VI
Der Drachenstern
A.D. 459
»Ihr habt gesündigt gegen den Herrn der Heerscharen, und der Teufel hat seine Legionen gesandt, um euch zu bestrafen!« Die zerschlissenen Ärmel einer einst weißen Robe flatterten, als der Priester vor dem abendlichen Himmel die Fäuste schüttelte. »Für eure Gier werdet ihr bestraft; für eure Ungläubigkeit niedergeschlagen. Ihr seid dem ketzerischen Pelagius gefolgt und habt geglaubt, eure Taten könnten euch retten, und dies ist das Ergebnis – Flüsse voller Blut und ein Land in Flammen!« Speichel spritzte von spröden Lippen, als der Priester die Arme niedersausen ließ.
»Es ist wahr!«, wimmerten die Leute. »Wir haben gesündigt! Wir müssen aus diesem verfluchten Land fliehen!«
Die große Gestalt am Rand der Menge schritt vor und lehnte sich auf einen Ebereschenstock. Den wirklichen Namen des Mannes kannte keiner, aber es gab noch eine vage Erinnerung, die von einem »Mab-leian«, einem ›Sohn der Nonne‹, berichtete, und so nannte man ihn »Merlin«. Er machte sich nicht die Mühe, dies zu berichtigen. Ambros war ein menschlicher Name gewesen, und jener Mensch war im Wald gestorben. Es schien passend, dass er, der er kein echter Mensch war, eine Bezeichnung trug, die kein echter Name war.
Merlin war in der Hoffnung auf Essen und Feuer in das Lager der Wanderer gekommen; so kurz vor Mittsommer erwiesen sich Tagesreisen als lang. Stattdessen war er auf diesen zerlumpten Wanderprediger gestoßen, dessen Geschwafel in ihm den Wunsch weckte, in die Stille der Hügel zurückzukehren.
»Ihr habt danach getrachtet, den Teufel Hengest auszutreiben, und wie es dem Mann erging, dem man den Teufel austreiben wollte, haben sieben Dämonen unser Land befallen, allesamt schlimmer als der erste!«, donnerte der Priester weiter.
Und es stimmte, denn die germanischen Stämme, die sich zurückgehalten hatten, während Vortimer gegen Hengest einen Kampf focht, der in einem Unentschieden endete, waren wie heulende Wölfe über den armen, blutenden Kadaver Britanniens hergefallen, sobald der Weg durch Verrat offen stand. Aelle und seine Söhne besetzten die Länder östlich von Sorbiodunum, die Juten und Friesen hatten all ihre alten Ländereien in Cantium zurückerobert und weitere eingenommen. Die befestigten Städte Londinium, Verulamium, Noviomagus und zahlreiche andere hielten zwar noch stand, aber überall in der östlichen Hälfte des Landes wütete der Feind ungehindert.
»Hätten wir die Sachsen willkommen heißen sollen?«, fragte einer, und ein paar Leute verzogen die Gesichter zu etwas, das ein Grinsen hätte sein können, hätten sie nicht vergessen, wie man lachte.
In Wahrheit bildeten sie einen bemitleidenswerten Haufen; sogar diejenigen, die mit einigen ihrer Besitztümer geflohen waren, waren zerschunden und dreckig. Die Haut im Gesicht des Priesters wirkte faltig, als wäre er einst ein viel fülligerer Mann gewesen. Diejenigen, an denen Merlin vorbeischritt, wichen zurück und bekreuzigten sich. Er hatte sich daran gewöhnt; denn so wie sie Zerrbilder ihres früheren Wohlstands verkörperten, so hatte auch er jedweden Schmuck abgelegt und lief barfuss, in einer Kluft aus Wildleder und einem Umhang aus Wolfsfell, das der gebogene Stoßzahn eines Keilers zusammenhielt. Doch er wusste seine Anwesenheit zu verschleiern, sodass selbst jene Menschen, die ob seines Erscheinungsbildes erschraken, binnen eines Lidschlags vergaßen, was sie gesehen hatten.
»Überlasst das Land doch den Wölfen, die übers Meer gekommen sind, und sollen sie ihre Freude daran haben«, antwortete ein anderer. »Wir schaffen uns eine neue Heimat in Gallien.«
Viele seiner Landsleute hatten dies bereits getan und waren den Menschen gefolgt, die Kaiser Maximus vor zwei Generationen in die Fremde geführt hatte. Krieg und Seuchen hatten Gallien nahezu entvölkert, und Riothamus, der nunmehr dort herrschte, hieß die Menschen Britanniens willkommen.
»Wollt ihr das Land den Wölfen überlassen oder denen, die noch den Mut haben, darum zu kämpfen?« Eine neue Stimme durchschnitt das zustimmende Gemurmel.
Merlin drehte sich um. Ein paar Reiter waren am Rand des Feuerscheins aufgetaucht. Der Sprecher trieb sein Pferd ein paar Schritte vorwärts, und die Leute erblickten einen großen Mann mit mausbraunem, auf römische Weise kurz geschorenem Haar. Über dem Kettenhemd trug er einen vom Wetter gebleichten, scharlachroten Reiterumhang.
»Wo sind eure Wachen?«, herrschte der Offizier sie an – oder besser gesagt, der Fürst; denn als er sich bewegte, erspähte Merlin an seinem Hals eine goldene Kette. Drei der Männer am Rand der Menge ließen die Köpfe hängen. »Wären wir Sachsen, hätten wir euch völlig unvorbereitet überrascht!«
»Herr, Ihr habt kein Recht, so mit uns zu reden!«, rief der Priester aus.
»Tatsächlich?« Der Fürst trieb das Pferd durch die Menge, bis er über dem Geistlichen aufragte. »Mein Bruder und ich waren bereits in Gallien – in Sicherheit! Ihr habt uns nach Britannien zurückgerufen und versprochen, hinter uns zu stehen, wenn wir euch anführen. Und jetzt sind wir hier, und wenn wir beginnen, eine Furche zu pflügen, bringen wir die Arbeit auch zu Ende!« Er vollführte eine anrüchige Geste, die keinen Zweifel an ihrer Bedeutung ließ.
Einige der Männer wirkten beschämt, andere hingegen bedachten den Reiter mit trotzigen Blicken.
»Gott selbst hat dieses Land verflucht. Wer sind wir denn, dass wir gegen den Willen Gottes ankämpfen sollen?«
Die Miene des Fürsten verfinsterte sich, wirkte verzweifelt. Wenn es schon nicht half, die Männer als Feiglinge zu beschimpfen, wie sollte er sie dann überzeugen? Merlin lächelte. Er hatte weder Aurelianus noch Uther je getroffen, doch dies musste der jüngere der beiden Brüder sein; denn es hieß, der Kaiser wäre ein feinfühliger Mann. Eine Tugend, die beide besaßen, war Energie. Vitalinus hatten sie bereits zur Strecke gebracht und in seinem Turm verbrannt.
Dann wandte Uther sich um, und Merlin stockte der Atem, als eine Erinnerung das Gesicht mit einem anderen überlagerte, das er einst in einer Vision gesehen hatte, ein Gesicht mit Igraines blauen Augen.
Dies war der Mann, der den Verteidiger zeugen würde.
Merlin musterte ihn mit neuem Interesse und suchte in dem angenehmen Antlitz nach aussagekräftigen Zügen, nach einer Willensstärke, die dem mächtigen Leib geziemte. Er sah Ausdauer und Entschlossenheit; es war das Gesicht eines guten Anführers. Aber sprach daraus Größe? Er vermochte es nicht zu sagen, aber schließlich hatte er auch den Verrat in Hengests Herz nicht erkannt. Sein eigenes Urteilsvermögen hatte sich als unzulänglich erwiesen, und so konnte er nur auf die Götter vertrauen.
»Gebt Gott meinetwegen die Schuld an den Stürmen, die eure Ernten vernichten, aber nicht an der Furcht, die euch fliehen lässt.« Merlin gestattete der Macht seiner Persönlichkeit, sich voll zu entfalten, sodass die Leute, die ihn nun erst bemerkten, den Eindruck bekamen, er wäre wie von Zauberhand urplötzlich unter ihnen aufgetaucht. Sogar Uthers Ross warf überrascht den Kopf hoch und musste gezügelt werden.
»Rom hat euch beschützt, wie Eltern ein heranwachsendes Kind beschützen. Aber nun ist Mutter Rom alt und schwach geworden. Wollt ihr an ihrem Rockzipfel hängen, wenn sie sich selbst nicht mehr wehren kann, oder werdet ihr euch verteidigen wie Männer? Nach Gallien zu flüchten wird euch nicht retten – die Barbaren sind überall. Wenn ihr nicht zusammenhaltet, um sie hier zu bekämpfen, werdet ihr es später tun müssen, in einem fremden Land.«
»Wer bist du denn, uns zu verurteilen?«, rief jemand.
»Ich bin niemandes Sohn und niemandes Vater…«, hallte Merlins Stimme durch die Dunkelheit. »Ich bin ein Wolf in den Hügeln und ein Kitz auf der Wiese gewesen… ich steige mit dem Adler empor und durchwühle mit dem Keiler die Erde. Ich bin der Wilde Mann aus den Wäldern und der Seher Britanniens, und mein Geist verrät mir, was da kommen wird…«
»Dann sag uns die Zukunft voraus!«
»Wieso sollte ich prophezeien, was einfaches Nachdenken zu offenbaren vermag?«, fragte Merlin herablassend. »Die Geheimnisse des Himmels lassen sich nur dann lüften, wenn es unbedingt erforderlich ist. Gäbe ich sie zur Unterhaltung preis, wenn es gar nicht nötig ist, ließe mich der Geist, der mich beherrscht, im Augenblick wahrer Dringlichkeit im Stich.«
Doch als er Luft holte, um fortzufahren, spürte er jene schwindelerregende Bewusstseinsveränderung, die ihm verriet, dass sein daimon erwachte. Dabei mussten seine Züge sich verändert haben, denn die Männer verharrten mit offenen Mündern, als Merlin das Wissen, das ihn überkam, in Worte kleidete.
»Ihr tätet besser daran, die eigenen Herzen zu durchforsten, als mich zu befragen. Bekennt euch zu diesem winselnden Priester, solange ihr könnt, denn so viel ist mir zu sagen erlaubt – weder hier noch in Gallien könnt ihr eurem Schicksal entrinnen. Noch diese Nacht werdet ihr vor euren Gott treten!«
»Du wagst es, uns zu verflu – «, setzte der Priester an, doch Merlins Geste ließ ihn verstummen.
»Weder verfluche noch segne ich euch. Ich sage nur, was ich sehe.« Damit drehte er sich zu dem Fürsten um.
Wutschnaubend stürzte der Störenfried mit erhobener Faust auf ihn los. Niemand vermochte genau zu sagen, was danach geschah; ob der Bursche gestolpert und sich den Kopf angeschlagen hatte oder ob ihn ein unsichtbarer Feind niederstreckte. Fest stand nur, dass er aus toten Augen gen Himmel starrte, als man ihn aufhob.
»Hexerei!«, ertönte ein Tuscheln, doch nur leise, und niemand erhob die Hand, um Merlin Einhalt zu gebieten, als er vor Uther hintrat.
Der Fürst war unter der Sonnenbräune erbleicht, doch er war keiner, der eine Gelegenheit leichtfertig ungenutzt ließ.
»Der Tod kann einen überall ereilen«, sprach er mit fester Stimme. »Marschiert mit mir, und wenn ihr sterbt, dann wenigstens für etwas, nicht auf der Flucht. Jeder, der die Rute steif genug kriegt, um ein Kind zu zeugen, sollte auch das steife Rückgrat haben, es zu beschützen. Marschiert mit mir, und eure Söhne und Töchter werden in ihrem eigenen Land aufwachsen!«
Uthers Blick traf jenen Merlins, während die Tuschelnden untereinander zu reden begannen. »Jetzt erkenne ich Euch. Ihr wart Vitalinus’ Seher. Kommt mit mir zum Kaiser.«
»Ich biete Euch meine Dienste an.«
»Ich hoffe, Ihr dient uns besser als ihm«, sprach Uther, doch hinter dem Kummer in seinen Augen schimmerte eine Hoffnung, die zuvor nicht da gewesen war.
Nördlich von Sorbiodunum stieg das Land zu einer breiten Ebene hin an. Selbst in friedlichen Zeiten war es karg besiedelt gewesen, nun lag es nahezu völlig verwaist da. Aber Geister flüsterten im Wind. Mittlerweile gibt es hier noch mehr Geister, dachte Merlin und schaute zu den geschlossenen Karren, die des Kaisers Männer den Pfad vom Schrein herauftrieben. Er fühlte die Geister der britischen Fürsten, die über jenen vermischten Fragmenten aus Asche und Gebeinen schwebten.
War Aurelianus bewusst, was die Erfüllung dieser Aufgabe – der ersten, die der Kaiser befohlen hatte – Merlin kosten würde? Für andere Menschen mochte Sorbiodunum, das sich von Schlachten entstellt zeigte, aber dennoch einige Überreste früheren Glanzes erkennen ließ, ein vom Feind zurückeroberter Ort wie jeder andere sein. Für Merlin hingegen war das Volk der Toten zahlreicher als das der Lebenden; zudem spürte er sie stärker, und der Geist des Mannes, den er selbst einst verkörpert hatte, war der Schlimmste von allen.
In Sorbiodunum vor den Kaiser zu treten war hart gewesen. Mit ihm zu dem Schrein am Rand der Ebene zu reiten, wo Hengest die Fürsten hingemetzelt hatte, erwies sich als noch härter. Rings um die runden Hütten, in denen die Mönche lebten, entstand ein Militärlager. Mittlerweile nannte man den Ort Ambrosiacum oder Ambrosius’ Hügel.
Die Sachsen hatten den Rieddach-Unterschlupf über den Leichnamen verbrannt, und wenn auch die Mönche Gebete für sie gesungen hatten, besaßen sie doch keine Grabstätte. Und so hatte Aurelianus verfügt, dass die Fürsten ein Grabmal erhalten müssten. Es zu erschaffen war Merlins Buße, zugleich die erste Probe seiner Weisheit.
Einer der Reiter an der Spitze hob die Lanze und deutete damit. Uther trieb sein Ross neben Merlins.
»Wo ist der Ort?«
Das flache Tal, das der Fluss Abona durch die Ebene geschürft hatte, fiel hinter ihnen ab. Vor ihnen erstreckte sich Gras- und Heideland zu einer von gelegentlichen Baumgruppen durchbrochenen Hügelreihe hin. Merlin wies ihm die Richtung.
»Seht Ihr diese Ausbuchtung, etwa eine Meile entfernt? Das ist der erste Grabhügel, obwohl derlei alte Heiligtümer über die gesamte Ebene verstreut sind. Aber diese bilden eine Linie, die zurück nach Sorbiodunum weist und sich nördlich entlang des Rückgrats Britanniens erstreckt. Von Osten nach Westen führt eine weitere Linie durch den Tanz der Riesen und verbindet ihn mit der Insel aus Glas, die ebenfalls einen Ort uralter Macht darstellt.«
Zum ersten Mal, damals noch als Kind, war er während eines Besuchs des Vor-Tigernus in Sorbiodunum mit Mogantius hier gewesen. Zu jener Zeit hatte ihn die weitläufige Ebene gleichermaßen geängstigt wie begeistert, was auch nun der Fall war.
»Was habt Ihr meinem Bruder erzählt, um ihn zu bewegen, hierher zu kommen?«, wollte Uther wissen.
Beide schauten zurück zu der Pferdesänfte, in der Ambrosius Aurelianus nachfolgte. Der Kaiser war bedeutend älter als sein Bruder, und mitunter schmerzten seine Gelenke so höllisch, dass ihm das Reiten zu schwer fiel. Mit seinem Verstand jedoch war alles in Ordnung.
»Ich habe ihm erzählt, dies sei der bedeutsamste Brennpunkt der Macht in diesem Teil der Insel«, erklärte Merlin. »Die Geister, deren Gebeine an diesem Ort ruhen, werden sich mit jenen vereinen, die in uralten Tagen hier begraben wurden.«
»Nun, dies ist die Grenze Britanniens«, meinte Uther seufzend. »Wir nennen uns nicht einmal mehr Briten, sondern Combrogi, die Männer des Landes.« Er verkörperte einen interessanten Gegensatz zu seinem Bruder. Beide waren von griechischen Tutoren unterrichtet worden, Uther aber hatte sich die raue Sprache der Soldaten angeeignet, die er befehligte, vielleicht, um sich vom Kaiser zu unterscheiden.
Sie ritten ein Stück weiter; Uther richtete sich im Sattel auf und deutete mit der Hand. »Was ist das?«
Aus dem Gras erhoben sich dunkle Schemen. Nach ein paar weiteren Schritten verwandelten sie sich in einen Kreis stehender Steine, untereinander verbundene Blöcke, die eine Gruppe Trilithen umgaben. Die Römer hatten zwar höhere und verschlungenere Bauwerke errichtet, nie jedoch mit derart gewaltigen Steinen. Kahl zeichnete die Umfriedung sich gegen die verlassene Ebene ab und wartete mit brütender Macht.
»Das ist der Tanz der Riesen.«
Während die Tage gegen Samhain hin zunehmend kürzer wurden, arbeiteten die Männer, und als sie fertig waren, war die Reihe der Grabhügel um einen länger. Darunter lagen die Gebeine der Anführer Britanniens. Am Vorabend des Festes befahl Merlin den Arbeitern, einen Feuerkreis um den Grabhügel zu errichten, sich dann zum Fluss hinunter zurückzuziehen und die Feuer die Nacht hindurch brennen zu lassen.
»Ich gehe zum Steinkreis und vollführe den Zauber, der diese Geister an das Land binden wird.«
»Müsst Ihr dabei allein sein?«, wollte Uther wissen, und Merlin zog eine Augenbraue hoch, denn in einer solchen Nacht hätte jeder andere Mann sich mit Amuletten behangen und am Feuer zusammengekauert. »Wenn nicht, dann komme ich mit Euch.«
»Ich ebenso«, schloss der Kaiser sich ihm an.
Merlin verbeugte sich. Bislang hatte er wenig Gelegenheit gehabt, Aurelianus näher kennen zu lernen, aber obwohl der Körper des Kaisers nicht gerade vor Kraft strotzte, war doch er es, von dem Uther die Willensstärke hatte. Bereits jetzt erkannte Merlin, dass es den Sachsen nie gelungen wäre, in Britannien Fuß zu fassen, hätte Vitalinus solche Zielstrebigkeit besessen und diese Gabe, Männer dazu zu bringen, ihm zu folgen.
»Für geringere Menschen wäre es gefährlich. Doch es scheint passend, dass die nun herrschenden Könige dort stehen, wo die Häuptlinge vergangener Zeiten ihre Macht entfalteten.«
»War dies ein Druidentempel?«, hatte Uther gefragt, als sie unter dem Steinportal hindurchgeritten waren.
»Eine Art Tempel, aber nicht von den Druiden errichtet, obwohl sie einige seiner Geheimnisse lüfteten. Er wurde erbaut, noch bevor unser Volk in dieses Land kam.«
»Waren es Trojaner, wie manche behaupten, oder weise Männer aus Ägypten, die den Menschen beigebracht haben, diese Steine aufzurichten?«, erkundigte sich Aurelianus. Gegen den Frost in dicke Mäntel gehüllt, saß er auf einem der umgestürzten Steine wie auf einem Thron.
»Die Überlieferungen, die ich gelehrt wurde, besagen, es waren weder die einen noch die anderen«, antwortete Merlin. »Die Weisen, die solche Steinkreise errichtet haben, kamen von Westen, aus einem Land der Magie weit jenseits des Meeres. Zuerst nach Erin, dann nach Britannien. Von diesen Inseln wurde das Wissen südwärts getragen, bis hinunter in die Länder rings um das Mittelmeer.«
Es war beinahe Mitternacht. Sie schauten über das Gras zu den Feuern, die einen Kreis um den Grabhügel bildeten, dann empor zum Sternenglanz des Himmels.
»Die Sterne sind wie Wachfeuer einer gewaltigen Armee, die im Himmel ihr Lager aufgeschlagen hat«, meinte Uther. »Werden diese Geisterkrieger kommen, um uns in unserer Not beizustehen?«
»Wenn ich sie rufe, werden sie kommen. Jetzt müsst Ihr still sein, ganz gleich, was Ihr seht oder hört.« Merlin holte aus seinem Beutel eine Hand voll Kräuter hervor und verstreute sie in einem schützenden Kreis um die beiden Fürsten. Dann stimmte er einen leisen Sprechgesang an und schritt mit dem Sonnenlauf um die Einfriedung. Jeden Stein, bei dem er angelangte, grüßte er, und er vermeinte, in den flechtenüberzogenen Felsblöcken die Anfänge eines erwidernden Schimmerns zu erkennen. Die Riesen erwachten.
Merlin schälte sich aus den Kleidern, legte das Wolfsfell in die Mitte zwischen den beiden Trilithen und hockte sich mit untergeschlagenen Beinen darauf. Dann schaute er empor und beobachtete, wie sich das gewaltige Himmelsgewölbe auf die heilige Stunde zubewegte, und in jenem Augenblick, als die Sterne mitten am Himmel stillstanden, erwachte der Geist in ihm, und er begann zu singen.
Hell leuchtende Sterne, die ihr strahlt hoch droben
So wie die Feuer von Feinden hier drunten,
Schweigend sollt ihr erzählen eure Geschichte;
Steine sollen Geschichten singen…
Merlin erinnerte sich an die Nacht, die er, als er noch ein Kind gewesen war, mit dem Schmied in dem Grabhügel verbracht hatte. Damals hatten die Visionen unbeherrscht und unerwartet eingesetzt. Nun war er ein Mann im Vollbesitz seiner Kräfte, und er rief sie herbei. Er sang, und einer nach dem anderen traten leuchtende Gestalten aus den Grabhügeln hervor.
Er hörte den rhythmischen Sprechgesang zahlreicher Stimmen, während Männer sich mühten, die massiven Blöcke über den Boden zu schleifen. Stein um Stein wurde der Kreis vervollständigt. Er sah, wie das Blut von Stieren spritzte, um sie zu segnen; er sah Könige mit Gold auf den Schultern und Königinnen mit golddurchwirktem lockigem Haar. Jahr um Jahr sah er die Zeremonien: die Krönungen, die Totenfeiern, die Fußrennen und Wagenrennen um die Grabhügel.
All diese Dinge sah er; und er sang diese Dinge, und als die Sterne ob des herannahenden Morgengrauens zu verblassen begannen, beschwor er die Geister.
»Ihr, die ihr dieses Land liebt, verteidigt es gegen jene, die es zu zerstören trachten. Ihr, deren Gebeine zu dieser Erde geworden sind, verteidigt sie gegen die Todbringer. Ihr, die ihr hier gelebt habt in einer Zeit vor der Zeit, heißt willkommen die Geister jener, die vor kurzem in euer Reich gekommen sind!«
Das Schimmern der Steine schwoll an und strahlte über die Ebene. Wo es hinfiel, stiegen durchscheinende Gestalten aus der Erde auf, mit jedem Lidschlag mehr. So wie der Wind die Blätter hebt, trieb Merlins Gesang sie zu dem frischen Grabhügel. Im Osten erhellte sich der Himmel mit dem ersten Licht des nahenden Sonnenaufgangs. Die Feuer verschwanden hinter einem Schleier undurchsichtiger Wolken, die immer heftiger wirbelten, bis die Erde des Grabhügels sich öffnete und die Geister der jüngst Verstorbenen in die Freiheit strömten.
In jenem Augenblick stieg der lodernde Rand der Sonne über den Horizont. Hinter sich hörte Merlin ein ehrfürchtiges Keuchen; dann blinzelte er angesichts der strahlenden Explosion über dem Grabhügel. Die Sonne hob sich empor aus dem Erddunkel, und Licht flammte in einem gleißenden Pfad vom Grabhügel über das Gras, um von den Steinblöcken des Grabmals widerzuscheinen.
Die Lebenden und die Toten und die Erde selbst stimmten mit ein in einen gewaltigen Jubelschrei. Merlin fühlte, wie sein Geist fortgerissen wurde in einem zeitlosen Augenblick der Einheit. Dann sank er zurück in seinen Körper, setzte sich auf und blinzelte ins Morgenlicht des Samhain-Tages.
»Ihr Opfer wurde angenommen«, meinte eine Stimme hinter ihm. »Sie sind eins mit dem Land.«
Es war Aurelianus, dessen Antlitz immer noch vor Ehrfurcht glühte. Er wirkte jünger, als Merlin ihn je gesehen hatte, doch zerbrechlich, als loderte der Geist in ihm zu heftig für das Fleisch seines Leibes. Da erkannte er, dass der Kaiser nicht mehr lange zu leben hatte. Uther stand neben ihm und stützte ihn am Ellenbogen.
Dies ist der König, dem ich dienen will, dachte Merlin, bis die Zeit für den Verteidiger kommen wird.
»Eine größere Ehre könnten sie nicht verlangen«, sagte Uther, »ebenso wenig wie ich.«
Von jenem Tage an ritt Merlin mit Uthers Gefolgschaft. Während Aurelianus zurück nach Venta reiste, um die Verteidigung Britanniens entlang der neuen Grenze zu leiten, marschierte sein Bruder gen Demetia. Während die Combrogi alle Aufmerksamkeit der Verteidigung ihrer östlichen Gebiete widmeten, nutzten die Pikten und Skoten – die uralten Feinde – die Gunst der Stunde und nahmen ihre Angriffe wieder auf. Verstärkt wurden sie von einer Bande Sachsen unter der Führung von Pascentius, der im Jahr zuvor von Amlodius besiegt worden war und in Erin Zuflucht gesucht hatte.
Eine Zeit lang schien es, als kämpfte der Himmel selbst auf der Seite der Feinde, denn Wolken rollten von Westen herein, Regen überschwemmte Pfade und verlangsamte den Marsch des Heeres. Uther hielt sie mit fröhlichen Kraftausdrücken zusammen und behauptete, Gott hätte die Stürme gesandt, um den Feind aufzuhalten, bis sie ihn einholten. Er war, wie Merlin beobachtete, ein guter Anführer, bereit, auf Ratschläge zu hören, wenn Zeit dafür war, und mit dem Mut zur raschen Entscheidung, wenn keine Zeit dafür war. Und er verlangte seinen Männern nichts ab, was er nicht selbst tat.
Im Verlauf des Feldzugs lernte Merlin auch die anderen Anführer kennen: Gaius Turpilius, dessen Familie ein blühendes Anwesen nahe Venta Silurum besaß und immer noch an den römischen Traditionen festhielt; Eldol von Glevum, der Jüngere, ein entfernter Vetter des Vitalinus, der in dem Bestreben, seinen Vater zu rächen, stets die gefährlichsten Kämpfe wählte; und Gorlosius von Cornovia, ältester Sohn und Erbe des Gerontius, der in Dumnonia herrschte.
Igraines Gemahl.
Merlin beobachtete ihn eingehender als die anderen und fand wenig, das er mochte, dafür viel, was Bewunderung verdiente. Auch er focht verbissen, wenngleich seine Gnadenlosigkeit eher dem Zorn darüber zu entspringen schien, dass es jemand wagte, sich ihm in den Weg zu stellen. Wäre Merlin je in den Sinn gekommen, Igraine mehr als die Liebe eines Verwandten entgegenzubringen, das Wissen um seine eigenen Wurzeln hätte es verhindert; doch der Gedanke, dass sie, obschon einer Königin gleichwertig, mit diesem überheblichen Kleinkönig vermählt war, trieb ihn zur Weißglut.
Sie marschierten durch ganz Demetia und kämpften sich die Küste entlang nach Gwenet, bevor die Wolken sich aufzulösen begannen und sie wieder klaren Himmel sahen.
Als sie an jenem Abend das Lager aufschlugen, waren die einzigen Überreste des Sturms ein paar lichte, rot lodernde Wolkenfetzen am Himmel. Merlin, der bei Regen für gewöhnlich seine Lederkleidung in einer Truhe verstaute und nur mit dem Leinenfetzen um die Lenden weiterging, rieb gerade eine wunde Stelle, wo die feuchte Satteldecke die Haut seines Ponys aufgeschürft hatte, mit Salbe ein, als er plötzlich einen Schrei hörte. Doch es war nicht die übliche Warnung vor einem herannahenden Feind. Er drehte sich um und sah, dass die Männer gen Himmel deuteten.
Die Hälfte dieser Männer waren vor dem Krieg Schafhirten gewesen. Sogar die Bauern unter ihnen waren gewöhnt, die Jahreszeiten zu bestimmen, indem sie den Himmel absuchten. Merlin selbst beobachtete ihn regelmäßig, seit Mogantius es ihm im Alter von zehn Jahren beigebracht hatte. Er brauchte kaum mehr als einen Lidschlag, um zu entdecken, was sie bestaunten – ein strahlender Lichtpunkt im Südosten, wo sich zuvor kein Stern befunden hatte. Eine Stunde lang war er am Himmel sichtbar, dann versank er allmählich zwischen den Bäumen.
In der nächsten Nacht erstrahlte er noch heller und zog einen verschwommenen Lichtschemen hinter sich her. Merlin erklärte ihnen, es sei ein Komet, der oft bedeutsame Ereignisse ankündigte. Doch er war immer noch im Steigen begriffen. Sie mussten warten, bis er seine volle Pracht erreicht hatte, ehe sie versuchen konnten, herauszufinden, was er verheißen mochte.
Die drei folgenden Nächte blieb der Himmel bedeckt. Die Combrogi marschierten weiter nach Norden, konnten es kaum erwarten, den Feind endlich zu stellen. Vom verbrannten Holz der geplünderten Gehöfte stieg immer noch Rauch auf, folglich konnte der Feind nicht mehr weit vor ihnen sein.
Am nächsten Tag kam ein Wind auf, der die Baumwipfel hin und her peitschte und die Wolken vom Himmel fegte. An jenem Abend schlugen sie das Lager früh auf und wählten dafür eine Anhöhe mit freiem Blick gen Süden. Merlin legte eine Tunika aus weißer Wolle an, die Aurelianus ihm geschenkt hatte. Auf seine Magie hatte dies keinerlei Einfluss, doch er würde Vertrauen erweckend wirken, wenn er wie ein Druide aussah. Mittlerweile war er selbst ebenso begierig darauf zu erfahren, was der Komet zu bedeuten hatte. Aber seine Neugierde war mit Furcht vermischt.
Als das Tageslicht verblasste, steigerte sich die Spannung. Merlin empfand die Besorgnis der Männer wie einen immer stärker werdenden Druck, der auf ihm lastete, und versuchte seinen Geist dagegen abzuriegeln. Sein Unbehagen ließ nach, doch in selbem Maße auch seine Gabe, die leisen Ströme des Universums wahrzunehmen. Mit gerunzelter Stirn wählte er einen guten Aussichtspunkt auf dem Hügel und zog einen Kreis aus Kräutern um sich. Nicht einmal Uther würde es wagen, diesen Kreis zu durchqueren, und als Merlin ihn schloss, fühlte er die Anspannung abklingen.
Er nahm auf dem Wolfsfell Platz, atmete tief und gleichmäßig und senkte seine Seele in die Erde hinab. Sogleich spürte er die feinen Verästelungen der Macht, die das Land nährten; aber sie waren lediglich Seitenarme, kein mächtiger Strom wie jener, den er am Tanz der Riesen angezapft hatte. Und doch wirkten selbst diese winzigen Kanäle aufgewühlt. Eine Veränderung nahte, und sie würde schon bald einsetzen.
Die Farbe des Himmels vertiefte sich zu einem leuchtenden Kobaltblau. Plötzlich erstrahlten die ersten Sterne, doch wohin war der Komet verschwunden? Gemurmel von den Männern lenkte seine Aufmerksamkeit nach oben, und ihm wurde bewusst, dass der Komet rascher wanderte, als er erwartet hatte, denn er stand bereits hoch. Merlin lehnte sich zurück, schaute nach oben und erlaubte seinem Geist emporzusteigen, während er selbst mit der Erde fest verankert blieb.
Der Kopf des Kometen strahlte heller als die Venus, wenn sie den Morgenstern verkörpert, der Schweif schien sich über den halben Himmel zu erstrecken. Von seiner Schönheit gebannt, brauchte Merlin eine Weile, bis ihm bewusst wurde, dass ihn jemand rief.
»Seher, sagt mir«, erklang Uthers vor Anspannung leise Stimme, »was verheißt dieser wilde Stern?«
Merlin, bereits im Dämmerzustand, befolgte den Befehl, wie ein Pferd dem Zügel gehorcht. Seine Wahrnehmung der Welt um ihn herum verblasste; er starrte zu dem Kometen empor, bis dieser sein Blickfeld vollständig ausfüllte. Zunächst war ihm der Kopf des Kometen als bloßer Lichtball erschienen, nun jedoch pulsierte er heftig und verwandelte sich mit einem Mal in das Haupt eines Drachen. Aus weiter Ferne hörte er, wie seine eigene Stimme berichtete, was er sah.
Die Männer rings um ihn stimmten ehrfürchtiges Gemurmel an. Dann ergriff der Fürst wieder das Wort.
»Solche Wunder tauchen nicht zufällig auf. Was hat dieses zu bedeuten?«
Unmittelbar nach der Frage sickerte das Wissen mit solcher Macht in Merlins bewusste Wahrnehmung, dass er sich aufrichtete und ihm Tränen in die Augen stiegen.
»Kummer und Sorge«, flüsterte er. »Kummer und Wehklagen für Euch, Herr, und für ganz Britannien. Euer Bruder ist tot. Der edle Fürst ist von uns gegangen, das Volk ohne Anführer.« Blind wandte er sich Uther zu und streckte die Hand aus. »Erhebt Euch, Sohn des Ambrosius, und eilt Euch, den Feind anzugreifen. Tut es jetzt, solange das Haupt des Drachen den Himmel beherrscht und Euch den Sieg verspricht. Vernichtet den Feind und bringt Britannien in Eure Hut.«
Abermals schaute er empor und sah, wie das Maul des Drachen sich öffnete und eine Zunge aus Feuer zwischen den Kiefern hervorschoss. »Der Sieg ist Euch gewiss!«, brüllte er plötzlich. »Und ein Sohn, größer noch als sein Vater, der das Volk retten und ewig währenden Ruhm erlangen wird!«
Mittlerweile tönten auch die anderen Männer, wollten wissen, wie Aurelianus gestorben war, wo der Feind sich befand, was sie tun sollten. Merlin schüttelte den Kopf und versuchte, der Stimme zu lauschen, die in ihm sprach.
»Ihr werdet das Lager Eurer Feinde an der Küste finden, wo die Insel der Toten die Bucht behütet«, flüsterte er. »Marschiert jetzt, und überrascht sie, während sie schlafen. Ihr müsst Euch beeilen, denn sie haben vor, mit der Morgenflut loszusegeln!«
Sie marschierten die Nacht hindurch, während der Drache über ihnen leuchtete und ihnen den Weg wies. Und als er mit dem Herannahen der Morgendämmerung zu verblassen begann, wand die Armee der Combrogi sich bereits die Hügel über Madocs Bucht hinab und erblickte das Lager des Feindes, das sich unter ihnen über den Sand erstreckte. Sie hatten Kundschafter ausgeschickt, folglich wusste jeder Einzelne, was er zu erwarten hatte und was zu tun war.
Außer Merlin. Uther hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass er sich keinerlei Gefahr aussetzen durfte. Er hatte ohnehin nie gelernt, wie man mit Waffen aus Eisen kämpfte, und man hatte ihm beigebracht, dass er, wenn er seine anderen Gaben einsetzte, um Leben zu vernichten, sowohl diese Gaben als auch sich selbst zerstören würde. Also wartete er auf der Hügelkuppe im Schütze eines Dornenbuschs. Für vorbeihuschende Feinde war er somit unsichtbar, doch es war seine Prophezeiung gewesen, welche diese Männer in die Schlacht befohlen hatte; er schuldete es ihnen, ihren Kampf mit anzusehen.
Die Beutefahrer hatten sich in Sicherheit gewogen. Dennoch waren sie nicht dumm. Als Uthers Streitmacht den Hügel herabpreschte, schlugen Wachen Alarm, und Männer stürzten aus ihren Unterschlüpfen oder mühten sich aus den Mänteln, in die sie sich zum Schlafen gehüllt hatten, allesamt mit Waffen in den Händen. Uther hatte seine Truppen in drei Flügel unterteilt; je einer sollte von jeder Seite her angreifen, der dritte einen Bogen zum Ufer hin beschreiben. In solchen Wirren verhießen die Pferde so gut wie keinen Vorteil. Nach einem ersten wilden Ritt durch das Lager, bei dem mit Lanzen und Speeren zugestoßen wurde, stiegen die meisten Reiter von ihren Tieren und begannen mit den Schwertern um sich zu schlagen.
Überraschung hatte das Kräfteverhältnis ausgeglichen, doch die Feinde kämpften tapfer und umso verbissener, nachdem die von Uther dafür abgestellten Männer mit Fackeln ins Meer hinausgewatet waren und die wartenden Schiffe in Brand gesteckt hatten. Ein Großteil der Beute war bereits verladen worden. Sowohl der Flucht als auch des Lohnes beraubt, hatten die Feinde wenig zu verlieren, doch Uther war fest entschlossen, dass diese Bande von Beutefahrern nie wieder einen weiteren Raubzug unternehmen sollte.
Der Fürst war im Sattel geblieben. Merlin beobachtete ihn vom Hügel aus, wie er die kastanienbraune Stute in engen Kreisen herumtrieb und mit der Lanze zustieß, als wäre jeder Einzelne, den er stellte, für Aurelianus’ Tod verantwortlich. Es war ein Weg, mit der Trauer fertig zu werden oder sie wenigstens zu verdrängen. Der wahre Schmerz würde erst später einsetzen.
Auch Gorlosius saß noch auf dem Ross, einem drahtigen Hengst mit einem Fell so schwarz wie sein eigenes Haar. Was ihm an schierer Kraft mangelte, glich er durch Wendigkeit aus. Kaum wurde ein Feind seiner gewahr, war er auch schon tot. Eldol hingegen war für die meisten Pferde viel zu groß. Er stapfte mit einem Schwert in jeder Hand in die Schlacht, und als erst die eine, dann die andere Klinge brach, ersetzte er sie jeweils durch eine Axt, die er einem Feind abnahm. Während er sich einen Weg durch das Lager holzte, türmten sich die Leichen hinter ihm auf wie Erde hinter einem Pflug.
Dann formierten sich am Rand des Wassers die Männer, die zuvor die Schiffe angegriffen hatten, und trieben jene, die auf diesem Wege zu flüchten versuchten, zurück in die Schwerter der Angreifer. Die steigende Flut verfärbte sich rot über dem blutbefleckten Strand.
Danach war es bald vorüber. Merlin kam vom Hügel herab. Der Friese, Pascentius, war getötet worden, der Häuptling von Erin, Giflomanus, gefangen genommen. Doch im Zuge der Schlacht war ihm das Bein halb abgetrennt worden. Selbst wenn man ihn gegen Lösegeld eintauschte, würde er nie wieder gegen Britannien kämpfen. Die meisten anderen Gefangenen fielen dem Schwert zum Opfer.
Merlin bahnte sich einen Weg durch die eigenen Verwundeten, säuberte und verband die grässlichen Schnitte und nähte, wenn es erforderlich war. Die meisten dieser Männer wiesen bereits Narben auf, und sie waren so gesund und kräftig wie ihre Ponys. Man durfte durchaus hoffen, dass sie genesen würden, wenngleich er schon miterlebt hatte, wie winzige Kratzer Menschen in der Blüte ihres Lebens dahinrafften. Er fragte sich, wie Aurelianus gestorben sein mochte – denn nachdem sie den Feind dort gefunden hatten, wo er es vorhergesagt hatte, bezweifelte er nicht mehr, dass auch der erste Teil seiner Vision der Wahrheit entsprach. Hatte den Kaiser eine Krankheit befallen, oder hatte ihn letzten Endes das Herz im Stich gelassen?
Zornige Stimmen rissen ihn aus seiner Grübelei. Er legte einen Verband fertig an und erhob sich. Eine der Stimmen, kurz angebunden und leise, gehörte Uther. Die andere, lautere, stammte von Gorlosius.
»Alles, was diese Wichte gestohlen hatten, war auf diesen Schiffen, und Ihr habt sie verbrannt!«, rief der Cornovier aus.
»Wäre Euch lieber gewesen, sie wären damit entkommen?« Uther hielt überraschend eisern an sich.
»Das hätten wir zu verhindern gewusst.« Gorlosius deutete auf die Leichen, die zum Scheiterhaufen geschleppt wurden.
»Vielleicht. Ich musste sicher gehen.«
»Wir hätten diese Güter ihren Besitzern zurückgeben oder sie verwenden sollen, um unsere Streitkräfte zu unterhalten, sofern wir die Besitzer nicht gefunden hätten. Wir alle haben dafür geblutet – wir verdienen einen Anteil am Lohn!«
»Tatsächlich?« Ein schärferer Ton schlich sich in Uthers Stimme. »Dumnonia hat am wenigsten von allen gelitten. Wenn der Rest von uns ohne Belohnung auskommt, dann Ihr erst recht!«
»Redet nicht in diesem Ton mit mir!«, rief Gorlosius. »Ihr habt nur das Wort dieses Hexers, dass der Kaiser tot ist, und schon beansprucht Ihr seinen Thron. Glaubt Ihr etwa, er steht Euch einfach so zu, weil Ihr sein Bruder seid? Rom ist weit. Wir brauchen keinen Kaiser mehr, sondern einen Hochkönig wie in alten Zeiten, und der muss aus den Reihen aller Fürsten gewählt werden, wenn die Zeit reif dafür ist.«
»Und so wird es auch sein.« Uthers Stimme zitterte vor Anstrengung, Ruhe zu bewahren. »Aber bis wir nach Venta zurückkehren, untersteht diese Armee meinem Befehl, und Ihr werdet gehorchen!«
Sobald die Verwundeten in der Lage waren zu reisen, begaben sie sich auf die Straße nach Süden. Als sie Demetia erreichten, fanden die Boten sie endlich. Aurelianus war tatsächlich tot – einer Krankheit erlegen, meinten einige, während andere über Gift tuschelten, wenngleich kein Übeltäter gefunden werden konnte. Der Komet war im ganzen Land gesichtet worden, über seine Bedeutung herrschten verschiedenste Meinungen. Doch zu jenem Zeitpunkt hatte einer von Uthers Männern ein Banner entworfen, das einen roten Drachen zeigte, dessen Kopf in einem Lichtkreis prangte. Pendragon, »Drachenhaupt«, nannten sie ihren Anführer, und die Kunde eilte ihnen voraus, sodass, als sie in Venta Belgarum eintrafen, die gesamte Gegend diesen Namen rief.
Und es war der Name Uther Pendragon, mit dem die Fürsten Britanniens ihrem Hochkönig zujubelten.