegt hatte, war jetzt verflogen. Er schob ein paar Papiere auf dem Schreibtisch zur Seite, zog seinen Laptop heran und holte aus seiner Aktentasche ein zigarettenschachtelgroßes, schwarzes Kästchen, das er mit einem grauen Kabel an dem Computer anschloß. Dann beugte er sich über den Schreibtisch, zog die Telefonleitung aus dem Telefon und stöpselte sie ebenfalls in das schwarze Kästchen.
Schon bevor Levines unermüdlicher Kreuzzug für die Kontrolle der Gentechnologie seinen Namen in vielen Forschungslabors auf der ganzen Welt zu einem Schimpfwort gemacht hatte, hatte Levine gelernt, seine Arbeit vor unerlaubten Zugriffen zu schützen. Aus diesem Grund verwendete er jetzt auch das schwarze Kästchen, das die von seinem Computer ins Telefonnetz übertragenen Daten nach einem komplizierten Algorithmus verschlüsselte, den angeblich nicht einmal die Supercomputer des amerikanischen Geheimdienstes knacken konnten. Allein der Besitz eines solchen Geräts war hart am Rande der Legalität, aber das störte Levine nicht weiter. Als aktives Mitglied der Anti-Vietnamkriegs-Bewegung hatte er sich auch schon während seiner Studienzeit in Kalifornien Ende der sechziger Jahre unorthodoxer und manchmal sogar illegaler Methoden bedient, um seine Ziele zu erreichen.
Jetzt schaltete er den Laptop ein und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf der Schreibtischplatte herum, bis der Computer einsatzbereit war. Dann startete er mit ein paar raschen Tastenkombinationen ein Kommunikationsprogramm., mit dem er sich über die Telefonleitung in den Computer eines ganz speziellen Users einwählen konnte.
Levine wartete, während sein Anruf auf einem komplizierten, nicht zurückverfolgbaren Pfad über mehrere, weit voneinander entfernte Knoten des Telefonnetzes geleitet wurde. Schließlich hörte er am anderen Ende der Leitung das Pfeifen eines Modems, und als sich die beiden Computer durch eine Reihe von schrillen, quiekenden Geräuschen miteinander verständigt hatten, erschien auf dem Display von Levines Laptop ein ihm mittlerweile vertrautes Bild. Es zeigte einen Clown, der den Erdball auf einer Fingerspitze balancierte. Kurz darauf verschwand das Logo, und auf dem Bildschirm erschienen Buchstaben, die so nackt und körperlos aussahen, als habe ein Geist sie getippt. Professor! Was gibt's? Ich brauche einen Zugang zum Netz von GeneDyne, tippte Levine.
Die Antwort kam sofort. Kein Problem. Was wollen Sie denn heute wissen? Die Telefonnummern aller leitenden Angestellten? Personalakten? Die Highscorelisten von den Leuten, die auf dem Computer der Poststelle Doom spielen? Ich brauche eine abgeschirmte Leitung ins Labor am Mount Dragon, tippte Levine.
Nun dauerte es ein wenig, bis die Antwort kam. Wow! Wow! Wen haben Sie denn diesmal an den Eiern, Monsieur le Professeur?
Kriegen Sie es etwa nicht hin, mir diese Leitung zu beschaffen? drängte Levine.
Soll das ein Witz sein? Sie wissen doch genau, mit wem Sie es zu tun haben. »Unmöglich« ist ein Fremdwort für den Clown. Aber es geht hier nicht um mich, ich mache mir Sorgen um Sie, mein Lieber. Ich habe gehört, daß dieser Scopes ein ziemlich übler Zeitgenosse sein soll. Der wartet doch nur drauf. Säe dabei zu erwischen, wie Sie ihm elektronisch an die Wäsche gehen. Sind Sie sicher, daß Sie sich zur Hauptgeschäftszeit da einloggen wollen, Professor?
Sie machen sich Sorgen um mich? tippte Levine. Das kann ich kaum glauben.
Warum so abgebrüht, Professor? Das verletzt mich in meinen Gefühlen.
Wollen Sie diesmal Geld haben? Geht es darum?
Geld? Jetzt bin ich aber wirklich beleidigt. Ich verlange Genugtuung. Wir treffen uns um High-Noon vor dem Cyberspace Saloon.
Ich meine es ernst, Clown.
Ich auch. Also gut, dann werde ich Ihnen bei Ihrem kleinen Problem eben behilflich sein. Übrigens habe ich gehört, daß Scopes ein echt geiles Programm entwickelt haben soll. Etwas ganz Neues und Hochinteressantes. Aber wie ich den eifersüchtigen Kerl kenne, hat er seinem Server vermutlich einen Keuschheitsgürtel angelegt. Wenn ich schon mal in seinem Netz bin, könnte ich ja vielleicht seinen privaten Computer knacken und mir das Programm herunterladen. So was mache ich für mein Leben gern.
Machen Sie, was Sie wollen, tippte Levine gereizt, aber sorgen Sie dafür, daß ich einen absolut sicheren Zugang bekomme. Bitte lassen Sie mich wissen, wenn Sie soweit sind.
WG. Was heißt das? WG?
Tut mir leid, Professor. Ich vergesse immer, daß Sie hier ja ein Neuling sind. Bei uns im Cyberspace gibt es für praktisch alles eine schöne, prägnante Abkürzung. Und WG heißt »Wird gemacht«. Davon könntet ihr Wissenschaftler mit euren langatmigen Abhandlungen euch mal eine Scheibe abschneiden. Jetzt habe ich gleich noch eine Abkürzung für Sie: BB. Heißt »Bis bald«. Alsdann: BB, Professor.
John Singers Büro im südöstlichen Teil des Verwaltungsgebäudes glich mehr einem Wohnzimmer als den Räumen eines Laborchefs. Eine Ecke nahm ein indianischer Kiva-Kamin ein, vor dem ein Sofa und zwei bequeme Ledersessel standen. Auf einer alten mexikanischen Truhe an der Wand stand eine ziemlich mitgenommene Martin-Gitarre neben einem zerfledderten Stapel von Notenblättern. Auf dem Boden lag ein Navajo-Teppich, und an den Wänden hingen gerahmte Stiche aus dem neunzehnten Jahrhundert, die das Leben im Wilden Westen zeigten, und sechs Fotografien von Mandan- und Hidatsa-Indianern vom Oberlauf des Missouri. In dem Büro gab es keinen Schreibtisch, nur einen Computerarbeitsplatz, ein Faxgerät und ein Telefon.
Die Fenster blickten nach Westen in die Wüste hinaus, wo sich die Schotterstraße am. Horizont verlor. Die Sonnenstrahlen, die durch die getönten Scheiben hereindrangen, erfüllten den Raum mit hellem Licht.
Carson setzte sich in einen der Sessel, während Singer zu einer kleinen Bar an der Wand gegenüber ging.
»Was darf's sein?« fragte er. »Bier, Wein, Martini, Saft?« Carson sah auf die Uhr. Es war Viertel vor zwölf, und sein Magen fühlte sich ein wenig flau an. »Ich hätte gerne einen Saft.«
Als Singer zurückkam, hatte er einen Apfelsaft in der einen und einen Martini in der anderen Hand. Er ließ sich auf das Sofa fallen und legte die Füße auf den Tisch. »Ich weiß, ich weiß. Alkohol vor dem Mittagessen ist nicht gesund. Aber das hier ist nun mal eine besondere Gelegenheit.« Er hob sein Glas. »Auf X-FLU.«
»X-FLU«, murmelte Carson. »Ist das etwa das Zeug, an dem die Schimpansen sterben?«
»Stimmt.« Singer nahm einen Schluck und atmete zufrieden aus.
»Entschuldigen Sie meine Direktheit«, sagte Carson, »aber ich wüßte wirklich gerne, worum es bei diesem Projekt überhaupt geht. Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, warum Mr. Scopes unter den wieviel? - fünftausend Wissenschaftlern der Firma ausgerechnet mich für diesen Job ausgesucht hat. Und wieso mußte ich alles stehen- und liegenlassen und Hals über Kopf hierher in die Wüste kommen?«
Singer räkelte sich wohlig auf seiner Couch. »Da muß ich ein bißchen weiter ausholen. Kennen Sie ein Tier, das Bonobo heißt?«
»Nein.«
»Man hat diese Tiere früher auch Zwergschimpansen genannt, bis man herausgefunden hat, daß es sich bei ihnen um eine gänzlich andere Spezies handelt. Bonobos sind sogar noch näher mit dem Menschen verwandt als normale Tieflandschimpansen. Sie sind intelligenter als diese, leben in monogamen Paargemeinschaften und haben mit uns 99,2 Prozent der DNA gemeinsam. Außerdem bekommen sie -und das ist für uns das Entscheidende -alle menschlichen Krankheiten. Außer einer.« Er hielt inne und nahm einen Schluck von seinem Drink.
»Bonobos können keine Grippe kriegen. Alle anderen Schimpansen, ebenso Gorillas und Orang-Utans, kriegen sie, nur der Bonobo nicht. Dieser Umstand ist Brent vor etwa zehn Monaten aufgefallen. Also schickte er uns ein paar Bonobos, bei denen wir eine Gensequenzierung vorgenommen haben. Ich zeige Ihnen mal, was dabei herausgekommen ist.« Singer beugte sich vor an den Couchtisch, auf dem ein Laptop lag, und schaltete ihn ein. Er drehte ihn so, daß Carson den Bildschirm sehen konnte, auf dem lange Reihen von in einem komplexen Muster angeordneten Buchstaben zu sehen waren. »Der Bonobo hat ein Gen, das ihn immun gegen Grippe macht. Und zwar nicht nur gegen einen oder zwei Virenstämme, sondern gegen alle sechzig bisher bekannt gewordenen Varianten des Virus. Dieses Gen haben wir das X-FLU-Gen genannt.« Carson scrollte auf dem Bildschirm nach unten. Es war ein kurzes Gen, das nur aus ein paar hundert Basenpaaren bestand. »Was bewirkt dieses Gen genau?« fragte er. Singer lächelte. »Das wissen wir noch nicht. Um es herauszufinden, würden wir Jahre benötigen. Aber Brent Scopes ist der Meinung, daß dieses Gen auch den Menschen gegen Grippe immun machen würde, wenn es uns gelänge, es in die menschliche DNA einzupflanzen. Die ersten In-vitro-Tests, die wir hier gemacht haben, scheinen diese Theorie zu bestätigen.«
»Interessant«, entgegnete Carson.
»Das will ich meinen. Man nimmt das Gen aus dem Bonobo und pflanzt es sich selber ein, und schon kann man sich nie wieder eine Grippe einfangen.« Singer beugte sich vor und senkte die Stimme. »Hand aufs Herz, Guy - wieviel wissen Sie über die Grippe?«
Carson zögerte. Eigentlich wußte er eine ganze Menge, aber es kam ihm nicht so vor, als müsse er vor Singer mit seinem Wissen prahlen. »Nicht so viel, wie ich wohl darüber wissen sollte«, sagte er. »Die meisten Leute nehmen sie nicht so richtig ernst.«
Singer nickte. »Das stimmt. Die Grippe hält man allgemein für ein lästiges Wehwehchen, dabei ist sie eine der gefährlichsten Viruserkrankungen auf der Weh, der auch in der heutigen Zeit noch jährlich eine Million Menschen zum Opfer fallen. Selbst hier in den Vereinigten Staaten ist sie eine der zehn häufigsten Todesursachen. Während der Grippesaison erkrankt ein Viertel der Bevölkerung daran, und das bereits in normalen Jahren. In wirklichen Grippejahren sieht es sehr viel übler aus. Die meisten Leute haben vergessen, daß die verheerende Grippeepidemie von 1918 ein Fünfzigstel der gesamten Weltbevölkerung dahingerafft hat. Das war der schlimmste Seuchenzug in der Geschichte der Menschheit, schlimmer sogar als die Pest. Und er hat sich in unserem Jahrhundert ereignet. Würde die Grippe heute wieder in dieser Form auftreten, stünden wir ihr fast so hilflos gegenüber wie damals.«
»Wirklich virulente Mutationen der Grippe können einen Menschen binnen Stunden töten«, sagte Carson, »aber...«
»Einen Augenblick bitte, Guy. Sie haben eben das Schlüsselwort genannt. Mutationen. Die wirklich gefährlichen Epidemien gibt es dann, wenn das Virus anfängt, zu mutieren. Dreimal in diesem Jahrhundert ist das bisher geschehen, zuletzt 1968 bei der Hongkonggrippe. Ein neuerlicher Ausbruch ist überfällig, wir sind geradezu reif dafür.«
»Und weil sich die Hülle des Virus ständig verändert, gibt es auch keinen auf Dauer wirksamen Impfschutz dagegen«, sagte Carson. »Eine Grippeimpfung ist immer nur ein Cocktail aus drei oder vier Stämmen, von denen die Epidemiologen glauben, daß sie in den nächsten sechs Monaten gefährlich werden könnten, stimmt's? Wenn sie sich irren, erkrankt man trotz Impfung.«
»Sehr gut, Guy«, sagte Singer lächelnd. »Wir wissen natürlich, daß Sie am MIT über Grippeviren gearbeitet haben. Das ist mit ein Grand, weshalb man Sie für diesen Job hier ausgewählt hat.« Er trank mit einem raschen Schluck sein Glas leer. »Eines ist Ihnen aber möglicherweise nicht bewußt: Die Wirtschaft verliert jährlich fast eine Billion Dollar an durch Grippe verursachten Produktionsausfällen.«
»Das wußte ich tatsächlich nicht.«
»Und vermutlich wissen Sie auch nicht, daß die Grippe dafür verantwortlich ist, daß pro Jahr etwa 200000 mißgebildete Kinder auf die Welt kommen. Wenn eine schwangere Frau über vierzig Grad Fieber bekommt, kann das bei ihrem Kind entsetzliche Schäden verursachen.« Singer atmete langsam ein. »Guy, wir arbeiten hier an der letzten großen medizinischen Entdeckung unseres Jahrhunderts. Wenn es uns gelingt, dem Menschen das X-FLU-Gen einzupflanzen, wird er gegen sämtliche Stämme der Grippe immun sein. Und Sie werden die entscheidende Arbeit dabei leisten, Guy.«
»Aber meine Arbeit mit Grippeviren war doch nur eine Vorstufe zu meiner Doktorarbeit«, protestierte Carson. »Mein wirkliches Interesse richtete sich auf etwas ganz anderes.«
»Ich weiß«, entgegnete Singer. »Aber wenn Sie mir noch ein wenig zuhören, dann werden Sie verstehen, warum man Sie ausgewählt hat. Um das X-FLU-Gen in die menschliche DNA hineinzubringen, verwenden wir nämlich ein spezielles Grippevirus, dem wir im Labor eine Rekombinationssequenz mit dem X-FLU-Gen angehängt haben. Man könnte das Virus als eine Art Transportmittel bezeichnen, das die Bonobo-DNA in die DNA des Menschen einschleust. Ein damit geimpfter Mensch wird wie bei einer normalen Grippeimpfung ein paar Tage lang unter milden Erkältungssymptomen zu leiden haben, danach aber nie wieder die Grippe bekommen.« Carson nickte. Er wußte, daß Viren in der Lage waren, ihre Erbinformationen ins Erbgut ihrer Wirtszellen einzuschleusen. Deshalb waren sie die idealen Transportorganismen, um Gene zwischen entfernt miteinander verwandten Lebewesen auszutauschen.
»Das Grippevirus, das wir dabei verwenden, ist darüber hinaus etwas ganz Besonderes. Es ist nämlich in der Lage, seine Erbinformationen auch in die menschliche Keimbahn zu bringen. Das bedeutet, daß die Menschen, die damit behandelt werden, die Immunität gegen Grippe auch an ihre Kinder weitervererben.« Carson stellte sein Glas auf den Tisch und sah Singer an. »Du meine Güte«, sagte er. »Sie sprechen doch nicht etwa von einer Gentherapie an menschlichen Keimzellen?«
»Ganz genau. Wir haben vor, das menschliche Erbgut für immer zu verändern. Und Sie, Guy, sind an vorderster Front mit dabei. Die Gentherapie ist das Modernste, was die Medizin zu bieten hat. Mit Gentherapie werden wir eines Tages sämtliche erblich bedingten Krankheiten wie das Tay-Sachs-Syndrom, die Phenylketonurie und die Bluterkrankheit heilen können. Eines Tages kann jeder Mensch, der mit einem erblich bedingten Schaden geboren wird, mit Hilfe der richtigen Gene ein ganz normales Leben führen. In unserem Fall ist Gene ein ganz normales Leben führen. In unserem Fall ist der >Erbschaden< die Anfälligkeit gegen Grippe, von der wir die Menschheit für immer befreien werden.«
Singer tupfte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Bei diesem Thema gerate ich immer in Aufregung«, sagte er grinsend. »Als ich noch Universitätsprofessor war, hätte ich mir nie träumen lassen, daß ich einmal dabei mithelfen würde, die Welt zu verändern. Das X-FLU-Gen hat mir den Glauben an Gott wiedergegeben, ohne Witz.« Er räusperte sich und fuhr fort: »Wir stehen kurz vor dem Durchbruch, Guy. Aber es gibt da noch ein Problem, das es zu lösen gilt. Sobald wir das X-FLU-Gen in das Grippevirus einsetzen, wird es nicht nur unglaublich ansteckend, sondern verändert sich auch auf eine höchst gefährliche Art und Weise. Anstatt als harmloser Bote für das Bonobo-Gen zu fungieren, ahmt es mit seiner Eiweißhülle ein Hormon nach, das im menschlichen Körper die Produktion von Gehirnfiüssigkeit stimuliert. Was Sie eben im Fiebertank gesehen haben, war die Wirkung, die das Virus auf einen Schimpansen hat. Was es beim Menschen auslöst, wissen wir nicht, aber angenehm dürfte es auf keinen Fall sein.«
Singer stand auf und trat an eines der Fenster. »Ihre Aufgabe ist es nun, die Eiweißhülle des X-FLU-Botenvirus so zu verändern, daß es vollkommen harmlos ist. Nur so können wir daraus einen Impfstoff entwickeln, der das X-FLU-Gen in die menschliche DNA transportiert.«
Carson öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloß ihn aber gleich wieder. Mit einemmal verstand er, warum Scopes unter all den wissenschaftlichen Talenten bei GeneDyne ausgerechnet ihn für diesen Job ausgesucht hatte. Bevor ihn Fred Peck für niedere Routinearbeiten eingesetzt hatte, war sein Spezialgebiet die Veränderung von viralen Eiweißhüllen gewesen. Das konnte zum Beispiel durch Hitze, verschiedene Enzyme oder Strahlung geschehen, selbst dann, wenn das Virus sich ständig veränderte. Carson kannte die verschiedensten Verfahren, mit denen man ein Virus unschädlich machen konnte.
»Das klingt, als wäre es ein ziemlich leicht zu lösendes Problem«, sagte er.
»Sollte es auch sein, ist es aber nicht. Aus irgendeinem Grund mutiert das Virus immer wieder zu seiner tödlichen Form, ganz gleich, was wir mit ihm anstellen. Als Burt noch an dem Problem arbeitete, hat er eine ganze Kolonie von Schimpansen mit angeblich harmlosen Stämmen des X-FLU-Virus infiziert. Aber jedesmal hat sich das Virus wieder zurückverwandelt und mit den Affen das angestellt, was Sie eben im Fiebertank gesehen haben. Akutes zerebrales Ödem. Dabei war Burt ein brillanter Wissenschaftler. Ohne ihn hätten wir PurBlood, unser künstliches Blutprodukt, wohl niemals bis zur Marktreife entwickeln können. Aber das X-FLU-Problem hat ihn...« Singer machte eine kurze Pause. »Er hat den Druck einfach nicht mehr ausgehalten.«
»Jetzt, wo ich selber drin war, kann ich gut verstehen, warum Sie vorhin nicht mit in den Fiebertank wollten.«
»Es ist fürchterlich da drin. Außerdem finde ich es schrecklich, was wir mit den Schimpansen machen. Aber wir müssen nun mal ans Wohl der Menschheit denken...« Singer verstummte und blickte nach draußen in die Wüste.
»Wozu eigentlich die ganze Geheimniskrämerei?« fragte Carson schließlich.
»Die hat zweierlei Gründe. Erstens glauben wir, daß mindestens eine weitere Pharmafirma ähnliche Forschungen durchführt wie wir, und die wollen wir uns natürlich nicht in die Karten schauen lassen. Noch viel wichtiger aber ist die Tatsache, daß viele Leute noch immer Angst vor der Gentechnologie haben. Das kann ich ihnen nicht einmal verübeln. Bei all den Kernwaffen, die uns immer noch bedrohen, und den Reaktoranfällen von Three Mile Island und Tschernobyl sind viele einfach jeglicher Technik gegenüber mißtrauisch geworden. Dazu kommt noch ein weitverbreitetes Mißtrauen gegen Manipulationen am Erbgut.« Singer drehte sich wieder um und sah Carson an. »Machen wir uns nichts vor, Guy, wir sprechen hier von einer permanenten Änderung des menschlichen Genoms, und das könnte sehr kontroverse Diskussionen hervorrufen. Können Sie sich vorstellen, was wohl die Leute dazu sagen werden, die bereits genveränderte Tomaten als Teufelswerk ansehen? Ein ähnliches Problem hatten wir schon mal mit PurBlood. Also wollen wir X-FLU erst dann der Welt vorstellen, wenn wir es auch wirklich produzieren können. Damit nehmen wir unseren Gegnern die Chance, sich überhaupt erst zu formieren, und die Öffentlichkeit wird von Anfang an sehen, daß der Nutzen von X-FLU bei weitem die Bedenken einer kleinen Gruppe von irrationalen Fortschrittsverweigerern aufwiegt.«
»Aber diese Gruppe kann sich ziemlich heftig bemerkbar machen«, sagte Carson. Vor den Werkstoren von GeneDyne in New Jersey hatte es schon öfters Demonstrationen von Gegnern der Gentechnik gegeben.
»Stimmt. Das haben wir Leuten wie diesem Charles Levine zu verdanken. Kennen Sie seine Stiftung für Verantwortungsbewußte Gentechnologie? Für mich ist das eine radikale Organisation, die es darauf angelegt hat, die Gentechnik im allgemeinen und Brent Scopes im besonderen zu vernichten.« Carson nickte.
»Dabei haben Levine und Scopes zusammen studiert und waren sogar gute Freunde. Das ist eine irre Geschichte, die ich Ihnen bei Gelegenheit einmal erzählen muß. Nun, jedenfalls ist dieser Levine für mich ein Verrückter, eine Art moderner Don Quijote, dessen Lebensziel es ist, das Rad des technischen Fortschritts zurückzudrehen. Man sagt, daß das nach dem Tod seiner Frau für ihn zu einer fixen Idee geworden ist. Und auf Brent Scopes, mit dem er seit zwanzig Jahren eine Art Privatfehde ausficht, hat er es besonders abgesehen. Leider gibt es in den Medien viel zu viele Leute, die sich seinen Unfug anhören und ihn sogar publizieren.« Singer trat vom Fenster zurück. »Es ist so viel einfacher, alles kaputtzumachen als etwas aufzubauen, Guy. Mount Dragon ist das sicherste Genlabor auf der Welt. Niemand, ich wiederhole, niemand hat mehr Interesse an der Sicherheit seiner Angestellten und seiner Produkte als Brent Scopes.«
Fast hätte Carson erwähnt, daß Levine einer seiner Professoren an der Universität gewesen war, hatte es sich aber dann doch anders überlegt. Aber vielleicht wußte es Singer ja auch ohnehin schon. »GeneDyne will die Öffentlichkeit also bei der Präsentation der X-FLU-Therapie vor vollendete Tatsachen stellen. Das ist dann wohl auch der Grund für die Eile, mit der das Projekt vorangetrieben wird, oder?«
»Teilweise ja«, sagte Singer und zögerte, bevor er fortfuhr: »Außerdem ist X-FLU von höchster Wichtigkeit für die Firma. Überlebenswichtig sogar. Denn Scopes' Patent auf seinen resistenten Mais, das bisher das finanzielle Rückgrat der Firma bildete, läuft in wenigen Wochen aus.«
»Aber Scopes wird doch dieses Jahr erst vierzig«, sagte Carson erstaunt. »So alt kann das Patent also gar nicht sein. Warum erneuert er es denn nicht einfach?«
Singer zuckte mit den Achseln. »Die genauen Details kenne ich auch nicht. Ich weiß nur, daß es ausläuft und nicht erneuert werden kann. Und wenn das geschieht, entgehen Scopes sämtliche Lizenzgebühren. PurBlood wird erst in ein paar Monaten ausgeliefert werden können, und dann muß es erst einmal seine immensen Entwicklungskosten einbringen. Alle anderen neuen Produkte von GeneDyne stecken noch mitten in der Zulassung. Wenn X-FLU also nicht bald kommt, wird die Firma keine so großzügige Dividende mehr zahlen können wie bisher, und das hätte katastrophale Auswirkungen auf den Kurs der Firmenaktie, von dem wir beide schließlich ebenfalls profitieren.« Er drehte sich um und winkte Carson ans Fenster. »Kommen Sie doch mal her, Guy.«
Carson trat neben Singer. Vor der Scheibe bot sich ein weiter Blick über die Jornada-del-Muerto-Wüste, die sich am Horizont in gleißendem Hitzeflimmern aufzulösen schien. Die Gebäude des Laboratoriums warfen scharfe Schatten in östlicher Richtung, und im Süden konnte Carson im Sand gerade noch einen Schutthaufen erkennen, der aussah wie die Ruinen einer indianischen Ansiedlung.
Singer legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Aber das alles braucht Sie momentan nicht zu belasten. Denken Sie einfach an die unglaublichen Möglichkeiten, die sich Ihnen hier bieten. Ein normaler Arzt kann, wenn er Glück hat, ein paar hundert Menschenleben retten, ein Mediziner in der Forschung vielleicht Tausende. Wir aber, Guy, Sie, ich und GeneDyne, wir werden Millionen von Menschen das Leben retten. Vielleicht sogar Milliarden.«
Er deutete hinaus auf die niedrige Bergkette im Nordosten, die wie eine Reihe von dunklen Zähnen aus dem hellen Wüstenboden aufragte. »Vor fünfzig Jahren hat die Menschheit kaum fünfzig Kilometer von hier entfernt am Fuß dieser Berge die erste Atombombe gezündet. Das war die dunkle Seite der Wissenschaft. Jetzt, ein halbes Jahrhundert später, haben wir in derselben Wüste die einmalige Chance, den guten Ruf der Forschung wiederherzustellen. So grundlegend und einfach ist das alles.« Der Druck von Singers Hand auf Carsons Schulter wurde stärker. »Dies hier wird das größte Abenteuer Ihres Lebens, Guy, das kann ich Ihnen garantieren.«
Während sie nebeneinander hinaus in die Wüste blickten, spürte Carson ganz intensiv die fast schon religiöse Kraft dieser Landschaft und wußte, daß Singer recht hatte mit dem, was er eben gesagt hatte.
Um halb sechs wachte Carson auf, setzte sich auf die Bettkante und blickte durch das offene Fenster hinüber zum San-Andres-Gebirge. Die Luft war noch angenehm kühl, und das Zimmer war erfüllt von der tiefen Stille, die so typisch für die Zeit vor Sonnenaufgang ist. Carson holte tief Luft. In New Jersey hatte er es nie geschafft, sich vor acht aus dem Bett zu quälen. Jetzt, an seinem zweiten Morgen am Mount Dragon, hatte er bereits wieder die gleichen Gewohnheiten angenommen, die er als junger Mensch hier in der Wüste gehabt hatte. Carson sah zu, wie die Sterne am wolkenlosen Himmel langsam verblaßten, bis nur noch die Venus zu sehen war. Dann kroch von unterhalb des Horizonts der seltsame, leicht grünliche Schimmer der Morgendämmerung herauf, der sich rasch in ein fahles Gelb verwandelte. Langsam schälten sich die Umrisse von Pflanzen aus dem Schwarzblau des Wüstenbodens hervor. In weitem Abstand voneinander konnte Carson ein paar Mesquitsträucher und Flecken hohen Tobosagrases entdecken. Wohl nirgendwo sonst hatten Pflanzen und Tiere soviel Platz für sich und so wenige Nachbarn wie in der Wüste. Carsons Zimmer war sparsam, aber komfortabel möbliert: ein Bett, ein Sofa mit dazu passendem Sessel, ein großer Schreibtisch und mehrere Regale. Carson stand auf, duschte und rasierte sich und zog weiße Sportsachen an. Er war gespannt, was ihm sein erster Arbeitstag am Mount Dragon bringen würde. Den gestrigen Nachmittag über hatte er eine ganze Reihe von Einstellungsprozeduren über sich ergehen lassen müssen. Er hatte eine Unmenge Formulare ausgefüllt, hatte seine Stimme aufnehmen und sich fotografieren lassen und war so gründlich wie nie zuvor in seinem Leben medizinisch untersucht worden. Lyle Grady, der Arzt von Mount Dragon, war ein dünner, kleiner Mann mit einer Fistelstimme, der seine umfangreichen Beobachtungen in einen Computer getippt und dabei nicht ein einziges Mal gelächelt hatte. Als alles überstanden war, hatte Carson mit Singer zu Abend gegessen und war dann sehr zeitig ins Bett gegangen, denn er wollte für den heutigen Tag ausgeschlafen sein.
Der Dienst am Mount Dragon begann um acht. Carson frühstückte nie - das war noch ein Überbleibsel aus der Zeit, in der sein Vater ihn frühmorgens geweckt und ihn in der Dunkelheit sein Pferd hatte satteln lassen -, aber er trank in der Cafeteria eine Tasse Kaffee, bevor er sich auf den Weg zu seinem Labor machte. Die Cafeteria war fast leer, und Carson erinnerte sich an eine Bemerkung, die Singer tags zuvor gemacht hatte: »Bei uns wird groß zu Abend gegessen. Frühstück und Mittagessen sind nicht allzu beliebt -irgendwie vergeht einem der Appetit, wenn man an die Arbeit im Fiebertank denkt.« Als Carson in den Umkleideraum kam, zogen sich dort ein paar Leute rasch und schweigend ihre Schutzanzüge an. Alle drehten sich nach dem Neuankömmling um und sahen ihn freundlich, neugierig oder auch ohne sichtliche Gefühlsregung an. Dann kam Singer herein und grinste über sein ganzes, breites Gesicht.
»Na, wie haben Sie geschlafen?« fragte er Carson und gab ihm einen freundlichen Klaps auf den Rücken.
»Nicht schlecht«, sagte Carson. »Und ich brenne drauf, endlich loslegen zu können.«
»Sehr gut. Dann werde ich Ihnen gleich einmal Ihre Assistentin vorstellen.« Singer sah sich um. »Wo ist denn Susana?«
»Die ist schon drin«, antwortete einer der Laborangestellten. »Sie wollte sich ein paar Kulturen ansehen.«
»Sie arbeiten im Labor C«, sagte Singer zu Carson. »Rosalind hat es Ihnen gestern ja sicher gezeigt, oder?«
»Mehr oder weniger«, antwortete Carson und zog seinen Schutzanzug aus dem Spind.
»Gut. Am besten fangen Sie damit an, daß Sie sich Frank Burts Laboraufzeichnungen ansehen. Susana wird dafür sorgen, daß Sie alles bekommen, was Sie brauchen.« Nachdem Carson mit Singers Hilfe seinen Schutzanzug angelegt hatte, folgte er den anderen unter die chemische Dusche und dann in das Labyrinth aus engen Korridoren und grell erleuchteten Laborräumen. Genau wie gestern fand er es schwierig, sich an den hinderlichen Anzug zu gewöhnen und an die regelmäßige Zufuhr von Sauerstoff zu denken. Nachdem er sich ein paarmal verlaufen hatte, stand er endlich vor der Metalltür mit der Aufschrift LABOR C.
Drinnen beugte sich eine Gestalt im Schutzanzug über eine Sicherheitswerkbank und sortierte einen Stapel Petrischalen. Carson drückte den Knopf seiner Sprechanlage. »Hi. Sind Sie Susana?« Die Gestalt richtete sich auf. »Ich bin Guy Carson«, fuhr er fort.
Aus dem Lautsprecher knisterte eine leise, spitze Stimme. »Susana Cabeza de Vaca.« Umständlich schüttelten sie sich die Hände. »Diese Schutzanzüge sind grausige Dinger«, sagte de Vaca gereizt. »Sie sind also der Ersatz für Burt.«
»Ganz genau«, sagte Carson. »Hispano?.« fragte sie und spähte durch Carsons Helmvisier.
»Nein. Anglo«, antwortete er etwas rascher, als er eigentlich wollte.
»Hmm.« De Vaca ließ sich Zeit und musterte Carson eingehend.
»Aber Sie klingen so, als kämen Sie aus dieser Gegend.«
»Stimmt. Ich bin auf einer Farm in New Mexico aufgewachsen.«
»Wußte ich es doch! Na schön, Guy, Sie und ich, wir sind die einzigen Eingeborenen hier.«
»Stammen Sie auch aus New Mexico? Seit wann sind Sie denn hier in Mount Dragon?« fragte Carson.
»Seit zwei Wochen. Man hat mich von Albuquerque hierher versetzt. Eigentlich war ich für die Krankenstation vorgesehen, aber jetzt muß ich Dr. Burts Assistentin ersetzen, die ein paar Tage nach ihm gegangen ist.«
»Wo kommen Sie her?«
»Aus einer kleinen Bergstadt namens Truchas, etwa dreißig Meilen nördlich von Santa Fe.«
»Sind Sie denn dort auch aufgewachsen?« De Vaca machte wieder eine längere Pause. »Ich bin dort geboren«, fauchte sie.
»Schon gut«, sagte Carson, den ihr scharfer Ton verblüffte. »Wieso fragen Sie mich denn nicht gleich, wann ich über den Rio Grande geschwommen bin?«
»Wieso sollte ich? Ich habe überhaupt nichts gegen Mexikaner und...«
»Mexikaner?«
»Ja. Einige der besten Cowboys auf unserer Ranch waren Mexikaner, und als Junge hatte ich eine Menge mexikanischer Freunde...«
»Meine Familie«, unterbrach ihn de Vaca mit frostiger Stimme, »kam mit Don Juan de Onate nach Amerika. Mein Vorfahr Don Alonso Cabeza de Vaca wäre fast verdurstet, als er zusammen mit seiner Frau diese Wüste hier durchquerte. Das war im Jahr 1598 und bestimmt sehr viel früher, als Ihre Familie aus Oklahoma oder weiß Gott woher sich nach New Mexico verirrte.
Trotzdem rührt es mich zu Tränen, daß Sie als Kind so nette mexikanische Spielkameraden hatten.«
Sie wandte sich ab und widmete sich wieder ihren Petrischalen, von denen sie die Nummern ablas und in ihr PowerBook tippte.
Gott im Himmel, dachte Carson, die sind hier wirklich alle so gereizt, wie Singer gesagt hat. »Miss de Vaca«, sagte er. »Ich wollte Sie nicht beleidigen.«
De Vaca tippte schweigend die Nummern der Schalen in den Computer.
»Es tut zwar nichts zur Sache, aber meine Familie ist nicht aus Oklahoma eingewandert«, fuhr Carson fort. »Mein Ururgroßvater war Kit Carson, und sein Sohn hat die Ranch aufgebaut, auf der ich großgeworden bin. Die Carsons sind seit fast zweihundert Jahren in New Mexico.«
»Meinen Sie Colonel Cristopher Carson? Sieh mal einer an«, sagte sie, ohne aufzublicken. »Ich habe mal eine Klassenarbeit über ihn geschrieben. Da interessiert mich natürlich brennend, ob Sie von seiner spanischen oder seiner indianischen Frau abstammen.« Carson sagte nichts.
»Also eine von beiden muß es wohl gewesen sein«, bohrte de Vaca nach, »denn für mich sehen Sie nicht gerade wie ein hundertprozentiger Weißer aus.« Sie stapelte die Petrischalen aufeinander und schob sie in einen Schlitz in der Wand aus rostfreiem Edelstahl.
»Ich definiere mich nicht über meine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse, Miss de Vaca«, sagte Carson und versuchte, einen ruhigen Ton zu bewahren.
»Mein Name ist Cabeza de Vaca, nicht einfach >de Vaca<«, entgegnete sie und nahm sich einen weiteren Stapel Petrischalen vor.
Carson drückte verärgert auf den Knopf der Sprechanlage. »Es ist mir egal, ob Sie Cabeza oder Kowalski heißen, aber ich lasse mich von niemandem blöd anquatschen, ganz gleich ob von Ihnen oder von dieser fetten Pute Rosalind.« Nachdem sie ihn einen Augenblick schweigend angesehen hatte, fing de Vaca plötzlich zu lachen an. »Haben Sie sich eigentlich schon mal die Knöpfe der Sprechanlage näher angesehen, Carson? Da gibt es nämlich zwei davon. Der eine ist für private Unterhaltung im Umkreis von ein paar Metern, aber wenn Sie den anderen drücken, hört es der ganze Fiebertank. Wenn ich Sie wäre, würde ich in Zukunft etwas genauer aufpassen.«
Kaum hatte sie das gesagt, zischte es auch schon in Carsons Lautsprecher. »Carson?« meldete sich BrandonSmith' Stimme. »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich alles genau mitbekommen habe, Sie obeiniges Arschgesicht.« De Vaca grinste dreckig.
»Miss Cabeza de Vaca«, sagte Carson und achtete peinlich darauf, welchen der beiden Knöpfe er drückte. »Ich will hier bloß meine Arbeit tun, weiter nichts. Haben Sie das verstanden? Ich habe keine Lust, mich mit Ihnen über Ihr Identitätsproblem in die Haare zu kriegen. Also tun Sie jetzt gefälligst das, was ich von einer Assistentin erwarte, und zeigen Sie mir, wie ich an Dr. Burts Laboraufzeichnungen herankomme.« Eine Weile herrschte in der Sprechanlage eisiges Schweigen. »Na schön«, sagte de Vaca schließlich und deutete auf einen dunkelgrauen Notebookcomputer in einem Kämmerchen neben der Tür. »Das war Burts PowerBook. Es gehört jetzt Ihnen. Wenn Sie seine Eintragungen sehen wollen, müssen Sie den Computer ans Netzwerk anschließen. Die Buchse dafür ist links neben Ihnen. Sie kennen ja die Firmenregel in bezug auf Arbeitsnotizen, oder etwa nicht?«
»Meinen Sie damit die Anti-Papier-Anweisung?« Schon in New Jersey hatte man bei GeneDyne von allen Angestellten verlangt, daß sie sämtliche Informationen ausschließlich in digitaler Form speicherten.
»Ja, aber hier wird sie besonders streng durchgeführt«, sagte de Vaca. »Hier ist keinerlei Papier mehr erlaubt - kein Schmierzettel, keine Tabelle, kein Computerausdruck. Alle Arbeit im Labor und sämtliche Gedankenskizzen müssen im PowerBook niedergelegt und mindestens einmal am Tag an den zentralen Server geschickt werden. Selbst ein Zettel, den Sie jemandem auf den Schreibtisch legen, ist hier ein Grund zur fristlosen Kündigung.«
»Was soll das alles?« fragte Carson.
De Vaca zuckte in ihrem Schutzanzug mit den Achseln. »Scopes sieht sich nun mal gerne unsere Aufzeichnungen an und möchte wissen, woran wir gerade arbeiten, damit er jederzeit seine Verbesserungsvorschläge machen kann. Die ganze Nacht lang soll er sich von Boston aus im firmeninternen Cyberspace herumtreiben und überall hineinschnüffeln. Man fragt sich, wann der Bursche eigentlich schläft.«
Carson hörte aus ihrer Stimme einen respektlosen Unterton heraus. Er schaltete das PowerBook ein und steckte das Verbindungskabel in die Wandsteckdose. Nachdem er ins Netz eingeloggt war, ließ er sich von de Vaca zeigen, wo er Burts Aufzeichnungen finden konnte.
Er tippte ein paar Kommandos ein, bei denen er die dicken Gummihandschuhe verfluchte, in denen seine Finger steckten, und wartete, bis die Daten vom zentralen Server auf die Festplatte des Notebookcomputers übertragen waren. Dann lud er sich Dr. Burts Aufzeichnungen ins Textverarbeitungsprogramm.
18. Februar. Erster Tag im Labor. Wurde von Singer zusammen mit dem zweiten Neuankömmling, Rosalind BrandonSmith, ins PurBlood-Projekt eingewiesen. Nachmittags in der Bibliothek, wo ich mich über vorhergehende Versuche zur Umhüllung von nacktem Hämoglobin informierte. Soweit ich die Sache bisher beurteilen kann, dürfte das größte Problem die Reinigung des Hämoglobins sein...
»Das ist für Sie uninteressant«, sagte de Vaca. »Es bezieht sich alles auf Burts vorhergehendes Projekt, bei dem ich noch nicht mit ihm zusammengearbeitet habe. Sie müssen sich durchscrollen, bis Sie zu den Aufzeichnungen über X-FLU kommen.« Carson ließ die Arbeitsnotizen von vollen drei Monaten über das Dis play des Computers huschen, bis er die Stelle fand, an der Burt seine Arbeit an PurBlood beendet und mit dem X-FLU-Projekt begonnen hatte. In knappen, schnörkellosen Worten entfaltete sich vor Carsons Augen die Geschichte eines brillanten Wissenschaftlers, der sich nach dem erfolgreichen Abschluß des einen Projekts sofort an das nächste macht. Der von ihm entwickelte Filtrationsprozeß zur Reinigung von PurBlood hatte Burt innerhalb der Firma zu einer Berühmtheit werden lassen. Dementsprechend zuversichtlich und optimistisch wirkten seine ersten Aufzeichnungen für die Arbeit an X-FLU. Anfangs hatte es auch tatsächlich danach ausgesehen, als würde sich das Virus relativ leicht neutralisieren und am Menschen testen lassen.
Nach und nach hatte sich Burt ganz systematisch mit allen Aspekten des Problems auseinandergesetzt: Zunächst hatte er die Eiweißhülle des Virus vom Computer nachzeichnen lassen, dann hatte er es mit diversen Enzymen, Chemikalien und Hitze behandelt. Unter Burts Aufzeichnungen fand Carson an vielen Stellen Anmerkungen von Brent Scopes, der sich oft mehrmals pro Woche für die Arbeit seines besten Wissenschaftlers interessiert hatte. Außerdem hatte der Computer viele Online-Konversationen zwischen Burt und Scopes aufgezeichnet. Während Carson diese las, bewunderte er Scopes' Verständnis für die technischen Aspekte des Problems und beneidete Burt um die selbstverständliche Vertrautheit im Umgang mit GeneDynes oberstem Boß.
Aber trotz Burts unermüdlicher Energie, mit der er sich auf seine Arbeit gestürzt hatte, wollte sich kein Erfolg einstellen. Dabei war es gar nicht so schwer, die Eiweißhülle des Virus zu verändern. Jedesmal, wenn sie in vitro stabil blieb, testete Burt ihre neue Form sofort in vivo und injizierte das veränderte Virus einigen Schimpansen. Immer blieben die Tiere eine Zeitlang ohne erkennbare Krankheitssymptome, bis sie dann urplötzlich eines grauenvollen Todes starben.
Carson scrollte sich durch viele Seiten, auf denen ein zunehmend frustrierter Burt einen gescheiterten Versuch nach dem anderen dokumentierte und keinen vernünftigen Grund dafür fand. Mit der Zeit verloren die Eintragungen ihren knappen, leidenschaftslosen Ton und wurden immer weitschweifiger und persönlicher. Immer häufiger waren auch bissige Kommentare über die Wissenschaftler darunter, mit denen Burt zusammenarbeitete - besonders über Rosalind BrandonSmith, die er abgrundtief verachtet zu haben schien.
Etwa drei Wochen bevor Burt Mount Dragon verließ, fing er damit an, Gedichte unter seine Aufzeichnungen zu streuen. Die meisten davon waren selten länger als zehn Zeilen, und alle beschäftigten sich mit der merkwürdigen Ästhetik der Naturwissenschaft. Sie handelten zum Beispiel von der Struktur eines Globulin-Proteins oder dem blauen Schimmern der Cerenkov-Strahlung. Sie waren lyrisch und beschwörend, aber Carson fand sie, wenn sie urplötzlich wie ein fremdartiger, ungebetener Gast zwischen Testergebnissen und Arbeitsnotizen auftauchten, irgendwie erschreckend und beunruhigend.
Kohlenstoff, begann eines der Gedichte,
Schönstes aller Elemente. Unendlich in deiner Vielgestalt:
Ketten, Ringe, Aromaten,
vielverzweigte Seitengruppen.
Für deinen Brechungsindex sterben
Schahs und Spekulanten.
Kohlenstoff.
Du warst bei uns auf den Straßen von Saigon,
Du warst überall, in der Luft und im Boden.
Und unsichtbar in Angst und Schweiß
Im Napalm.
Ohne dich sind wir nichts.
Kohlenstoff sind wir und werden wir wieder sein.
Gegen Ende der Aufzeichnungen wurden die Einträge immer sporadischer und unzusammenhängender, so daß Carson zunehmend Mühe hatte, Burts Gedankensprüngen zu folgen. Scopes' Kommentare und Vorschläge, die immer wieder zwischen die Aufzeichnungen eingestreut waren, wurden nun zunehmend kritischer und sarkastischer. Bei ihren Online-Diskussionen bekamen sich die beiden nun fast in die Haare, wobei Scopes aggressiv und Burt entschuldigend und fast ein wenig schuldbewußt wirkte.
Burt, wo waren Sie denn gestern den ganzen Tag über?
Ich habe mir freigenommen und einen Spaziergang außerhalb des Laborgeländes gemacht.
Jeder Tag, an dem dieses Problem nicht gelöst wird, kostet GeneDyne eine Million Dollar, ist Ihnen das klar? Aber Dr. Burt muß einen Spaziergang machen. Ein ziemlich teurer Spaziergang, finde ich. Alles wartet nur auf Sie, Frank, ist Ihnen das denn nicht klar? Das ganze Projekt tritt so lange auf der Stelle, bis Sie endlich Erfolg haben.
Ich kann nicht Tag und Nacht arbeiten, Brent Ich brauche ab und zu etwas Zeit, um alleine für mich nachzudenken.
Worüber haben Sie denn gestern nachgedacht? Ober meine erste Frau.
Gott im Himmel! Er hat über seine erste Frau nachgedacht! Ist das denn die Möglichkeit? Ich verliere eine Million Dollar, bloß damit Dr. Burt über seine gottverdammte erste Frau nachdenken kann, ich hätte gute Lust, Ihnen dafür den Hals umzudrehen, Frank.
Ich konnte gestern einfach nicht arbeiten, ich habe es mit allen Mitteln versucht, das können Sie mir glauben. Aber das Problem ist einfach nicht lösbar.
Allein schon für diesen Gedanken hasse ich Sie, Frank. Es gibt kein Problem, das nicht lösbar wäre. Das haben Sie mir selbst gesagt, bevor Sie PurBlood entwickelten. Und Sie haben es geschafft, Frank! Denken Sie immer daran. Und ich liebe Sie dafür, Frank, das tue ich wirklich. Ich weiß, daß Sie dasselbe wieder zustande bringen können. Und wenn Sie das tun, dann bekommen Sie einen Nobelpreis dafür, das schwöre ich Ihnen.
Versuchen Sie nicht, mich mit der Aussicht auf Ruhm zu ködern, Brent. Und auch nicht mit Geld. Davon wird ein unlösbares Problem auch nicht lösbar.
Bitte, Frank, sagen Sie nicht »unlösbar«. Es tut mir weh, dieses Wort von Ihnen zu hören, denn es ist eine Lüge und war es schon immer, verstehen Sie denn nicht? Das Universum ist so unendlich weit und voller Geheimnisse, daß darin buchstäblich alles möglich ist. Sie kennen doch das Buch Alice im Wunderland, Frank. Erinnern Sie sich an die Diskussion, die Alice und die Königin über dieses Thema hatten?
Nein. Aber ich glaube nicht, daß Alice im Wunderland mich dazu bringen kann, an die Möglichkeit des Unmöglichen zu glauben.
Sie Mistkerl! Wenn ich noch einmal das Wort »unlösbar« oder »unmöglich« von Ihnen lesen muß, dann komme ich auf der Stelle raus zu Ihnen und bringe Sie eigenhändig um. Habe ich Ihnen denn nicht alles gegeben, um was Sie mich gebeten haben, Frank? Bitte gehen Sie zurück ins Labor, und tun Sie Ihre Arbeit, ich glaube fest daran, daß Sie es schaffen können. Passen Sie auf, wieso fangen Sie nicht einfach noch einmal ganz von vorne an? Versuchen Sie es mit einem anderen Virus, mit einem, an das Sie bisher nicht einmal im Traum dachten. Oder nehmen Sie eine Makrophage oder ein Retrovirus. Irgend etwas, das Sie die Dinge aus einem völlig neuen Blickwinkel sehen läßt, okay?
Okay, Brent, ich werde es versuchen.
Danach vergingen einige Tage ohne jegliche Eintragungen. Dann, am 29. Juni - also gerade mal zwei Wochen vor Carsons Ankunft in Mount Dragon -, folgte ein wahrer Schwall von Worten, voll von apokalyptischen Bildern und seltsamen Abschweifungen in alle möglichen Richtungen. Mehrmals erwähnte Burt einen »Schlüsselfaktor«, ohne jemals zu erklären, worum es sich dabei handelte. Carson schüttelte den Kopf. Sein Vorgänger hatte ganz offensichtlich Hirngespinste entwickelt und sich die Problemlösungen zusammenphantasiert, die er durch rationale, wissenschaftliche Arbeit nicht hatte erreichen können. Carson lehnte sich zurück und spürte, wie ihm unter dem Anzug der Schweiß über die Schulterblätter und an den Armen entlang nach unten rann. Zum erstenmal, seit er hier war, verspürte er Angst vor der ungeheuren Aufgabe, die er zu bewältigen hatte. Wie konnte er Erfolg haben, wo ein Mann wie Burt gescheitert war? Und nicht nur das, Burt hatte über diesem Scheitern obendrein noch den Verstand verloren. Carson blickte auf und bemerkte, daß de Vaca ihn ansah.
»Haben Sie das auch gelesen?« fragte er.
Sie nickte.
»Wie soll ich...ich meine, wie erwartet man denn von mir, daß ich diese Arbeit fortsetzen soll?«
»Das ist Ihr Problem, nicht meines«, antwortete sie ungerührt.
»Ich habe schließlich keinen Abschluß in Harvard oder am MIT gemacht.«
Den Rest des Tages verbrachte Carson damit, Burts anfängliche Experimente genau zu studieren, wobei er sich nicht von seinen späteren Verrücktheiten ablenken ließ. Nach einiger Zeit fühlte er sich wieder etwas zuversichtlicher. Er hatte am MIT mit einer neuen rekombinanten DNA-Technik gearbeitet, die Burt offensichtlich nicht bekannt gewesen war. Er legte das Problem schriftlich nieder und teilte es in verschiedene Unterprobleme auf, die er wiederum in eine Reihe von einfachen Fragestellungen zerlegte.
Gegen Abend begann Carson mit einem groben Entwurf der Experimente, die er selbst durchzuführen gedachte. Dabei wurde ihm bewußt, daß es noch eine ganze Reihe von Möglichkeiten gab, die Burt nicht versucht hatte. Er stand auf, streckte sich und sah, wie de Vaca ihr PowerBook ans Netzwerk anstöpselte. »Vergessen Sie nicht, Ihre Daten an den Server zu schicken«, sagte sie. »Ich bin mir sicher, daß der Große Bruder sich heute nacht Ihre Arbeit ansehen will.«
»Danke«, sagte Carson, der trotzdem nicht so recht dran glauben wollte, daß Scopes seine Zeit damit vergeuden würde, sich ausgerechnet seine Notizen anzusehen. Burt war ganz offensichtlich sein Freund gewesen, er hingegen war nichts weiter als ein kleiner Wissenschaftler der Stufe drei aus der Firmenniederlassung in Edison. Trotzdem schickte er seine Daten ins Netz, verstaute den Computer wieder in seiner Nische und folgte de Vaca auf dem langen, umständlichen Weg aus dein Fiebertank. Als sie wieder im Umkleideraum waren, nahm Carson den Helm ab und öffnete die Reißverschlüsse seines Schutzanzuges. Dabei fiel sein Blick auf seine Assistentin, die ihren Anzug schon in den Spind gehängt hatte und jetzt ihre Haare ausschüttelte. Zu seinem Erstaunen erblickte er nicht die stämmige Senorita, die er eigentlich erwartet hatte, sondern eine schlanke, ausgesprochen gutaussehende junge Frau mit langen, braunen Haaren, dunkler Haut und einem klassisch schönen Gesicht. Sie drehte sich um, sah, daß er sie anschaute, und funkelte ihn aus zwei tief braunen Augen an.
»Wenn Sie mich noch eine Sekunde länger so anstarren, cabrón«, sagte sie, »dann passiert mit Ihnen dasselbe wie mit den armen Schimpansen da drinnen.«
Sie warf den Riemen ihrer Handtasche über die Schulter und ging raschen Schrittes zur Tür, während die Kollegen im Umkleideraum in schallendes Gelächter ausbrachen.
Der Raum war groß und achteckig und wurde in fünfzehn Metern Höhe von einer indirekt beleuchteten Gewölbedecke überspannt. An sieben der acht Wände hingen großflächige, superflache Computerbildschirme, die im Augenblick alle dunkel waren. In der achten Wand war eine kleine, aber extrem dicke Tür eingelassen, die garantierte, daß kein Geräusch nach außen drang. Obwohl sich der Raum sechzig Stockwerke hoch über dem Hafen von Boston befand, hatte er nicht ein einziges Fenster, aus dem man den phantastischen Ausblick hätte genießen können. Der Boden war mit seltenen Mbanga-Schieferplatten aus Tansania ausgelegt, deren Farbe alle Schattierungen zwischen asch- und maulwurfsgrau umfaßte. Die Außenseite der Tür bestand aus einer besonders widerstandsfähigen Metallegierung. Anstelle eines Gucklochs hatte sie einen Augenscanner zur Identifizierung etwaiger Besucher, und dort, wo sich bei normalen Türen die Klinke befand, mußte man seine Hand auf eine Glasfläche legen, auf der die Handlinien abgelesen wurden. Neben der Tür standen in einer Wandnische durch Bestrahlung mit ultraviolettem Licht keimfrei gehaltene Schaumstoffpantoffeln, auf die in großen Ziffern die verschiedenen Schuhgrößen aufgedruckt waren. Unter einer ständig hin- und herschwenkenden Videokamera über der Tür war ein großes Schild angebracht, auf dem zu lesen stand: IM INNEREN DES RAUMES BITTE LEISE SPRECHEN. Zu der Tür gelangte man durch einen langen, schwach erleuchteten Korridor, an dessen anderem Ende sich ein Kontrollpunkt des Sicherheitsdienstes und die Aufzüge befanden. An beiden Seiten des Ganges waren Türen, die in ein Büro der Wachleute, eine Küche, eine Krankenstation, eine Luftreinigungsanlage und Zimmer für die verschiedenen Dienstboten führten, die einzig und allein für die Bedürfnisse des Mannes zuständig waren, der den achteckigen Raum bewohnte. Die letzte Tür vor dem Eingang zum Achteck stand offen und gab den Blick in einen kirschholzgetäfelten Raum mit Parkettboden frei. In die Wand war ein marmorner Kamin eingelassen, neben dem einige große Gemälde aus der Hudson-River-Schule hingen, und auf dem Boden lag ein wertvoller Perserteppich. In der Mitte des Raumes stand ein prächtiger Mahagonischreibtisch, auf dem ein altes Telefon mit Wählscheibe thronte. Hinter diesem Schreibtisch saß ein Mann im Anzug und schrieb etwas auf ein Blatt Papier.
Wenige Meter von ihm entfernt, im Inneren des riesigen, achteckigen Raumes, war genau am Scheitelpunkt des Deckengewölbes ein Scheinwerfer plaziert, der einen enggebündelten Strahl reinweißen Lichtes direkt nach unten schickte. In diesem scharf begrenzten Lichtkegel stand ein abgewetztes Sofa im Stil der siebziger Jahre, dessen Lehnen schon ganz speckig waren. Aus den Sitzkissen quoll an mehreren Stellen die Polsterung hervor, und an der Vorderseite hatte jemand einen langen Riß im Stoff mit silbrig schimmerndem Isolierband zugeklebt. So fadenscheinig und häßlich es auch war, das Sofa hatte einen entscheidenden Vorteil: Es war ausgesprochen bequem. Flankiert wurde das merkwürdige Möbelstück von zwei billigen, nachgemacht antiken Couchtischen. Auf einem von ihnen standen ein großes Telefon, mehrere elektronische Geräte in Gehäusen aus mattschwarz eloxiertem, gebürstetem Aluminium und ein Tischstativ mit einer Videokamera, deren Objektiv direkt auf das Sofa gerichtet war. Der zweite Couchtisch war leer, aber seine Platte war mit unappetitlichen, aus unzähligen Pizzaschachteln getrieften Fettflecken und klebrigen Ringen übersät, wie sie Coladosen zu hinterlassen pflegen. Vor dem Sofa stand ein großer Arbeitstisch, der im Gegensatz zu den anderen Möbeln von geradezu atemberaubender Schönheit war. Die Tischplatte bestand aus sorgsam poliertem und eingeöltem Ahorn mit einem dicken Rand aus schwarzgrünem Guajakholz, das mit komplizierten Intarsien aus feinstem Nußbaum versehen war. Deren Muster zeigte hauptsächlich Noodaa-Ähren, Symbol der uralten Religion der Anasazi-Indianer. Es waren die Körner dieser einstigen Kultpflanze, die den Bewohner des achteckigen Raumes zu einem schwerreichen Mann gemacht hatten. Auf dem Tisch lag nichts weiter als eine kabellose Computertastatur, aus der seitlich eine kurze Antenne herausragte.
Der Rest des großen Raumes war leer bis auf einen großen Konzertflügel, der knapp außerhalb des Scheinwerferkegels stand. Es war ein wunderschönes Pianoforte aus Rosenholz, das angeblich im Jahr 1820 für Ludwig van Beethoven gebaut worden war.
An dem Piano saß mit gesenktem Kopf ein Mann in schwarzem T-Shirt und Bluejeans, der an den Füßen mit Glasperlen bestickte Mokassins trug. Die Finger des Mannes ruhten mehrere Minuten bewegungslos auf den Tasten aus Elfenbein, dann wurden auf einmal die ersten Akkorde von Beethovens letzter Klaviersonate, Opus 111, angeschlagen. Die in der Partitur als maestoso bezeichneten Klänge hallten vom hohen Kreuzgewölbe des Raumes wider, bis ihnen allegro con brio ed appassionato die nächsten Takte der Sonate folgten. Sie waren so laut, daß sie das aufdringliche Piepsen des Bildtelefons übertönten. Der schlanke Mann beugte sich tief über die Tasten des Pianos und warf beim Spielen den Kopf so leidenschaftlich hin und her, daß die ungekämmten Haare wild umherflogen. Das Piepsen ertönte abermals, aber der Mann bemerkte es noch immer nicht. Dann erschien plötzlich auf einem der großen Wandbildschirme ein schlammbespritztes und regennasses Gesicht. Mit einem Schlag hörte die Musik auf. Der Mann am Klavier stand auf, und schlug laut fluchend den Deckel über den Tasten zu.
»Brent?« fragte das Gesicht auf dem Bildschirm. »Sind Sie da?« Scopes ging hinüber zu dem alten Sofa, hockte sich im Schneidersitz darauf und legte die Computertastatur auf seinen Schoß. Er tippte auf ein paar Tasten und sah dann hinauf zu dem großen Schirm.
Das schlammbespritzte Gesicht gehörte zu einem Mann, der im Urwald von Kamerun auf dem Fahrersitz eines Range Rover saß. Hinter der von Regentropfen glitzernden Scheibe des Geländewagens war eine frisch in den Dschungel geschlagene Lichtung zu sehen. Der Boden der Lichtung bestand aus aufgeweichtem Schlamm, den Fahrzeugreifen und Gummistiefel in eine braungraue Mondlandschaft verwandelt hatten. An den Rändern der Lichtung lagen verkohlte Baumstämme herum, und ein paar Meter von dem Range Rover entfernt hatte man mehrere Dutzend roh aus Holz und Maschendraht zusammengezimmerte Käfige in windschiefen Reihen aufeinandergestapelt. Haarige Finger und Zehen staken aus dem Drahtgeflecht, hinter dem kindliche Affenaugen traurig nach draußen blickten. »Alles in Ordnung, Rodney?« fragte Scopes mit müder Stimme und blickte dabei in die Kamera auf dem Couchtisch. »Dieses Dreckswetter geht mir langsam auf die Nerven.«
»Hier regnet es auch«, sagte Scopes.
»Wenn Sie wirklich wissen wollen, was Regen heißt, dann sollten Sie mal hierherkommen und...«
»Ich habe drei Tage auf eine Nachricht von Ihnen gewartet, Falfa«, unterbrach ihn Scopes barsch. »Was zum Teufel ist los bei euch da drüben?«
Ein entschuldigendes Lächeln kroch über das Gesicht auf dem Bildschirm. »Wir hatten Probleme mit der Benzinversorgung für die Lastwagen, also habe ich ein ganzes Dorf angeheuert, für einen Dollar pro Mann und Tag. Und das für vierzehn Tage. Jetzt sind die alle reiche Leute, und wir haben sechsundfünfzig Schimpansenbabys.« Er grinste und rieb sich mit der Hand die Nase, wobei er noch mehr Schlamm über sein Gesicht schmierte. Vielleicht war es auch etwas anderes als Schlamm. Scopes wandte den Blick ab und fragte sich, ob er den Bildschirm abschalten sollte. »Ich möchte die Tiere in sechs Wochen in New Mexico haben. Und zwar mit einer Sterblichkeitsrate von unter fünfzig Prozent.«
»Unter fünfzig Prozent! Das wird ziemlich schwierig werden«, entgegnete Falfa. »Normalerweise...«
»Schnauze, Falfa!«
»Wie bitte?«
»Wenn Sie das für schwierig halten, dann warten Sie erst einmal ab, in was für Schwierigkeiten ein gewisser Rodney P. Falfa kommen wird, wenn wieder mehr tote als lebendige Affen in den Staaten eintreffen. Verdammt noch mal, wieso lassen Sie die Käfige so lange im Regen stehen?«
Falfa sagte nichts, sondern drückte auf die Hupe, woraufhin ein schwarzes Gesicht am Wagenfenster erschien. Als Falfa das Fenster ein paar Zentimeter herunterkurbelte, konnte Scopes hören, wie jämmerlich die Affen draußen im Regen schrien. »Du sagen Männern«, befahl Falfa in Pidgin-Englisch, »sofort Viecher abdecken. Wenn Viecher sterben, Männer kein Geld bekommen.«
»Keine Geld?« protestierte der Schwarze vor dem Fenster. »Aber Mister haben gesagt...«
»Du decken Viecher ab, los, los«, rief Falfa und kurbelte das Fenster hoch, so daß er nicht mehr hörte, was der Eingeborene draußen sagte. Dann wandte er sich grinsend an Scopes. »Na, wie finden Sie das?«
»Erbärmlich«, antwortete Scopes und schaute mit kaltem Blick in die Kamera. »Meinen Sie nicht, daß Sie den Schimpansen auch etwas zu fressen geben sollten?«
»Stimmt!« Als Falfa wieder hupte, unterbrach Scopes angewidert die Verbindung mit einem Tastendruck. Er nahm die Tastatur und schleuderte sie unter lautem Fluchen in hohem Bogen quer durch den Raum. Mit einem splitternden Geräusch knallte sie gegen eine Wand und krachte zu Boden. Eine einzelne Taste, die sich beim Aufprall gelöst hatte, schepperte über die polierten Schieferplatten. Scopes ließ sich zurück ins Sofa sinken und saß bewegungslos da.
Einen Augenblick später öffnete sich mit einem leisen Zischen die Tür, und ein großgewachsener Mann um die Sechzig trat herein. Er trug einen schwarzen Anzug, spitze Schuhe und ein gestärktes, weißes Hemd mit blauer Seidenkrawatte. Er hatte graue Haare, vornehm dreinblickende Augen und eine kleine, scharfgeschnittene Nase.
»Ist alles in Ordnung, Mr. Scopes?« fragte der Mann. Scopes deutete auf die Tastatur. »Ich glaube, die ist hinüber.«
»Dann darf ich wohl annehmen, daß Mr. Falfa sich endlich gemeldet hat«, sagte der Mann mit einem ironischen Lächeln. Scopes lachte und fuhr sich durch die wirren Haare. »Richtig. Diese Tierfänger sind die widerwärtigsten Menschen, mit denen ich es je zu tun hatte. Aber was soll ich machen, solange Mount Dragon einen so unersättlichen Bedarf an Schimpansen hat?« Spencer Fairley legte seinen Kopf schräg. »Ich wünschte, Sie würden sich jemanden suchen, der solche unangenehmen Details für Sie erledigt, Sir. Diese Geschichten regen Sie viel zu sehr auf.«
Scopes schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Dazu ist dieses Projekt einfach zu wichtig.«
»Wie Sie meinen, Sir. Kann ich Ihnen außer einer neuen Tastatur sonst noch etwas bringen?«
Scopes winkte geistesabwesend ab, aber als Fairley sich umdrehte, sagte er plötzlich. »Einen Moment. Es gibt doch zwei Dinge, die Sie für mich tun können. Haben Sie gestern abend die Nachrichten auf Channel Seven gesehen?«
»Sir, Sie wissen doch, daß ich mir nichts aus Fernsehen und Computern mache.«
»Ja, das weiß ich, Sie Fossil aus dem neunzehnten Jahrhundert«, sagte Scopes mit warmer Stimme. Fairley war der einzige in der Firma, dem Scopes gestattete, ihn »Sir« zu nennen. »Ohne Sie würde ich niemals wissen, wie ein elektronischer Analphabet lebt. Nun, jedenfalls kam in den Nachrichten gestern ein Bericht über ein zwölfjähriges Mädchen, das an Leukämie leidet und vor seinem Tod noch einmal nach Disneyland will. Eine von diesen rührseligen Geschichten, ohne die die Fernsehnachrichten nun mal nicht auskommen. Ich habe mir zwar den Namen des Mädchens nicht gemerkt, aber ich möchte, daß Sie ihn herausfinden und die Kleine mitsamt ihrer Familie im Privat] et nach Disneyland fliegen lassen, dort im besten Hotel unterbringen und dafür sorgen, daß sie ein großzügiges Taschengeld erhält. Aber bitte halten Sie meinen Namen aus der Sache heraus. Ich möchte nicht, daß dieser Bastard Levine mir wieder Absichten unterstellt, die ich gar nicht habe. Und geben Sie den Eltern Geld, damit sie die Krankenhausrechnungen bezahlen können, sagen wir fünfzigtausend Dollar. Sie kamen mir wie anständige Leute vor. Es muß schrecklich sein, wenn das eigene Kind an Leukämie stirbt. So schrecklich, daß ich es mir nicht einmal vorstellen kann.«
»Ja, Sir. Das ist sehr großzügig von Ihnen, Sir.«
»Sie wissen doch, was Samuel Johnson einmal gesagt hat: >Besser reich leben als reich sterben. < Und denken Sie dran: Es muß anonym, bleiben. Nicht einmal die Leute selbst dürfen erfahren, wem sie das alles zu verdanken haben. Verstanden?«
»Ja, Sir.«
»Dann wäre da noch was: Als ich gestern in New York war, hätte mich doch so ein Scheiß-Taxi auf einem Zebrastreifen fast über den Haufen gefahren. An der Kreuzung Park Avenue und 50th Street.«
»Das wäre sehr bedauerlich gewesen«, sagte Fairley, ohne eine Miene zu verziehen.
»Wissen Sie, was ich so an Ihnen mag, Spencer? Sie sind so verschroben, daß ich nie weiß, ob Sie mich jetzt beleidigen oder mir ein Kompliment machen wollen. Wie dem auch sei, das Taxi hatte die Nummer vier-A-sechsundfünfzig. Seien Sie doch so nett, und sorgen Sie dafür, daß man dem Fahrer die Lizenz entzieht. Ich möchte nicht, daß der Mistkerl demnächst eine alte Großmutter über den Haufen fährt.«
»Sehr wohl, Sir.« Als die kleine Tür sich mit einem leisen Zischen und einem gedämpften Klicken hinter Fairley geschlossen hatte, stand Scopes auf und ging nachdenklich zurück zum Piano.
Carson hörte ein lautes Summen in seinem Helm, das ihn wie von der Tarantel gestochen hochschrecken ließ. Kurz darauf entspannte er sich und wandte sich wieder seinem Computer zu. Er war jetzt erst den dritten Tag in Mount Dragon und hatte sich noch nicht an das Sechs-Uhr-Abends-Signal gewöhnt. Carson streckte sich und blickte sich im Labor um. De Vaca war bereits gegangen, weil sie auf dem Weg nach draußen noch etwas in der Pathologie zu erledigen hatte, und er würde jetzt auch Schluß machen. Nachdem er sorgfältig seine letzten Notizen über die Arbeit des Tages in den Computer getippt hatte, verband er ihn mit dem Netzwerk, um die Daten an den Server zu schicken. Carson mußte zugeben, daß er ein wenig stolz auf sich selber war. Obwohl er erst zwei Tage hier im Labor arbeitete, hatte er bereits einen genauen Plan ausgearbeitet, wie er das Problem angehen mußte. Das war eben der Vorteil, wenn man mit den neuesten Labortechniken vertraut war. jetzt mußte er seinen Plan nur noch in die Tat umsetzen.
Als der Computer sich ins Netzwerk eingeloggt hatte, blinkte im unteren Teil des Displays eine Nachricht auf:
Nachricht von John Singer - Exec © Dragon.
Für privates Gespräch Befehlstaste drücken.
Carson wechselte augenblicklich in den Gesprächsmodus über und wählte Singer an. Weil er sein PowerBook den ganzen Tag über nicht ans Netzwerk angeschlossen hatte, konnte er nicht wissen, wann Singer ihn zu dem Gespräch aufgefordert hatte.
John Singer - Exec -Dragon bereit für privates Gespräch. Zum Fortfahren Befehlstaste drücken.
Na, wie geht's, Guy? las Carson.
Danke, gut, tippte er. Ich habe jetzt erst Ihre Mitteilung bekommen.
Sie sollten es sich angewöhnen, Ihren Computer ständig am Netz zu lassen, solange Sie im Labor arbeiten. Das könnten Sie übrigens auch Susana sagen. Und jetzt noch eine letzte Bitte: Hätten Sie vielleicht nach dem Abendessen etwas Zeit für mich übrig? Ich würde gerne etwas mit Ihnen besprechen.
Wann und wo? tippte Carson.
Wie wäre es um neun Uhr in der Bar? Bis dann.
Carson fragte sich, was Singer wohl von ihm wollte, und war im Begriff, den Computer aus dem Netzwerk wieder auszuloggen, als auf dem Display folgende Nachricht erschien:
Eine neue Nachricht wurde noch nicht gelesen. Wollen Sie sie Jetzt lesen? (J/N)
Carson tippte ein J für Ja ein, und GeneDynes elektronischer Mitteilungsdienst beförderte ihm die Nachricht auf den Schirm. Vermutlich etwas, das Singer mir tagsüber geschrieben hat, dachte Carson.
Hallo, Guy. Schön zu sehen, daß Sie schon mitten in der Arbeit stecken.
Ihre Problemanalyse hat mir sehr gut gefallen. Sie zeigt mir, daß Sie ein Gewinnertyp sind. Aber eines dürfen Sie nicht vergessen: Frank Burt war der beste Wissenschaftler, den ich je gekannt habe, und trotzdem war dieses Problem zuviel für ihn. Werden Sie mir also nicht zu übermütig, okay?
Ich weiß, daß Sie für GeneDyne den Durchbruch schaffen können, Guy.
Brent
Ein paar Minuten nach neun goß sich Carson in der Bar neben der Kantine einen Jim Beam ein und trat durch die gläserne Schiebetür hinaus auf die Terrasse. In der gemütlichen Bar, in der gleich nach dem Abendessen viele Wissenschaftler gerne eine Partie Backgammon oder Schach spielten, war um diese Zeit nicht mehr allzuviel los. Der Wind hatte sich gelegt, und die Hitze des Tages war einer angenehmen Kühle gewichen. Draußen auf der leeren Terrasse setzte sich Carson möglichst weit weg von der weißen Wand des Gebäudes auf einen Stuhl. Mit bedächtigen Schlucken genoß er den rauchigen Geschmack des Bourbon, den er immer ohne Eis trank - das hatte er sich am Lagerfeuer draußen auf der Ranch angewöhnt, wo man den Verdauungsschnaps aus einem Flachmann trank, den man in der hinteren Hosentasche stecken hatte -, und sah hinüber zu dem fernen Fra-Cristobal-Gebirge, hinter denen eben die untergehende Sonne verschwunden war.
Carson legte den Kopf in den Nacken und schloß einen Moment lang die Augen. Mit tiefen Atemzügen sog er den Geruch nach Kreosotbüschen, Staub und Salz ein, der in der kühlen Luft des Abends lag. Bevor er damals an die Ostküste gezogen war, hatte Carson diesen typischen Wüstengeruch nur nach einem Regenschauer bewußt wahrgenommen, aber jetzt kam er ihm so ungewohnt vor, daß er ihn auch bei Trockenheit bemerkte. Carson öffnete die Augen wieder und blickte hinauf zur dunklen Kuppel des Himmels, an der sich bereits einige funkelnde Sterne zeigten: Im Süden stand klar und hell das Sternbild des Skorpions, und direkt über ihm war das des Schwans, das sich deutlich vom breiten Band der Milchstraße abhob.
Der betörende Duft der nächtlichen Wüste und der Anblick der vertrauten Sternbilder riefen in Carson unzählige Erinnerungen wach. Er lehnte sich zurück und nippte nachdenklich an seinem Whisky.
Das Geräusch sich nähernder Schritte riß ihn aus seinen Gedanken. Sie kamen von einem der Plankenwege hinter der Kantine, und Carson nahm an, daß es Singer war, der sich vom Wohnbereich her näherte. Aber die Gestalt war nicht klein und vierschrötig, sondern über einen Meter achtzig groß und trug einen gutsitzenden Maßanzug. Auf dem Kopf hatte der Mann einen Tropenhelm, und als er ohne einen Gruß an der Terrasse vorbeiging und auf den zentralen Platz der Anlage zustrebte, sah Carson, daß er sein langes, im Licht der Gehwegbeleuchtung eisengrau schimmerndes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte.
Dann hörte Carson hinter sich ein Geräusch und gleich darauf Singers Stimme. »War ein wundervoller Sonnenuntergang, nicht wahr?« fragte der Direktor. »So sehr ich die Tage hier draußen hasse, so sehr liebe ich die Nächte.« Er trat mit einer dampfenden Kaffeetasse in der Hand auf Carson zu. »Wer ist denn das?« fragte Carson und deutete auf die sich entfernende Gestalt.
»Ach, das ist Nye, der Sicherheitschef«, sagte Singer grimmig. »Das ist also Nye«, entgegnete Carson. »Sieht ein bißchen seltsam aus, wie er so in Anzug und Tropenhelm durch die Nacht läuft, finden Sie nicht?«
»Seltsam ist noch harmlos ausgedrückt. Auf mich wirkt sein Aufzug ganz einfach lächerlich. Aber ich rate Ihnen, ihm nicht in die Quere zu kommen.« Singer zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Er hat früher einmal im Kernkraftwerk Windermere in England gearbeitet. Sagt Ihnen der Name etwas? Nachdem es dort einen ernsten Störfall gegeben hat, wurde über Sabotage von Seiten des Personals gemunkelt, und Nye, der damals für die Sicherheit des Reaktors verantwortlich war, hat man zum Sündenbock gemacht. Danach wollte niemand mehr etwas mit ihm zu tun haben, und er mußte sich Arbeit irgendwo im Nahen Osten suchen. Aber Brent hat nun einmal seine eigene Auflassung von Personalpolitik. Er dachte, daß ein Mann, der immer schon ein Pedant war, nach einem solchen Erlebnis besonders pingelig sein würde, und heuerte ihn für die englische Niederlassung von GeneDyne an. Dort erwies sich Nye als ein solcher Sicherheitsfanatiker, daß Brent ihn als ersten und bisher einzigen Sicherheitschef nach Mount Dragon holte. Seither hat Nye das Gelände nicht mehr verlassen. Halt, stimmt nicht. Am Wochenende verschwindet er manchmal auf lange Ausritte in die Wüste, bei denen er ab und zu sogar über Nacht wegbleibt. Scopes weiß davon, aber es scheint ihn nicht weiter zu stören.«
»Vielleicht gefällt Nye die Landschaft«, sagte Carson. »Mag sein. Mir jedenfalls verursacht der Kerl noch immer eine Gänsehaut. Seine Untergebenen in der Wachmannschaft haben alle eine Heidenangst vor ihm. Nur Mike Marr, sein Assistent, kommt einigermaßen mit ihm aus. Die beiden scheinen sogar so etwas wie Freunde zu sein. Aber ich schätze, daß eine Einrichtung wie die unsere nun mal einen solchen scharfen Hund als Sicherheitschef braucht.«
Er sah Carson eine Weile an. »Sie haben ja Rosalind BrandonSmith neulich ganz schön was vor den Latz gegeben.« Carson blickte hinüber zu Singer. Der Direktor lächelte ihn mit humorvollen Augen an.
»Ich habe aus Versehen den falschen Knopf an meiner Sprechanlage erwischt«, entgegnete Carson.
»Das habe ich mir schon gedacht. Aber trotzdem hat sie sich über Sie beschwert.«
Carson setzte sich gerade hin. »Wirklich?«
»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, sagte Singer mit gedämpfter Stimme. »Damit sind Sie bloß Mitglied eines Clubs geworden, zu dein unter anderem auch ich selbst gehöre. Zusammen mit praktisch allen anderen hier. Aber trotzdem verlangen es die Regeln, daß ich mit Ihnen über den Vorfall spreche. Wie ich das mache, ist schließlich meine Sache. Was halten Sie von einem weiteren Drink?« Singer blinzelte Carson an. »Ich sollte vielleicht erwähnen, daß Brent viel Wert darauf legt, daß seine Angestellten gut miteinander auskommen. Vielleicht wäre es im Sinne eines harmonischen Arbeitsklimas am besten, wenn Sie sich bei ihr entschuldigen würden.«
»Ich?« brauste Carson auf. »Wie käme ich dazu? Ich bin derjenige, der sich beschweren sollte.«
Singer lachte und hob eine Hand. »Erst müssen Sie sich bewähren, dann können Sie sich soviel beschweren, wie Sie wollen.« Er stand auf und ging ans Geländer der Terrasse. »Ich nehme an, daß Sie sich mittlerweile Burts Labortagebuch angesehen haben.«
»Gestern vormittag«, sagte Carson. »Es war sehr interessant.«
»Ja, das ist es in der Tat«, sage Singer. »Aber leider auch ziemlich tragisch. Ich hoffe, es hat Ihnen auch einen Einblick in Burts Persönlichkeit verschafft. Wir standen uns nahe. Nachdem er uns verlassen hat, habe auch ich mir seine Notizen durchgesehen und versucht, mir zusammen zureimen, was mit dem armen Kerl passiert ist.« Carson hörte aufrichtiges Bedauern in Singers Stimme.
Singer trank seinen Kaffee und sah hinaus auf die nächtliche Wüste. »Das hier ist kein normaler Ort, wir sind keine normalen Leute, und das Projekt, an dem wir arbeiten, ist alles andere als ein normales Projekt. Wir haben hier einige der weltweit besten Genforscher versammelt, um an einer Aufgabe von unschätzbarer wissenschaftlicher Bedeutung zu arbeiten. Eigentlich möchte man meinen, daß die Leute hier Wichtigeres im Kopf haben müßten als kleinliche Streitereien. Aber dem ist leider nicht so. Burt allerdings stand über solchen Dingen, und ich hoffe, daß das auch bei Ihnen der Fall sein wird.«
»Ich werde mein Bestes tun«, sagte Carson und dachte an seinen Jähzorn, den er dabei unter Kontrolle halten mußte. Ohne es zu wollen, hatte er sich in seinen wenigen Tagen am Mount Dragon bereits zwei Feinde gemacht.
»Haben Sie schon etwas von Brent gehört?« fragte Singer beiläufig.
Carson zögerte und fragte sich, ob Singer wohl Scopes E-Mail an ihn gelesen hatte. »Ja«, sagte er. »Was hat er gesagt?«
»Er hat mich ermuntert und davor gewarnt, übermütig zu werden.«
»Typisch Brent. Er möchte eben immer alles unter Kontrolle behalten, und X-FLU ist nun mal sein Lieblingsprojekt. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, als gläserner Wissenschaftler zu arbeiten.« Er trank einen Schluck von seinem Kaffee. »Und wie weit sind Sie mit der Eiweißhülle?«
»Ich glaube, ich habe das Problem gelöst.« Singer sah ihn prüfend an. »Wie meinen Sie das?« Carson stand auf und stellte sich neben den Direktor ans Geländer. »Nun, ich habe gestern nachmittag meine eigenen Schlüsse aus Burts Labortagebuch gezogen. Nachdem ich seine Erfolge und Fehlschläge erst einmal vom Rest seiner Aufzeichnungen isoliert hatte, war es viel einfacher, sie wirklich zu bewerten. Bevor er die Hoffnung endgültig aufgegeben hatte, war Dr. Burt der Lösung offenbar schon ganz nahe gewesen. Er hatte bereits die aktiven Rezeptoren gefunden, die das X-FLU-Virus so gefährlich machen, und er hatte auch die Genkombination zur Kodierung der für die Überproduktion der Gehirnflüssigkeit zuständigen Polypeptide gefunden. Damit ist die wichtigste Arbeit eigentlich schon getan. Ich wiederum habe nämlich im Rahmen meiner Doktorarbeit eine neue Rekombinationstechnik für DNA entwickelt, die sich eine ganz bestimmte Wellenlänge von ultraviolettem Licht zunutze macht. Wir müssen also nur die gefährliche Gensequenz mittels eines speziellen Enzyms entfernen, das von dem ultravioletten Licht aktiviert wird. Das ist alles. Die darauf folgenden Generationen des Virus werden vollkommen harmlos sein.«
»Aber noch ist es nicht soweit«, sagte Singer.
»Aber ich habe diese Technik schon über hundertmal angewendet. Natürlich nicht auf dieses Virus, aber auf viele andere. Dr. Burt wußte noch nichts von dieser neuen Technik, er verwendete eine ältere Methode zur Rekombination.«
»Wer weiß von dieser Lösung des Problems?« fragte Singer.
»Bis jetzt niemand. Ich habe mir erst einen ganz groben Arbeitsplan gemacht und noch nicht mit konkreten Versuchen angefangen. Aber ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, wieso es nicht funktionieren sollte.«
Der Direktor starrte Carson eine Weile stumm an. Dann nahm er Carsons rechte Hand und drückte sie mit beiden Händen. »Das ist ja phantastisch!« jubelte er. »Herzlichen Glückwunsch!«
Carson trat einen Schritt zurück und lehnte sich ein wenig verlegen ans Geländer.
»Das ist vielleicht noch ein bißchen verfrüht«, sagte er und fragte sich, ob es nicht besser gewesen wäre, seinen Optimismus noch eine Weile für sich zu behalten.
Singer hörte ihm gar nicht zu. »Ich muß Brent sofort eine E-Mail schicken und ihm die Neuigkeiten berichten«, sagte er. Carson öffnete den Mund, um zu protestieren, sagte dann aber doch nichts. Einerseits hatte Scopes ihn erst an diesem Nachmittag vor Übermut gewarnt, andererseits wußte er von der Arbeit an seiner Dissertation her ganz genau, daß seine Prozedur funktionieren würde. Außerdem war Singers Enthusiasmus für ihn eine wohltuende Abwechslung zu BrandonSmith' ätzendem Sarkasmus und de Vacas brüsk vorgetragenem Professionalismus. Carson mochte den dicken, gutmütigen Professor aus Kalifornien, der ebenso unbürokratisch wie erfrischend direkt war, richtig gerne. Carson nahm noch einen Schluck von seinem Bourbon und entdeckte erfreut, daß Singer seine alte Martin-Gitarre mitgebracht hatte. »Was spielen Sie denn so?« fragte er.
»Hauptsächlich Bluegrass«, sagte Singer. »Aber ich bin nicht wirklich gut.«
»Deshalb haben Sie mich also nach meinem Banjo gefragt«, sagte Carson. »Ich habe das Spielen angefangen, weil mich die Sessions in den Cafes in Cambridge so fasziniert haben. Ich spiele zwar miserabel, aber das hindert mich nicht, die heiligen Werke von Scruggs, Reno, Keith und anderen Banjo-Göttern zu entweihen.«
»Das ist ja toll«, freute sich Singer, »ich arbeite mich gerade selber durch ein paar frühe Stücke von Flatt und Scruggs. Sie wissen schon, Shuckiri die Com, Foggy Mountain Specicd und lauter so Sachen. Wir müssen uns mal gemeinsam an ein paar davon versündigen. Manchmal setze ich mich bei Sonnenuntergang hier raus und spiele ein bißchen, was den anderen aber nicht unbedingt Vergnügen bereitet. Das ist bestimmt mit ein Grund dafür, daß die Kantine zu dieser Zeit immer so leer ist.« Die beiden Männer standen auf. Es war jetzt ganz dunkel und ziemlich kühl. Vorn Wohnbereich her konnte Carson die Geräusche von Schritten, Fetzen einer Unterhaltung und ab und zu Gelächter hören.
Als sie wieder in die Bar gingen, kam sie ihnen vor wie eine Insel des Lichts und der Wärme in der leeren, kalten Wüstennacht.
Eine laute Fehlzündung knallte aus dem Auspuff des sechzehn Jahre alten Ford Fiesta, als Charles Levine vor der großen Freitreppe des Ritz-Carlton-Hotels das betagte Vehikel einen Gang zurückschaltete. Als er es schließlich direkt vor dem Eingang zum Halten gebracht hatte, ging der Portier aufreizend langsam darauf zu. Es sollte offenbar kein Zweifel daran aufkommen, wie sehr er dieses heruntergekommene Gefährt verachtete -genauso wie seinen Insassen, wer immer er auch sein mochte.
Charles Levine beachtete ihn nicht. Er stieg aus und wischte sich mitten auf dem roten Teppich die Hundehaare vom Smoking - obwohl sein Hund seit zwei Monaten tot war, lagen überall im Auto noch Haare von ihm herum. Nach dieser Säuberungsaktion stieg Levine die Treppe nach oben, wo ein anderer Portier ihm die vergoldete Glastür aufhielt. Im Inneren des Hotels begrüßten ihn die Klänge eines Streichquartetts. Als Levine im hellen Licht der Lobby blinzelnd stehenblieb, kam eine Meute von Reportern auf ihn zu und fotografierte ihn von allen Seiten. »Was soll das?« fragte Levine.
Mit den Ellenbogen bahnte sich Toni Wheeler, die Pressereferentin von Levines Stiftung, einen Weg durch die Reporter und legte Levine die Hand auf den Arm. Wheeler hatte streng frisierte Haare und trug ein ebenso streng geschnittenes Kostüm. Vom Scheitel bis zur Sohle war sie so, wie man sich das von einer professionellen Public-Relations-Beauftragten erwartete: gelassen, elegant, eisenhart.
»Tut mir leid, Charles«, sagte sie rasch. »Ich wollte Sie noch informieren, aber ich habe Sie nirgends erreichen können. Es gibt eine große Neuigkeit. GeneDyne...«
Als Levine einen ihm bekannten Reporter entdeckte, fing er mit einemmal übers ganze Gesicht zu strahlen an. »Hallo, Artie!« rief er, schüttelte Wheeler ab und hob beide Hände. »Schön, daß die vierte Gewalt im Staat mal wieder so aktiv ist. Aber bitte, einer nach dem anderen. Toni, wären Sie so nett und würden an der Rezeption Bescheid geben, daß sie die Musik ein bißchen leiser drehen?«
»Charles, bitte hören Sie mir zu«, sagte Wheeler dringlich. »Ich habe gerade erfahren, daß...«
Ihre Stimme wurde von den Fragen der Reporter übertönt. »Professor Levine!« sagte einer von ihnen. »Stimmt es, daß...«
»Ich suche mir die Fragen aus«, unterbrach Levine. »Also seien Sie jetzt bitte alle still. Sie«, sagte er und deutete auf eine Reporterin direkt vor ihm. »Sie dürfen anfangen.«
»Professor Levine«, sagte die Frau mit lauter Stimme, »ich wüßte gerne Genaueres über die Anschuldigungen gegen GeneDyne, die in der letzten Ausgabe der Genetic Policy erschienen sind. Stimmt es, daß Sie einen persönlichen Kleinkrieg gegen Brent Scopes fuhren?«
Bevor Levine etwas antworten konnte, mischte sich Wheeler mit eiskalter Stimme ein. »Einen Moment bitte«, sagte sie spitz. »Bei dieser Pressekonferenz dreht es sich ausschließlich darum, daß Professor Levine mit dem Holocaust-Memorial-Preis ausgezeichnet werden soll, nicht um seine Kontroverse mit der Firma GeneDyne.«
»Bitte, Herr Professor!« rief die Reporterin, ohne sich um Wheeler zu kümmern.
Levine deutete auf Artie. »Wieso haben Sie sich bloß Ihren Schnurrbart abnehmen lassen, Artie? Das war in ästhetischer Hinsicht ein großer Fehler.«
Eine Welle des Gelächters lief durch die Reporterschar. »Meine Frau war dagegen, Professor Levine. Er kitzelt so beim...«
»Danke, das genügt«, sagte Levine und provozierte damit weiteres Gelächter. Dann hob er die Hand. »Ihre Frage, bitte, Artie.«
»Mr. Levine, Brent Scopes hat Sie neulich -ich zitiere - >einen gefährlichen Fanatiker und eine Ein-Mann-Inquisition gegen das medizinische Wunder der Gentechnologie< genannt. Zitat Ende. Haben Sie dazu einen Kommentar?«
»In der Tat«, sagte Levine lächelnd.
»Um starke Worte war Mr. Scopes ja noch nie verlegen. Aber das war es dann auch schon. Wie sagt doch der Dichter? Worte sind Schall und Rauch...«
»Mr. Scopes hat aber auch gesagt, daß Sie unzähligen kranken Menschen die medizinischen Segnungen dieser neuen Wissenschaft vorenthalten wollen. Er brachte als Beispiel das Tay-Sachs-Syndrom, das nur auf gentechnischem Weg geheilt werden kann.«
Levine hob abermals die Hand. »Das ist schon ein etwas konkreterer Vorwurf. Aber Mr. Scopes unterstellt mir da etwas. Ich habe gar nichts gegen Gentherapie im allgemeinen. Wogegen ich bin, ist lediglich die Keimbahntherapie. Sie wissen vielleicht, daß es im menschlichen Körper zwei grundverschiedene Arten von Zellen gibt: somatische Zellen und Keimzellen. Sornatische Zellen sterben mit dem Körper, aber Keimzellen -die Fortpflanzungszellen - sind praktisch unsterblich.«
»Wie meinen Sie das?«
»Wenn Sie mich ausreden ließen, könnte ich es Ihnen erklären. Ve rändert man mittels Gentherapie die somatischen Zellen eines Menschen, dann gehen diese zugrunde, wenn der Mensch stirbt. Wenn Sie aber die DNA in den Keimzellen -also in Ei- und Samenzellen -des Menschen manipulieren, dann werden seine Kinder diese Veränderungen ererben. Und damit hat man die DNA der menschlichen Rasse für alle Ewigkeiten verändert. Verstehen Sie, was das bedeutet? Veränderungen an den Keimzellen werden an künftige Generationen weitergegeben. An ihnen herumzupfuschen ist der Versuch, aus uns gänzlich andere Lebewesen zu machen. Genau an einer solchen Keimzellentherapie soll aber meinen Informationen nach die Firma GeneDyne in ihrem Labor am Mount Dragon im Augenblick arbeiten.«
»Ich verstehe noch immer nicht ganz, warum das so schlimm sein soll, Professor«, sagte Artie.
Levine warf erregt die Arme in die Höhe, wobei die Schleife an seinem Hals verrutschte und lächerlich schief herunterhing. »Was daran schlimm sein soll? Die Manipulation an menschlichen Keimzellen ist Hitlers Eugenik in Reinkultur! Heute abend werde ich hier, in diesem Hotel, eine Auszeichnung dafür erhalten, daß ich die Erinnerung an den Holocaust lebendig gehalten habe. Ich bin in einem Konzentrationslager zur Welt gekommen, und mein Vater ist den grausamen Experimenten des SS-Arztes Mengele zum Opfer gefallen. Ich kenne also die unmenschliche Seite der Wissenschaft aus erster Hand. Und ich will verhindern, daß Sie alle Ähnliches erleben müssen. Es ist eine Sache, das Tay-Sachs-Syndrom oder die Bluterkrankheit zu kurieren, aber bei GeneDyne hat man sehr viel mehr vor. Dort will man die menschliche Rasse >verbessere. Wenn es nach Scopes geht, sollen wir alle mit Hilfe der Gentechnologie intelligent, groß und gutaussehend werden. Können Sie nicht verstehen, wie gefährlich das alles ist? Damit überschreitet man eine Grenze, die wir Menschen nicht überschreiten dürfen. Manipulationen am menschlichen Erbgut sind grundlegend falsch.«
»Aber Professor!« rief einer der Reporter und schnippte aufgeregt mit den Fingern.
Levine kicherte vor sich hin und deutete auf ihn. »Ich glaube, ich lasse Sie besser Ihre Frage stellen, Fred, sonst kugeln Sie sich noch den Arm aus.«
»Dr. Levine, Sie sagen immer wieder, daß die Gentechnologie von staatlichen Stellen nicht genügend kontrolliert wird. Aber was ist mit der FDA?«
Levine blickte finster drein und schüttelte den Kopf. »Die FDA, die Federal Drug Administration, ist, wie ihr Name schon sagt, eine Behörde zur Überwachung von Arzneimitteln. Aber was tut sie statt dessen? Sie läßt Firmen wie GeneDyne auf dem Gebiet der Gentechnologie ungehindert schalten und walten. Heute werden in den Labors dieser Firmen menschliche Gene in Schweine, Ratten und sogar Bakterien eingepflanzt! Die DNA von Pflanzen und Tieren wird miteinander vermischt, um neue Lebensformen zu kreieren, künstliche Geschöpfe, die man nur noch als Monstren bezeichnen kann. Jeden Augenblick können sie bei diesen Experimenten zufällig -oder sogar bewußt - einen Krankheitserreger erzeugen, der die gesamte Menschheit auslöschen kann. Die Genmanipulation ist bei weitem das Gefährlichste, woran sich Menschen jemals versucht haben. Sehr viel gefährlicher als jede Atombombe. Aber niemand interessiert sich dafür, am allerwenigsten unsere Behörden. Es gibt ja noch nicht einmal eine Zulassungspflicht für gentechnisch manipulierte Nahrungsmittel. In den Regalen unserer Supermärkte finden wir heute schon Tomaten, Milch, Erdbeeren und Getreide, die alle genetisch verändert wurden nicht zu vergessen Produkte aus X-RUST, der genmanipulierten Maissorte von GeneDyne. Wer garantiert uns, daß all diese Erzeugnisse auf den menschlichen Organismus keine schädlichen Langzeitwirkungen haben?«
Von überall her wurden ihm jetzt Fragen zugerufen, und Levine deutete auf einen Reporter in der zweiten Reihe. »Eine Frage noch. Sie sind dran, Murray. Ihr Artikel über die NASA neulich im Globe hat mir übrigens sehr gut gefallen.«
»Ich habe eine Frage, die sicher alle meine Kollegen so brennend interessiert wie mich. Wie fühlen Sie sich nach den jüngsten Forderungen von GeneDyne?«
»Was für Forderungen denn?«
»Wissen Sie denn nicht, daß GeneDyne Sie und Harvard auf zweihundert Millionen Dollar Schadensersatz verklagt hat und außerdem von der Universität verlangt, daß sie Ihre Stiftung auflöst?«
Levine schwieg verdutzt und blinzelte die Journalisten verblüfft an, bis allen klar wurde, daß er von dieser neuen Entwicklung bisher noch nichts gewußt hatte. »Wieviel? Zweihundert Millionen Dollar?« fragte er mit etwas leiserer Stimme. Toni Wheeler trat auf Levine zu und flüsterte ihm ins Ohr: »Das war es, was ich Ihnen die ganze Zeit...« Levine warf ihr einen raschen Blick zu und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Irgendwann mußte so etwas ja passieren«, sagte er ruhig und wandte sich lächelnd wieder den Journalisten zu. »Ich will Ihnen einmal ein paar Dinge über Brent Scopes und GeneDyne sagen, die Ihnen vermutlich noch nicht so geläufig sind. Wahrscheinlich kennen Sie alle die Geschichte, wie Mr. Scopes sein pharmazeutisches Imperium aufgebaut hat. Er und ich haben zusammen an der University of California in Irvine studiert. Wir waren damals...« er zögerte ein wenig »...eng miteinander befreundet. Einmal hat Scopes in den Semesterferien eine lange Wanderung durch den Canyonlands-Nationalpark unternommen. Als er wieder an die Universität kam, hatte er eine Handvoll uralter Maiskörner dabei, die er in einer Ruine der Anasazi-Indianer gefunden hatte. Es gelang ihm, diese Körner zum Keimen zu bringen, und dann entdeckte er, daß die Pflanzen aus diesen uralten Körnern resistent gegen eine gefährliche Erkrankung namens Rostpik waren. Scopes isolierte das Gen, das sie immun machte, und pflanzte es einer modernen Maissorte ein, die er als XRUST auf den Markt brachte. Die Geschichte ist mittlerweile so legendär, daß sie bestimmt schon ein paarmal im Forbes-Magazin gestanden hat. Dennoch ist sie nur die halbe Wahrheit, denn Brent Scopes hat das Gen nicht allein isoliert und in eine Neuzüchtung eingepflanzt. Das waren wir beide, er und ich, und gemeinsam haben wir sie auch zum Patent angemeldet.
Dann aber hatten wir einen Streit. Brent Scopes wollte das Patent benützen, um damit Geld zu machen, ich hingegen wollte es der Menschheit unentgeltlich zur Verfügung stellen. Am Ende hat dann Scopes - nun, sagen wir mal, er hat sich durchgesetzt.«
»Wie?« fragte einer der Reporter.
»Das ist nicht wichtig«, entgegnete Levine barsch. »Viel entscheidender ist, daß Scopes daraufhin sein Studium aufgegeben und mit den Einnahmen aus dem Patent GeneDyne aufgebaut hat. Ich wollte weder mit dem Geld noch mit der Firma etwas zu tun haben. Für mich war das von Anfang an eine ganz schlimme Geschäftemacherei.
In nicht ganz drei Monaten läuft das Patent auf den X-RUST-Mais aus. Um es zu erneuern, braucht GeneDyne die Unterschriften von zwei Leuten: von Mr. Scopes und mir. Und ich werde einer Verlängerung auf keinen Fall zustimmen. Davon werde ich mich weder durch Drohungen noch durch Bestechungsversuche abbringen lassen. Bald wird das Patent der ganzen Welt gehören, und die satten Lizenzgebühren, die GeneDyne alljährlich einstreicht, werden der Vergangenheit angehören. Mr. Scopes weiß das, aber ich bin mir nicht sicher, ob es sich in der Finanzwelt schon herumgesprochen hat. Vielleicht ist es an der Zeit, daß sich die Aktienexperten einmal eingehend mit GeneDyne befassen. Sie sehen also, warum ich nicht glaube, daß mein jüngster Artikel in der Genetic Policy der wahre Grund für diese Klage ist. Sie ist vielmehr Brents Versuch, mich dazu zu zwingen, den Antrag auf Verlängerung des Patents zu unterschreiben.« Nach einer kurzen Stille redeten alle auf einmal los. »Aber Dr. Levine!« übertönte eine Stimme alle anderen. »Sie haben sich noch gar nicht zu der Klage selbst geäußert.« Levine schwieg einen Augenblick, dann öffnete er den Mund und lachte. Es war ein lautes, schallendes Lachen, das in der ganzen Lobby zu hören war. Schließlich schüttelte er ungläubig den Kopf, kramte ein Taschentuch hervor und schneuzte sich geräuschvoll.
»Ihre Antwort, Herr Professor!« drängte der Reporter. »Die habe ich Ihnen eben gegeben«, antwortete Levine und steckte sein Taschentuch wieder ein. »Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich würde jetzt gerne meine Auszeichnung in Empfang nehmen.« Er winkte den Journalisten zum Abschied zu, nahm Toni Wheeler am Arm und ging quer durch die Lobby auf die offenen Türen des Festsaals zu.
Carson stand vor einer Sicherheitswerkbank im Labor C. Das Licht in dem mit allen möglichen Geräten vollgestellten Labor war so hell, daß ihm fast die Augen weh taten. In den vergangenen Tagen hatte Carson die größeren und kleineren Nachteile des Arbeitens mit Hochsicherheitsausrüstung kennengelernt: vom Schutzanzug, der an manchen Stellen die Haut wundscheuerte, bis zu den hartnäckigen Muskelverspannungen, die einerseits von der Unmöglichkeit, sich bequem hinzusetzen, andererseits von der stundenlangen, hochkonzentrierten Arbeit herrührten.
Am schlimmsten aber fand Carson, der sich seit seiner Jugend in der weiten, freien Wüste ohnehin nicht gerne in geschlossenen Räumen aufhielt, das Gefühl von Platzangst, das ihn im Fiebertank in immer stärkerem Maße befiel. Bei der Arbeit hier unten kamen ihm immer wieder Erinnerungen daran, wie er als Junge zum erstenmal im Krankenhaus von Sacramento mit dem Aufzug gefahren war, und an die drei fürchterlichen Stunden, die er einmal in einer mitten im Tunnel steckengebliebenen U-Bahn in New York hatte verbringen müssen. Die regelmäßig durchgeführten Notfallübungen im Fiebertank riefen Carson zudem immer wieder ins Gedächtnis zurück, welche potentiellen Gefahren hier auf ihn lauerten. Und dann gab es da auch noch das Gerede vom gefürchteten »Superunfall«, bei dem das gesamte Labor und alle, die in ihm arbeiteten, verseucht wurden. Gott sei Dank würde es Carson nicht mehr allzu lange im Fiebertank aushaken müssen, denn sein Gen-Splicing hatte geklappt. Und das 98 denn sein Gen-Splicing hatte geklappt. Und das war, obwohl er es am MIT schon oft gemacht hatte, beileibe keine Selbstverständlichkeit gewesen. Schließlich ging es hier nicht um irgendein Experiment für seine Dissertation, sondern um ein Projekt, das unzählige Menschenleben retten und ihm und seinen Kollegen möglicherweise einen Nobelpreis einbringen konnte.
Es war einfach gewesen. Viel einfacher, als er geglaubt hatte. Vielleicht auch deshalb, weil ihm hier Apparate zur Verfugung standen, die auch in den modernsten Labors am MIT nicht vorhanden gewesen waren.
Carson murmelte de Vaca ein paar Worte zu, worauf sie ein einzelnes Reagenzglas in die Sicherheitswerkbank stellte. Am Boden des Glases war das kristallisierte X-FLU-Virus zu sehen, das aussah wie ein weißer Belag. Trotz der umfassenden Sicherheitsmaßnahmen, die ihn allenthalben umgaben, konnte Carson sich noch immer nur mit Mühe vorstellen, daß dieser unscheinbare, dünne Film eine grauenvoll tödliche Substanz war. Carson griff durch die mit Gummimanschetten versehenen Armlöcher und gab mit einer Spritze ein Lösungsmittel für Viren in das Reagenzglas. Als er es vorsichtig schwenkte, löste sich der kristalline Belag langsam auf und bildete eine trübe Flüssigkeit, in der jetzt lebende Viren schwammen. »Sehen Sie sich das genau an«, sagte er zu de Vaca. »Das wird uns alle berühmt machen.«
»Kann schon sein«, entgegnete de Vaca. »Aber nur, wenn es uns nicht vorher umbringt.«
»Machen Sie sich nicht lächerlich. Das hier ist das sicherste Labor auf der ganzen Welt.«
De Vaca schüttelte den Kopf. »Ich habe bei der Arbeit mit einem so gefährlichen Virus immer ein ungutes Gefühl. Unfälle können überall passieren.«
»Was für Unfälle denn?«
»Was wäre zum Beispiel gewesen, wenn Burt in seiner Verrücktheit etwas von dem Zeug aus dem Labor herausgeschmuggelt hätte? Dann wären wir beide jetzt nicht hier, soviel ist sicher.« Carson sah sie schweigend an und suchte nach einer Entgegnung, bis er es schließlich aufgab. Mittlerweile hatte er gelernt, daß Auseinandersetzungen mit de Vaca pure Zeitverschwendung waren. Er kuppelte seinen Luftschlauch aus und sagte: »Dann bringen wir das mal hinüber in den Zoo.« Er sagte einem Medizintechniker und Fillson, dem Tierpfleger, über die Sprechanlage Bescheid, bevor er zusammen mit de Vaca langsam den engen Korridor entlangging. Fillson wartete mit dem Techniker bereits vor der Affenstation und warf Carson durch sein Helmvisier einen mißmutigen Blick zu. Als er widerwillig die Tür öffnete, fingen die Tiere drinnen an, jämmerlich zu schreien. Braune, behaarte Finger krallten sich ins Gitter der Maschendrahttüre oder trommelten, zu Fäusten geballt, auf den Käfigböden herum. Fillson nahm einen Stock und schlug im Vorbeigehen auf die herausragenden Finger. Das Geschrei der Affen wurde lauter, aber die Finger verschwanden wieder in den Käfigen. »Au!« sagte de Vaca.
»Wie bitte?« Fillson blieb stehen und drehte sich zu ihr um. »Ich sagte >Au!<. Warum schlagen Sie den armen Tieren so brutal auf die Finger?« Oh, oh, dachte Carson. Jetzt geht's los.
Fillson sah de Vaca eine Weile schweigend an, wobei sich seine feuchte Unterlippe hinter dem Visier fast unmerklich hin und her bewegte. Dann wandte er sich ab, öffnete einen Schrank und holte das Spray heraus, das er schon das letzte Mal benützt hatte, als Carson im Zoo gewesen war. Er schlurfte zu einem Käfig, sprühte hinein und wartete einige Minuten. Als das Beruhigungsmittel Wirkung zeigte, öffnete Fillson die Käfigtür und holte vorsichtig den völlig benommenen Schimpansen heraus. Carson trat einen Schritt vor und betrachtete den Affen. Es war ein junges Weibchen, das traurig quiekte und halb gelähmt von dem Spray Carson mit verängstigten Augen anblickte. Fillson band das Tier auf eine kleine Trage und rollte es in ein kleines Nebenzimmer. Carson nickte de Vaca zu, und diese übergab dem Medizintechniker die Testlösung in ihrem bruchsicheren Behälter aus Mylar.
»Zehn Kubikzentimeter, wie üblich?« fragte der Techniker. »Ja«, antwortete Carson. Dies war das erste Mal, daß er eine solche Injektion anordnete, und er verspürte dabei eine Mischung aus Erwartung, Reue und Schuldgefühl. Er sah zu, wie der Techniker ein Stück Fell am Unterarm des Affen wegrasierte und die nackte Haut mit einem Desinfektionsmittel säuberte. Der Schimpanse sah der Prozedur benommen zu, dann drehte er den Kopf und schaute Carson direkt in die Augen. Carson wich den Blicken aus.
Währenddessen war mit leisen Schritten Rosalind BrandonSmith zu ihnen gestoßen, die Fillson freundlich anlächelte und sich dann mit versteinerter Miene Carson zuwandte. Zu ihren Aufgaben gehörte es, die Schimpansen zu beobachten, denen der Impfstoff injiziert worden war, und diejenigen zu obduzieren, die die Behandlung nicht überlebten, was bisher bei sämtlichen Versuchstieren der Fall gewesen war.
Der Schimpanse zuckte nicht einmal, als der Techniker die Nadel in seine Vene stach.
»Sie wissen schon, daß Sie zwei Schimpansen brauchen«, hörte Carson BrandonSmith' besserwisserische Stimme über die Sprechanlage. »Ein Männchen und ein Weibchen.« Carson nickte, ohne sie anzusehen. Der weibliche Schimpanse wurde wieder zurück in den Zoo gerollt, und nach kurzer Zeit kam Fillson mit einem Männchen zurück. Dieses war sogar noch kleiner als das Weibchen, ein halbes Kind noch, mit einem neugierigen Gesicht, das Carson irgendwie an eine Eule erinnerte.
»Mein Gott«, sagte de Vaca. »Das bricht einem ja das Herz.« Fillson warf ihr einen strafenden Blick zu. »Hören Sie endlich auf, die Affen zu vermenschlichen. Es sind doch bloß Tiere, sonst nichts.«
»Bloß Tiere«, murmelte de Vaca. »Das sind wir auch, Mr. Fillson.«
»Diese beiden werden überleben«, sagte Carson. »Ganz bestimmt.«
»Da muß ich Sie leider enttäuschen, Carson«, sagte BrandonSmith und schnaubte verächtlich. »Selbst wenn es Ihnen gelungen sein sollte, das Virus zu neutralisieren - was ich persönlich übrigens bezweifle -, werden die Tiere trotzdem getötet und obduziert.« Sie verschränkte die Arme und blickte hinüber zu Fillson, der sie bestätigend anlächelte.
Carson sah zu de Vaca, deren Gesicht vor Ärger ganz rot war. Er hatte diesen Gesichtsausdruck in letzter Zeit nur zu gut kennengelernt. Aber de Vaca sagte nichts.
Der Techniker stach die Nadel der Spritze in die Vene des Schimpansenmännchens und injizierte ihm ebenfalls zehn Kubikzentimeter der Lösung mit dem X-FLU-Virus. Er zog die Nadel heraus und desinfizierte das Einstichloch mit einem Wattebausch.
»Wann werden wir die ersten Ergebnisse bekommen?« fragte Carson.
»Es kann bis zu zwei Wochen dauern, bis sich die ersten Symptome zeigen«, sagte BrandonSmith. »Aber oft tut sich auch schon früher etwas. Die infizierten Schimpansen kommen jetzt auf die Quarantänestation hinter dem Zoo. Alle zwölf Stunden nehmen wir den Tieren Blut ab und können so feststellen, wann sich die ersten Antikörper bilden. Das geschieht meistens innerhalb einer Woche.«
Carson nickte. »Halten Sie mich auf dem laufenden?« fragte er.
»Natürlich«, antwortete BrandonSmith. »Aber wenn ich Sie wäre, dann würde ich nicht auf die Ergebnisse warten, sondern von vornherein annehmen, daß der Versuch ein Fehlschlag war, und mir etwas Neues ausdenken. So verschwenden Sie wenigstens nicht wertvolle Zeit.«
Sie drehte sich um und ging. Carson und de Vaca kuppelten ihre Luftschläuche ab, folgten ihr nach draußen und machten sich auf den Rückweg zu ihrem Arbeitsplatz. »Was für ein Arschloch«, sagte de Vaca, als sie wieder im Labor C waren.
»Wen meinen Sie damit? Fillson oder BrandonSmith?« fragte Carson. Das Zusehen bei den Injektionen und BrandonSmith' sarkastisches Dahergerede hatten ihn in eine gereizte Stimmung versetzt.
»Ich weiß nicht, ob wir das Recht haben, diesen Tieren das anzutun«, sagte de Vaca anstatt einer Antwort. »Das geht schon bei den winzigen Käfigen an. Ich könnte mir vorstellen, daß sie nicht den gesetzlichen Vorschriften entsprechen.«
»Es ist zwar nicht gerade schön, was hier geschieht«, entgegnete Carson, »aber es dient dazu, Millionen von Menschenleben zu retten. Damit ist es ein notwendiges Übel, mit dem wir uns abfinden müssen.«
»Ich frage mich, ob es Scopes wirklich darum geht, Menschenleben zu retten. Mir kommt es eher so vor, als wäre er nur am Geld interessiert. Mucho dinero.« Sie rieb ihren behandschuhten Daumen und Zeigefinger aneinander.
Carson ignorierte sie. Wenn sie unbedingt über eine abhörbare Sprechanlage solche Sachen sagen und dabei ihren Job riskieren wollte, dann sollte sie es ruhig tun. Wer weiß, vielleicht bekam er dadurch eine Assistentin, die ein wenig freundlicher zu ihm war.
Er holte sich ein Modell des X-FLU -Polypeptids auf den Computerschirm und drehte es nach allen Seiten. Dabei dachte er über eine andere Möglichkeit nach, das Virus zu neutralisieren, was ihm nicht leichtfiel, denn er war nach wie vor der Meinung, das Problem bereits gelöst zu haben. De Vaca holte Becher und Reagenzgläser aus dem Sterilisator und brachte sie zu einem Aufbewahrungsgestell am anderen Ende des Labors.
Carson blickte konzentriert auf die Tertiärstruktur des Polypeptids, das aus Tausenden von Aminosäuren bestand. Wenn es mir gelänge, diese Disulfidbrücken hier zu durchtrennen, dachte er, dann könnten wir die aktive Seitengruppe auffalten und das Virus auf diese Weise unschädlich machen. Aber dann fiel ihm ein, daß Burt diese Möglichkeit sicherlich bedacht hatte. Er löschte das Bild und holte sich die Daten der Röntgenstrukturanalyse des Proteinmantels auf den Schirm. Es gab nichts, was er übersehen hatte, dachte Carson und erlaubte sich kurz, an eine möglicherweise bevorstehende Beförderung und die Bewunderung zu denken, die Scopes ihm wegen seines Erfolgs entgegenbringen würde.
»Es ist ziemlich schlau von Scopes«, fuhr de Vaca fort, »daß er uns alle Aktien von GeneDyne gibt. Das erstickt jegliche Kritik bereits im Keim, weil die Leute schließlich alle reich werden wollen. Und wenn man es in einem internationalen Konzern wie diesem erst einmal zu etwas gebracht hat, dann...« Carson, den sie mit ihren Worten brutal aus seinem Tagtraum gerissen hatte, unterbrach sie barsch. »Wenn Sie so sehr gegen das alles sind«, blaffte er in die Sprechanlage, »warum zum Teufel sind Sie dann überhaupt hier?«
»Erstens wußte ich nicht, woran ich hier arbeiten würde. Ich war der medizinischen Abteilung zugewiesen, aber als Burts Assistentin ging, mußte ich ihren Job übernehmen. Und außerdem brauche ich Geld für eine Nervenklinik, die ich in Albuquerque aufmachen will. Und zwar im Barrio.«
Sie sprach das Wort »Barrio« extra betont mit einem rollenden mexikanischen »r« aus. Carson fand diese Zurschaustellung ihrer Zweisprachigkeit besonders aufdringlich. Er selbst sprach halbwegs gutes Gringo-Spanisch, aber er hütete sich davor, es ihr zu zeigen und sich damit zu einer Zielscheibe ihres Spottes zu machen.
»Was verstehen Sie denn von Nervenheilkunde?« fragte er. »Ich habe immerhin zwei Jahre lang Medizin studiert«, sagte sie. »Ich wollte Psychiaterin werden.«
»Und warum sind Sie das nicht?«
»Ich mußte das Studium abbrechen, weil ich es mir finanziell nicht mehr leisten konnte.«
Carson dachte einen Augenblick darüber nach, dann beschloß er, daß es an der Zeit war, dieser Nervensäge Kontra zu geben. »Quatsch«, sagte er.
Eine Weile herrschte geladene Stille zwischen den beiden. »Was ist Quatsch, cabronl« fragte de Vaca schließlich und trat einen Schritt auf Carson zu.
»Das, was Sie gerade gesagt haben. Mit einem Namen wie Cabeza de Vaca hätten Sie doch jederzeit ein Stipendium bekommen müssen. Schon mal was von Minderheitenquote gehört?«
Wieder folgte langes Schweigen.
»Ich habe meinen Mann unterstützt, damit er sein Medizinstudium absolvieren konnte «.sagte de Vaca wütend. »Und als dann ich an der Reihe war, hat die canaya sich von mir scheiden lassen. Ich habe dabei mehr als ein Semester verloren, und das bedeutet beim Medizinstudium, daß man...« Sie hörte mitten im Satz auf. »Aber ich habe es doch gar nicht nötig, mich vor Ihnen zu verteidigen.«
Carson sagte nichts und bedauerte es bereits, daß er sich wieder einmal auf eine Auseinandersetzung mit ihr eingelassen hatte. »Sie glauben also«, fuhr de Vaca fort, »daß wir Mexikaner nur über die Minderheitenquote ein Stipendium bekommen können.«
»Das habe ich nicht gesagt«, entgegnete Carson und seufzte. »Ich weiß, was Sie gesagt haben. Ich hätte übrigens wirklich ein Stipendium bekommen können, aber nicht wegen meines Namens, sondern weil ich in allen Prüfungen nur Einser hatte, Sie blödes Arschloch.«
Carson glaubte, daß sie übertrieb, aber er zwang sich, den Mund zu halten.
»Halten Sie mich wirklich für eine dumme, kleine chola, die einen spanischen Nachnamen braucht, um zum Medizinstudium zugelassen zu werden?«
Verdammter Mist, dachte Carson, wieso habe ich bloß damit angefangen? Er wandte sich wieder seinem Computer zu und hoffte, daß de Vaca ihn in Ruhe lassen würde, wenn er sie ignorierte.
Auf einmal spürte er, wie sie ihn mit einer Hand an seinem Schutzanzug packte und das Gummimaterial in ihrer Faust zusammenpreßte.
»Na los, antworten Sie schon, cabron!«
Carson hob protestierend einen Arm, aber de Vaca ließ nicht los.
Auf einmal erschien die breite Figur von BrandonSmith in der Tür, und gleich darauf dröhnte ihr abstoßendes Lachen aus der Sprechanlage.
»Tut mir leid, daß ich Ihr intimes Tete-à-tete stören muß, aber ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß die Schimpansen A-zweiundzwanzig und Z-neun wieder wohlbehalten in ihren Käfigen sind. Bisher zumindest sehen sie noch ziemlich gesund aus.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und verließ schnaubend das Labor. De Vaca öffnete den Mund, als wolle sie ihr etwas nachrufen, aber dann ließ sie Carsons Anzug los, trat einen Schritt zurück und grinste ihn an.
»Sie haben vorhin ziemlich ängstlich ausgesehen, Carson«, sagte sie.
Er sah ihr in die Augen und rief sich ins Gedächtnis, daß die Spannung und der rüde Umgangston nun einmal Auswirkungen der Arbeit im Fiebertank waren. Langsam fing er an zu ahnen, was Burt in den Wahnsinn getrieben hatte. Er mußte sich auf sein Ziel konzentrieren und auf nichts anderes...und in sechs Monaten war seine Zeit hier vorbei, ob so oder so.
Er holte sich wieder das Polypeptid auf den Schirm, drehte es um einhundertzwanzig Grad und suchte nach weiteren verwundbaren Stellen. De Vaca räumte den Sterilisator vollends leer, und im Labor kehrte wieder Stille ein. Carson fragte sich einen Augenblick lang, was wohl aus de Vacas Ex-Ehemann geworden war.
Carson erwachte kurz vor der Morgendämmerung. Mit trüben Augen blickte er hinauf zu dem elektronischen Kalender, der neben seinem Bett in die Wand eingelassen war: Es war Samstag. Heute war der Tag des sogenannten Bombenpicknicks, das die Belegschaft von Mount Dragon jedes Jahr auf dem Trinity Site veranstaltete, dem Gelände, wo 1945 die erste Atombombe gezündet worden war. Wie Singer ihm erklärt hatte, stammte die Tradition des Picknicks noch aus der Zeit, in der das Labor für das Militär gearbeitet hatte.
Carson stand auf und fing an, sich seinen eigenen Kaffee zu brauen. Bereits nach drei Tagen war ihm der schal schmeckende Kantinenkaffee zuwider geworden, und außerdem wollte er sich die besinnlichen Morgenstunden in der Wüste nicht dadurch vermiesen, daß er gezwungen war, mit seinen Kollegen am Frühstückstisch Konversation zu treiben. Carson holte seine emaillierte Kaffeekanne aus dem Schrank, die deutliche Spuren jahrelangen Gebrauchs aufwies. Zusammen mit seinen Sporen war sie das einzige gewesen, was ihm bei der Zwangsversteigerung der Farm seines Vaters geblieben war. Die alte Blechkanne hatte ihm an vielen Lagerfeuern treue Dienste geleistet, und Carson hing mit einer fast schon abergläubischen Liebe an ihr. Jetzt drehte er sie um und betrachtete nachdenklich ihren Boden, der pechschwarz vom feuergehärteten Ruß war, den man nicht einmal mehr mit einem Bowiemesser abkratzen konnte. In ihrem Inneren allerdings war die Kanne immer noch strahlend blau mit weißen Pünktchen. An der Seite hatte sie eine große Delle, weil Carsons altes Pferd namens Weaver sie eines Morgens mit den Hufen vom Feuer gekickt hatte. Auf Weavers Konto ging auch der gestauchte Griff, weil das Pferd sich an einem unerträglich heißen Tag mit den Satteltaschen auf dem. Rücken im Wasser eines Flusses gewälzt hatte. Carson schüttelte den Kopf. Weaver war zusammen mit der Ranch versteigert worden und hatte als alter Gaul bestimmt nicht mehr als ein paar hundert Dollar erbracht. Vermutlich hat man den armen Kerl direkt zum Pferdemetzger geschickt.
Carson füllte die Kanne mit Wasser aus dem Waschbecken im Bad, warf zwei Handvoll Kaffeepulver hinein und stellte sie auf die einzelne Kochplatte, die in einen Mauervorsprung eingelassen war. Kurz bevor das Wasser kochte, nahm er die Kanne herunter, gab einen Schuß kaltes Wasser hinein, damit sich der Kaffee setzte, und kochte ihn noch einmal auf. Das war die beste Art, Kaffee zu machen, dagegen hatten schon die lächerlichen Filtervorrichtungen und fünfhundert Dollar teuren Espressomaschinen einpacken können, die seine Mitstudenten in Cambridge gehabt hatten. Dieser Kaffee machte wirklich munter. Carson erinnerte sich, daß sein Dad einmal gesagt hatte, daß ein Kaffee erst wirklich stark war, wenn man darauf ein Hufeisen schwimmen lassen konnte.
Als sich Carson die erste Tasse eingoß, hielt er inne und betrachtete sich in dem Spiegel über seinem Schreibtisch. Er runzelte die Stirn und erinnerte sich daran, wie komisch de Vaca ihn angesehen hatte, als er sich ihr gegenüber als Angloamerikaner bezeichnet hatte. In Cambridge hatten manche Frauen seine dunklen Augen und seine Adlernase als exotisch empfunden. Manchen von ihnen hatte er erzählt, daß er ein Nachfahre von Kit Carson war, aber nie, daß er mütterlicherseits Indianerblut vom Stamm der Southern Ute in den Adern hatte. Daß er sich heute, viele Jahre nachdem man ihn auf dem Schulhof als »Halbblut« gehänselt hatte, noch immer nicht dazu bekennen konnte, störte ihn sehr.
Carson erinnerte sich noch gut an seinen Großonkel Charley. Obwohl auch er ein halber Weißer gewesen war, hatte er wie ein reinrassiger Indianer ausgesehen und sogar die Sprache der Ute fließend beherrscht. Charley starb, als Carson neun Jahre alt war. Er war ein magerer alter Mann gewesen, der oft im Schaukelstuhl neben dem Kamin gesessen hatte, wobei er bisweilen in sich hineinkicherte, dicke Zigarren rauchte und immer wieder Tabakkrümel ins Feuer spuckte. Onkel Charley hatte viele Indianergeschichten erzählt, die meistens vom Einfangen entlaufener Pferde oder vom Viehdiebstahl bei den verhaßten Navajos gehandelt hatten. Carson hatte sich diese Geschichten nur anhören können, wenn seine Eltern nicht in der Nähe gewesen waren, sonst hätten sie ihn fortgezerrt und dem alten Mann gesagt, er solle dem Jungen mit seinen unsinnigen Lügengeschichten nicht den Kopf verdrehen. Carsons Vater hatte Onkel Charley nicht besonders gemocht und oft despektierliche Kommentare über dessen lange Haare abgegeben. Dabei hatte sie sich der alte Mann nur deshalb nicht schneiden lassen, weil er der festen Überzeugung war, daß dann der dringend benötigte Regen ausbleiben würde. Carson erinnerte sich daran, daß sein Vater einmal zu seiner Mutter gesagt hatte, daß Gott ihrem Sohn »viel zuviel Ute-Blut« habe zu kommen lassen.
Während Carson seinen Kaffee trank und aus dem offenen Fenster blickte, kratzte er sich geistesabwesend am Rücken. Von seinem Zimmer im ersten Stock des Wohngebäudes konnte er jenseits des Pferdestalls und der Werkstatt den Zaun sehen, hinter dem die endlose Wüste begann.
Carson verzog das Gesicht, als seine Finger auf eine wunde Stelle am Rücken stießen, wo der Arzt am Abend zuvor eine Lumbalpunktion vorgenommen hatte. Die regelmäßigen medizinischen Untersuchungen waren eine weitere Unannehmlichkeit, die die Arbeit im Labor der Sicherheitsstufe fünf mit sich brachte, und gleichzeitig eine Mahnung, nur ja nicht die Gefahr der Ansteckung, vor der sich sowieso alle am Mount Dragon fürchteten, zu vergessen.
Der Tag des Bombenpicknicks war Carsons erster freier Tag seit seiner Ankunft hier. Inzwischen hatte er erkennen müssen, daß es mit der Impfung der beiden Schimpansen mit dem von ihm neutralisierten Virus bei weitem noch nicht getan war. Obwohl Carson Scopes erklärt hatte, daß seine Vorgehensweise die einzig mögliche Lösung des Problems darstelle, hatte der Firmenchef darauf bestanden, daß er noch zwei weitere Schimpansenpaare impfte, um das Risiko einer fehlerhaften Diagnose zu minimieren. Sechs Affen waren nun mit dem modifizierten X-FLU-Virus infiziert. Wenn sie das überlebten, würden sie als nächstes darauf getestet werden, ob sie dadurch auch wirklich immun gegen Grippeviren geworden waren. Carson sah zu, wie zwei Arbeiter einen großen, verzinkten Stahltank zu einem Ford-Pick-Up rollten und ihn mit Mühe auf die Ladefläche hoben. Der Wasserwagen, der heute früher als sonst gekommen war, stand im Leerlauf tuckernd vor der Werkstatt und paffte kleine Wolken von Dieselqualm in die klare Morgenluft über der Wüste. Der Himmel war blau, und die Berge in der Ferne schimmerten im Licht des Morgens wie Amethyst. Der Regen, der in diesem Landstrich das Ende des Sommers markierte, würde noch ein paar Wochen auf sich warten lassen. Carson trank seinen Kaffee aus und ging nach unten. Dort sah er Singer, der neben dem Pick-Up stand und den Arbeitern Anweisungen gab. Er trug Sandalen und Bermudashorts, und sein breiter Oberkörper steckte in einem auffällig gemusterten, pastellfarbenen Hemd.
»Sie sind ja bereits abmarschbereit«, bemerkte Carson. Singer sah ihn durch die Gläser seiner alten Ray-Ban-Sonnenbrille an. »Darauf habe ich mich das ganze Jahr über gefreut«, sagte er. »Wo haben Sie denn Ihre Badehose?«
»Die trage ich unter meinen Jeans.«
»Sie sehen eher aus wie ein Cowboy, Guy, und nicht wie jemand, der einen Tag am Strand verbringen will.« Dann wandte er sich an die Arbeiter. »Punkt acht fahren wir los, also beeilen Sie sich. Holen Sie die Hummer, und laden sie die Sachen drauf.«
Nach und nach kamen die anderen Wissenschaftler, Techniker und Arbeiter, beladen mit Badetaschen, Handtüchern und Klappstühlen, vom Wohnbereich herüber in den Autohof. »Wie hat das eigentlich angefangen?« wollte Carson wissen. »Ich weiß nicht mehr, wessen Einfall es genau war«, antwortete Singer, »aber soviel ich weiß, entstand die Idee, weil die Regierung einmal im Jahr der Öffentlichkeit den Zugang zum Trinity Site gestattet. Irgendwann einmal fragten wir, ob wir auch hindürften, und das wurde uns erlaubt. Jemand hat vorgeschlagen, ein Picknick mit Volleyball und kaltem Bier zu machen, und ein anderer meinte, daß man eigentlich nur noch das Meer mitbringen müßte. So wurde dann die Idee mit dem Viehtank geboren. Das war der absolute Geniestreich.«
»Haben Sie denn keine Angst vor der Strahlung?« fragte Carson.
»Da gibt es keine Strahlung mehr«, kicherte Singer. »Aber wir nehmen trotzdem Geigerzähler mit, um die Nervösen unter uns zu beruhigen.« Als er das sich nähernde Geräusch der Dieselmotoren hörte, blickte er auf. »Kommen Sie, Sie können in meinem Hummer mitfahren.«
Kurze Zeit später rollte ein Dutzend Geländewagen mit geöffnetem Verdeck hintereinander auf der kaum sichtbaren Sandstraße entlang, die pfeilgerade hinaus in die Weite der Wüste führte. Der Wasserwagen fuhr als letzter, weil er eine Staubfahne wie einen mittleren Sandsturm hinter sich herzog. Nach einer guten Stunde Fahrt brachte Singer, der an der Spitze der Kolonne fuhr, seinen Wagen zum Stehen. »Hier war der Explosionspunkt«, sagte er zu Carson.
»Woher wissen Sie das?« fragte Carson und sah sich in der Wüste um. Im Westen ragte die Sierra Oscura auf: trockene, vegetationslose Wüstenberge mit hier und da an die Oberfläche tretenden Felsadern. Es war ein verlassener Ort, aber auch nicht verlassener als der Rest der Jornada-Wüste. Singer deutete auf einen verrosteten Stahlträger, der etwa einen Meter aus dem Boden ragte. »Das ist alles, was von dem Gestell übriggeblieben ist, auf dem die Bombe gezündet wurde. Wenn Sie genau hinsehen, werden Sie feststellen, daß wir uns in einer flachen Senke befinden, die noch von der Explosion herrührt. Dort drüben« -Singer deutete auf einen kleinen Hügel mit den Resten eines Bunkers - »war einer der mit Instrumenten bestückten Beobachtungspunkte.«
»Und hier werden wir picknicken?« fragte Carson ungläubig. »Nein«, antwortete Singer. »Wir fahren noch etwa einen Kilometer weiter. Da ist die Landschaft schöner. Ein bißchen wenigstens.«
Sie fuhren bis zu einem Stück Sand, auf dem es weder Büsche noch Kakteen gab. Daneben war eine einzelne, mit Seifenkraut bewachsene Düne, die sich über die brettebene Wüste erhob. Während die Arbeiter den großen Tank von dem Pick-Up herunterwuchteten, breiteten die Wissenschaftler ihre Handtücher aus und spannten Sonnenschirme auf. Andere stellten Klappstühle und Kühlboxen in den Sand. An der Seite wurde ein Volleyballnetz aufgespannt. Eine hölzerne Leiter wurde an den Rand der Viehtränke gestellt, dann fuhr der Wasserwagen heran und füllte sie mit dem frischen, kühlen Naß. Aus einer transportablen Stereoanlage tönte ein Lied von den Beach Boys.
Carson betrachtete das Ganze vom Rande des Geschehens her. Da er die meiste Zeit im Labor C verbracht hatte, kannte er von den meisten Leuten nicht einmal den Namen, während alle anderen schon länger in Mount Dragon waren und schon mehrere Monate mit ihren Kollegen zusammenarbeiteten. Mit Erleichterung stellte Carson fest, daß BrandonSmith ganz offenbar ihre vollklimatisierte Behausung dem Picknick in der Wüste vorgezogen hatte. Als er tags zuvor zu ihr ins Büro gekommen war, um sich die neuesten Daten der geimpften Schimpansen zu holen, hatte sie ihn fürchterlich angeschnauzt, weil er durch eine unachtsame Bewegung den Krimskrams durcheinandergebracht hatte, den sie mit geradezu besessener Ordnungsliebe auf ihrem Schreibtisch angeordnet hatte. Gott sei Dank ist die nicht dabei, dachte Carson, und stellte sich BrandonSmith im Badeanzug vor.
Als Singer ihn so verloren dastehen sah, winkte er ihn zu sich herüber. Neben dem Direktor saßen zwei Wissenschaftler, die Carson nur vom Sehen kannte.
»Haben Sie eigentlich George Harper schon kennengelernt?« fragte Singer.
Harper streckte Carson grinsend seine Hand hin. »Wir sind im Fiebertank schon ein paarmal aneinander vorbeigelaufen«, sagte er. »Schutzanzug an Schutzanzug. Und natürlich habe ich Ihre schmeichelhafte Beschreibung von BrandonSmith über die Sprechanlage gehört.« Harper war lang und dünn mit schon etwas gelichtetem, braunem Haar und einer großen Hakennase. Er räkelte sich in seinem Liegestuhl.
Carson zuckte zusammen. »Ich habe lediglich meine Sprechanlage getestet.«
»Mit umwerfendem Erfolg«, lachte Harper. »Danach hörte für fünf Minuten der ganze Fiebertank zu arbeiten auf, weil alle ihre Sprechanlage abstellten und...naja...« Er warf einen Blick auf Singer und sagte dann: »...husten mußten.«
»Also, George, ich muß schon bitten«, sagte Singer mit einem Lächeln. Dann deutete er auf den zweiten Wissenschaftler. »Und das hier ist Andrew Vanderwagon.« Vanderwagon trug eine altmodische Badehose und ließ sich die Sonne auf seine flache, bleiche Brust scheinen. Er rappelte sich auf und nahm die Sonnenbrille ab. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte er und schüttelte Carson höflich die Hand. Er war klein und dünn, und das Blau seiner Augen war so blaß wie der Stoff einer stark ausgewaschenen Jeans. Carson hatte ihn schon ein paarmal in Mount Dragon gesehen, wo er in Anzug, Krawatte und schwarzen Halbschuhen herumlief. »Ich bin aus Texas«, sagte Harper von unten, »deshalb muß ich auch nicht aufstehen. Wir Texaner haben nun mal keine Manieren. Aber Andrew hat welche, er kommt schließlich aus Connecticut.«
Vanderwagon nickte. »Harper steht nur auf, wenn ihm ein Bulle einen Haufen direkt vor die Füße macht.«
»Das stimmt nicht«, protestierte Harper. »Wir Texaner schieben das Zeug einfach mit dem Stiefel zur Seite.« Carson setzte sich in einen von Singer angebotenen Liegestuhl. Die Sonne war sengend heiß, und der bleiche Vanderwagon würde sicherlich einen Sonnenbrand bekommen. Carson hörte lautes Rufen und dann ein kräftiges Platschen. Die Leute fingen an, die Leiter zu der Viehtränke hinaufzuklettern und ins Wasser zu springen. Als Carson sich umsah, bemerkte er Nye, den Sicherheitschef, der ganz allein unter einem Golfschirm saß und die New York Times las.
»Er ist so verrückt wie eine kastrierte Kuh«, sagte Harper, der Carsons Blick bemerkte. »Sehen Sie ihn nur an, in seinem Maßanzug. Dabei sind es bestimmt schon an die vierzig Grad.«
»Warum ist er überhaupt mitgekommen?« fragte Carson. »Um uns zu überwachen«, sagte Vanderwagon. »Aber was könnten wir denn hier schon Gefährliches anstellen?« wollte Carson wissen.
»Wissen Sie das wirklich nicht, Guy?« fragte Harper lachend. »Jeden Augenblick könnte doch einer von uns sich einen Hummer schnappen, nach Radium Springs fahren und ein bißchen X-FLU in den Rio Grande schütten. Bloß um mal wieder einen draufzumachen.«
Singer runzelte die Stirn. »Das ist nicht lustig, George.«
»Der Kerl kommt mir so vor, als käme er direkt vom KGB. Ständig spioniert er uns nach« , sagte Vanderwagon. »Seit 1986 hat er Mount Dragon nicht verlassen -kein Wunder, daß er so verkorkst ist. Es würde mich nicht wundern, wenn er in jedem unserer Zimmer eine Wanze installiert hätte.«
»Hat er denn gar keine Freunde hier?« fragte Carson. »Freunde?« Vanderwagon hob die Augenbrauen. »Nicht daß ich wüßte. Höchstens Mike Marr, aber der zählt nicht. Familie soll er übrigens auch keine haben.«
»Was macht er denn den ganzen Tag?«
»Mit Tropenhelm und Pferdeschwanz durchs Gelände schleichen«, sagte Harper. »Sie sollten bloß mal sehen, wie hündisch ergeben die Leute vom Sicherheitsdienst tun, wenn Nye in ihrer Nähe ist. Fehlt bloß noch, daß sie sich vor ihm im Staub wälzen.« Vanderwagon und Singer lachten laut. Carson war ein wenig verwundert darüber, daß der Direktor von Mount Dragon mitlachte, wenn man sich über seinen eigenen Sicherheitschef lustig machte.
Harper legte sich wieder zurück in seinen Liegestuhl und verschränkte mit einem Seufzer die Hände hinter dem Kopf. »Ich habe gehört, Sie kommen aus dieser Gegend hier«, sagte er zu Carson. »Vielleicht können Sie uns da ja erzählen, was es mit dem Gold von Mondragon auf sich hat.« Vanderwagon stöhnte laut. »Womit?« fragte Carson. Alle drei sahen ihn erstaunt an.
»Kennen Sie die Geschichte denn gar nicht?« fragte Singer. »Und Sie wollen aus New Mexico kommen!« Er langte mit beiden Händen in seine Kühltasche und holte drei Dosen Bier heraus. »Darauf müssen wir was trinken«, sagte er und teilte die Dosen aus.
»O nein. Bitte nicht schon wieder die Legende«, seufzte Vanderwagon.
»Aber Carson hier hat sie noch nie gehört«, protestierte Harper. »Einer alten Legende nach«, begann Singer mit einem spöttischen Seitenblick hinüber zu Vanderwagon, »lebte im späten siebzehnten Jahrhundert außerhalb von Santa Fe ein reicher Kaufmann namens Diego Mondragon . Als ihn die Inquisition der Hexerei beschuldigte, wurde er ins Gefängnis geworfen. Mondragon, der genau wußte, daß ihn die Todesstrafe erwartete, gelang mit Hilfe seines Dieners Estevanico die Flucht. Mondragon besaß mehrere Minen in den Sangre-de-Cristo-Bergen, in denen Indianersklaven als Bergleute arbeiteten. Es waren sehr ergiebige Minen, in denen angeblich auch Gold gefördert wurde. Nachdem er der Inquisition entkommen war, schlich sich Mondragon zurück auf seine Hacienda und buddelte einen dort vergrabenen Goldschatz aus. Den packte er auf ein Maultier und floh zusammen mit seinem Diener auf dem Camino Real. Zweihundert Pfund Gold soll er mitgenommen haben, mehr konnte das Maultier nicht tragen. Als sie ein paar Tagesritte weit in die Jornada-Wüste vorgedrungen waren, ging den beiden Männern das Wasser aus. Mondragon schickte Estevanico mit einer Kürbisflasche voraus, um Wasser zu holen, und blieb selbst mit seinem Pferd und dem Maultier in der Wüste zurück. Der Diener füllte die Flasche an einer Quelle, die einen Tagesritt entfernt war, und galoppierte zurück. Als er aber an die Stelle kam, an der er Mondragon verlassen hatte, war dieser samt dem Gold verschwunden.«
Als Singer eine kurze Pause machte, übernahm Harper die weitere Erzählung. »Als die Inquisition erfuhr, was geschehen war, ließen sie Mondragon entlang der Straße suchen. Etwa fünf Wochen später entdeckte jemand am Fuß des Mount Dragon ein totes Pferd, das an einem Pfahl angebunden war. Es war das Pferd von Mondragon.«
»Am Mount Dragon?« fragte Carson. Singer nickte. »Der Camino Real, der Handelsweg der Spanier, führte durch das heutige Laborgelände um den Fuß des Berges herum.«
»Wie dem auch sei«, fuhr Harper fort, »sie suchten jedenfalls überall nach einer Spur von Mondragon, fanden aber nichts weiter als sein kostbar besticktes Wams, das in der Nähe des Pferdes im Sand lag. Mondragons Leiche und das mit dem Goldschatz beladene Maultier blieben verschwunden. Ein Priester verspritzte etwas Weihwasser am Fuß des Mount Dragon, um die Umgebung von Mount Dragons bösem Zauber zu reinigen, und ließ auf dem Gipfel des Berges ein Kreuz errichten. Bald nannte man diesen Ort La Cruz de Mondragon, das Kreuz des Mondragon, was später amerikanische Händler, die die alte spanische Straße entlangzogen, zu Mount Dragon verballhornten.« Harper trank den Rest Bier aus seiner Dose und atmete tief und zufrieden aus.
»Ich habe als Kind viele Geschichten von vergrabenen Schätzen gehört«, sagte Carson. »Die sind hier so gewöhnlich wie blaue Zecken auf einem roten Fersenbeißer. Und meistens frei erfunden.«
»Blaue Zecken auf einem roten Fersenbeißer!« lachte Harper. »Endlich mal jemand mit einem Sinn für Humor!«
»Was ist denn ein roter Fersenbeißer?« fragte Vanderwagon.
Harper lachte noch lauter. »Mein Gott, Andrew, was seid ihr Yankees bloß für Ignoranten. Ein Fersenbeißer ist ein Hund, den man zum Zusammentreiben von Rindern verwendet. Er heißt so, weil er die Kühe in die Fersen beißt, damit sie dorthin laufen, wo er will. Direkt vors Lasso seines Herrchens.« Er schwang ein imaginäres Lasso durch die Luft und schaute hinüber zu Carson. »Bin ich froh, endlich mal jemanden hierzuhaben, der kein verdammtes Greenhorn ist.«