WIR KAMEN MIT DEM BOOT und hatten anders als beim letzten Mal keine Mühe, die Stelle zu finden. Ohne Yardley Acheman schien alles in meinem Leben leichter zu gehen. Der alte Mann, Tyree, war im Hof, ein dünnes Messer mit schwarzem Griff in der Hand, und bearbeitete einen Alligator, führte mühelos Schnitte aus und zog das Leder vom Fleisch.
Er richtete sich auf, als er den Motor hörte, drehte sich um und starrte uns an, während ich die Fahrt verlangsamte und das Boot ans Ufer lenkte. Er gab nicht zu erkennen, dass er sich an uns erinnerte, obwohl ich nicht davon ausging, dass er genügend Gäste empfing, um sie durcheinanderbringen zu können.
Wir waren noch einige Schritte vom Ufer entfernt, als ich den Motor abstellte und in den Fluss sprang, um das Boot an Land zu ziehen. Der alte Mann wandte sich wieder dem Alligator zu, setzte dem Tier das Messer an die Kehle und schlitzte es bis zu den Hinterläufen auf.
Dann langte er unterhalb der Kehle mit der Hand in den Kadaver und fuhr nach unten, sodass die Gedärme aus dem Schlitz fielen. Als er damit fertig war, schien im Alligator unmöglich Platz für all das gewesen zu sein, was zu seinen Füßen lag.
»Mr. Van Wetter?« fragte mein Bruder.
Der alte Mann steckte das Messer mit der Spitze nach unten in die hintere Hosentasche, griff mit beiden Händen nach den Schnitträndern und zog sie auseinander. Die Muskeln seiner Oberarme wölbten sich unter der Haut, dann war ein Knacken zu hören, und ich konnte in den Körper des Alligators hineinsehen.
Als der alte Mann sich wieder umdrehte, waren seine Hände blutverschmiert.
»Ich heiße Ward James, Mr. Van Wetter«, sagte mein Bruder. »Ich war schon mal hier.«
Er nickte kaum wahrnehmbar, und irgendwas tropfte von seinen Fingern. »Sie haben die Geschichte in der Zeitung geschrieben«, sagte er.
Mein Bruder nickte.
»Tja«, sagte er, »das wollten Sie ja auch.«
Ward und ich blieben stumm und warteten.
Der alte Mann wartete ebenfalls.
»Es gibt da noch einiges …«, sagte mein Bruder.
»Hillary ist nicht mehr im Knast«, sagte der Alte, stemmte die Hände in die Hüften, und die Muskeln seiner Oberarme entspannten sich. »Wenn etwas vorbei ist, ist es vorbei. Zeitungsjungen können das nicht verstehen. Die haben uns mit dieser Story die Hölle heißgemacht, es waren sogar Leute hier, die haben nachts Fotos geschossen.«
Aus dem Haus war ein Geräusch zu hören, und ein kleiner, kugelköpfiger Mann, den ich nie zuvor gesehen hatte, trat vor die Tür, in der Hand einen Baseballschläger, den er exakt in der Mitte hielt, sodass seine Finger das Etikett verdeckten. Langsam ging er über den Hof, den Schläger fest im Griff und nur eins im Sinn. Ich wusste, wenn wir erst in Reichweite waren, würde er wortlos mit seiner Arbeit beginnen.
Von einer Katze wäre mehr Gnade zu erwarten gewesen.
Der alte Mann sah ihn kommen und warf mir dann einen Blick zu. »Irgendwas sagt dir, dass es besser wäre, zurück ins Boot zu gehen, stimmt’s?« Ich nickte.
Nur noch wenige Schritte trennten uns von dem Mann, und seine Hand wanderte über den Baseballschläger, bis sie an den Griff kam.
Ich wich einen Schritt zurück und sah mich um, damit ich wusste, wo Ward stand.
Mein Bruder rührte sich nicht, er genoss die Situation.
Der Mann hatte uns fast erreicht, als der Alte die vom Alligator besudelte Hand hob. Der Mann mit dem Schläger blieb ebenso abrupt stehen, wie er losmarschiert war. Er schulterte den Schläger, damit er leichter ausholen konnte, und musterte mich mit völlig gleichgültiger Miene.
Der Alte schaute noch einmal zu meinem Bruder hinüber. »Sie geben wohl nie auf, wie?« fragte er.
»Nein, Sir«, antwortete Ward.
»Jetzt weiß ich, wie Sie Ihr Auge verloren haben«, sagte er.
Mein Bruder sah sich um, betrachtete zuerst den Mann mit dem Schläger, dann das Haus in seinem Rücken. »Ich muss Hillary noch ein paar Sachen fragen«, sagte er.
»Hillary ist im Moment nicht der Richtige, wenn man jemanden belästigen will«, sagte der Alte. »Hat eine ziemliche Laune, seit sie ihn rausgelassen haben.«
Ward warf einen Blick auf den Mann mit dem Schläger. »Was für eine Laune?« fragte er.
»Er hat sich verändert«, sagte der Alte. »Ich glaub, das macht der Knast mit einem.«
Es war still, während der alte Mann über Hillary und die Veränderungen nachdachte, die er durchgemacht hatte, seit man ihn aus der Haft entlassen hatte. Er schien sich Sorgen zu machen und sich zugleich damit abzufinden.
»Hat ihm an allem den Spaß verdorben«, sagte er ein wenig später.
Mein Bruder nickte, als würde er ihm zustimmen.
»Er hat die Frau«, sagte Ward, und das entlockte dem Alten ein Lächeln.
»Ist nicht gerade die Art Frau, die einem den Spaß am Leben wiedergibt«, sagte er. »Ist eher eine von denen, die einem sagt, was fehlt.« Er drehte sich um und sah den Mann mit dem Schläger an. »Lass das endlich«, sagte er leise, und der Mann stellte die Schlägerspitze auf den Boden und stützte sich auf den Griff. Er starrte uns weiterhin völlig gleichgültig an.
Mein Bruder wartete, und ich wartete mit ihm. Der alte Mann reckte den Hals und trat einen Kiefernzapfen platt. Geistesabwesend drehte er sich um und betrachtete den Alligator. Das Vieh war in den wenigen Minuten geschrumpft, seit es ausgenommen worden war, es zog sich zusammen, als wäre es in Brand gesteckt worden.
»Ehrlich gesagt, Mr. James«, sagte der alte Mann, »Hillary hat noch nie viel für Besuch übriggehabt.«
»Ich will ja nicht zum Essen bleiben«, sagte Ward. »Ich will ihm nur ein paar Fragen stellen.«
Der alte Mann stopfte sich die Hände in die Hosentaschen. »Es gibt nichts auf der Welt, das Sie für ihn tun könnten. Nur die Zeit kann ihm helfen.«
»Es geht nicht um ihn«, sagte Ward.
Der alte Mann schien überrascht. »Aber warum sollte er Sie dann sehen wollen?«
»Er kennt mich«, sagte mein Bruder. »Ich habe ihm geholfen, als er im Gefängnis war.«
»Das wird er Ihnen vorwerfen«, sagte der alte Mann. »Er hat’s nicht gern, wenn man ihm hilft.«
»Wo ist er?« fragte Ward.
Der Alte runzelte die Stirn. »Sie haben eine Art, die die Leute provoziert, wissen Sie das?«
Mein Bruder rührte sich nicht.
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass er seine Launen hat. Und ich werde Ihnen keine Wegbeschreibung geben, falls Sie darauf warten.«
Ward nickte und wartete weiter auf Antwort. Der alte Mann wartete ebenfalls, sodass Ward schließlich noch einmal fragte: »Wo ist er?«
Der alte Mann spuckte in die Hände und wischte sie an seinem Overall ab. »Da, wo er vorher war, nehme ich an«, sagte er, und mehr war aus ihm nicht herauszubekommen.
Mit leerem Blick stand der Mann mit dem Schläger da, die Beine gespreizt, um sicheren Stand zu haben, falls man ihn aufforderte zuzuschlagen.
»Er hat einen seiner Brüder mit der Axt aus diesem Haus vertrieben«, sagte der alte Mann, »einen Blutsverwandten. Wollte keinen um sich haben.«
Der Alte sah zu dem Mann mit dem Schläger hinüber.
»Er weiß, wie man so ein Ding benutzt«, sagte der Alte.
Der Mann mit dem Schläger nickte.
»Ich muss mit ihm reden«, sagte mein Bruder noch einmal.
»Sie müssen tun, was Sie tun müssen«, meinte der Alte. »Grüßen Sie ihn von mir.« Er wandte sich ab und machte sich wieder daran, den Alligator zu häuten. Ein Hahn lief dem alten Mann vor die Füße, und schneller, als ich es bei einem Mann seines Alters für möglich gehalten hätte, wirbelte er herum, verpasste dem Vogel einen Tritt, der ihn bis fast zum Haus hinüberschleuderte.
Der Mann mit dem Schläger sah zu, wie der Hahn auf dem Boden landete, sich überschlug und dann zur Baumreihe am Ende des Hofs rannte. Ein leises Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
WIR SASSEN WIEDER IM BOOT, und der Wind blies mir ins Gesicht und durch das Haar. Ich ließ den Motor an, Ward saß im Bug, mit dem Gesicht zu mir. Er war so eingestiegen und hatte sich nicht wieder umgedreht. Über meine Schulter hinweg starrte er auf das Haus am Ufer.
ALLEIN HÄTTE MEIN BRUDER ODER ICH unbemerkt nach Moat County fahren können, ohne unseren Vater zu besuchen. Aber zusammen schien ein Besuch irgendwie unvermeidlich.
Dies war uns klar, obwohl wir kein Wort darüber verloren, aber wir schoben den Besuch auf, verbrachten die Nacht in einem Touristenhotel ohne Warmwasser am anderen Ufer des Flusses, südlich von Palatka.
Ich schlief schlecht auf der weichen Matratze und legte mich schließlich auf den Boden, wachte mit steifem Nacken auf und verfluchte jetzt schon den Tag. Schweigend fuhren wir nach Lately, dann Richtung Süden nach Thorn. Wir wollten zu Hause duschen.
Ein Baumsterben hatte im Frühjahr die meisten Bäume der Stadt verenden lassen, sodass die Häuser im harten Licht der Sonne standen. Alles sah aus wie gebleicht. Dabei war ich nur einige Monate weg gewesen.
Im Hof gegenüber vom Haus meines Vaters waren Dreiräder zu sehen, und mir fiel ein, dass die alte Frau, die dort gewohnt hatte, gestorben war. Vor langer Zeit hatte sie frühmorgens am Fenster gestanden, die Hand am Telefon, um meinen Vater anzurufen, falls mein Bruder beim Zeitungsausliefern ihren Rasen betrat. Ich hatte ihn damals begleitet, da ich auch Zeitungsjunge werden wollte.
Ohne die Bäume wirkte unser Haus kleiner als früher. Der Rasen musste gemäht werden, und im Hof lag ein Schlauch, den niemand aufgerollt und an seinen Platz an der Garagenwand gebracht hatte. Ein anderthalb Meter breiter Baumstumpf erinnerte an die Ulme, die der Veranda Schatten gespendet hatte.
In der Auffahrt standen keine Autos. Ich fuhr den Ford vors Haus und hielt an, blieb aber einen Augenblick sitzen und schaute mich um, während Ward ausstieg, sich frische Sachen nahm und zur Tür ging.
Die Tür ging nicht auf, als er dagegendrückte. Er starrte sie an, dann probierte er seine Schlüssel durch – er hatte einen Bund mit etwa fünfzehn Schlüsseln, ich glaube nicht, dass er jemals einen fortwarf –, fand den richtigen und steckte ihn ins Schloss. Ich blieb noch einen Augenblick im Wagen und überlegte, ob ich nicht in der Gasse hinterm Haus parken sollte.
Und dann sah ich mir noch einmal den Rasen, den Schlauch und die Straße ohne Bäume an. Ich dachte daran, dass mein Vater sich vor den Augen der Nachbarn eine Frau ins Haus geholt hatte, und es schien mir nicht mehr so wichtig, dass ein verrosteter Kombi in seiner Auffahrt stand.
Ich ging ins Haus. Die Wände im Wohnzimmer waren hellbeige gestrichen. Pflanzen standen in Ecken, in denen nie zuvor welche gestanden hatten, und es gab ein neues Sofa, das nicht den Eindruck machte, als wäre es entworfen worden, damit man darauf sitzen konnte. Sämtliche Möbel waren neu, bis auf den Sessel meines Vaters. Der allerdings war neu bezogen, der Haarölfleck verschwunden.
In ein großes Seitenfenster war eine Klimaanlage eingebaut worden, und es roch wie in einer Kaufhausabteilung. Ich stand im Wohnzimmer und versuchte, mich daran zu erinnern, wie die Wände vor dem Anstrich ausgesehen hatten. Ward ging nach oben, und kurz darauf hörte ich, wie eine Tür zufiel und das Wasser lief.
Ich ging in die Küche. Hier sah es etwas vertrauter aus. Ich holte mir ein Bier aus dem Kühlschrank, setzte mich an den Tisch und wartete auf Ward. Es gab noch eine Dusche im Keller, aber wenn man dort den Hahn aufdrehte, während die andere Dusche lief, wurde oben das Wasser kalt.
Ich legte den Flaschenhals auf den Tischrand und schlug einmal mit der flachen Hand dagegen. Der Kronkorken rollte über den Boden, Schaum spritzte aus der Flasche über meine Hand und meine Hose, bis ich ihn mit dem Mund auffing.
Kaum hatte ich den ersten Schluck genommen, wurde oben die Dusche abgestellt. Er konnte kaum lange genug da drinnen gewesen sein, um so nass zu werden, wie ich es von meinem Bier geworden war.
Und dann hörte ich sie reden, erst seine Stimme, dann ihre, und langsam wurde mir klar, dass sie noch im Haus war. Ich ging wieder ins Wohnzimmer, das Bier in der Hand, und traf sie, als sie die Treppe herunterkam.
Sie war noch im Nachthemd, die Haut um ihre Augen schlafverquollen. Sie hatte sich gestern Abend das Make-up nicht mehr abgewischt und war barfuß, ihre Arme hatten Grübchen und sahen pummelig aus.
»Was glaubst du, was du hier treibst?« fragte sie und schaute auf das Bier.
Ich hörte, wie mein Bruder überall anstieß, weil er sich so beeilte.
»Dies ist keine öffentliche Badeanstalt«, sagte sie.
Ich setzte mich aufs neue Sofa. »Wir waren zuerst hier«, sagte ich. Diese Frau würde mich nicht aus dem Haus verjagen, in dem ich geboren worden war. Notfalls, so malte ich mir aus, würde ich einen Monat an dieser Stelle sitzen bleiben.
»Ich habe es deinem Bruder gesagt, und jetzt sage ich es dir«, erwiderte sie. »Kommt nie wieder in dieses Haus, ohne vorher anzuklopfen.«
Ich sah zur Treppe hinauf. »Ist dein Zeitungsjunge oben?«
»Das reicht«, sagte sie. »Raus hier.«
Ich setzte die Flasche an die Lippen, nahm einen Schluck, beobachtete sie und machte es mir auf dem Sofa bequem.
»Ich möchte diese ganze Angelegenheit nicht noch unangenehmer werden lassen, als sie es bereits ist«, sagte sie.
Plötzlich kam es mir so vor, als wäre mein Vater mit uns im Zimmer und wir beide maßen unser Benehmen daran, welchen Eindruck wir in seinen Augen machten. Mir tat meine Bemerkung mit dem Zeitungsjungen leid, da ich wusste, dass er darüber traurig gewesen wäre.
»Wir sind nur gekommen, um zu duschen«, sagte ich. »Im Motel gab’s kein Warmwasser.«
Ich merkte, dass sie langsam verstand, dass wir nicht über Nacht bleiben wollten. In diesem Augenblick kam Ward mit tropfnassem Haar die Treppe herunter, in denselben Kleidern, mit denen er das Haus betreten hatte, Schuhe und Socken in der Hand.
»Fertig?« fragte er.
»Ich werde jetzt duschen«, sagte ich, stand auf, nahm mein Bier und frische Wäsche und ging an ihr vorbei die Treppe hinauf. Einen unangenehmen Moment lang dachte ich daran, dass ich meinen Bruder mit dieser Frau allein im Wohnzimmer zurückließ.
»Das wird für uns alle kein Vergnügen«, sagte sie, aber ich ging weiter nach oben und folgte den nassen Fußspuren meines Bruders bis ins Bad.
Ich verschloss die Tür, stellte die Dusche an und setzte mich auf die Toilette, um mein Bier auszutrinken. Meine Hand zitterte. Ich konnte mir allerdings nicht erklären, wieso ich wieder daran dachte, mit ihr zu schlafen. Rund um das Waschbecken standen ihre Sachen – Lippenstift, Make-up, Bürsten, Parfüm –, und im Mülleimer lag die Packung einer Monatsbinde. An den Haken hingen frische Badetücher.
Ich stellte die Flasche auf den Boden neben der Toilette, stand auf, öffnete das Medizinschränkchen und sah, dass sie das ebenfalls mit Beschlag belegt hatte. Dexedrine.
Ob sie früher dick gewesen war?
Ich zog mich aus, ließ meine Kleider zu Boden fallen und stieg in die Dusche. Am Wasserhahn hing eine Bürste, wo vorher keine gehangen hatte, und ich schrubbte mir damit die Hände. Die Seife war seltsam parfümiert, den Namen des Shampoos hatte ich noch nie gehört.
Ich blieb lange unter der Dusche, nahm mir vor, das gesamte Warmwasser zu verbrauchen, damit Miss Guthrie an diesem Morgen kalt duschen musste. Aber dann fiel mir Ward wieder ein, und ich drehte schließlich den Wasserhahn zu, trat heraus und trocknete mich ab.
Als ich nach unten kam, war Ellen Guthrie in der Küche und Ward saß draußen im Wagen. Ich hörte, wie sie den Hörer abnahm, und einen Moment später fiel mir der Geruch der schmutzigen Kleider in meiner Hand auf, ranzig und süß zugleich. Man sondert einen gewissen Geruch ab, wenn man Angst hat.
Leise ging ich aus dem Haus und warf die Kleider in die Mülltonne an der Auffahrt. Dann ließ ich den Wagen an – das Motorengeräusch lockte eine Nachbarin an ihr Fenster – und fuhr in die Stadt zum Büro meines Vaters. Der Geruch der Kleider klebte noch an meinen Händen.
MEIN VATER saß an seinem Tisch und strich sich mit einem Brieföffner über die Fingerkuppen, der ihm von der »Sektion Florida« der »Nationalen Vereinigung zur Ausbildungsförderung farbiger Mitbürger« überreicht worden war. Wahrscheinlich gab es im Büro keine Messer, die er schleifen konnte.
Als wir hereinkamen, stand er auf, tat nicht einmal, als wäre er überrascht, schüttelte uns feierlich die Hände und lächelte auf eine Art, die zugleich abwesend und höflich wirkte. Er tat auch nicht, als hätte sie ihn nicht bereits angerufen.
»Also«, sagte er, »was führt die Miami Times wieder nach Moat County?« In seiner Stimme schwang ein gewisser Vorwurf mit, der ebenso mir wie meinem Bruder galt.
»Ein paar Dinge, die noch überprüft werden müssen«, sagte Ward. Mein Vater nickte auf dieselbe, vertraute Weise, wie er jahrelang genickt hatte, wenn meine Mutter zu ihm sprach, während er nach dem Essen die Zeitung las. Er hörte nicht zu.
Ich setzte mich in einen Sessel. Ward blieb am Tisch stehen. Er konnte sich nicht setzen, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. »Wir dachten, wir könnten vielleicht zusammen Mittag essen«, sagte Ward. Ich schaute auf die Uhr an der Wand, es war kurz nach elf. Mein Vater lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.
»Das wäre wunderbar, Jungs«, sagte er, »aber ich habe einen Termin mit ein paar Anzeigenkunden.« Einige Sekunden verstrichen. »Wisst ihr«, sagte er schließlich, »Ellen hat mich gerade angerufen.« Er schaute uns an und nahm sich Zeit, als müsse er überlegen, wen von uns er behalten sollte.
»Wir wollten nicht einfach so hereinschneien«, sagte Ward, »wir dachten, sie sei im Büro.«
»Sie arbeitet bis spät und kommt spät«, sagte er. »Sie ist länger im Büro als mancher Redakteur.«
»Ich meine nur, wir wären nicht ins Haus gegangen, hätten wir gewusst, dass sie noch da ist«, sagte er.
Ich sagte: »Wir wollten noch duschen, bevor wir nach Lately fahren, und das Hotel hatte kein Warmwasser.«
Das Hotel interessierte ihn nicht, auch nicht, was wir in Lately wollten.
»Es ist auch euer Zuhause«, sagte er, »das wisst ihr. Aber für die Zeit, in der Ellen und ich uns aneinander gewöhnen, wäre es vielleicht nicht schlecht, wenn ihr anklopft, bevor ihr ins Haus geht.«
Er warf uns einen prüfenden Blick zu, um zu sehen, ob er uns beleidigt hatte.
»Sie könnte ja in Unterwäsche in der Küche stehen«, fügte er hinzu.
Eine Weile saßen wir da und dachten darüber nach, als das Telefon klingelte und er den Hörer abnahm: »W. W. James«, sagte er. Es war Ellen. Ich sah es seinem Gesicht an, noch ehe er einen Ton gesagt hatte. Ich stand auf und ging zur Tür. »Wir können draußen warten«, sagte ich.
»Einen Moment«, sagte er in den Hörer, bedeckte ihn mit der Hand und lächelte uns zu, als wir zur Tür gingen. »Schön, dass ihr vorbeigekommen seid«, sagte er. Und dann kam er eilig um seinen Schreibtisch herum, den Hörer fest im Griff, und gab jedem von uns die Hand.
Ich zog die Tür hinter uns zu, als wir aus dem Büro gingen, und blickte noch einmal zurück. Er saß wieder in seinem Sessel, den Hörer unters Kinn geklemmt, nickte und lächelte über etwas, das sie am anderen Ende der Leitung sagte.
Als ich das nächste Mal zum Haus meines Vaters kam, waren die Schlösser ausgewechselt.
AM NACHMITTAG FUHREN WIR zurück nach Lately, passierten die Stelle, an der man Sheriff Call tot aufgefunden hatte, und kamen einige Meilen weiter nördlich an dem kleinen Laden der Van Wetters vorbei.
Ich schaute auf den Parkplatz und dachte daran, wie das Kind geschlagen worden war, und es kam mir vor, als wäre das schon ewig her. Ich ärgerte mich über meinen Vater, weil er uns gebeten hatte, zu Hause anzuklopfen, aber Ward nahm es gelassen. Er war dort nicht so verwurzelt, wie ich es war.
»Er will, dass wir anklopfen«, sagte ich.
Er sagte: »Vielleicht sollten wir das Gericht vergessen und gleich zum Sheriff fahren.«
Ich fuhr durch eine lange Kurve und überholte einen alten Laster mit einer Ladung Kies, drückte das Gaspedal bis zum Boden durch, als ich mich ihm von hinten näherte, und langte schließlich nach unten, um es mit der Hand wieder hochzuziehen, sobald ich auf unsere Straßenseite zurücklenkte. Der Wagen schlingerte, fuhr über den Seitenstreifen und kehrte dann zurück auf die Fahrbahn. Mit achtzig Meilen in der Stunde, und mein Bruder saß so unbekümmert neben mir, als hätte ich mich nur vorgebeugt, um den Zigarettenanzünder rauszuziehen.
DER MANN AM EMPFANGSTRESEN im Büro des Sheriffs von Moat County blickte erst auf, als Ward verstummte. Doch dann sah ich, dass seine Augen rot angelaufen waren, als hätte er zu viel getrunken. »Also, was wollen Sie?« fragte er.
Mein Bruder trug ihm sein Anliegen mit denselben Worten noch einmal vor, und der Mann nickte ununterbrochen und erinnerte uns daran, dass er all dies schon einmal gehört hatte. Kaum war Ward fertig, sagte er: »Aber ich habe Sie doch schon einmal gefragt, was Sie nun eigentlich wollen.«
»Ich hätte gern gewusst, wie ich Hillary Van Wetter finden kann«, sagte Ward.
Der Mann am Tresen wurde plötzlich wütend. »Und warum?«
Ward gab nicht auf, und als ich erklären wollte, dass es da noch einige Fragen gäbe, unterbrach er mich, noch ehe ich richtig angefangen hatte.
»Eine Privatsache«, sagte Ward.
Der Deputy lächelte. »Ihr seid doch die beiden, die diese Geschichte in der Zeitung geschrieben haben, stimmt’s?« fragte er. »Und jetzt merkt ihr, dass es nicht so war, wie ihr geschrieben habt?«
Mein Bruder gab keine Antwort. Er rührte sich nicht, er wartete nur. »Wisst ihr, dass er einem Mann den Daumen abgehackt hat?« fragte der Deputy. Er sah jetzt mich an, und ich nickte. »Wegen eines Strafzettels für Falschparken?«
Der Deputy starrte erst seinen Daumen und dann wieder Ward an. »Gibt es hier jemanden, der uns sagen kann, wo wir ihn finden können?« fragte Ward.
»Da könnte man einem Mann ebenso gut die Hand abhacken«, sagte der Deputy.
Ward blieb stumm, der Deputy dachte nach.
»Ich sage Ihnen, wo er ist«, sagte er schließlich. »Dann können Sie rausfahren und sich ansehen, was Sie gerettet haben.«
Mein Bruder zog einen Stift aus der Tasche, um sich die Wegbeschreibung aufzuschreiben, aber der Deputy war zu erregt. Er nahm selbst einen Stift aus der Schublade und begann, eine Karte zu zeichnen.
Die Finger des Mannes waren stumpf und dick, als wäre er mit den Fingerspitzen in der Wagentür hängen geblieben, aber er malte mit zierlichen Bewegungen, achtete sorgsam auf die Lage der Kreuzungen, die Breite der Straßen, den Uferverlauf des Flusses. Manchmal hielt er inne, um die Proportionen seiner Zeichnung zu begutachten, und machte sich dann wieder darüber her, schraffierte die eine oder andere Fläche und radierte hier einen Uferabschnitt weg, weil ihm eingefallen war, dass dort eine Halbinsel ins Wasser ragte. An die Straßen und ihre Kreuzungen schrieb er mit perfekten Druckbuchstaben die nähere Bezeichnung.
Mein Bruder wartete stillschweigend darauf, dass er fertig wurde. Dem Mann machte seine Zeichnung Spaß, und Ward unterbrach ihn nicht, um ihm zu sagen, dass Druckbuchstaben oder schraffierte Flächen unnötig waren. Ein mit Fliegen übersäter Fliegenfänger hing vor den Fenstern von der Decke.
Ich überlegte, was der Mann mit seinem Talent angefangen hätte, wenn er nicht im Büro des Sheriffs gelandet wäre. Es hätte einen anderen Mann aus ihm machen können.
Damals schien es mir noch unmöglich, dass ich mich eines Tages fragen würde, was aus mir geworden wäre, wenn sich die Dinge anders entwickelt hätten. Ich nahm an, dass mir immer alle Wege offenstünden.
Er lehnte sich zurück, betrachtete einen Augenblick lang seine Arbeit, freute sich daran und überreichte sie meinem Bruder.
»Sollte man Sie fragen«, sagte er, »dann ist das nicht von hier.«
Mein Bruder faltete das Blatt sorgfältig und gab damit zu verstehen, dass er die aufgewandte Arbeit respektierte. Er steckte den Zettel in die Hosentasche. »Ich weiß das zu schätzen«, sagte er.
»Glauben Sie?« fragte der Deputy.
Dann stand er auf und ging durch die offene Tür ins Hinterzimmer. Er war ein schwergewichtiger Mann, beim Gehen klebten die Falten der Hose an seinem Hintern.
WIR HIELTEN UNS AN DIE KARTE. Sie führte uns in den Norden Latelys und dann nach Osten, auf einem Schotterweg durch ein dichtes Kiefernwäldchen. Je näher wir an den Fluss kamen, umso feuchter und dunkler wurde der Boden. Wir fuhren seit etwa zwanzig Minuten langsam durch einen Kiefernwald, da ich keine Lust hatte, in einer solchen Gegend mit einem Achsenbruch liegen zu bleiben.
Der Weg mündete auf eine Lichtung, von wo aus wir den Fluss sehen konnten. Stellenweise brach die Sonne durch die Bäume auf der anderen Seite und spiegelte sich im Wasser. Ich hielt an. Einen Augenblick sah es aus, als wäre der Weg verschwunden, aber dann entdeckte ich im Dickicht eine alte Wagenspur.
Hier war seit Langem niemand mehr vorbeigekommen.
Wir saßen im Wagen am Rand der Lichtung. Mein Bruder nahm die Karte, breitete sie auf den Knien aus, studierte sie und blickte hin und wieder auf, um sich zu orientieren. Er legte den Finger auf eine schraffierte Stelle und den Fluss.
»Wir sind hier«, sagte er.
Ich sah auf die Karte und stellte fest, dass der Deputy den Weg bis zum Fluss und noch zwei oder drei Meilen weiter nördlich eingezeichnet hatte. Am Ende seiner Karte stand ein kleines Haus mit Spitzdach, umgeben von einem Zaun, und darunter stand in Druckbuchstaben Van Wetter.
»Da ist doch kein Weg mehr«, sagte ich. Ward studierte die Karte.
»Wir könnten den Wagen abstellen und zu Fuß weiterlaufen«, sagte ich.
»Wenn es hier einmal einen Weg gegeben hat, dann ist er auch noch da«, sagte er, also legte ich den ersten Gang ein und fuhr los. Vor uns im Unterholz tauchte ein Reh auf, warf den Kopf in den Nacken und schaute uns nach, wie wir in breiter Schneise das hohe Gras niederwalzten.
Ich lenkte den Wagen geradeaus, bis wir in einer tiefen Furche landeten und das Chassis über den Boden schrammte. Der Motor verstummte, in der Stille hörte ich die Insekten summen.
»Ist uns das Benzin ausgegangen?« fragte er.
Ich drehte den Schlüssel, und der Motor orgelte. Ob Hillary Van Wetter den Wagen gehört hatte? Sollte das der Fall sein, dann wusste er bereits, wer zu ihm wollte.
Der Motor sprang an, und der alte Ford schob sich rückwärts aus der Furche und zurück zur Lichtung.
Vor uns standen Bäume, und ich fuhr zwischen ihnen hindurch, bis es nicht mehr weiterging.
»Das war’s«, sagte ich, und Ward sah wieder auf die Karte, öffnete dann die Tür und stieg aus. Ich stellte den Motor ab und folgte ihm. In regelrechten Wellen strahlte die Motorhaube des alten Wagens Hitze aus, und irgendwo in der Nähe hing ein Wimmern in der Luft.
Wards Blick wanderte zwischen Karte und Bäumen hin und her. Sie standen eng beieinander, einen Weg hatte es hier nie gegeben.
»Er hat sich offenbar geirrt«, sagte ich.
Ich ging um den Wagen herum, fühlte nach, wie heiß der Motor war, und ging einige Schritte in den Wald hinein. Das Wimmern kam näher, der Ton änderte sich. Im Schatten war es kühl. Ich ging tiefer in den Wald und wollte die Ursache für das Geräusch finden. Erst schien es von einer Stelle, dann aber von einer ganz anderen zu kommen. Ich setzte mich, lehnte mich an eine Kiefer und zog meine Socken hoch. Durch meine Hose spürte ich die kühle Erde. Ward ging langsam zwischen den Bäumen weiter, die Karte noch in der Hand.
»Hiernach müssten wir …«
»Er hat sich geirrt«, sagte ich.
Er steckte die Karte in die Hosentasche, ging an mir vorbei, stolperte und blieb stehen, um den Schuh wieder über die Hacke zu ziehen. Er kaufte sich immer die gleichen spitzen, braunen Lederschuhe, die er bei jeder Gelegenheit trug. Ich habe ihn in solchen Schuhen schon Basketball spielen sehen.
Er beugte sich vor, stützte sich mit einer Hand an einem Baum ab, um nicht zu fallen, und kümmerte sich um seinen Schuh. Dann gab es einen Knall, etwa so, als würde eine Glühbirne platzen, und er lag auf dem Boden.
Ich stand auf, er setzte sich auf. Ein leichter Geruch nach Verbranntem hing in der Luft. Ward versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, fiel aber erneut hin. Wie ein Neugeborenes. Er schien nicht zu wissen, wo er war. Ich griff ihm unter die Arme und zog ihn auf die Füße.
»Alles in Ordnung?« fragte ich.
Er gab keine Antwort, sondern hatte alle Mühe stehen zu bleiben. Ihm war schon immer wichtig gewesen, auf eigenen Füßen zu stehen. Dann sah ich die weißen Isolatoren an den Bäumen und den dunklen, dünnen Draht, der zwischen ihnen gespannt war. Das Wimmern hatte aufgehört.
»Ein Elektrozaun«, sagte ich, und er nickte, als würde er das begreifen, aber aus eigener Kraft noch nicht wieder stehen können. Als ich elf oder zwölf und mit meinem Vater auf Taubenjagd gewesen war, hatte ich schon mal einen elektrischen Zaun angefasst. Es war ein Gefühl, als hätte man mich angeschossen.
»Offenbar will hier jemand Bären von seinem Grundstück fernhalten«, sagte ich.
Langsam zog ich meinen Arm zurück, damit er allein stehen konnte. »Himmel«, sagte er.
»Nein, ein Elektrozaun«, sagte ich.
»Mir kam es vor, als würde ich in ein Loch gesaugt«, sagte er. Und er fuhr sich mit den Händen durch das Gesicht, als würde er es zum ersten Mal berühren.
»Setz dich, ruh dich aus«, sagte ich.
Er schüttelte den Kopf und schaute auf seine Hände. »Es brennt«, sagte er, schloss die Hände und öffnete sie wieder, als wollte er sie testen. Er drehte sich um, betrachtete den Zaun, den er berührt hatte, und wich zugleich davor zurück.
»Lass uns von hier verschwinden«, sagte ich. »Vergessen wir die ganze Sache.«
Er starrte in den Wald. »Es muss tiefer drin liegen«, sagte er.
»Da ist gar nichts drin.«
»Jemand hat den Zaun gezogen.«
Einen Augenblick später duckte er sich tief unter dem Zaun hindurch und marschierte in den Wald. Ich blieb noch einen Moment auf der anderen Seite stehen und ärgerte mich, weil die Sache für mich noch nicht ausdiskutiert war. Aber da niemand mehr da war, mit dem ich sie ausdiskutieren konnte, kroch auch ich unter dem Draht durch und folgte ihm.
DAS HAUS stand auf einer Lichtung voller Baumstümpfe – manche niedriger als andere, aber im Schnitt einen halben Fuß hoch. Die Lichtung wurde von einem Bach gesäumt, über den eine Bohlenbrücke führte, die stabil genug schien, um mit dem Auto oder einem Lieferwagen darüberfahren zu können. Auf beiden Seiten waren Reifenspuren zu sehen, doch konnte ich mir nicht vorstellen, wie ein Wagen durch die Sümpfe zur Brücke gelangen oder wohin er anschließend weiterfahren sollte.
Ward stand an der Brücke und betrachtete das Haus. Im Wald hinter uns hatte das summende Geräusch wieder eingesetzt, und ich hatte das bestimmte Gefühl, dass wir in der Falle saßen. Die Vögel waren plötzlich stumm.
Das Haus selbst war kleiner als dasjenige weiter südlich, in dem Hillarys Onkel wohnte, stand aber ebenfalls auf Stelzen. Es war allerdings kein Fertighaus. Es sah eher so aus, als wäre zu zwei unterschiedlichen Zeiten daran gebaut worden, und selbst auf dem Dach lagen zwei Sorten Ziegel. Hinter dem Haus stand ein kleineres Gebäude, in dem der Generator lief.
Wir blieben regungslos stehen, beobachteten das Haus, und erst allmählich wurde mir klar, dass Charlotte hier wohnte.
Ward ging über die Brücke. Ich blieb an seiner Seite und dachte an Charlotte. Ob sich ihr Aussehen verändert hatte, seit sie hier wohnte? Ob sie noch immer eine Ewigkeit fürs Make-up und zum Anziehen brauchte, seit sie außer Hillary Van Wetter niemanden mehr zu sehen bekam? Ich wusste, dass sie sich um ihr Aussehen kümmern musste. Irgendwie machte sie das attraktiver.
Wir hatten die Lichtung etwa zur Hälfte überquert, als sich die Tür öffnete. Hillary stand vor uns, nackt. Bis auf ein kleines Büschel blassblonder Schamhaare war sein Körper unbehaart. Er sah fülliger aus als im Gefängnis, seine Beine hatten denselben Umfang wie mein Kopf und wirkten eigenartig unproportioniert. Zu kurz für seine Größe.
Ward ging ein oder zwei Schritt näher und blieb dann stehen. Hillary rührte sich nicht. Sie starrten sich an, und langsam schüttelte Hillary den Kopf.
»Was ist denn jetzt schon wieder?« fragte er schließlich.
»Ich möchte mit Ihnen reden«, sagte Ward.
»Noch mehr Gerede.«
Mein Bruder nickte. »Über die Nacht, in der Sie und Ihr Onkel den Rasen gestohlen haben«, sagte er.
Hillary rührte sich nicht. Im Gefängnis, angekettet an seinen Stuhl, hatte er lebhafter gewirkt. »Was ist damit?« fragte er.
»Stimmt es?«
»Sie haben gesagt, dass es stimmt«, sagte er. »In der Zeitung stand, dass es stimmt …«
Wieder war es still, nur der Generator war zu hören. »Yardley Acheman sagte, er hätte mit dem Mann geredet, der den Rasen gekauft hat«, sagte Ward.
Langsam breitete sich ein Lächeln auf Hillary Van Wetters Gesicht aus. »Es stand in der Zeitung«, sagte er noch einmal. »Dann kann es doch keine Lüge sein, oder?«
Er sah rasch zu mir herüber und ließ seinen Blick dann weiterwandern, hinüber in den Wald. »Wo ist der andere?« fragte er.
»Für ihn ist die Geschichte erledigt«, sagte Ward.
Wieder lächelte Hillary. »Er hat, was er wollte, und jetzt sucht er sich was Neues.«
Mein Bruder nickte, und Hillary wurde ernst. »Würden Sie ihm etwas von mir ausrichten?« fragte er. »Sagen Sie ihm, ich hätte es genauso gemacht.« Damit drehte er sich um und verschwand im Haus.
Ich rührte mich nicht. Die Sonne brannte auf meinen Rücken. Als Hillary wiederauftauchte, trug er Schuhe und eine Hose, den Gürtel hatte er locker um die Hüfte geschlungen. Er kam nach draußen und schloss die Tür hinter sich, als hätte er eine Katze im Haus, die ihm nicht zwischen den Beinen davonschlüpfen sollte.
»Sagen Sie ihm, ich hätte es genauso gemacht«, sagte er noch einmal und genoss den Klang seiner Worte.
»Ich weiß nicht, was das bedeuten soll«, sagte Ward.
Hillary Van Wetter lächelte. »Wie wahr, wie wahr!« sagte er, steckte die Hände in die Taschen und starrte meinen Bruder an, als würde ihn etwas irritieren. »Sonst noch was?« fragte er.
»Die Nacht, in der Sie den Rasen gestohlen haben«, sagte Ward. »Wie haben Sie da gewusst, an wen Sie den Rasen verkaufen können?« Die Frage hing zwischen ihnen, und sie schauten sich an. Ich schlug mir eine Mücke aus dem Haar, die Sonne brannte.
»Man stiehlt doch keinen Golfrasen, fährt dann durch die Gegend und fragt nach, wer ihn kaufen will«, sagte Ward.
Hillary Van Wetter zuckte die Achseln und schien mit der Geschichte zufrieden, wie sie nun einmal war.
»Also haben Sie den Mann entweder vorher gekannt, oder es gab keinen Käufer«, sagte er.
Hillary setzte sich auf die Stufen, die zu seiner Haustür führten, beugte sich vor und spuckte zwischen die Füße.
»Sie glauben, Sie wären mit Ihren Freunden zu mir ins Gefängnis gekommen und hätten mich gerettet«, sagte er, stopfte sich einen Finger ins Ohr, bohrte darin herum, zog ihn wieder heraus und studierte die Fingerspitze. Mir fiel auf, dass es in den Bäumen keine Vögel gab. Vielleicht, dachte ich, werden sie vom Lärm des Generators verscheucht. Entweder das, oder irgendwas störte sie beim Anblick der Sümpfe.
»Lassen Sie mich Ihnen was sagen«, fuhr Hillary fort. »Das ist völliger Blödsinn.« Er wischte sich das Ohrenschmalz an der Hose ab, wo es einen Fleck hinterließ. Hillary merkte, dass ich ihn beobachtete, und sagte: »Ich sezerniere ein abnormes Maß an Cerumen.«
Ich nickte, hatte aber keine Ahnung, wovon er redete. »Ohrenschmalz«, sagte er und lächelte dann beinahe so, als würde er mich mögen. »Also wissen Zeitungsjungen doch nicht alles.«
Mein Bruder schien nicht zuzuhören.
Hillary sagte: »Das hat mir der Gefängnisarzt erzählt, die Sache mit der abnormen Sekretion.« Er schwieg einen Augenblick, dachte an den Gefängnisarzt und wandte sich dann wieder an mich. »Also, das war ein Mann, der brauchte ein bisschen Nervenkitzel in seinem Leben, genau wie ihr beide, und den haben sie aufgeschlitzt …«
Wieder spuckte er aus, seine Spucke hatte die Farbe von Kaffee.
»Er war da, als ein paar schwarze Jungs eingebrochen sind, um sich Morphium zu besorgen.« Er lächelte.
Mein Bruder setzte sich auf den nächsten, etwa einen Meter breiten Baumstumpf. Er sagte nichts. Er hatte seine Frage gestellt und wartete jetzt auf eine Antwort. Hillary wandte sich an ihn, und das Lächeln, das die Erinnerung an die schwarzen Jungs, die den Arzt aufschlitzten, hervorgerufen hatte, war verschwunden. »Lassen Sie mich Ihnen noch etwas erzählen, was Sie nicht wissen«, sagte er.
»Erzählen Sie mir von dem Mann, der den Rasen gekauft hat«, sagte Ward.
»Ich erzähl Ihnen was viel Besseres«, sagte er und beugte sich vor, sodass die Ellbogen auf seinen Knien ruhten und die Hände in der Luft baumelten. Er trug einen Ring, den er im Gefängnis nicht getragen hatte, einen dieser Ringe, wie man sie bekommt, wenn man von der Highschool abgeht. »Sie haben niemanden gerettet. Wenn ein Mann seinem eigenen Tod ins Auge sieht, wird es nie wieder so, wie es vorher einmal war.«
Er wies mit einem Kopfnicken zum Haus hinüber. »Wer von euch hat die Lady gevögelt, als ich im Knast war?« fragte er. »Davon stand nämlich nichts in der Zeitung, dass die Miami Times bei ihren Nachforschungen die Verlobte des unschuldigen Opfers flachgelegt hat.«
Ward schüttelte den Kopf und schien es abstreiten zu wollen, überlegte es sich dann aber anders: »Mich kümmert anderer Leute Geschlechtsverkehr nicht«, sagte er leise, aber Hillary verstand nicht, was er meinte.
»Vögeln«, erläuterte ich und fand, dass damit die Schlappe mit dem Cerumen ausgewetzt war.
»Ich kümmere mich nur um meine eigenen Dinge«, sagte Ward.
»Wenn Sie sich nur um Ihre eigenen Dinge kümmern würden, säßen Sie nicht auf meinem Baumstumpf«, sagte Hillary.
Ich schaute wieder hinüber zum kleinen Haus und wartete darauf, dass Charlotte herauskam. Er ertappte mich und schien meine Gedanken lesen zu können.
»Liebeskummer?« fragte er.
»Ich habe mich nur gefragt, wie es ihr geht«, sagte ich.
»Unpässlich«, sagte er.
»Sie schrieb einen Brief …«
»Ich kenne ihre Briefe«, sagte er. Einen Augenblick war es still. »Ich weiß alles über die Kleine.«
Wieder schwiegen wir, und ich starrte das Haus an und fühlte mich beleidigt, weil sie nicht einmal herausgekommen war. »Kommen Sie nie wieder her«, sagte Hillary eher zu meinem Bruder als zu mir.
Ward schien nicht die Absicht zu haben, sich zu verabschieden.
»Kommen Sie nicht zurück.« Hillary erhob sich langsam und ging wieder hinein.
Widerwillig stand Ward auf, ging zwischen den Stümpfen hindurch zurück in den dunklen Wald und stolperte dabei über Wurzeln, die sich den Boden entlangschlängelten. Jedes Mal, wenn er stolperte, fing er sich wieder und ging weiter, als hätte er die Wurzel längst wieder vergessen.
Wie immer verloren in hehren Gedanken.
WIR GINGEN AM FLUSS ENTLANG zurück zum Hotel, und ich stellte mich unter die kalte Dusche. Draußen war es heiß, aber im Kühlschrank gab es einen Sechserpack Bier und ein paar Sandwiches mit Hähnchenfleisch, die ich dort gekauft hatte, woher auch das Bier stammte.
Ich kam aus dem Bad, machte zwei Biere auf, gab Ward eine Flasche und legte mich, noch nass vom Duschen, aufs Bett. Ein Lufthauch wehte vom Fenster herüber wie eine Erinnerung an eine kühle Brise.
Ward schaute über den Fluss. Die Sonne versank, die Bäume im Innenhof umrahmten die Boote und die langen Schatten, die sie über das Wasser warfen. Aber ich glaube nicht, dass Ward irgendwas davon mitbekam. Ich glaube auch nicht, dass er das Bier in seiner Hand wahrnahm. Ich trank einen Schluck, das Bier schmeckte kalt, bitter und gut. Ich fühlte mich schon besser, wie meist, wenn ich das erste kühle Bier noch in der Hand hielt. Ich wusste, später, nach zu vielen Bieren, würde meine Stimmung umschlagen.
Ward trat vom Fenster zurück, nahm sich ein halbes Sandwich und setzte sich an den Tisch in der Ecke. »Yardley ist immer aufrichtig gewesen.«
Ich trank noch einen Schluck. »Scheiße«, sagte ich.
»Ich meine doch nicht sein Privatleben«, sagte er, »ich meine, er ist immer ein ehrlicher Journalist gewesen.«
»Sind das zwei verschiedene Paar Schuhe?« fragte ich. »Ein Typ benimmt sich wie Yardley Acheman, wenn er dienstfrei hat, und wird schlagartig ehrlich, sobald er hinter einer Schreibmaschine hockt?«
»Die besten Journalisten sind nicht immer die besten Menschen«, sagte er. »Die besten lassen ihr wahres Ich außen vor.«
»Ich glaube, wenn man Yardley Acheman ist, dann ist es ziemlich egal, was man für ein Journalist ist. Man ist immer noch Yardley Acheman.«
Ward setzte das Bier an die Lippen, warf den Kopf in den Nacken und trank die Flasche aus. An der Narbe lief ihm etwas Bier über das Kinn.
Eine Weile schwiegen wir.
»Der Nachmittag im Büro, als du mit ihm gekämpft hast«, sagte er, »worum ging es da eigentlich?«
Ich nahm mir noch eine Flasche. In dem Moment dachte ich – und daran hatte ich schon immer geglaubt –, dass es Menschen gibt, in denen du instinktiv einen Gegner erkennst. Und meistens, wie im Fall Yardley Achemans, wissen sie das auch. Selbst wenn nie etwas getan oder gesagt wird, spürst du, sobald du einen Raum betrittst, in dem sich der andere aufhält, diese Feindseligkeit.
»Ich glaube, wir sind geborene Gegner«, sagte ich.
AM MORGEN RIEF ICH, ehe wir nach Miami fuhren, im Büro meines Vaters an. Ich musste das Telefon vor der Eingangshalle des Hotels benutzen, da es auf den Zimmern keinen Apparat gab. Es war ein warmer Morgen, die Vögel lärmten in den Bäumen, und der Fluss war übersät mit Anglern in reglosen Booten.
Ich legte auf, als er abnahm.
ALS WIR NACH SÜDFLORIDA ZURÜCKKEHRTEN, war Yardley Acheman ein Schriftsteller.
Ein Verleger in New York hatte ihm dreißigtausend Dollar angeboten, wenn er aus dem Artikel über Moat County ein Buch machte, ein Betrag, der etwa einem zweijährigen Gehalt entsprach. Ich weiß nicht, ob das Angebot ursprünglich auch meinen Bruder mit einschloss, doch als wir davon hörten, war nur von Yardley Acheman die Rede.
Er erzählte Ward von dem Buch, ohne die Höhe des Vorschusses zu erwähnen, obwohl ich von einem der Laufburschen wusste, dass er schon seit Tagen mit der Summe angab, dass er in der Nachrichtenredaktion von einem Tisch zum anderen ging, um mit Leuten zu reden, mit denen er seit Monaten kein Wort mehr gewechselt hatte.
Ward erzählte er, ihn beschäftige schon seit einiger Zeit der Gedanke, dass Zeitungen ein zu begrenztes Feld für das seien, was er schreiben wolle.
»Vielleicht ist es einfach nur etwas, was ich loswerden muss«, sagte er und meinte damit das Buch. »Etwas, was ich aus eigener Kraft schaffen muss, weißt du. Herausfinden, ob ich es kann.« Er schwieg einen Augenblick und sagte dann: »Deshalb muss unsere Zusammenarbeit ja nicht zu Ende sein. Gemeinsam sind wir zu gut, um aufzuhören.«
Ward nickte und hörte höflich zu, während Yardley voller Erleichterung darüber, dass Ward nun Bescheid wusste, sich in seinen Plänen für das Buch erging, ohne die dreißigtausend Dollar auch nur zu erwähnen.
Als ich das Büro verließ, sprach Yardley immer noch von seinem Gefühl, als Journalist nicht richtig ausgefüllt zu sein. »Du weißt schon«, sagte er, »wovon ich rede. Die Leinwand ist einfach zu klein.«
YARDLEY WAR IN DEN NÄCHSTEN MONATEN nicht allzu oft im Büro. Er verbrachte viel Zeit mit der Journalistin in New York, die er tatsächlich auch heiratete.
Auf Drängen der Redakteure begann Ward Nachforschungen über mehrere Amtsleiter in Dade County anzustellen. Er sammelte Tausende von Dokumentseiten über Mülldeponien, Kläranlagen und Wohnsiedlungen und heftete sie ab. Er spürte über ausländische Banken Handelsgesellschaften auf und fand ihre Eigentümer vor Ort in Miami.
Doch trotz sich mehrender Anzeichen für eine Veruntreuung öffentlicher Gelder hatte Ward eigentlich kein Interesse an den Protagonisten in diesem Stück. Er ging morgens um sieben oder acht ins Büro, tauchte eine Stunde später wieder auf, um sich einen Kaffee zu holen. Wenn ich manchmal an seinem Büro vorbeikam, sah ich ihn am Fenster stehen und hinaus auf die Stadt starren.
YARDLEY ACHEMAN rief mehrmals am Tag aus seiner Wohnung in Miami oder aus der Wohnung seiner Frau in New York an und bat um Informationen über Hillary oder Thurmond Call, die er verloren oder vergessen hatte – alles Details, die in dem Artikel keine Erwähnung gefunden hatten.
Mein Bruder gab ihm Auskunft. Er freute sich, über Moat County zu reden, und beantwortete die Fragen oft sogar viel ausführlicher, als es Yardley Acheman lieb war.
Einmal die Woche erschien Yardley im Büro – ein symbolischer Akt, da er immer noch Gehalt bezog –, verbrachte einige Minuten mit Ward und dann etwa eine Stunde mit seinen Redakteuren und berichtete über den Fortgang der Story über die Amtsleiter in Dade County. Er nährte die allgemein schwindende Ansicht, dass er und Ward bei dieser Story zusammenarbeiteten.
Neuerdings trug er teure Anzüge, vermutlich der Einfluss von New York. Doch war die große Stadt nicht nur gut zu ihm, denn er wurde immer blasser. Seine Haut hatte eine unnatürliche Färbung angenommen, es war fast so, als würde er ständig in fluoreszierendem Licht stehen.
Samstags flog Yardley nach New York, um das Wochenende mit Frau und Freunden verbringen zu können, und manchmal beschwerte er sich bei seinen Besuchen in der Redaktion der Times darüber, wie schwierig es sei, an zwei Orten gleichzeitig zu leben, von der, wie er sagte, schnellsten Stadt der Welt in die langsamste zu kommen – dorthin, wohin New Yorker zogen, um in Rente zu gehen, wenn sie zu langsam wurden, um noch mithalten zu können.
Er redete mittlerweile von Miami, wie er vorher von Lately geredet hatte.
Ich wusste natürlich nichts über die literarische Sippschaft in New York, aber mir schien, dass es kein besonders exklusiver Klub sein konnte, wenn Yardley bereits am ersten Tag dort aufgenommen worden war. Ich hatte den Eindruck, dass New York voller Leute wie Yardley Acheman steckte.
Yardleys Anrufe bei meinem Bruder häuften sich. Hinterher schob mein Bruder manchmal die Augenklappe hoch und saß lange an seinem Schreibtisch, den Kopf in den Händen, noch immer besessen von den Dokumenten über Hillary Van Wetters Fall.
Er vergaß zu essen, er vergaß, nach Hause zu gehen. Manchmal vergaß er sogar, die Augenklappe wieder herunterzuziehen. Der Anblick der zusammengekniffenen, leeren Augenhöhle rief mir andere Bilder ins Gedächtnis, und ich wandte rasch den Blick ab, da ich mich mit der Erinnerung an die Schlägerei nicht abfinden konnte.
WARD ARBEITETE ALLEIN und beendete die Story über die Amtsleiter von Dade County, schrieb jedes Wort selbst. Yardley war damit beschäftigt, zwischen New York und Miami hin und her zu pendeln. Er reichte fünfzig Seiten von seinem Buch ein und wurde gebeten, sie umzuarbeiten, woraufhin er sich wochenlang weigerte, überhaupt zu schreiben.
Auf Yardleys Drängen stand sein Name neben dem Namen meines Bruders über dem Zeitungsartikel, der dazu führte, dass gegen vier Amtsleiter Anklage erhoben wurde, was ihr Leben ruinierte. Aus einer Art Festtagslaune heraus gaben die Chefredakteure Ward daraufhin zwei Wochen frei. Yardley nahm sich ebenfalls zwei Wochen frei und fuhr nach New York zurück, um die Arbeit an seinem Buch wieder aufzunehmen. Ich hörte später, dass er noch einmal zu seinem Verleger gegangen war und um einen weiteren Vorschuss gebeten und ihn auch erhalten hatte.
MEIN BRUDER KEHRTE nach Moat County zurück. Er wollte nach Hause, sagte er, um ein paar Tage auszuruhen.
Was er mit »nach Hause« gemeint hat, weiß ich nicht. Er hatte jedenfalls nicht vor, sich bei meinem Vater und dessen Freundin einzuquartieren. Er hatte erlebt, wie willkommen er dort war, seit sie im Haus wohnte.
Noch am Tag von Wards Abreise rief ich meinen Vater an. Seit er uns vor einigen Monaten gesagt hatte, wir sollten bei ihm anklopfen, hatte ich nicht mehr mit ihm gesprochen. Er klang müde, als er den Hörer abnahm, und ich fragte mich, ob Ellen Guthrie ihn nachts wach hielt.
»Jack«, sagte er, »schön, deine Stimme zu hören.« Und seine eigene Stimme wurde etwas kräftiger. Er fragte, ob ich schwimmen gewesen sei, wie viel ich wog, welche Jobs ich bei der Zeitung erledigen müsse. Er schien Angst davor zu haben, dass ihm der Gesprächsstoff ausging, Angst davor, dass unsere Unterhaltung ein Ende fand.
Ich merkte, dass ich ihm vergab.
»Am besten bin ich dann«, sagte ich, »wenn jemand zu mir sagt: ›Jack, hol mir den Klebstoff!‹ Dann hol ich den Klebstoff.«
Ich war damals stolz darauf, der einzige Laufbursche in der Nachrichtenredaktion zu sein, der nicht den Ehrgeiz besaß, Reporter zu werden.
Er sagte, dass er Wards Artikel über die Amtsleiter in Dade County gelesen habe und ihn eigentlich anrufen wollte, um ihm zu der guten journalistischen Arbeit zu gratulieren. »Journalismus der wichtigsten, bestmöglichen Art«, sagte er, »eine Wohltat für die Leidenden und ein Leid für die Wohlhabenden, außerdem alles im regionalen Rahmen.«
Er hielt einen Moment inne, wusste nicht mehr, was er noch sagen sollte.
»Er ist doch nicht bei dir, oder?«
»Man hat ihm zwei Wochen freigegeben«, sagte ich.
»Na ja«, sagte er, »wenn du ihn siehst, bestell ihm, dass er mich anrufen soll.«
»Er ist unterwegs in deine Richtung«, sagte ich.
Und es tat sich eine kleine leere Stelle in unserem Gespräch auf. »Er fährt nach Thorn?« fragte er.
»Ich glaube schon.«
»Um uns zu besuchen?« Jetzt ganz besorgt. »Er will doch nicht noch einen Artikel schreiben, oder?«
»Ich weiß nicht, was er vorhat.«
»Ich dachte, er sei fertig mit uns«, sagte er und meinte seine Bemerkung als kleinen Scherz. Die Leitung schien tot, während mein Vater über den bevorstehenden Besuch meines Bruders und die möglichen Konsequenzen nachdachte.
»Sollte Ellen ihn erwarten?« fragte er.
»Ich glaube nicht«, antwortete ich.
Ich hörte die Erleichterung in seiner Stimme.
»Na ja, wir hätten ihn gern bei uns gehabt«, sagte er. »Aber er könnte ja wenigstens zum Essen vorbeikommen.«
Ich dachte an die Mahlzeiten daheim, an den Dampf, der von gekochtem Essen aufstieg. Ich hatte Heimweh. »Wie kommt Anita mit deiner Zimmergenossin zurecht?« fragte ich.
Er zögerte mit der Antwort.
»Nun, wir mussten sie gehen lassen.«
Ich sagte nichts dazu. Sie war so lange im Haus meines Vaters gewesen wie die Risse in der Decke.
»Du weißt ja, wie es ist«, sagte er, »zwei Frauen in einer Küche …«
»Ich wusste nicht, dass sich Ellen in der Küche aufhält.«
»Nur eine Redensart.«
»Anita war lange bei uns«, sagte ich. Mir schien, er hätte uns Bescheid geben können, ehe er sich von ihr trennte.
»Finanziell habe ich für sie gesorgt«, sagte er. »Mach dir deshalb keine Sorgen.« Als ich darauf nichts sagte, fuhr er fort: »Sie hat für uns gearbeitet, Jack, sie war kein Mitglied der Familie.«
»Sie war Teil unseres Lebens«, sagte ich.
Und wieder schwieg er eine Weile.
»Das Leben ändert sich«, sagte er schließlich. »Das weißt du doch.«
VIER TAGE BEVOR WARD aus Miami zurückkehren sollte, kam der Sonntagsredakteur zu mir in die Nachrichtenredaktion und war auf der Suche nach meinem Bruder. Er wirkte aufgeregt und zugleich verzweifelt.
»Wir müssen mit ihm sprechen«, sagte er.
Ich erwiderte, er sei in Moat County. Ich sortierte gerade die Post für die Redakteure, eine Arbeit, die ich mochte, weil ich dabei allein war.
»Wo?« fragte er.
Ich hatte seit seiner Abreise nichts von ihm gehört.
»Wir müssen ihn zurückholen«, sagte er.
»Er kommt am Freitag wieder.«
Der Sonntagsredakteur schüttelte nervös den Kopf. »Freitag hilft uns überhaupt nicht weiter«, sagte er.
»Ich weiß nicht, wo er abgestiegen ist«, sagte ich.
»Weiß Ihr Vater mehr?«
»Das bezweifle ich.«
Er steckte die Hände in die Taschen und schüttelte den Kopf. »Himmel, was haben Sie denn für eine Familie, Sie fahren nach Hause und besuchen sich nicht mal?«
Ich drehte mich zu den Postfächern um und sortierte wieder Briefe. »Könnten Sie ihn finden?« fragte er.
»Ich könnte einige Anrufe machen …«
»Wir müssen ihn morgen hier im Büro haben«, sagte er.
»Warum?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen, holen Sie ihn einfach her.«
Ich reichte dem Sonntagsredakteur die Briefe, er schaute sie einen Augenblick an, begriff dann, was er in der Hand hielt, und warf die Schreiben in den Mülleimer. Ich ging in Wards Büro, schloss die Tür und rief ein Dutzend Motels in Lately an, doch er war nirgendwo eingetragen. Dann rief ich im Büro meines Vaters an, aber der war gerade mit Miss Guthrie beim Lunch.
Der Sonntagsredakteur ging in regelmäßigen Abständen am Büro vorbei, schaute hinein und wartete auf ein Signal, dass ich Ward gefunden hätte. Ich schüttelte immer wieder den Kopf.
Als ich dann meinen Vater erreichte, sagte er, er vermute, dass Ward seine Meinung geändert habe und in Miami geblieben sei. »Wäre er hier in der Gegend, hätte er doch angerufen«, sagte er und klang verletzt.
»Vielleicht ist er woandershin gefahren«, sagte ich. Er hatte den Führerschein zurückerhalten und sich einen eigenen Wagen gekauft. Ich war ratlos.
»Was ist los?«
»Ich weiß nicht, sie brauchen ihn nur hier im Büro«, sagte ich. »Es ist wichtig, aber den Grund wollen sie mir nicht sagen.«
Er schwieg einen Augenblick. »Haben sie gesagt, wann er da sein soll?«
»Morgen«, sagte ich. »Sie wollen ihn allerspätestens morgen sehen.«
Er dachte kurz nach und sagte dann leise: »Oh, mein Gott.«
»Was ist?«
Er sagte: »Er hat den Pulitzer gewonnen.«
Der Sonntagsredakteur ging wieder an meinem Fenster vorbei, schaute herein, und ich schüttelte den Kopf.
AM SPÄTEN ABEND NAHM Yardley Acheman die Maschine aus New York und tauchte am nächsten Morgen in einem seiner neuen Anzüge in der Nachrichtenredaktion auf. Als ich ihn sah, drei Tage vor seiner geplanten Rückkehr, da wusste ich, dass mein Vater recht gehabt hatte.
Der Sonntagsredakteur trug mir noch einmal auf, sämtliche Motels in Moat County anzurufen, aber es schien ihm nicht mehr ganz so dringend zu sein. Offenbar war er enttäuscht, dass ich im Anrufen von Motels nicht besser war.
GEGEN ELF KAMEN DIE NAMEN der Preisträger über Associated Press, und die Feier begann gleich hier im Büro mit der offiziellen Verkündung des Herausgebers, eines uralten Mannes mit rosigem Gesicht, der sein Büro im oberen Stock verlassen hatte, um nicht nur Yardley und meinem Bruder, sondern der gesamten Belegschaft zu gratulieren.
Die Zeitung war ziemlich gut im Gewinnen von Pulitzerpreisen, und die Rede war schon zu anderen Gelegenheiten gehalten worden.
Champagnerkorken knallten, sobald der Herausgeber wieder auf seinem Stockwerk war, und in den Büros der Lokalredaktion begann eine Party. Manche Journalisten tranken Champagner, manche arbeiteten noch an einer Story, manche machten beides. Yardley Acheman küsste alle gut aussehenden Frauen, wenigstens die, die ihn an sich ranließen.
Aus Lately traf ein Telegramm ein. Mein Vater schrieb, dies sei der stolzeste Augenblick seines Lebens.
Später wurde die Party in eine Bar auf der anderen Straßenseite verlegt, danach in ein Hotel neben der Bar.
Das Hotel hatte auf dem Dach einen Swimmingpool, und Journalisten, die nie zuvor mit mir gesprochen hatten, setzten sich neben mich, rochen nach Scotch und gestanden mir ihre Bewunderung für meinen Bruder, obwohl er ein ziemlich komischer Kauz sei, und sie sagten, wie schade sie es fänden, dass er nicht zur Party kommen konnte.
Zu den etwa dreißig am Pool versammelten Gästen der Party in jener Nacht gehörte auch eine junge Polizeireporterin namens Helen Drew. Miss Drew war übergewichtig und wie mein Bruder besessen von ihrer Arbeit, selbst in ihrer Freizeit. Manchmal kam sie in Wards Büro und fragte ihn in beruflichen Dingen um Rat, da sie selbst gern Storys wie die meines Bruders geschrieben hätte, und in seiner Gegenwart war sie von Wards Ruhm offensichtlich wie geblendet. Sie musste einfach immer seine Sätze für ihn zu Ende führen oder beinahe zwanghaft nicken, ehe er auch nur ein Wort gesagt hatte. Yardley Acheman wollte nichts mit ihr zu tun haben.
An diesem Abend allerdings neigte Yardley zu etwas Menschlichkeit. Als sie zu ihm kam, legte er wie geistesabwesend einen Arm um ihre Schulter, und sie beugte sich zu ihm und lächelte ihn an, als wären sie alte Freunde.
Helen Drews Haut war blass und teigig, und sie konnte trotz ihrer Brille nicht besonders gut sehen. Sie war nicht korpulent, sondern richtig dick – an Hüften, Schultern und Beinen, aber auch an den Handgelenken und den Fingern. Ihre Hände sahen aus wie die Patschhände eines Riesenbabys.
Zur Arbeit trug sie weite Kleider, die ihren Körper bis hinunter zu den Schuhen umhüllten. Spät am Abend zog sie die Schuhe aus – nebeneinander warteten sie vor einem Liegestuhl und wirkten irgendwie zerdrückt, in einem der Schuhe lag die Brille, während Helen Drew mit einem Glas in der Hand einen Fuß ins Wasser steckte. Und wie sie so am Beckenrand stand, mit einem Fuß im Wasser, senkte Yardley, der mit einer schlankeren Frau hinter ihr stand, plötzlich seinen Kopf, rammte ihn ihr in den Rücken und stieß sie in den Pool.
Sie geriet in Panik, als Nichtschwimmerin und ohne ihre Brille, fand aber schließlich die Leiter, beruhigte sich wieder und blieb dann lange im Wasser, während ihr die Wimperntusche über die Wangen lief. Und sie lachte und schwatzte mit den Reportern am Beckenrand und zögerte den Augenblick möglichst lange hinaus, in dem sie aus dem Wasser auftauchen musste und der nasse Stoff an ihren Fleischröllchen kleben würde, die er eigentlich verbergen sollte.
Yardley sagte immer wieder, dass es ihm leidtäte, aber er konnte sich nicht entschuldigen, ohne an das Schauspiel zu denken, das sie bei ihrem Sturz ins Wasser geboten hatte, und seine Worte verloren sich, und er begann zu lachen. Und sie stimmte in sein Lachen ein.
Schließlich stieg Helen Drew aus dem Becken. Wasser strömte an ihr herab wie von einem lang versunkenen Schatz, und sie wickelte sich in ein Handtuch. Sie trank und lachte noch eine weitere halbe Stunde, dann ging sie. Am nächsten und auch am übernächsten Tag erschien sie nicht zur Arbeit.
Sie kündigte am Ende der Woche, ohne ihre Sachen abzuholen, und nahm eine Stelle bei der Miami Sun an, einer kleinen Zeitung, die Büroräume im Times Building gemietet hatte und die ihr die Chance gab, eigene Storys zu schreiben.
ABGEMAGERT UND SONNENVERBRANNT kehrte mein Bruder aus dem Urlaub zurück, Gesicht und Arme von Insektenbissen übersät und den Gürtel auf dem letzten Loch. Die Hose warf an der Hüfte weite Falten.
Er sah aus, als hätte er seit seiner Abreise nichts mehr gegessen.
Ich fragte ihn nicht, wo er gewohnt oder was er getrieben hatte, und er selbst verlor kein Wort darüber.
Wir gingen zusammen essen, aber er stocherte nur in seinem Essen herum. Er wirkte abwesend, zeigte überhaupt kein Interesse an dem Preis, den er gewonnen hatte, und nahm nur beiläufig zur Kenntnis, dass Ellen Guthrie World War überredet hatte, Anita Chester vor die Tür zu setzen.
»Sie will offenbar alles ganz für sich allein«, sagte er und klang wie ein Außenseiter, ein unbeteiligter Zuschauer, der miterlebte, wie eine Familie zerbrach.
Yardley Acheman unternahm einen Kurztrip nach New York und machte mithilfe des Pulitzerpreises einige weitere Tausend Dollar bei seinem Verleger locker, flog dann wieder nach Miami und bat darum, von der Arbeit freigestellt zu werden, um das Buch beenden zu können. Er verlangte, dass ihm für die Dauer seiner Abwesenheit das Gehalt weitergezahlt wurde, da die Zeitung weiterhin sein Bild in ganzseitigen Anzeigen verwendete und die Lobeshymnen für das Buch unweigerlich auch der Times zugutekommen würden. Er fügte hinzu, dass dies auch seine Rückkehr garantieren würde, wenn die Arbeit am Manuskript erst einmal beendet war.
Man bewilligte ihm die Freistellung, aber keine Gehaltsfortzahlung. Er hatte seine Forderungen in der Lokalredaktion gestellt, ehe er mit den verantwortlichen Redakteuren gesprochen hatte, und die fürchteten nun, einen Präzedenzfall zu schaffen.
Noch in derselben Woche kehrte er nach New York zurück und sagte, er könne nicht versprechen wiederzukommen.
DER SONNTAGSREDAKTEUR kam einige Tage später mit einem Anliegen der Chefredaktion zu meinem Bruder. Er wollte mit ihm über die Bildung eines neuen Teams reden. Obwohl gegen einige Amtsleiter im County Anklage erhoben worden war, kamen sie offenbar nicht auf die Idee, dass mein Bruder allein arbeiten könnte.
»Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen«, sagte der Sonntagsredakteur. »Vielleicht kommt Acheman nicht mehr zurück.«
Mein Bruder lehnte ab.
YARDLEY ACHEMAN widmete sich wieder seinem Buch, und ich sah meinem Bruder zu, wie er nach einer neuen Story Ausschau hielt und sich dabei so verausgabte, wie er es bei der Story selbst getan hätte, aber er konnte kein Thema mit Leuten finden, die ihn interessierten. Die Redakteure schlugen ihm natürlich Storys vor, nur glichen die allzu sehr jenen, die er bereits geschrieben hatte.
Yardleys Anrufe begannen erneut, R-Gespräche, vier oder fünf Mal am Tag, manchmal auch in einer Stunde. Mein Bruder nahm sie alle entgegen und räumte die eigene Arbeit zur Seite, um Yardleys Fragen beantworten zu können. Er musste nicht einmal mehr in den Mitschriften oder seinen Notizen nachschauen, er kannte jedes noch so kleine Detail.
Diese Anrufe verrieten eine gewisse Not, und wenn ich einmal den Hörer abnahm, hatte Yardleys Stimme ihren selbstsicheren Klang verloren. Mir kam der Gedanke, dass es längst nicht so unterhaltsam war, ein Buch zu schreiben, wie den Vertrag dafür zu unterzeichnen.
Ich erinnere mich an einen Anruf einige Monate später, einen völlig anderen Anruf, bei dem mein Bruder nur den Hörer an sein Ohr hielt und lange Zeit bloß zuhörte. Langsam begann er zu nicken. »Ich könnte dir ein paar Hundert leihen«, sagte er.
Ich konnte die Stimme am anderen Ende der Leitung hören, und wieder nickte mein Bruder. Er nahm einen Stift und schrieb eine Adresse auf. »Ich schick’s noch heute ab«, sagte er, und dann legte er auf.
Er schaute mich an und sagte: »Elaine muss ziemlich teuer sein.«
Er lächelte einen Augenblick, freute sich über das, was er gesagt hatte, machte sich wieder an die Arbeit und wunderte sich. Wahrscheinlich über diese gemeine Bemerkung.
DAS GELD HIELT IN NEW YORK nicht lange vor, und Yardley Acheman kehrte wütend und pleite zur Times zurück, das unvollendete Buch im Gepäck. Seine Frau blieb, wo sie war.
Am ersten Tag nach seiner Rückkehr kam ein Anruf von Helen Drew. Yardley wusste nicht mehr, wer sie war, bis sie ihn daran erinnerte, dass sie in den Swimmingpool gefallen war. Sie sei hineingefallen, genauso drückte sie sich aus.
»Ach ja, richtig«, sagte er, »wie geht es Ihnen?«
Ich war gerade im Büro, und er sah auf und blinzelte mir zu.
Sie fragte ihn, ob er einige Minuten Zeit für sie hätte.
»Ehrlich gesagt, mit dem Buch und alldem habe ich so viel zu tun, dass ich zur Zeit keine Interviews gebe.«
»Wir haben uns gerade die Pulitzerstory angesehen«, sagte sie, »und da sind einige Fragen aufgetaucht.«
»Wir?« sagte er. »Wer ist wir?«
»Meine Redakteure und ich.«
»Und Sie haben sich gerade meine Pulitzerstory angesehen?«
»Es gab da ein paar Dinge, über die wir uns gewundert haben.«
Yardley warf mir wieder einen Blick zu, doch diesmal gab es nichts zu blinzeln. »Ich habe für solchen Mist keine Zeit«, sagte er. »Ich weiß nicht, was Sie da für einen beschissenen Korinthenkacker-Journalismus veranstalten, aber ich habe dafür keine Zeit.«
Dann knallte er den Hörer auf die Gabel und stolzierte aus dem Büro. Einen Augenblick später klingelte das Telefon meines Bruders.
TROTZ YARDLEY ACHEMANS EINWÄNDEN sprach mein Bruder im Lauf der nächsten Monate mehrere Male mit Helen Drew. Offenbar rollte sie die ganze Geschichte noch einmal auf, Stück für Stück. Niemand wusste warum. Sie rief wegen jeder Kleinigkeit an, da sie nicht weitergehen wollte oder konnte, solange nicht alle einzelnen Schritte zweifelsfrei geklärt waren. Sie schien die Dinge zwar nie im ersten Anlauf auf die Reihe zu bringen, war aber letzten Endes sehr gründlich. Und mehr kann man von einem Reporter nicht verlangen.
Yardley Acheman glaubte inzwischen, dass sie ein eigenes Buch schrieb, und es machte ihn wütend, dass Ward mit ihr redete. Er ging zu den Redakteuren, um sich zu beschweren. Doch Yardley hatte ihnen einmal zu oft gedroht und besaß längst nicht mehr jenen Einfluss, den er einmal gehabt hatte. Sie sagten ihm, dass sie nichts dagegen unternehmen könnten.
AN EINEM DONNERSTAGNACHMITTAG tauchte Helen Drew in Sandalen und einem ihrer weiten Kleider in der Lokalredaktion auf. Sie trug einen Sticker, mit dem sie gegen den Krieg in Vietnam protestierte, und hatte sich blonde Strähnen ins Haar gefärbt, wie es in jenem Jahr Mode war.
Man konnte sich nur schwer einen harmloser wirkenden Menschen vorstellen. Ward war am Telefon, als sie hereinkam. Sie hielt mir die Hand hin, und ich nahm sie und spürte ihr Gewicht. Helen Drew schwitzte und atmete schwer, da sie die Stufen zum ersten Stock hinaufgestiegen war. Sie fächerte sich Luft mit einer Zeitung zu, die ihr jemand am Empfang gegeben hatte, und zupfte an ihrem Kleid, zog es von der Brust weg.
Sie sah sich im Zimmer um. »Es ist größer, als ich es in Erinnerung habe«, sagte sie.
SIE VERBRACHTE FAST DEN GANZEN NACHMITTAG mit Ward und entschuldigte sich beim Abschied dafür, ihn so lange in Anspruch genommen zu haben. Als ich ins Büro ging, war es noch warm von der Hitze ihres Körpers und roch nach ihrer Seife.
»Was wollte sie denn diesmal?« fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht genau«, sagte er. »Sie kommt immer wieder auf den zeitlichen Ablauf zurück, darauf, dass der Artikel geschrieben wurde, als ich im Krankenhaus lag.«
»Und was hast du ihr erzählt?«
»Ich habe ihr gesagt, dass der elektrische Stuhl auf Mr. Van Wetter wartete und dass die Zeitung überzeugt war, die Story nicht länger zurückhalten zu können.« Er zuckte die Achseln, als sprächen die Gründe für sich.
»Sie sollte lieber mit Yardley Acheman reden«, witzelte ich.
»Er glaubt, dass sie ihm sein Buch stiehlt«, sagte er. »Irgendwas mit einem Swimmingpool. Er glaubt, sie hasst ihn, weil er sie in einen Swimmingpool gestoßen hat.«
OBWOHL ER NUN WIEDER GEHALT BEZOG, hatte Yardley Acheman in praktischer Hinsicht seine Arbeit nicht wieder aufgenommen. Allerdings gab es keine Möglichkeit, ihn stillschweigend zu feuern, und die Times hatte auch zu viel in ihn investiert, um ihn entlassen zu können.
Phasenweise arbeitete er an seinem Buch, beschwerte sich aber lauthals, dass er sich nicht konzentrieren könne, solange es dort draußen Leute gab, die ihn ruinieren wollten.
UND MEIN BRUDER TAT WIEDER DAS, was zuvor schon funktioniert hatte.
Er tauchte in ein neues Projekt ein, sammelte Tag und Nacht widersprüchliche Fakten und Details von Geschehnissen, die oft schon Jahre zuvor passiert waren, und heftete sie ab, um sie sich irgendwann wieder anzuschauen und sich eine bestimmte Ereigniskette zu überlegen, eine Version der Geschichte, die dann gedruckt werden würde. Und diesmal glaubte er, dass sie genauso auf den Seiten der Zeitung zu lesen sein würde, wie sie in Wirklichkeit vorgefallen war.
Seltsamerweise weigerte er sich, über sein neues Projekt zu reden. Seine Redakteure fürchteten, sie beide verloren zu haben: Yardley Acheman, der sich darüber beklagte, dass sie keine Ahnung davon hätten, welchen Stress es bedeutete, ein Buch zu schreiben, und Ward, der überhaupt nicht mit ihnen redete.
Natürlich konnten beide nicht entlassen werden, und Yardley erinnerte hin und wieder daran, wenn er in der Nachrichtenredaktion laut die Frage stellte, wie es sich die Zeitung leisten könne, ihn zu beschäftigen.
Ich war zwar bei den Gesprächen mit seinem Verleger in New York nicht dabei – er hüllte sich, was diesen Aspekt seines Lebens anging, in Schweigen –, fand aber eines Morgens den Entwurf eines Briefes, den er auf dem Kopiergerät liegen gelassen hatte (er machte damals Kopien seiner gesamten Korrespondenz für jene Zeit, in der man sein Werk im Englischunterricht durchnehmen würde) und in dem er erklärte, dass es unmöglich sei, weiterhin für die Zeitung zu arbeiten und zur selben Zeit das Buch zu beenden. »Die scheinen hier ohne meine Hilfe nicht einmal das Licht anmachen zu können«, schrieb er.
Er nahm an, dass seine Frau eine Affäre hatte, und rief sie täglich an, um ihr vom Fortschritt seiner Arbeit am Buch zu berichten und sie anzuflehen, ihn in Miami zu besuchen. Doch sie arbeitete an einer eigenen Story und konnte nicht weg. Wütend legte er auf.
Er machte sich lauthals Sorgen um seine Ehe und rechnete sie zu jenen Ablenkungen, die ihn daran hinderten, das Buch zu beenden. Er schätzte, dass ihn seine Eheprobleme sechs Monate gekostet hatten, eine Zahl, die er jedem entgegenhielt, der ihm noch zuhören wollte, selbst mir.
An dem Tag aber, an dem er das tat, wandte er sich abrupt von mir ab, ohne auf eine Antwort zu warten, als hätte er gerade begriffen, dass ich nicht in der Lage war, ihn für seine Verpflichtungen zu entschuldigen.
HELEN DREW KAM in die Nachrichtenredaktion der Times zurück und roch noch immer nach derselben Seife. Sie schien froh, mich zu sehen, als wären wir alte Freunde. Und vielleicht war ich tatsächlich so etwas wie ihr ältester Freund.
Sie fragte sich verwundert, wie Yardley mit seinem Buch vorankomme und ob er jetzt wohl Zeit hätte, mit ihr zu reden. In ihrer Stimme schwang etwas Naives und Liebenswertes mit, doch konnte der Ton ihre Anspannung nicht ganz verbergen.
VON DER VERLOBUNG MEINES VATERS mit Ellen Guthrie erfuhr ich durch die Einladung zur Hochzeit, die mich bei der Zeitung erreichte. Für meine spärliche Korrespondenz gab ich die Adresse der Zeitung an, da Briefe, die in der Pension für mich eintrafen, auf einen kleinen Tisch neben der Haustür gelegt und von den übrigen Mietern, die tagsüber kamen und gingen, aufmerksam registriert wurden. Oft waren die Briefe bereits geöffnet worden.
Die Einladung war professionell gedruckt, und man hatte ihr eine kleine Karte von Thorn beigelegt, die den Weg zur Methodistenkirche zeigte, zum Country-Klub, wo der Empfang stattfinden sollte, und zu einem Laden in Jacksonville, in dem Ellen Guthrie ihre Hochzeitsliste hinterlegt hatte.
Ich ging mit der Einladung sofort zu meinem Bruder, der inzwischen genügend Dokumente und Aufzeichnungen für sein neues Projekt angesammelt hatte, um damit seinen Tisch zustapeln zu können.
Yardley Acheman war ebenfalls im Büro und telefonierte mit seinem Agenten in New York.
»Hören Sie«, sagte er, »ich brauche sechs Monate, dann bin ich mit dieser Sache fertig, aber ich muss zurück in die Stadt, um das schaffen zu können.«
Ich warf die Einladung mitten auf Wards Papiere. »Hast du auch so eine?« fragte ich.
Er sah sie an, ohne sie zu berühren, legte den Kopf schief, um die Worte lesen zu können, und schien ihnen dann vom Papier weg über den Tisch bis hin zu einigen Bankunterlagen zu folgen, die unter einem Hefter in der Zimmerecke lagen.
Yardley bat um weitere achttausend Dollar.
»Es wird immer besser«, sagte ich.
Ward sah zu der Zimmerecke hinüber, in der seine eigene Post seit Beginn des neuen Projekts ungeöffnet und stapelweise auf einem Regal lag. Einige Briefe waren auf den Boden heruntergefallen.
Yardley erzählte seinem Verleger gerade, dass seine Geschichte zeitlos sei.
Ward berührte die Einladung, die ich auf seinen Tisch geworfen hatte, und drehte sie mit einem Finger, bis er sie noch einmal lesen konnte, ohne den Kopf schieflegen zu müssen. »Er will sie heiraten«, sagte ich.
Ward nickte und betrachtete immer noch die Einladung, berührte sie immer noch mit der Fingerspitze.
»Sie ist hinter der Zeitung her«, sagte ich.
Er lächelte wieder und schüttelte dann den Kopf, als fände er den Gedanken zu unwahrscheinlich.
»Wenn Sie sie schneller haben wollen, dann holen Sie mich aus diesem verdammten Loch und bringen mich nach New York, wo ich schreiben kann«, sagte Yardley. »Sechstausend Dollar, ich brauche tausend im Monat.«
Yardley wand sich stumm in seinem Sessel, während der Mann am anderen Ende der Leitung auf ihn einredete. Er sah uns an, dann starrte er wieder auf das Papier vor sich. Er hatte die Zahl 6000 aufgeschrieben und sie mehrmals umkringelt, jetzt strich er sie durch.
»Nun, sie scheinen sich gut zu verstehen«, sagte Ward.
Yardley schloss die Augen und hörte dem Mann aus New York zu. Mein Bruder schien von der Unterhaltung nichts mitzubekommen. Er schien selbst von meiner Anwesenheit kaum etwas mitzubekommen.
Plötzlich knallte Yardley den Hörer auf und blieb einen Augenblick schwer atmend sitzen. Er stierte auf das Telefon, dann sah er zu Ward hinüber. »Deine Freundin Helen Drew«, sagte er, »sie hat mir in New York nachspioniert.«