Charlotte hatte es sich angewöhnt, nach dem Mittagessen vorbeizuschauen, in einem neuen Kleid und ordentlich parfümiert durch die Tür zu schneien und uns an unsere Aufgabe zu erinnern, die darin bestand, ein unschuldiges Leben zu retten. Seit Hillary Van Wetter bei unserem zweiten Besuch aus dem Zimmer gegangen war, hatte sie keine Jeans mehr getragen, nicht einmal auf ihrem Weg zum Moat-Café.
Jeden Tag begann sie mit derselben atemlosen Frage: »Gibt’s was Neues?«
Es gab nie etwas Neues, jedenfalls nichts Neues von der Art, wie sie es sich erhoffte. Der Gouverneur rief nicht an, um Hillarys Unschuld zu verkünden, und mein Bruder arbeitete sich ein weiteres Mal und noch gründlicher durch die Dokumente, sammelte dieses und jenes und schob dann alles vor sich her zu dem, was als Nächstes kam – was immer das auch sein mochte –, beinahe so, als würde er den Boden fegen.
»Wir müssen die Sache beschleunigen«, sagte sie dann und ging ans Fenster. »Jede Nacht, die Hillary Van Wetter im Gefängnis zubringt, ist eine Nacht weniger in seinem Leben.«
Einmal, nachdem sie das gesagt hatte, fragte Yardley Acheman sie, ob sie schon daran gedacht habe, darüber einen Country-Song zu schreiben. Meistens aber weigerte er sich einfach, ihre Anwesenheit im Zimmer zur Kenntnis zu nehmen, obwohl sie ihn sichtlich öfter ansprach als meinen Bruder oder mich. Sie schien zu glauben, dass er das Sagen habe.
Wenn Charlotte begann, über die Nächte zu reden, die Hillary Van Wetter im Gefängnis verlor, wurde es Zeit für mich, sie fortzuschaffen. Gelang mir dies nicht, wanderte sie im Zimmer umher, schaute in die Kartons mit den Unterlagen auf dem Tisch meines Bruders und nahm jedes Schriftstück, das sie berührte, zum Anlass, den Fall noch einmal aufzurollen.
Es konnte eine halbe Stunde dauern, bis sie ein Ende fand. Von der Störung selbst einmal abgesehen hatte es mein Bruder nicht gern, wenn man die Papiere berührte, die er um sich ausbreitete. In seinem Kopf führte er ständig Listen, und die Dinge mussten unberührt und unverändert liegen bleiben, wenn er je damit fertig werden sollte.
Andererseits gehörten die Papiere, die meisten zumindest, Charlotte, und er wusste nicht, wie er ihr sagen sollte, sie möge sie bitte in Ruhe lassen. Charlotte war in vielerlei Hinsicht ebenso kindisch wie Yardley Acheman, und da sie als Erste Anspruch auf Hillary Van Wetter erhoben hatte, würde sie sich bei dem Versuch, sein Leben zu retten, weder Anwälten noch Journalisten noch sonst jemandem unterordnen. Ich schätze, sie hatte Angst, ihn ganz zu verlieren.
ES WAR MEINE ABSICHT, Charlotte Bless vor dem Ertrinken zu retten.
Es gab keinen Plan, der meine Tat notwendig machte, aber ich träumte davon, sie zu retten, und davon, wie dankbar sie sein würde, wenn sie zu Tode erschrocken aus dem Ozean getragen und am Strand, im warmen sicheren Sand abgesetzt werden würde. Ich malte mir aus, wie sich ihre nasse Haut anfühlte und wie ihre Muskeln zuckten, wenn sie hilflos war und in Panik geriet.
Aber ich konnte sie kaum ins Wasser locken.
Zwei- oder dreimal die Woche fuhr sie nachmittags mit mir an den Strand von St. Augustine. Aber sie kam nur mit, um sich ihre Beine für Hillary zu bräunen, und ging bloß ins Wasser, um sich abzukühlen, und selbst dann kaum knietief, eine Hand auf dem Strohhut, der Gesicht und Hals vor der Sonne schützte.
Sie schien sich vage für mein Schwimmen zu interessieren, hatte aber keine Lust, es selbst zu lernen.
Und so fuhren wir nach St. Augustine, stellten den Wagen ab und gingen an den Strand, und ich zog mir Hemd und Hose aus, schwamm gleich hinaus und dachte an meinen Stil, als ob der ihr nicht völlig egal wäre, und sie legte ihr Handtuch auf den heißen Sand, zog sich aus – wir trugen unsere Badesachen unter unseren Kleidern –, legte sich hin, stellte das Radio an und bedeckte das Gesicht mit ihrem Strohhut.
Wenn ich zurückkehrte, warf ich mich außer Atem neben sie in den Sand und betrachtete unauffällig ihre Kurven. Unter den Gummibändern ihres Badeanzugs waren kaum Fettpölsterchen zu erkennen, und ihre Haut warf keinerlei Falten, wenn sie sich auf den Bauch drehte.
Sie trug einen einteiligen Badeanzug, der auf dem Rücken bis hinab zu jenem Punkt ausgeschnitten war, an dem die Spalte begann, die ihren Hintern teilte. Er passte sich wie angegossen ihren Pobacken an, schmiegte sich in die Ritze. Es gab keinen Quadratzentimeter an ihrem Po, den ich nicht schön fand, und wenn ich neben ihr im Sand lag, meinen Atem auf dem Arm und das wachsende Gewicht meiner Erektion spürte, dann rollte ich mich auch auf den Bauch, damit sie nicht sah, welche Wirkung sie auf mich hatte.
Ich dachte, sie würde sich betrogen fühlen.
Nein, ich wusste wirklich rein gar nichts über Frauen.
An unserem dritten oder vierten Nachmittag in St. Augustine schob sie die Träger von ihren Schultern und gab mir die Sonnencreme.
»Ich hasse Streifen«, sagte sie.
Ich glaube, es war das erste Mal, dass ich sie berührte. Ihre Haut war kühl, und meine Hand glitt von ihren Schultern den Rücken hinab und blieb schließlich am unteren Ende des Ausschnitts liegen, dort, wo ihr Rücken sich teilte und zu einem vollkommenen Hintern formte. Meine Hand blieb einen Augenblick liegen. Charlotte hob den Kopf und schaute mich an, als wollte sie mich fragen, was mir eigentlich einfiele.
»Sie sehen so unschuldig aus«, sagte sie.
»Was?«
»Die Streifen. Lassen mich aussehen wie eine Proletenbraut.«
Ich schraubte den Deckel wieder auf die Sonnencreme und stellte sie in den Sand. Ohne mich aufzurichten, ließ ich mich zurück auf mein Handtuch fallen. Charlotte Bless den Rücken einzureiben hatte mich in einen Zustand versetzt, der nur eine Zuckung weit von Hillary Van Wetters Ejakulation im Zuchthaus entfernt war, will sagen, man hätte einen Propeller an das Ding schrauben und damit wegfliegen können.
»Sie atmen durch den Mund«, sagte sie ein paar Minuten später, während sie mich betrachtete.
»Ich bin weit geschwommen«, sagte ich.
Und sie lächelte hinter ihrer dunklen Brille und wandte das Gesicht von der Sonne ab.
»Sie brauchen eine Freundin«, sagte sie, immer noch mit abgewandtem Blick. Als ich keine Antwort gab, hob sie erneut den Kopf, sah sich um und entdeckte ein halbes Dutzend Mädchen, die um eine Kühlbox mit Bierdosen herumsaßen. Sie waren etwa zwanzig Meter hinter uns, direkt vor dem hohen Gras am Rand des Strandes. Rosa Zehennägel und Radios. So wie sie Bier tranken, hielt ich sie für eine Clique von Studentinnen.
»Sie sollten da rübergehen und sich mit einer von denen anfreunden«, sagte sie, schien mich aber irgendwie auf den Arm nehmen zu wollen.
»Solche Mädchen mag ich nicht«, sagte ich.
Sie schob die Sonnenbrille auf der Nase nach unten und schaute wieder zu den Mädchen hinüber. »Ich möchte wetten, dass Ihnen die Rote gefällt.« Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Sie fuhr fort: »Gehen Sie schon. Suchen Sie sich eine aus, die auf den Nägeln kaut, und sie bläst Ihnen einen. Ganz bestimmt.«
»Ich will mir keinen blasen lassen«, sagte ich, und sie blickte mich enttäuscht an. Dann fiel mir ein, was sie über Hillary geschrieben hatte, der sich wie ein Richter einen blasen lassen wollte. Ein integrer Mann.
»Ich möchte ja schon gern«, korrigierte ich mich, »ich will nur nicht, dass es eine von denen macht.«
Darüber dachte sie lange nach. »Wie gut, dass Sie nicht im Gefängnis sind«, sagte sie schließlich und brachte das Thema wieder auf Hillary. »Drinnen hätten Sie keine Wahl.«
»Ich kann auf mich selbst aufpassen«, sagte ich.
Sie lächelte und ließ ihre Wange wieder auf das Handtuch sinken. Wütend und voller Sand stand ich auf und folgte meinem Schwanz, der in der ersten Hälfte meines Lebens ständig steif zu sein und in die falsche Richtung zu deuten schien, ging ins Wasser und schwamm hinaus. Ich war etwa hundert Meter weit draußen, fühlte mich wütend und stark, fühlte mich, als würde ich übers Wasser gleiten wie Flammen über Öl, da merkte ich plötzlich, warum mir dieser Vergleich in den Sinn gekommen war.
Ich brannte.
Ich hörte auf zu schwimmen und sah mich um, das Brennen umspülte mich wie der durch ein Zimmer strömende Luftzug eines Ventilators. Nach diesem Luftzug war es so kühl, dass es mir fast den Atem raubte. Ein halbes Dutzend durchsichtiger Quallen schwebte unmittelbar unter der Wasseroberfläche, einige vor mir, aber weit mehr im Wasser hinter mir, das ich gerade durchschwommen hatte.
Ich hob einen Arm, sank unter Wasser und sah, dass Tentakeln von den Quallen abgerissen waren, dass sie sich um mich gewickelt und wie Peitschen ineinander verknotet hatten. Wieder umspülte mich das Brennen, mir war eiskalt.
Ich kehrte um. Das Brennen änderte sich nicht, als ich erneut durch die Quallen schwamm, aber einige Meter weiter fühlte ich eine Schwere in den Armen, dann auf der Brust, und ich dachte, sie würde mich herunterziehen. Ich drehte mich auf den Rücken, wollte mich ausruhen und merkte, dass mit meiner Atmung etwas nicht stimmte.
Langsam paddelte ich mit den Beinen, hörte das Geräusch der Luft, die durch meinen Mund strich, konnte sie aber nicht tief genug in mich hineinsaugen. Ich schloss die Augen, paddelte, dachte, dass ich vielleicht sterben musste. Lange Zeit später wurde es warm, und ich wusste, dass ich im flachen Wasser war und nicht ertrinken würde.
Als ich den Grund spürte, setzte ich mich einen Moment hin, sammelte mich, drehte mich um auf Hände und Knie, kroch aus dem Wasser an den Strand, richtete mich auf, schwindlig wie nie zuvor, und ging zu Charlotte Bless, die immer noch mit dem Gesicht nach unten und trägerlos auf ihrem Handtuch lag.
Eines der Mädchen, die vor dem hohen Gras Bier tranken, sah mich als Erste. Ich hörte, wie sie »Mein Gott!« schrie, blickte an mir herab und begriff sofort das Ausmaß der Vergiftung. Die Tentakeln steckten tief in Armen und Beinen, die Haut um sie herum war aufgequollen und rosig. Wie Halsketten, dachte ich.
Ich hörte die Mädchen kommen, aber als ich aufblickte, sah ich sie nicht. Ich rieb mir die Augen, nur waren die Lider am falschen Platz, über die Augenhöhle hinaus angeschwollen. Ich wollte weitergehen und fiel hin.
Die Sonne war warm, und ich begann zu zittern. »Eine Allergie«, sagte eines der Mädchen. Sie kam, verdeckte die Sonne, war so nah, dass ich Bier auf ihrem Atem roch. »Können Sie mich hören?« fragte sie. »Wir rufen einen Krankenwagen …« Ich spürte, wie eines der Mädchen mein Bein mit Sand abrieb. Und dann griff jemand nach meinem Arm und machte dasselbe.
»Ich weiß, es tut weh«, sagte das Mädchen, das über mir stand. »Ich bin Krankenschwester.«
»Was ist mit ihm?« Das war Charlottes Stimme.
»Er hat eine allergische Reaktion«, sagte die, die offenbar den Ton angab. »Er muss da draußen in einen Quallenschwarm geraten sein.«
Eine von ihnen rieb meinen Schenkel immer noch mit Sand ab. Ich hörte sie wie von weit her sagen: »Verdammt, seht euch das an.« Und dann redete wieder die, die über mir stand. »Können Sie mich hören?« fragte sie mit ruhiger, schwächer werdender Stimme. »Wie heißt er?«
»Jack«, sagte Charlotte und klang verängstigt.
»Jack«, sagte sie, die Stimme wieder näher, »wir holen einen Krankenwagen. Können Sie mich hören?«
Der Boden begann sich unter mir zu drehen, langsam zuerst und dann immer schneller. »Hören Sie, Mister«, sagte die Anführerin, »was wir jetzt machen, ist ein bisschen peinlich.«
Ich versuchte nicht, ihr zu antworten, und dann spürte ich, wie mir die Badehose ausgezogen wurde, das Innenfutter kehrte sich nach außen, als man sie mir die Beine herunterrollte. »Halten Sie durch!« sagte das Mädchen, und dann stand sie auf, das Licht der Sonne färbte alles rot, und gleich darauf spürte ich ein sanftes Rinnsal über mein Bein wandern, als ob ich mit warmem Bier gewaschen würde.
»Was machen Sie da?« fragte Charlotte und klang immer noch besorgt. Sie erhielt keine Antwort – es waren ausgebildete Krankenschwestern –, doch das erste Rinnsal verebbte, und dann verdeckte ein anderes Mädchen die Sonne, und ich spürte es wieder, diesmal auf meiner Brust, spürte, wie es von meinem Bauch bis fast zum Hals wanderte. Es roch unbestreitbar nach Urin.
»Bleiben Sie liegen«, sagte die Anführerin. »Der Krankenwagen ist unterwegs.«
Ich setzte mich trotzdem auf, mir war schwindlig und übel. Das Brennen hatte – teilweise zumindest – aufgehört, dort, wo sie mich angepinkelt hatten.
»Schätzchen«, sagte die Anführerin, »Ihr Gesicht hat auch was abgekriegt. Oder wollen Sie nicht, dass wir auf Ihr Gesicht pinkeln?«
Die wahre Bedeutung einer solchen Frage liegt natürlich nicht in der Frage selbst, sondern in dem, was sie beinhaltet – dass man in Topform sein kann, richtig weit oben, dass man durch die Wellenkämme gleitet, und im nächsten Augenblick liegt man blind und hilflos am Strand und wird gefragt, ob man es vorzieht, dass einem fremde Leute nicht aufs Gesicht urinieren.
»Nein«, sagte ich, »bitte nicht.« Meine Lippen waren inzwischen dick angeschwollen, und die Worte klangen undeutlich.
»Was hat er gesagt?« fragte eine.
»Ich glaube, er ist nicht mehr ganz bei sich«, sagte die Anführerin. Dann, zu jemand anderem: »Los, mach schon.« Und gleich darauf pinkelte mir jemand über die Schulter auf den Arm bis hinab zur Hand. Ich legte mich wieder hin, glitzerte in der Sonne.
»Das habe ich ja noch nie erlebt«, sagte Charlotte.
»Er ist vergiftet«, sagte die Anführerin. »Er ist vergiftet und hat eine allergische Reaktion.«
»Ich sehe selbst, dass er vergiftet ist«, sagte Charlotte. »Aber wenn jemand von einer Schlange gebissen wird, pisst man ihn doch auch nicht an.«
Ich weiß noch, was mir in den Kopf kam. Man nimmt ihn in den Mund und saugt ihn aus. Doch das hatte natürlich mehr mit mir selbst zu tun.
Dann hörte ich den Krankenwagen, weit weg. Stimmen mischten sich unter die Sirene.
DER ARZT WAR FETT, das konnte ich erkennen, als er meine Augenlider aufhielt, um die Pupillen zu prüfen. Er untersuchte meine Augen mit einer kleinen Lampe, erst das eine, dann das andere. Dann legte er die Lampe weg und musterte mein Gesicht, als wolle er kurz über das Problem in seiner Gesamtheit nachdenken. Er roch nach Zigarren.
Dann ließ er mein Augenlid los, und der Raum wurde wieder dunkel. »Ein bisschen Epi, bitte«, sagte er.
»Wie viel?«
»Eine Ampulle, geben Sie mir das verdammte Ding, ich mach es selbst.« Einen Moment blieb es still, und dann sagte er: »Machen Sie schon, machen Sie, wenn wir ihn verlieren, wäre das ziemlich peinlich.«
Und dann fühlte ich, wie es auf meiner Brust kühl wurde, als er eine Stelle mit Alkohol abrieb, dann ein langsames, wachsendes Brennen, als er die Nadel durch diese Stelle in meine Brust stieß.
Ich schlief ein.
ICH WACHTE IN EINEM DUNKLEN RAUM AUF. Durch die Tür fiel ein Lichtkeil auf den Boden, und das Laken, das mich bis zur Brust bedeckte, wurde durch den Herzmonitor neben meinem Bett blassgrün gefärbt. In meinem Handrücken stak eine Nadel, die mit einer Flasche über meinem Kopf verbunden war. In ihr spiegelte sich die grüne Kurve des Herzmonitors.
Ich blinzelte, meine Augen fühlten sich geschwollen und fremd an, klebten aber nicht länger zusammen. Dafür waren sie trocken, und sie brannten. Ich richtete mich ein wenig auf und wusste, ich hatte es geschafft.
»Jack?«
Mein Bruder saß an der dunkelsten Stelle des Zimmers auf einem Stuhl, neben dem Herzmonitor, dort, wohin nur wenig Licht vom Gerät oder der Tür drang. Er trug ein weißes Hemd und einen Schlips, ein Busfahrschein steckte in der Hemdtasche. Ich konnte das Wort Trailways lesen. Im Dunkeln wirkte sein Gesicht eingefallen. Mir war kalt, und ich begann zu zittern.
»Mein Gott, ist das kalt«, sagte ich.
Er stand auf und kam ans Bett. Einen Augenblick später fühlte ich das Gewicht einer Decke und einen weiteren Augenblick später ihre Wärme. »Der Arzt meinte, du könntest noch einen zweiten allergischen Anfall bekommen«, sagte er. »Sie haben dich an den Tropf gehängt, damit sich dein Kreislauf stabilisiert.«
Wieder spürte ich einen Kälteschauer. »Mir war verdammt schlecht.«
Ward nickte, und der Bildschirm tanzte in seinen Augen. Dann blickte er fort. Wieder wurde mir kalt, wobei die Kälte aus der Flasche über meinem Kopf zu kommen schien. Als der Schauder vorüberging, war ich seltsam traurig. Fast, als hätte mich eine schlechte Nachricht in Ohnmacht fallen lassen und ich käme gerade wieder zu mir, käme dorthin zurück, wo die Neuigkeit auf mich wartete. Kummer umhüllte mich wie eine Decke, sammelte sich in meiner Kehle, und ohne Vorwarnung blinzelte ich plötzlich Tränen weg. Ward sah sie, und einen Moment lang schien es, als wolle er mich berühren. Ich glaube, er hätte es gern getan, aber dann drehte er sich um und setzte sich wieder auf seinen Stuhl.
»Dich hat’s schlimm erwischt«, sagte er aus dem Dunkel. »Das kostet viel Kraft.«
»So viel auch wieder nicht«, sagte ich. Und das stimmte, es hatte allerdings etwas anderes gekostet, nur fehlte mir dafür das richtige Wort. Meinem Bruder waren ebenfalls die Worte ausgegangen, und so saßen wir da und lauschten der Maschine, die mein Herz überwachte.
AN DEM TAG, an dem ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, prangte ein Foto des Notarztes auf der Titelseite des St. Augustine Record. Es nahm die obere Hälfte der Zeitung ein, war also nicht zu übersehen, wenn man am Zeitungskiosk vorüberging. Der Arzt stand vor dem Eingang zur Notaufnahme, eine Zigarre zwischen den Zähnen, der Kittel spannte an den Knöpfen. Er grinste.
Charlotte hatte mich abgeholt, mir saubere Wäsche, einen Rasierapparat und einen Kamm mitgebracht. Sie wartete, bis ich mich geduscht und angezogen hatte, und nahm meinen Arm, als wir durch die Tür gingen. Sie hielt ihn noch immer, als ich das Bild sah und stehen blieb.
»Was ist?« fragte sie.
Über dem Foto des Arztes, quer über die Seite, stand die Titelzeile: SCHNELLES EINGREIFEN AM STRAND RETTET MANN AUS THORN.
»Stimmt was nicht?« fragte sie.
Ich schlug die Zeitung erst auf, als wir im Lieferwagen saßen und losfuhren.
Fünf Schwesternschülerinnen aus Jacksonville und das Team aus der Notaufnahme des St. Johns County Hospital retteten am Mittwoch in gemeinsamer Anstrengung das Leben eines Neunzehnjährigen, der dem Schwimmteam der University of Florida angehört und beim Baden im Meer mit einem allergischen Anfall auf einen Quallenschwarm reagierte. »Diese Mädchen verdienen größte Anerkennung«, sagte Dr. William Polk. »Mr. Jack James, das Opfer, hatte außerordentliches Glück, dass sie sich zufällig am Strand aufhielten.«
Ich schloss die Zeitung und meine Augen. Charlotte hielt vor einer roten Ampel. »Was ist?« fragte sie wieder. Als ich keine Antwort gab, legte sie eine Hand auf mein Bein, direkt über dem Knie, und ließ sie dort liegen. »Ist Ihnen schlecht?«
»Woher wissen die, dass ich im Schwimmteam war?« fragte ich.
»Sie waren im Krankenhaus«, sagte Charlotte.
»Haben Sie es ihnen erzählt?«
Charlotte schaute auf die Ampel und ließ ihre Hand auf meinem Bein. »Ich fand’s angebracht«, sagte sie.
Ich schüttelte den Kopf und spürte das Gewicht der Zeitung deutlicher als ihre daneben liegende Hand. Sie tätschelte mein Bein, dann legte sie die Hand wieder ans Steuer. »Sie sollten im Auto nicht lesen«, sagte sie. »Davon wird Ihnen übel.«
Einige Meilen weiter westlich schlug ich erneut die Zeitung auf und betrachtete noch einmal das Foto des Arztes. Ich konnte die Zigarre riechen und den süßen, öligen Geruch, den er auf der Intensivstation verströmte, als er nach mir gesehen hatte. Er gehörte zu jenen Ärzten, die als Original gelten und sich und all ihre Ausdünstungen daher für liebenswert halten.
Offenbar retteten die Schwesternschülerinnen Mr. James, indem sie auf die betroffenen Körperteile urinierten. »Arme und Beine des Jungen waren mit Tentakeln übersät«, sagte Dr. Polk, »ebenso Rücken und Brust, das Gesäß, die Genitalien und sein Gesicht.«
»Mein Gott«, sagte ich und schloss die Zeitung wieder.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen im Auto nicht lesen«, sagte Charlotte.
DAS WAR NOCH NICHT ALLES.
Die Geschichte meiner Rettung durch Schwesternschülerinnen, die am Strand auf mich urinierten, weckte das Interesse eines Redakteurs im Büro der Associated Press in Orlando, der sie auf sechs Absätze kürzte und mit den übrigen Tagesnachrichten landesweit verschickte. In dieser Fassung gelangte sie durch die Associated Press in die Büros von tausendfünfhundert Zeitungen überall in den Vereinigten Staaten und Kanada, wo andere Redakteure sie nach den jeweiligen Platzvorgaben und Geschmacksvorstellungen zurechtstutzten, ihr eine launige Überschrift verpassten und sie als eine Art Gegenmittel für die schlechten Nachrichten des Tages verbreiteten. ALTBEWÄHRTES HEILMITTEL RETTET GESTRANDETEN SCHWIMMER.
Dies war nicht die peinlichste Schlagzeile, die ich zu Gesicht bekam, aber die denkwürdigste, da sie in der Zeitung meines Vaters stand. Ich weiß nicht, ob er die Schlagzeile oder die Story vor Drucklegung gesehen hat. Es war keine der Storys, auf die man ihn üblicherweise aufmerksam machte, doch sollte seiner Chefredakteurin mein Name aufgefallen sein, hatte sie ihn bestimmt zuvor aufgesucht, um seine Druckfreigabe einzuholen.
Yardley Acheman hatte mir den Artikel gezeigt. Am Morgen nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus ging ich ins Büro, und er sagte: »Meinen Glückwunsch, Jack, du stehst in der Zeitung.«
»Ich weiß.«
Ich ging zum Fenster, um mich hinzusetzen. Ich hatte Yardley Acheman satt und hatte es satt, in diesem Büro herumzuhängen und darauf zu warten, dass mein Bruder fertig wurde mit dem, was er da tat. Ich dachte, wenn ich schon für eine Zeitung arbeiten muss, würde ich lieber wieder einen Lieferwagen fahren.
»Nicht nur in der St. Augustine«, sagte er, lächelte mir zu und griff dann nach der Moat County Tribune.
»Altbewährtes Heilmittel«, sagte er und reichte mir die Zeitung.
Ich ging zu ihm, nahm ihm die Zeitung aus der Hand und drehte mich zu meinem Bruder um, der an diesem Morgen auf seinem Schreibtisch und auf dem Boden daneben die gesamte Prozessmitschrift ausgebreitet hatte, als ob er die Seiten trocknen wollte, und ich starrte ihn an, bis er zu mir aufsah.
»Warum tut er mir das an?« fragte ich und meinte den alten Herrn.
»So ist das nun mal im Zeitungsgeschäft«, sagte Yardley Acheman hinter mir. Mein Bruder blinzelte, immer noch irgendwo in der Mitschrift von Hillary Van Wetters Prozess verloren, und beim nächsten Wort, das Yardley Acheman sagte – ich weiß nicht mehr, was es war, nur noch, dass er offenbar glaubte, sich in die privaten Angelegenheiten meiner Familie einmischen zu können –, drehte ich mich um und schleuderte ihm die Zeitung ins Gesicht.
Er sprang auf, kam wütend um den Tisch herum und hielt mir seinen Zeigefinger vors Gesicht, ein kleiner Tropfen weißer Spucke hing ihm an den Lippen. Ich weiß noch, wie ein Ausdruck des Erstaunens über sein Gesicht zog, als ich seinen Finger beiseiteschob, durch sein Haar fuhr und ihn am Hals packte. Er hatte überhaupt keine Kraft. Und dann hatte ich ihn im Schwitzkasten am Boden und drückte seinen Hals zu, bis kein Laut mehr daraus hervordrang. Erst jetzt merkte ich, dass Ward sich über mich beugte, völlig ruhig, und mir sagte, ich solle ihn loslassen.
»Jack«, sagte er, »hör auf, du versaust noch alles.«
»Ist sowieso schon alles versaut«, sagte ich und weinte.
Er sagte: »Ich meine die Seiten hier« und wandte sich von mir ab, um mich daran zu erinnern, dass er sie über den Boden ausgebreitet hatte. Einen Augenblick später ließ ich Yardley Achemans Hals los, hörte ein Knacken, das von seinem Hals oder meinem Arm kam, lehnte mich an die Wand und schnappte nach Luft.
Yardley Acheman stand auf. Seine Ohren waren knallrot, und die Haut über den Augenbrauen war an einer Stelle aufgeschabt. Er zitterte. »Du bist ja völlig irre«, sagte er. Dann schaute er meinen Bruder an. »Ich will, dass er verschwindet.«
Ward gab keine Antwort.
»Der Typ ist eine Zeitbombe«, sagte Yardley Acheman. »Beim nächsten Mal schneit der hier mit einer Schrotflinte rein.«
Mein Bruder musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Er ist jetzt wieder okay«, sagte er ruhig.
»Entweder er oder ich!«
Mein Bruder ging zurück an seinen Tisch und vertiefte sich wieder in die Prozessmitschrift. Ich dachte an das, was Yardley gesagt hatte, dachte, dass er sich wahrscheinlich irrte, was die Schrotflinte betraf, dachte dann an meinen Vater und fragte mich, ob er den Artikel vor Drucklegung gelesen hatte, und gestand mir ein, dass ich ihn das niemals fragen würde. Ich wollte mir keinen Vortrag über den Preis anhören müssen, den wir für die Freiheit der Presse zu zahlen haben.
»Hast du mitgekriegt, was ich gesagt habe, Ward?« Yardley saß jetzt wieder hinter seinem Tisch, hatte sich beruhigt und rieb sich die Ohren. Die aufgescheuerte Stelle an seiner Stirn war nun deutlich zu sehen, sie war geschwollen und an den Rändern hellblau angelaufen. »Ich will ihn hier nicht mehr haben, kapiert?«
Mein Bruder gab keine Anzeichen, dass er kapiert hatte.
Ich schaute aus dem Fenster, sah zu, wie Charlotte ihren Lieferwagen parkte und über die Straße zum Büro kam. Sie trug einen gelben Rock, und ihr Hintern schmiegte sich an den Stoff wie etwas, das man in einen weichen Beutel gestopft hatte. Yardley Acheman griff zum Telefon und wählte eine Nummer. Ich blieb stumm sitzen.
Unmittelbar nach dem Ringkampf im Büro meines Bruders, als ich mich noch fragte, ob ich hier tatsächlich eines Tages mit einer Schrotflinte auftauchen würde, stellte ich mir plötzlich vor, wie ihr Hintern sich in einen Satinbeutel presste, einen grünen Beutel mit einem Band zum Zuziehen, ungefähr so groß wie eine Hosentasche oder ein Hodensack, und wie ich mir das ausmalte, das schiere Gewicht dieses derart vollgestopften Beutels, verspürte ich eine vertraute Regung und nahm dies als Anzeichen dafür, dass ich wieder ganz der Alte war.
»Ich rufe in Miami an«, sagte Yardley.
SIE KAM INS BÜRO, gerade als Yardley seinem Redakteur erzählte, was passiert war. »Verdammt, er wollte mich tatsächlich umbringen«, sagte er.
Sie setzte sich auf den Stuhl neben dem Tisch meines Bruders und betrachtete ihr Gesicht in einem Schminkspiegel. Erst die eine, dann die andere Seite. Sie strich sich übers Haar, fuhr mit dem Finger eine Kurve am Auge lang. Am Nachmittag wollten wir uns erneut mit Hillary treffen, und sie sorgte sich um ihr Aussehen. Sie klappte den Spiegel zu und sah sich unglücklich und Hilfe suchend nach mir um.
»Sie sehen gut aus«, sagte ich, und sie musterte einen Augenblick lang mein noch immer geschwollenes Äußeres und überlegte, wie viel Gewicht meine Aussage besaß.
»Könnte jemand mal bitte dafür sorgen, dass er von einer Frau flachgelegt wird?« sagte sie.
»Nein, direkt hier im Büro«, erwiderte Yardley am Telefon. »Unter solchen Umständen kann ich unmöglich schreiben, schließlich könnte er jederzeit wieder durchdrehen und auf mich losgehen.«
Charlotte hörte sich das an, bemerkte die Schürfwunde auf Yardleys Stirn und suchte in ihrer Handtasche erneut nach der Puderdose. Sie öffnete sie und schaute sich noch einmal im Spiegel an. »Wollten Sie ihn erwürgen?« fragte sie und suchte ihre Stirn nach Kratzern ab.
»Nein«, sagte ich, »wir haben nur ein bisschen miteinander gerungen.«
»Stimmt ganz genau«, sagte Yardley am Telefon. »Mit so einem Scheiß muss ich mich nicht abgeben. Nicht, wenn er von so einem Arschloch kommt, und auch sonst nicht.«
Einen Moment blieb es still im Zimmer, während Yardley dem Redakteur am anderen Ende der Leitung zuhörte. Ich konnte seine Stimme hören, verstand aber kein Wort. Als sie verstummte, nahm Yardley den Hörer vom Ohr und sagte zu meinem Bruder: »Er will mit dir reden.«
»Wer?« fragte mein Bruder.
»Miami«, sagte er. Es schien ihn zu ärgern, dass mein Bruder ihm nicht zugehört hatte. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich Miami anrufe.«
Ward stand auf, trennte sich widerwillig von den Papieren, ging hinüber zu Yardleys Tisch und griff nach dem Hörer.
»Hier ist Ward James«, sagte er. Er blieb völlig regungslos stehen und hörte zu. Ebenso gut hätte er auf die Zeitansage warten können. Charlotte steckte den Spiegel wieder ein und musterte Yardley Acheman, während mein Bruder den Hörer am Ohr hatte.
»Der braucht eine Frau, das ist alles«, sagte sie schließlich.
»Der braucht eine verdammte Zwangsjacke«, sagte Yardley, dem der Moment, in dem er hilflos am Boden gelegen hatte, mit jedem Augenblick unwirklicher vorkam.
»Er leidet an sexuellem Notstand«, sagte sie.
Yardley Acheman schien darüber nachzudenken und wandte sich dann direkt an sie. »Eine Vierzigjährige, die sich anzieht, als wäre sie achtzehn – die leidet an sexuellem Notstand«, sagte er, und im Zimmer war es plötzlich so still, dass ich fast die Worte verstehen konnte, die durch den Hörer ans Ohr meines Bruders drangen.
Er brach das Schweigen, sagte »Nein« in den Hörer und legte auf. Dann ging er an seinen Platz, starrte auf den Tisch und versuchte sich zu erinnern, wo er aufgehört hatte.
»Und?« sagte Yardley Acheman.
Mein Bruder setzte sich und schien etwas zu suchen.
»Er oder ich«, sagte Yardley.
Mein Bruder schaute ihn lange an und sagte dann noch einmal: »Nein.«
Ich weiß zwar nicht, wie er es geschafft hatte, aber damit war die Sache erledigt.
»Wenn der mich noch einmal anrührt …«, begann Yardley, aber mein Bruder hörte nicht zu. Charlotte drehte sich um und blinzelte mir zu.
AM NACHMITTAG SASSEN WIR wieder im Besuchszimmer vor Hillary Van Wetter, und mein Bruder wollte, dass er sich daran erinnerte, wo er in der Nacht, in der Sheriff Call ermordet worden war, den Rasen geklaut hatte.
»In welcher Stadt?« fragte er. »Können Sie sich an die Stadt erinnern?«
Hillary lächelte angesichts dieser Frage, und er antwortete, ohne seine Augen von Charlotte Bless abzuwenden. »Könnte an tausend verschiedenen Orten gewesen sein«, sagte er. Und dann, als hätte es für ihn und Charlotte eine geheime Bedeutung, fügte er hinzu: »Überall auf der Welt kann man Rasen klauen oder eine Nummer schieben.« Er lächelte ihr zu, und sie lächelte zurück.
Yardley Acheman lehnte sich an die Wand und schloss die Augen, als wäre er zu müde, um weiterzumachen.
»Könnte es Orlando gewesen sein?« fragte mein Bruder. Er hatte sämtliche Polizeireviere in der nördlichen Hälfte des Bundesstaates angerufen und sich nach Rasendiebstählen erkundigt, von denen gab es mehr, als er erwartet hatte, vor allem in der Gegend um Orlando.
Hillary Van Wetter dachte darüber nach. »Das ist ziemlich weit für ein bisschen Rasen«, sagte er schließlich. Und dann, an sie gewandt: »Andererseits: Je größer die Mühe, umso süßer ist manchmal das Gras«, woraufhin er laut lachte.
Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, dann schlug sie ihre Beine übereinander. Hillary beugte sich ein wenig vor, um ihr so tief wie möglich unter den Rock schauen zu können. Charlotte schien das nichts auszumachen.
»Passen die Jungs gut auf dich auf?« fragte er sie.
Sie nickte und wollte ihm wohl gerade erzählen, was am Strand passiert war, wer hier auf wen aufpasste, aber dann änderte sie ihre Meinung.
»Sie geben mir alles, was ich brauche«, sagte sie.
Er wandte plötzlich den Kopf und starrte mich an, etwas Klares, Kaltes lag in seinem Blick. Da wusste ich, selbst wenn er Sheriff Call nicht getötet hatte, wäre er dazu in der Lage gewesen. »Nicht alles, will ich hoffen«, sagte er.
Ich hielt seinem Blick stand, fühlte mich selbst klar und kalt. Aber entweder konnte man es mir nicht anmerken, oder es war ihm egal. Er schaute erst zu meinem Bruder und dann zu Yardley Acheman. »Sie ist vergeben«, sagte er.
»Haben Sie denn überhaupt keine Ahnung?« fragte mein Bruder. »Erinnern Sie sich wenigstens an die Richtung, in die Sie gefahren sind?«
»Auf dem Hinweg oder auf dem Rückweg?« fragte Hillary und klang interessiert.
»Mir egal«, sagte mein Bruder.
Er dachte einen Augenblick nach und schüttelte dann den Kopf. »Nein«, sagte er. Wieder war es still, während er Charlotte anstarrte und sie ihn. »Es gab da einen Abend, da haben wir den Rasen von einem Golfplatz mitgenommen«, sagte er.
»Wo?« fragte mein Bruder.
»Das muss unten in Daytona gewesen sein, glaube ich«, sagte er. »Vielleicht kann sich mein Onkel daran erinnern.« Er lächelte, dachte an was Lustiges. »Hat er selbst mal gespielt, Golf, meine ich.« Das Bild in Hillary Van Wetters Erinnerung nahm Gestalt an. Er fasste sich an die Nase, schüttelte sich und lachte, offenbar bei dem Gedanken an seinen Onkel auf einem Golfplatz.
»Sind Sie sicher, dass es in Daytona war?« fragte mein Bruder. Die Frage erstickte Hillarys Lachen, und er starrte Ward an, als wäre er gerade unaufgefordert ins Zimmer geplatzt.
»Ich habe über Golf geredet«, sagte er schließlich.
Mein Bruder nickte.
»Ich sagte, mein Onkel hat einmal Golf gespielt.« Er war wütend, schwer zu sagen, warum. »Ich hatte da dieses Bild im Kopf«, sagte er, »mein Onkel mit einer grünen Hose, und dann mischt der sich ein und bringt mich aus dem Konzept.«
Er sah sich im Raum um, als würde er ihn zum ersten Mal sehen. »Und was hab ich jetzt davon?«
Mein Bruder gab keine Antwort.
»Ihr Zeitungsjungen seid so verdammt schlau.«
»Seit unserer Ankunft hat sich nichts verändert«, sagte Ward.
»Ganz genau«, sagte Hillary Van Wetter und nickte langsam. »Ganz genau.« Er schloss die Augen und versuchte, sich wieder zu erinnern. »Wisst ihr, es ist gar nicht so einfach, sich einen Mann vorzustellen, der Golf spielt«, sagte er und schien nicht mehr ganz so wütend wie noch einen Augenblick zuvor.
»Entschuldigung«, sagte mein Bruder.
»Sich zu entschuldigen ist die sinnloseste Sache auf der Welt«, sagte er. »Ein Mann entschuldigt sich bei mir und macht damit alles nur noch schlimmer.«
Ich stellte mir vor, wie Thurmond Call sich bei Hillary Van Wetter dafür entschuldigte, dass er seinen Vetter zu Tode getrampelt hatte. Ich überlegte, ob der Sheriff sich entschuldigt hatte oder ob er am Ende gestorben war, ohne überhaupt irgendwas zu erklären.
Ich fragte mich, wie sehr er um sein Leben gebangt hatte, ob er das, was ihm davon noch geblieben war, gegen einen oder zwei demütigende Augenblicke im Regen auf dem Highway eingetauscht hätte. Ob er um Gnade gewinselt hatte.
Ich glaube nicht. Allerdings kannte ich den Sheriff auch nur von Paraden.
»Ist schon komisch«, sagte Hillary einige Augenblicke später, »klingt für euch vielleicht wie ’ne Kleinigkeit, aber außer dem, was wehtut, gibt’s hier nichts, worüber man lachen kann.«
Dann wandte er sich wieder Charlotte zu und wollte sich an dem Anblick ihrer Beine freuen, wie sie unter ihrem Rock verschwanden, aber auch das wurde ihm verdorben.
»Sind Sie sicher, dass es in Daytona war?« fragte mein Bruder. Er war höflich, hatte aber keine Angst vor Hillary Van Wetter.
»Ist doch egal«, gab Hillary zurück.
Ward sagte: »Wenn es egal wäre, würde ich Sie nicht damit belästigen.« Er schwieg einen Augenblick. »Sind Sie sicher, dass es in Daytona war?«
»Irgendwo da drüben. Daytona, Ormond Beach … einer von diesen Orten. Es war ein Golfplatz, und wir haben den Rasen von sämtlichen Greens abgetragen.«
»Von allen?« fragte Yardley Acheman.
»Von allen, die wir im Dunkeln finden konnten«, sagte Hillary.
»Wohin haben Sie ihn gebracht?« fragte mein Bruder. Hillary schaute ihn an, er schien nicht zu verstehen.
»Verkauft«, sagte er schließlich.
»An wen?« fragte Yardley Acheman.
»An wen?« fragte Hillary. »An wen?« Er musterte Yardley Acheman, und langsam kam ein Lächeln über sein Gesicht. »Vielleicht brauche ich mir ja doch keine Sorgen zu machen, wenn ich meine Verlobte mit euch Jungs alleine lasse«, sagte er und schaute sie an, wollte sehen, ob sie das lustig fand. Schien sie zu testen.
»Wem haben Sie den Rasen gebracht?« fragte Ward.
»Einem Bauunternehmer«, sagte er. »Die bezahlen ein Schweinegeld für Golfrasen.«
»Was für ein Bauunternehmer?«
»Eigentumswohnungen«, antwortete er. Wieder sah er Yardley Acheman an, der kein Wort mehr gesagt hatte, seit er von Hillary beleidigt worden war. »Der Wohnblock würde dir gefallen«, sagte er. »Steckt voller ›An wen‹-Typen.«
»Es geht Sie zwar nichts an«, sagte Yardley, »aber zu Ihrer Information: Ich bin verlobt.«
Ein Lächeln erhellte plötzlich Hillary Van Wetters Gesicht. »Meine Information?«
»Wo liegt der Wohnblock?« fragte mein Bruder.
Hillary rieb sich die Augen. »Schon wieder«, sagte er. »Jedes Mal, wenn ich etwas lustig finde, willst du wissen, wo was war.«
»Das ist nicht lustig«, sagte mein Bruder gleichmütig. »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.« Und wie auf ein Signal hin öffnete sich die Tür, ein Wachposten kam herein und legte Hillary Van Wetter eine Hand auf die Schulter.
»Genug für heute, Jungs«, sagte er.
Ohne den Wachposten anzuschauen, der seine Schulter festhielt, erhob sich Hillary. Es sah aus, als wäre er aus eigenem Entschluss aufgestanden. Die Hand des Wachpostens wanderte zu Hillarys Armbeuge und drängte ihn zur Tür. Hillary widersetzte sich nicht, blieb aber einen Augenblick einfach stehen, sodass sich keiner von beiden rührte.
»Mach deinen Mund auf«, sagte er zu Charlotte, aber diesmal war es als Scherz gemeint, und dann ließ er sich von der Wache abführen.
Yardley Acheman kratzte an einem Stückchen Schorf auf der Stirn, die gleich zu bluten begann. »Das läuft beschissen«, sagte er zu meinem Bruder.
Ward gab keine Antwort.
»Hillary Van Wetter ist unschuldig«, sagte Charlotte.
Yardley Acheman drehte sich zu ihr um. »Wen kümmert’s?«
»Mich«, sagte sie. »Deshalb bin ich hier.«
»Du bist hier, weil deine Möse feucht wird, wenn du daran denkst, dass dieser Typ auf den elektrischen Stuhl kommt«, sagte er. Und dann zeigte er auf mich: »Du bist noch verrückter als der da.«
Müde stand Ward auf und ging zur Tür. Ich folgte ihm nach draußen, und kurz darauf hatte uns Charlotte auf dem Flur eingeholt.
»Wollt ihr den Fall einfach aufgeben?« fragte sie. Yardley Acheman trat gerade aus dem Besucherzimmer. Mein Bruder hatte einen Vorsprung und wartete bereits am Tor darauf, hinausgelassen zu werden.
»Ward gibt nicht auf«, sagte ich, »und allein auf ihn kommt es an.«
AN DIESEM ABEND gab es auf dem Highway einen Unfall, zwei Motorradfahrer aus Orlando trafen frontal auf einen Kombi aus Michigan, und die Streife brauchte Stunden, um den Schlamassel zu beseitigen.
Mein Vater saß immer noch in seinem Sessel, als ich nach Hause kam. Der Stapel Zeitungen lag verstreut auf dem Boden zu seinen Füßen.
Er trank Wein, die Flasche hatte er neben sich auf den Tisch gestellt. Ehe meine Mutter uns verließ, hatte er die Flasche in der Küche gelassen und war jedes Mal hin und her gegangen. Er saß beim Trinken nur ungern still, er hielt das für ein erstes Anzeichen von Alkoholismus und glaubte, aufzustehen und in die Küche zu gehen würde ihn davor bewahren. Er suchte immer nach Zeichen in Dingen, nie nach den Dingen selbst.
»Du kommst spät«, sagte er und sah auf die Uhr.
»Draußen auf dem Highway hat’s mächtig geknallt«, sagte ich.
»Welche aus dem Ort?«
»Nein«, sagte ich. »Motorradfahrer aus Orlando und Touristen.«
Er ließ den Arm sinken und griff nach dem Glas, besah sich mein Gesicht, dann meine Arme. »Was machen die Stiche?«
»Verbrennungen«, sagte ich. »Ist okay.«
»Verbrennungen«, sagte er und schien über das Wort nachzusinnen. Die Flasche war fast leer, und der Alkohol zeigte seine Wirkung. »Hat’s wehgetan?«
Ich schüttelte den Kopf, ging in die Küche und nahm mir ein Bier. Dann hörte ich, wie hinter mir die Tür aufging. Er kam herein und setzte sich schwerfällig an den Tisch. Glas und Flasche stellte er vor sich ab. »Muss eine schwierige Situation gewesen sein«, sagte er.
Ich setzte mich zu ihm an den Tisch, es gab keinen anderen Platz. Ich wusste nicht, ob die Situation schwierig gewesen war oder nicht; das alles war bereits weit weg, wie eine Geschichte, die ich über jemand anderen gelesen hatte.
»Wenn ich mich nicht irre«, sagte er, »sind Quallen um diese Jahreszeit in Florida nicht gerade selten.« Ich nahm einen Schluck Bier und nickte. »Man muss das Meer respektieren«, sagte er einen oder zwei Augenblicke später.
Meines Wissens war mein Vater sein Leben lang nicht im Meer gewesen. Er liebte den Fluss. Als ich sechs oder sieben war, also bevor meine Mutter nach Kalifornien zog, durfte ich ihn mit dem Schlauch bespritzen, wenn er den Wagen gewaschen hatte, und das war die einzige Gelegenheit, bei der ich ihn nass gesehen hatte. Er starrte in sein Glas, ein schwarzer Fussel schwamm zwei Zentimeter unter der Oberfläche. Er nahm das Glas und trank trotzdem, und der Fussel hing an seiner Lippe, als er ausgetrunken hatte. Er sah auf die Uhr.
»Bis in die Nacht arbeiten«, sagte er, »das macht dich fertig. Dann fängst du an, Fehler zu machen.«
Mir schien, dass er wissen wollte, wie es meinem Bruder ging. »Ward lässt sich nicht so leicht unterkriegen wie andere«, sagte ich.
Mein Vater lächelte und sah dabei aus wie ein alter Mann. »Alle werden sie fertiggemacht«, sagte er. »Manchmal nur deshalb, weil sie nicht wissen, wann sie aufhören müssen. Wie Rennpferde. Wenn denen keiner sagt, dass sie aufhören sollen, laufen sie sich zu Tode.«
Irgendwie schien es möglich, dass Ward sich zu Tode laufen würde. Mein Vater schenkte sich nach und starrte einen Augenblick auf die Flasche, als schaue er verdutzt auf den verbleibenden Rest.
»Oben in Jacksonville hat ein Hai angegriffen«, sagte er.
AM MORGEN warf Yardley Acheman seinen Koffer und eine Kühlbox voll Bier in Charlottes VW-Bus, stieg ein und ließ sich nach Daytona Beach fahren, um den Golfplatz zu suchen, den Hillary und Tyree Van Wetter in der Nacht verwüstet hatten, in der Sheriff Call ermordet worden war.
Seit Wochen hatte Yardley Acheman über Hitze, Langeweile und den Mangel an guten Restaurants in Moat County geklagt, doch als er den Ort hinter sich ließ, war ihm nicht anzumerken, dass er nun zufriedener war.
Beim Einsteigen sagte er kein Wort, er schien Charlotte überhaupt nicht wahrzunehmen. Er machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem, setzte sich die Sonnenbrille auf die Nase und verschränkte die Arme über der Brust.
Charlotte lächelte mir zu, legte den Gang ein und fuhr in die Morgensonne davon. Schwarzer Rauch quoll aus dem defekten Auspuff.
EINE HALBE STUNDE verbrachte Ward an diesem Morgen damit, eine Flusskarte zu studieren, dann erst machten wir uns auf die Suche nach Onkel Tyree. Wir fuhren zu dem Laden am Highway, den ich den Winter und das ganze Frühjahr über jeden Morgen mit zehn Zeitungen beliefert hatte. Ein nacktes Kind spielte in der Auffahrt, beugte sich über etwas Glitzerndes, das im Dreck lag – vielleicht eine platt gefahrene Dose oder eine Glasscherbe –, und schlug mit einem Hammer darauf herum.
Es sah auf, sobald es den Wagen hörte, und ließ den Hammer fallen. Als wir anhielten, rannte es ins Haus.
»Hier wirst du nicht viel Glück haben«, sagte ich.
Ward nickte, öffnete dennoch die Tür und stieg aus. Ich hatte den Laden eigentlich nie wieder betreten wollen und blieb einen Moment sitzen, ehe ich ihm folgte.
Mein Bruder hob den Hammer auf und nahm ihn mit. Ich schloss den Wagen ab und sah Ward nach, wie er ins Haus ging.
Als ich hereinkam, stand Ward vor dem Tresen, den Hammer hatte er noch immer in der Hand. Hier drinnen war es dunkel und heiß, eine schwarze Spinne hockte in einem Glas mit Trockenfleisch, das neben der Kasse stand.
Eine Stimme ertönte aus dem Dunkel. »Wo ist deine Hose?« Eine Männerstimme, die Antwort blieb aus. »Ich hab dir ’ne Frage gestellt, Mister. Wo ist deine Hose?«
Keine Antwort. Mein Bruder sah sich die Regale an. Plätzchen, Bonbons, Mehl, Tabak, Zucker, Napfkuchen – alles ohne erkennbare Ordnung, offenbar so in die Regale gestapelt, wie es eintraf und wo immer Platz war.
Im Hintergrund ließ sich jetzt eine zweite Stimme vernehmen, die Stimme einer Frau. »Jack«, sagte sie, fast zärtlich, nur dieses eine Wort, und einen Moment lang glaubte ich, sie hätte mich gemeint.
Dann trat sie durch den Vorhang, die Frau mit der schönen Haut, und sah uns in ihrem Laden stehen. Im selben Augenblick hörte ich das klatschende Geräusch eines Riemens, der auf nackte Haut trifft.
»Wo ist deine Hose?« wiederholte der Mann wütend, und der Frage folgte ein weiterer Hieb, dann noch einer und noch einer.
Die Frau stellte sich an ihren Platz hinter dem Tresen und wartete, ausdruckslos. Mit keiner Miene gab sie zu erkennen, dass sie sich an mich erinnerte. Die Schläge im Hinterzimmer hörten nicht auf, und ich merkte, dass ich still mitzählte. Ich war bei zweiundzwanzig.
Ward legte den Hammer auf den hölzernen Tresen vor der Frau und lächelte.
Vierundzwanzig, fünfundzwanzig.
Das Kind weinte nicht.
»Der lag draußen«, sagte mein Bruder. Die Frau blickte den Hammer an, berührte ihn aber nicht. Die Schläge hörten nicht auf, doch außer dem Riemen, der auf den Körper des Jungen klatschte, und lauten Atemzügen, die von dem Mann zu kommen schienen, war kein Geräusch zu hören.
Einen Moment blieb es still, und mein Bruder sagte: »Ich würde gern wissen, ob Sie mir vielleicht sagen können, wie ich Tyree Van Wetter finden kann.«
Dann fing es wieder an. Ein leichtes Zittern erfasste ihre Unterlippe und war gleich darauf verschwunden. Mein Bruder zückte seine Brieftasche und suchte nach seiner Visitenkarte. »Ich heiße Ward James«, sagte er und legte die Karte auf den Tresen neben dem Hammer. Als sie nicht hinsah, schob er die Karte ein wenig näher zu ihr hinüber.
»Ich versuche jemanden zu finden, der mir bestätigen kann, wo Hillary Van Wetter sich an jenem Abend aufhielt, an dem er angeblich Sheriff Call umgebracht hat.«
Keine Antwort.
»Mr. Van Wetter hat mir erzählt«, sagte mein Bruder, »dass er bei seinem Onkel Tyree war.«
Vierzig Schläge, einundvierzig. Sie fielen jetzt langsamer, als wäre der Mann müde. »Er dürfte zwei Generationen älter sein als Sie«, sagte mein Bruder. »Ihr Großvater oder Ihr Großonkel …«
Zum zweiten Mal wurde es still, dann wieder die Schläge.
»Was wollen Sie?« fragte sie. Sie klang nicht unhöflich, aber sie wollte, dass wir gehen. »Sie müssen etwas kaufen, sonst können Sie nicht bleiben.« Sie warf einen Blick auf den Vorhang.
Mein Bruder griff nach einer Packung Camel und gab der Frau einen Dollar. Er war Nichtraucher.
Sie tippte sechzig Cents ein, und die Kasse klingelte genau in dem Moment, als der fünfzigste Schlag fiel. Die Frau blieb regungslos stehen, die Kasse offen, bis der nächste Schlag zu hören war und sein Widerhall sich verlor.
Sie suchte das Wechselgeld in der Kassenlade zusammen, die Münzen waren immer wahllos hineingeworfen worden.
»Ich habe Hillary gestern getroffen«, sagte mein Bruder.
Sie schien ihn nicht zu hören. Wieder fiel ein Schlag, und dann begann ein leises, anhaltendes Heulen irgendwo im Haus, man hätte nicht sagen können, wo, wurde lauter und änderte dabei die Tonhöhe, ein Wolfsheulen, bis es den Raum und jeden Einzelnen von uns erfüllte. Wieder erfasste ein Zittern die Unterlippe der Frau, doch diesmal blieb es nicht dabei. Auch ihr Kinn begann zu zittern, und dann sah ich, wie sich das Licht vom Fenster in ihren Augen sammelte. Sie weinte lautlos. Die Schläge hatten mit dem Heulen aufgehört, vierundfünfzig Schläge, und die Frau weinte, weil es endlich vorüber war.
Hinter dem Vorhang war wieder die Stimme des Mannes zu hören. »Jetzt such deine Hose und zieh sie an«, sagte er. Der Vorhang bewegte sich, und der Mann mit dem verbrannten Gesicht kam herein. Sein Gesicht war rot angelaufen und der Oberkörper nackt, Schweiß glänzte auf seinem Bauch. Er schaute uns an, dann sah er zu ihr hinüber. Ich spürte, dass er nach der Tracht Prügel scharf darauf war, die Frau zu vögeln.
»Ich heiße Ward James«, sagte mein Bruder. »Ich komme von der Miami Times …«
»Der Laden ist geschlossen«, sagte der Mann.
»Ich suche Tyree Van Wetter.«
Der Mann ging zur Tür, öffnete sie und wartete darauf, dass wir gingen. »Ich komme nicht vom Gericht«, sagte mein Bruder. »Es geht um Hillary.«
Der Mann nickte und wollte, dass wir verschwanden. Er sah kurz zu der Frau hinüber und schien ihr einen Vorwurf zu machen, dass wir im Laden waren. Mein Bruder wartete, rührte sich nicht, und schließlich schüttelte der Mann den Kopf.
»Sind nicht hier«, sagte er, »beide nicht.«
»Ich weiß, dass sie nicht hier sind«, sagte mein Bruder und blieb, wo er war.
In diesem Moment erinnerte ich mich an einen Nachmittag vor dem Paramount-Kino in Thorn. Ein Typ namens Roger Bowen, mit Schmalzlocke und einer Packung Zigaretten im Ärmel seines T-Shirts, tanzte dicht vor Wards Nase herum. Er fuchtelte mit den Armen, als wären sie Flügel, und gackerte dabei wie ein Huhn, und seine Freunde lachten. Ich zupfte meinen Bruder am Ärmel, aber Ward rührte sich nicht.
Roger Bowen starb im Jahr darauf, als er vor dem Zug die Bahnschienen überqueren wollte, und an jenem Nachmittag, an den ich mich erinnerte, war der Kinobesitzer irgendwann nach draußen gekommen, jagte ihn und seine Freunde fort und rief ihnen hinterher, sie seien Abschaum.
Vielleicht hatte er das aber auch nur getan, weil wir die Kinder von William Ward James waren und daher in gewisser Weise unter Artenschutz standen.
»Ich versuche, Tyree Van Wetter ausfindig zu machen«, sagte mein Bruder noch einmal.
Der Mann in der Tür schaute ihn sich genauer an und grinste dann, ein Grinsen, das Übles ahnen ließ. Er schüttelte den Kopf. »Der Laden ist geschlossen, habe ich gesagt.« Er klang nun freundlich, und ich wusste, dass er uns durch die Mangel drehen wollte.
»Wer könnte wissen, wo wir ihn finden?« fragte mein Bruder.
Der Mann schüttelte erneut den Kopf. »Tyree? Der hat überall Familie, flussaufwärts wie flussabwärts.«
»Sie gehören zu seiner Familie«, sagte mein Bruder.
Der Mann winkte ab. »Nicht derselbe Zweig«, sagte er. Dann wies er mit einem Kopfnicken auf die Frau hinter dem Tresen und sagte: »Sie ist eine von denen, hat in meine Familie eingeheiratet.« Für die Frau war es ein alter Witz, ein Witz, den sie nicht lustig fand.
»Jack, bitte …«
Er schaute kurz zu ihr hinüber, wirkte plötzlich wütend und schien dann ebenso rasch nachzugeben.
»Honeymoon Lane«, sagte er.
Mein Bruder ging an dem Mann vorbei aus dem Laden. Ich eilte ihm nach, und kaum war ich zur Tür heraus, hörte ich, wie innen ein Riegel vorgeschoben wurde.
Mein Bruder ging zum Auto, blieb in der Hitze sitzen, ohne ein Fenster zu öffnen, und dachte nach. Ich stellte die Klimaanlage an und schaute ihn fragend an: Wohin sollte ich fahren? Ward verharrte einen Augenblick reglos, starrte auf seine Hände und blickte dann zurück zum Laden.
Langsam ließ ich den Wagen vom Parkplatz rollen, und als ich auf der Straße wendete, sah ich wieder den Jungen, der, immer noch nackt, hinter dem Laden stand und etwas in der Hand hielt. Er holte in weitem Bogen aus, und im selben Augenblick konnte man erkennen, was er in der Hand hielt: eine Hose. Auf dem Scheitelpunkt des Bogens ließ er die Hose los, und sie segelte durch die Luft und landete auf dem Dach. Ein Hosenbein baumelte herab, als wollte es dem Rest der Hose hinterherklettern.
Einen Moment starrte er die Hose an, überzeugte sich davon, dass sie liegen blieb, drehte sich dann um, hockte sich hin und begann, mit bloßen Fäusten auf die Erde einzuschlagen.
»Die sollten ihn nicht so verprügeln«, sagte mein Bruder.
EINE MEILE NÖRDLICH VOM LADEN bogen wir nach Osten in einen ausgetrockneten Schotterweg ein, die Honeymoon Lane, wie auf einem Schild zu lesen stand, das von Schrotkugeln verbogen und durchlöchert worden war. Auf beiden Seiten des Weges wuchs Sumpfgras, und ein oder zwei Meilen weiter, wo der Boden langsam feucht wurde, standen lange Reihen von Bäumen. Insekten krabbelten über die Windschutzscheibe und versuchten, ins Auto zu gelangen.
Honeymoon Lane lag vor uns wie das stürmische Meer. Der Weg hob und senkte sich in regelmäßigen Abständen, an manchen Stellen sackte er so tief ab, dass der Wagen krachend aufsetzte. Ich fuhr langsam, aber dadurch wurde es auch nicht besser. Allmählich wurde ich seekrank.
Ward sah aus dem Fenster.
»Wenn hier draußen Menschen wohnen, dann nehmen sie nicht diesen Weg«, sagte ich.
»Falls sie überhaupt irgendwohin fahren«, sagte er.
Der Weg endete etwa zehn Meter vor einem Tümpel, von dem aus sich ein Pfad zwischen den Bäumen verlor. Die Bäume standen hier dichter beieinander, als es von der Straße aus den Anschein gehabt hatte. Der Pfad glich einem Tunnel.
»Endstation«, sagte ich und stellte den Motor ab.
Ward stieg aus und ging hinüber zu den Bäumen, ich folgte ihm. Hier war es schattig und kühl, Moos überzog die Stämme, die manchmal einen Umfang von acht bis zehn Fuß hatten. Sie wuchsen auf ausgewaschenem Grund, die Wurzeln waren deutlich zu sehen.
Der Pfad führte abwärts, und zwischen den Bäumen stand Wasser. Warmes, braunes Flusswasser. An manchen Stellen wuchs Schilf, an anderen, tieferen Stellen wuchs kein Schilf mehr.
Moskitos wirbelten in Wolken über das Wasser und ließen ein Summen von elektrisierender Wirkung ertönen, ein weit tieferer Klang als das Geräusch, das sie nahe am Ohr machen. Ich schlug nach einem Moskito in meinen Haaren, aber die Bewegung schien die anderen nur anzuziehen, und einen Augenblick später waren sie überall, selbst in meiner Nase und in meinem Mund.
Wir gingen etwa hundert Schritt am Rand des Wassers entlang und bogen dann auf einem schmalen, erhöhten Streifen nach Osten ab, tiefer in den Wald hinein. Dann wandten wir uns auf einer Art Halbinsel wieder nach Norden. Die Erde fühlte sich weicher an, unsere Schuhe machten beim Gehen ein schmatzendes Geräusch. Das Auto war längst außer Sichtweite, und obwohl ich einen ziemlich guten Orientierungssinn habe, war ich mir nicht sicher, ob ich allein wieder zurückgefunden hätte.
»Hier muss es irgendwo einen Bootssteg geben«, sagte Ward.
Seine Stimme war klar und deutlich und schien aus dem Wald hinter mir zu kommen, obwohl er einige Schritte vor mir ging.
Ich sah mich suchend nach dem Bootssteg um. »Wo?« Der Klang meiner eigenen Stimme erschreckte mich.
Er starrte ohne zu antworten in den Wald. Offenbar versuchte er, sich den Verlauf des Ufers vom Fluss aus vorzustellen. Es war bestimmt zehn Jahre her, dass er mit einem Boot dort draußen gewesen war.
Wenige Schritte weiter lag ein toter Baum quer über dem Pfad, das Wurzelwerk klammerte sich noch an die Erde, das andere Ende lag im Wasser. Eine Mokassinschlange, dick wie ein Unterarm, sonnte sich auf dem Baum dicht über dem Wasser und war kaum vom nassen, vor sich hin faulenden Stamm zu unterscheiden.
Ohne sehen zu können, was sich auf der anderen Seite befand, stieg ich über den Stamm. Wieder blieb mein Bruder stehen. Vor ihm erstreckte sich ein etwa vierzig Meter breiter Wasserarm, und das Ufer dahinter stieg zu einer Insel an, die knapp einen Meter höher lag als die Stelle, an der wir standen.
Während Ward reglos verharrte, sank er bis über die Knöchel im Schlamm ein.
»Dort drüben ist ein Haus«, sagte er.
Ich konnte kein Haus sehen, suchte dafür aber die Gegend nach Schlangen ab.
»Woher willst du das wissen?« fragte ich. Am liebsten hätte ich kehrtgemacht und wäre zum Wagen zurückgegangen. Ich schlug auf meinen Arm und tötete zwei Mücken auf einmal. Die eine war voller Blut. Das klatschende Geräusch schien unter den Bäumen zu hängen und nicht entkommen zu können.
»Was sollte das sonst sein?« fragte er.
»Was sollte was sonst sein?«
Er zeigte auf das Dickicht, und dann sah ich es, den dunklen, vertrauten Umriss, der im Gewirr der Äste kaum auszumachen war. Eine Fernsehantenne. Eine Krähe rief, und als ich wieder hinsah, war mein Bruder um weitere vier, fünf Zentimeter in den Schlamm eingesunken.
»Du versinkst«, sagte ich.
Er steckte bis auf die Knöchel im Schlamm und dachte über dieses Problem nach, dann zog er langsam seine Füße heraus. Er bekam sie auch frei, seine Füße, aber die Schuhe blieben im Sumpf stecken.
Wasser füllte die Löcher, die seine Füße hinterlassen hatten, und als er sich bückte, um die Schuhe zu suchen, konnte er sie nicht finden. Braune Halbschuhe, verloren im Schlamm.
Meine Gedanken wurden zu Treibsand.
Ward tauchte den Arm bis zum Ellbogen in den Sumpf. »Da ist eine Art Sog«, sagte er, erhob sich wieder mit schwarzer Hand und schaute erst auf die weiche Erde, dann auf das Wasser. »Offenbar gibt es hier eine unterirdische Strömung.«
Ich starrte ebenfalls ins Wasser, doch nichts rührte sich.
»Weißt du, was ich glaube?« sagte er und sah sich immer noch um. »Ich glaube, die ganze Gegend ist unterirdisch komplett ausgewaschen.« Er schaute mich kurz an und lächelte. »Ich glaube, hier ist alles im Fluss.«
Hinter mir hörte ich etwas ins Wasser fallen, drehte mich um und schaute auf den umgestürzten Baum, an dem wir vor wenigen Minuten vorbeigekommen waren. Die Mokassinschlange war verschwunden. Ward hob erst den einen, dann den anderen Fuß, zog die Socken aus, steckte sie sich in die Hosentaschen und begann, zur Insel hinüberzuwaten. Ich blickte lange prüfend ins Wasser, ehe ich meine eigenen Schuhe und Socken auszog, die Hose hochkrempelte und meinem Bruder folgte.
Meine Zehen versanken im kalten, weichen Grund. Einige Schritte vor mir stand Ward hüfttief im Wasser. »Sinkst du ein, oder ist das Wasser bei dir tiefer?« fragte ich.
Er blieb stehen, um einen Augenblick über meine Frage nachzudenken. »Schwer zu sagen«, antwortete er schließlich und ging dann weiter. Kurz darauf geriet ich in dasselbe Loch, der Schlamm war kälter, aber auch fester. Ward hatte das andere Ufer erreicht und zog sich an einem tief hängenden Ast an Land. Er strampelte heftig, hing halb aus dem Wasser, änderte aber das Kräfteverhältnis zu seinen Ungunsten, je weiter er sich hochzog. Seine Arme zitterten unter der Anstrengung, und ich erreichte ihn, kurz bevor er wieder hineinfiel, stemmte meine Hand unter seinen Hintern und schob ihn hoch.
Ich selbst war dadurch allerdings noch tiefer eingesunken und bis zu den Knien mit Schlamm bedeckt, als ich mich an Land zog. Ich blieb, wo ich war, während auch Ward wieder zu Atem kam. Es erstaunte mich, dass er nicht kräftiger war – er hatte immer so kräftig gewirkt – und dass ihn die wenigen Augenblicke, die er zwischen Erdboden und Wasser hing, so ausgelaugt hatten. Ob er krank war?
Der schmale, freie Fleck, auf dem wir standen, war nicht größer als eine Toilette und bot kaum Platz für uns beide. Richtung Inselinneres wuchs dichtes Unterholz. Ein Pfad war nicht zu sehen.
»Es muss noch einen anderen Zugang geben«, sagte ich. »Vielleicht finden wir ihn auf dem Rückweg.«
Er nickte und rang, die Hände auf den Knien, immer noch nach Atem. Mir fiel auf, dass die Mücken kein Interesse an meinen schlammbedeckten Beinen zeigten. Das Hemd klebte mir an der Haut. Ward sah blass aus, als er sich aufrichtete. »Willst du umkehren?« fragte ich.
Ein Augenblick verging, ehe er antwortete: »Was hätte das für einen Sinn?«
Und dann drehte er sich um, schob mit den Händen Gestrüpp und Zweige beiseite und bahnte sich langsam einen Weg.
Er ging dabei ziemlich umständlich vor, und die Zweige schnellten aus unerwarteten Richtungen zu ihm zurück. Dann stolperte er und blieb stehen, um eine Schnittwunde an seinem Fuß zu untersuchen.
Doch er kämpfte sich immer weiter durch das Gebüsch voran in Richtung Antenne. An einem abgebrochenen Ast blieb er mit dem Ärmel hängen und zerriss sich das Hemd. Als er sich umdrehte, um sich zu befreien, schlug ihm ein kleinerer Zweig ins Auge. Er hielt inne und presste die Hand aufs Auge, aber kaum nahm er sie wieder weg, schwoll es bereits an. Tränen rannen ihm über die Wange, als würde er weinen.
Ich ging an ihm vorbei und übernahm die Führung, hielt die Äste fest, bis er drunter durch war, und achtete darauf, dass ihn nicht noch einmal etwas ins Auge traf. Es schien mir keineswegs unwahrscheinlich, dass ich ihn blind zum Auto zurückführen musste, und nach wenigen Minuten tränten ihm tatsächlich beide Augen. Kein Mensch war je so fehl am Platz wie Ward an diesem Ort, doch obwohl er auch noch zu niesen begann, drängte er stetig voran. Ich dachte mir, dass es völlig egal war, ob er sich gut hielt oder nicht, wichtig war nur, dass er es unbedingt hinter sich bringen wollte.
Das, worin er gut war, entsprang einem Mangel an Talent. Um vorankommen zu können, musste er keine gute Figur abgeben.
Einen Augenblick blieb er stehen und wischte sich die Augen mit dem Hemdzipfel trocken. Die Moskitos flogen von seinem Gesicht weg und kamen zurück, noch ehe er fertig war. Ich schlug mir auf den Nacken, und der Schmerz drang bis in meinen Kopf. »Ich schlag mich hier noch selbst zu Brei«, sagte ich und gab mir keine Mühe mehr, leise zu reden. Es war ausgeschlossen, dass man uns noch nicht gehört hatte, falls denn jemand auf dieser Insel lebte, der uns hören konnte.
Ward schnäuzte sich in seinen Ärmel und versuchte, einen klaren Blick zu bekommen, schloss die Augen und rieb sich die Lider mit den Fingern. »Es ist nicht mehr weit«, sagte er, und einen Augenblick später konnte ich das Gackern von Hühnern hören.
DAS HAUS STAND auf Zementsockeln am anderen Ende der Lichtung. Zahllose Hühner scharrten darunter und suchten den nackten Boden im Hof nach Futterresten ab; ein Hahn hockte auf einem Stapel Dachziegel. Hinter den Ziegeln spannte sich von der Hausecke eine Nylonschnur zum einzigen Baum im Hof. Ein halbes Dutzend Alligatorenhäute hing auf der Leine, jede mindestens vier, fünf Fuß lang, nicht weit davon entfernt stand ein Baumstumpf, auf dem die Häute abgezogen wurden. Eine Axt und ein paar Messer lagen noch dort, zwei davon steckten im Stumpf, die anderen lagen auf dem Boden und auf einem vierbeinigen Stahlrohrstuhl.
Mein Bruder ging langsam über den Hof. Ein Huhn lief ihm in den Weg und verlor einige Federn, als es vor ihm davonstob. Es war ein Fertighaus. In den Vororten von Jacksonville und Orlando gab es Häuser wie dieses zu Hunderten. Einstöckig, die Wände trugen ein Satteldach, an der Vorderseite, dort, wo das Wohnzimmer sein dürfte, war ein großes Panoramafenster. Farmhausstil, würde ein Makler sagen.
Ob es schwierig zu stehlen war?
Die Hälfte der Giebelseite bedeckte Aluminiumblech, den Rest Dachziegel, wie sie sich auch im Hof stapelten. Ein in seine Einzelteile zerlegter Evinrude-Außenbordmotor lag in der Garage auf einer Decke ausgebreitet, verstreut dazwischen die Werkzeuge, mit denen man ihn auseinandergenommen hatte.
Mein Bruder ging zur Haustür und drückte auf die Klingel. Einen Moment lang sahen wir uns beide an, warteten, dann klopfte er. Nichts rührte sich. Er ging einige Schritte zurück und besah sich das Dach von einem zum anderen Ende. Es war mit Teerpappe bedeckt, die an einigen Stellen eingerissen war und einen Blick auf das darunterliegende Holz freigab. Überall lag Hühnerdreck.
Er ging wieder zur Tür und klopfte noch einmal, rief Tyree Van Wetters Namen.
Ich ging um die Vorderseite herum und sah mir die Bucht hinter dem Haus an. Ein kleines Boot lag kieloben auf dem Hinterhof. Der Hof selbst war schlammig, unbewachsen und keine zehn Meter breit, ein Stück Brachland, das vom Haus zum Wasser hin abfiel.
Die Stimme meines Bruders hallte weit über das Wasser. »Mr. Van Wetter, ich bin gekommen, um Sie etwas über Ihren Neffen Hillary zu fragen.«
Ich ging zurück zum Vordereingang. »Keiner zu Hause«, sagte ich. Mein Bruder schaute unentschlossen auf das Haus.
Er klopfte noch einmal, viel lauter diesmal. »Tyree Van Wetter?«
Auf dem Hof nahmen die Hühner ihre Suche wieder auf, als wären wir für sie bedeutungslos. Mein Bruder setzte sich auf die Stufen vor dem Haus und begann, mit einem Stock den Schlamm zwischen seinen Zehen herauszupulen. Ich setzte mich neben ihn. Die Stufe war warm von der Sonne. Es roch nach Teer, wahrscheinlich wegen der Dachpappe. Ich schaute meinen Bruder an und überlegte, was er als Nächstes tun würde.
»Lassen wir ihnen ein bisschen Zeit«, sagte er.
Ich sah ihm zu, wie er seine Füße sauber machte. »Weißt du«, sagte ich, »dies könnte auch irgendeine Anglerhütte sein.«
Er musterte seine Zehen. »Nein«, sagte er, »ich denke, wir sind hier richtig.« Und dann sagte er: »Es ist jemand im Haus. Ich habe was gehört.«
Wir setzten uns auf die Veranda und warteten. Die Sonne wanderte weiter, das Haus warf immer längere Schatten. Es wurde kühler.
»Tut mir leid, was mit Yardley passiert ist«, sagte ich irgendwann.
Er starrte auf die Füße. Es war lange her, dass einer von uns gesprochen hatte. Ich hatte kein Geräusch im Haus gehört. Er runzelte die Stirn, aber ich wusste nicht, warum. »Es wurde keiner verletzt«, sagte er.
»Er tat verletzt.«
»Yardley glaubt, er sei unverwundbar«, sagte er. »›Ihr könnt mir nichts anhaben, ich bin bei der Miami Times …‹« Als er seine Worte wiedergab, begann er zu lächeln. Ward wusste, dass solch ein Schutz nicht existierte. Da machte er sich nichts vor.
DIE SONNE war gerade hinter den Bäumen am westlichen Rand der Lichtung verschwunden, als ich das Boot hörte. Ward und ich standen auf, gingen auf den Hinterhof und sahen zu, wie es über die Bucht auf uns zuhielt, ein kleines Anglerboot aus Aluminium mit einem uralten Johnson-Motor. Zwei Männer saßen darin, der eine etwa so alt wie mein Vater, der andere jünger, vielleicht sein Sohn. Beide waren blond, und es schien sie nicht zu überraschen, uns am Rand ihres Grundstücks stehen zu sehen.
Der Mann im Bug, der Jüngere, stand auf, als das Boot sich dem Ufer näherte, eine Coleman-Kühltasche in der Hand, und sprang an Land. Das Boot schaukelte heftig, der alte Mann saß neben dem Motor und wartete, während der jüngere die Kühltasche absetzte und das Boot zum Steg zog. Die Arme des Jüngeren waren lang und muskulös, Arme, wie man sie von harter Arbeit oder vom Schwimmen bekommt.
Der Alte zog den Motor aus dem Wasser, zeigte dabei seine ebenso muskulösen Arme und stieg aus.
Mein Bruder stand reglos da und wartete darauf, dass einer von ihnen zu sprechen begann. Der Jüngere band das Boot an einem Baumstumpf fest, nahm die Kühltasche und ging an uns vorbei zum Haus. Er hatte es fast erreicht, als die Hintertür geöffnet wurde und eine blasse Frau im Türspalt erschien. Flüsternd begann sie, auf ihn einzureden. Er nickte, gab aber keine Antwort, drängte sich an ihr vorbei und verschwand im Innern.
Der Alte steckte die Hände in die Hintertaschen seiner Hose und ging auf meinen Bruder zu. Er war breiter als der jüngere Mann, aber nicht so kräftig gebaut und nicht so groß. Vor Ward blieb er stehen und begutachtete ihn wie ein Problem. »Sie haben Ihre Schuhe verloren«, sagte er schließlich, und irgendwo hinter seinen Worten spielte ein Lächeln.
Ward nickte und sah zu der Stelle, an der wir an Land gegangen waren. »Stimmt«, sagte er.
»Hier gibt’s überall Schlangen, Sie können von Glück reden, dass Ihnen nichts passiert ist«, fuhr der Alte fort. Er wirkte gutmütig und betrachtete mich einen Moment lang, als wolle er sehen, ob ich Angst vor Schlangen hatte. Dann drehte er sich wieder zum Boot um und zog eine volle Tasche mit Lebensmitteln heraus. Eine Tüte Kartoffelchips lag obenauf. Bartstoppeln zogen sich wie ein grauer Schatten über sein Kinn und ließen ihn im schwindenden Licht ein wenig unscharf aussehen.
»Mr. Van Wetter?« fragte Ward.
Der alte Mann nickte.
»Ich heiße Ward James, ich bin von der Miami Times …«
Der alte Mann ging mit schwerem Schritt die Böschung hinauf zum Haus. Mein Bruder folgte ihm in einigen Metern Abstand. »Ich wollte mit Ihnen über Ihren Neffen reden.«
Der alte Mann blieb vor der Tür stehen. »Und welcher Neffe sollte das sein?« fragte er.
»Hillary«, sagte mein Bruder.
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Da sind Sie umsonst durch all die Schlangen gelaufen«, sagte er. »Hillary ist nicht mein Neffe. Er gehört zu einem anderen Zweig der Familie.« Ein Augenblick verging.
»Welcher Zweig ist das?« fragte Ward.
Der alte Mann kratzte sich am Schädel, die Lebensmittel noch immer in der Hand. »Fragen Sie doch mal Eugene dort drüben, er ist Hillarys ältester Cousin.« Er nickte zum Haus hinüber.
Mein Bruder schaute auf das Haus und versuchte, sich einen Reim darauf zu machen. »Seit seiner zweiten Ehe«, erklärte der alte Mann, »gehört Eugene zu beiden Seiten der Familie. Er kommt gleich wieder, wir müssen ein bisschen Eis essen.«
Wir gingen wieder vor das Haus, setzten uns beide auf die Veranda und warteten. Aus dem Haus waren Geräusche zu hören, ein Baby weinte. Die Sonne sank tiefer hinter die Bäume und warf Schatten über das Haus. Speichel hing in den Mundwinkeln meines Bruders. Wir hatten schon lange nichts mehr getrunken.
Er starrte in die Baumwipfel und hing seinen Gedanken über das Haus und seine Bewohner nach.
Eine halbe Stunde war vergangen, als sich die Tür wieder öffnete und der alte Mann mit einer Zweiliterpackung Winn-Dixie-Vanilleeis zurückkam. Der Mann, den er Eugene genannt hatte, folgte ihm einen Augenblick später, in der Hemdtasche einen Löffel. Nachdem sie es sich beide auf dem Boden bequem gemacht hatten und mit dem Rücken an den Zementsockeln lehnten, auf denen das Haus ruhte, öffnete der alte Mann langsam den Deckel der Eispackung und sah zu Eugene hinüber, nachdem er alle vier Deckblätter abgezogen hatte und der Inhalt zu sehen war.
Es war eine Art Zeremonie.
Der alte Mann griff in seine Hosentasche und zog einen Löffel hervor. Er betrachtete ihn einen Moment und versenkte ihn dann in der Eiscreme. Er führte den Löffel an die Lippen, behielt ihn lange im Mund, und als er ihn herauszog, kam das halbe Eis wieder zum Vorschein.
Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, und die Frau trat seitlich mit ihrem Baby heraus. Sie trug ein Männer-T-Shirt ohne BH darunter und hielt ihren Blick zu Boden gesenkt, da sie weder mich noch meinen Bruder anschauen wollte. Sie setzte sich hinter Eugene auf die Erde.
Der alte Mann steckte sich den Löffel erneut in den Mund, und als er ihn diesmal wieder hervorzog, war er leer.
»Sind Sie Hillarys Cousin?« fragte mein Bruder plötzlich. Eugene hatte dem alten Mann beim Essen zugesehen, und sein Kopf fuhr herum. Er starrte Ward an, während der alte Mann eine Ladung Eis auf dem Löffel balancierte und in den Mund dirigierte. Das Eis war weich, und die ersten Tropfen fielen aus dem Karton auf seine Hose.
»Hillary Van Wetter«, sagte mein Bruder. »Sind Sie sein Cousin?«
Der alte Mann gluckste, den Löffel noch im Mund, als würde ihn das Eis glücklich machen. »Machen Sie sich nichts aus Eugene«, sagte er. »Der ist ziemlich gereizt, wenn er darauf wartet, an die Reihe zu kommen.«
Mein Bruder nickte, und Eugene wandte sich ab und schaute wieder auf die Eiscreme. Die Frau, die Nächste in der Reihe, blickte verstohlen in dieselbe Richtung.
Der alte Mann fing ihren Blick auf und sagte: »Eis«, ehe er sich den Löffel wieder in den Mund schob. Die Frau nickte kaum wahrnehmbar.
Etwa zwanzig Minuten saßen wir draußen vor dem Haus, während der alte Mann sein Vanilleeis aß. Sumpfetikette. Fast ebenso sehr wie den Geschmack schien er zu genießen, wie sich das Eis in seinem Mund anfühlte. Einmal zog er den Löffel zwischen seinen Lippen hervor, legte ihn an seine Wange und lächelte. Das Eis schmolz und tropfte unaufhörlich auf seine Hose, der Fleck wuchs, bis er seinen ganzen Schoß bedeckte.
Dann plötzlich hielt er inne, schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken, bis er den Stein berührte, an dem er lehnte. Er schien darauf zu warten, dass ein plötzlicher Schmerz verging, und kaum war er vorüber, warf er einen letzten, langen Blick in den Karton, der noch immer fast halb voll war, und gab ihn weiter an Eugene.
Es tropfte aus dem Karton, als er weitergereicht wurde, und Eugene hob ihn an den Mund und saugte an den Ecken.
Die Frau sah jetzt aufmerksamer zu, wischte Insekten von der Verpackung, achtete aber nicht auf die Mücken, die auf ihren Armen und Schultern hockten. Ihre Brustwarzen zeichneten sich überdeutlich unter dem Hemd ab, und ich musste mich abwenden, damit man mich nicht dabei ertappte, wie ich sie anstarrte.
Der alte Mann verschränkte die Hände über dem Bauch und schloss die Augen. »Wird langsam dunkel«, sagte er, aber ich wusste nicht, zu wem.
Mein Bruder nickte, als wäre ihm der Gedanke auch schon gekommen. Er ließ den Blick rasch über die Lichtung schweifen. »Gibt es noch einen anderen Weg zurück?«
Der alte Mann öffnete die Augen und dachte nach. »Es gibt zwei Wege«, sagte er, »der Weg, auf dem Sie gekommen sind, und das Boot.«
Wieder war es still. Mein Bruder würde ihn nicht darum bitten, uns überzusetzen. Der alte Mann lächelte ihm erneut zu. »Sie sind stolz, was?« sagte er.
Ward gab keine Antwort. Der alte Mann wandte sich an Eugene, der sich über den Karton mit Eiscreme gebeugt hatte. »Diese Zeitungsjungen sind stolz, Eugene, das gefällt mir …«
Eugene nickte.
»Ich hätte richtig Lust, euch stolze Jungs überzusetzen«, sagte der alte Mann. Er wollte aufstehen, tat so, als ob er aufstehen wollte, und sank dann wieder zurück. Er schüttelte den Kopf. »Zu viel Eis«, sagte er. »Das Boot würde untergehen bei alldem, was ich in mir drin hab.«
Er lächelte der Frau zu, die das Baby in ihren Armen vergessen und nur noch Augen für den Karton mit dem Eis hatte. Eugene vergrub die Hände darin, und zwischen seinen Beinen bildete sich eine Eispfütze. Es ließ sich nicht sagen, wie viel Eis noch übrig war.
»Sieht aus, als müsstet ihr denselben Weg zurückgehen, auf dem ihr auch gekommen seid«, sagte der alte Mann. Ich stellte mir die Mokassinschlange auf einem Zweig im Dunkeln vor, stellte mir vor, wie ich meine Hand danach ausstreckte, um über den Baumstamm zu klettern.
»Ich muss mit Tyree Van Wetter reden«, sagte mein Bruder, und es schien dem alten Mann die Laune zu verderben, dass es meinem Bruder offenbar nichts ausmachte, auf demselben Weg zurückzukehren, auf dem er gekommen war, dass er vor Schlangen keine Angst hatte.
»Das bringt doch nichts«, sagte der alte Mann.
Eugene hob den Karton hoch und saugte noch einmal an allen Ecken. Er schien den Rest weitergeben zu wollen, warf dann aber noch einmal einen Blick auf das Eis, sah die Frau an und vergrub seinen Löffel erneut im Karton.
»Es könnte Hillary helfen«, sagte mein Bruder.
»Hillary ist weg«, sagte der alte Mann. »Sie haben ihn, und sie werden ihn nicht wieder laufen lassen.«
»Hillary meint, er sei an dem Abend, an dem Thurmond Call ermordet wurde, mit seinem Onkel zusammen gewesen«, sagte mein Bruder.
Der alte Mann dachte darüber nach, gab aber keine Antwort. Als ich auf den Eiskarton schaute, drehte sich die Frau wutentbrannt zu mir um, als wäre ihr gerade in den Sinn gekommen, dass ich vor ihr an der Reihe sein könnte.
»Den Jungen geben sie nicht mehr frei«, sagte der alte Mann.
»Sie werden ihn auf den elektrischen Stuhl bringen«, sagte mein Bruder.
Der alte Mann nickte. »Gut so«, sagte er. In der nachfolgenden Stille stellte Eugene den Karton neben seinem Bein auf den Boden. Die Frau sah erst ihn und dann das Eis an und griff plötzlich, wie auf ein stummes Signal, nach dem Eis. Der alte Mann sagte: »Das wär’s dann wohl.«
»Er behauptet, er sei in Daytona Beach gewesen, als es passiert ist«, sagte mein Bruder.
Der alte Mann zuckte die Achseln.
»Rasen klauen.«
Der alte Mann rieb sich das Kinn. »Das ist doch gegen das Gesetz, nicht?«
»Stimmt.«
»Dann stecken sie den armen alten Tyree auch noch in den Knast.«
Mein Bruder schüttelte den Kopf. »Es gibt da eine gesetzliche Verjährungsfrist. Dafür kann man niemanden mehr verhaften.«
Der alte Mann lächelte wieder. »Eure Gesetze kenne ich«, sagte er. Und er fing Eugenes Blick auf und starrte ihn unverwandt an, als würden sie beide etwas aushecken. Gleich darauf legte die Frau ihren Löffel weg, fuhr mit dem Finger an der Innenseite der Eispackung entlang und steckte ihn dem Baby in den Mund.