2. AKT, FÜNFTE SZENE
Auch wenn meine Stellung nicht die eines Privatdetektivs oder Leibwächters ist, gehört es zur Zeit zu meinen Aufgaben, Webbs Koffer nach den neuesten Fassungen von Sklave der Liebe zu durchsuchen. Später muss ich das Manuskript in sein Versteck zwischen den gewaschenen Hemden und Unterhosen zurücklegen, damit Webster nicht mitbekommt, dass wir über seine immer neuen Anschläge auf dem Laufenden sind.
Aus der Traum-Mordsequenz blenden wir in die Gegenwart über. Wir befinden uns wieder in dem Ballsaal des Hotels und erkennen zahlreiche elegante Gäste, die bereits bei der Preisverleihung mit dem Senator zu sehen waren. Es ist aber eine ganz andere Veranstaltung, auf der meiner Miss Kathie die Ehrendoktorwürde des Wasser College verliehen wird. Auf derselben Bühne wie in der neunten Szene des ersten Akts steht ein distinguierter Herr im Smoking vor einem Mikrofon. Die Szene beginnt wiederum mit einem Reißschwenk, der sich zu einer Kamerafahrt zwischen den an Tischen sitzenden Gästen verlangsamt.
Bei diesem zweiten Mal wirkt das schon ein wenig wie ein Klischee, womit die Eintönigkeit auch von Miss Kathies scheinbar glamourösem Leben angedeutet werden soll. Dass selbst nobelste Laudatien ermüden können. Wieder wird auf die hintere Bühnenwand eine Montage aus wechselnden Schwarzweißfilmschnipseln projiziert, die Miss Kathie als Mrs. Caesar Augustus, als Mrs. Napoleon Bonaparte, als Mrs. Alexander der Große zeigen. Die größten Rollen ihrer glänzenden Karriere. Auch diese Montage zu ihrer Huldigung ist identisch mit der in der früheren Szene gezeigten, und während nun dieselben Nahaufnahmen vorüberziehen, nimmt ihr Filmstargesicht einen abstrakten Ausdruck an und wirkt nicht mehr wie das Gesicht einer Person oder gar eines Menschen, sondern wie eine Art Markenzeichen oder Signet. Symbolisch und mythisch wie der Vollmond.
Der Conferencier spricht ins Mikrofon: »Die Schule hat sie in der sechsten Klasse verlassen, im Leben aber hat sich Katherine Kenton akademische Ehren verdient …« Der Sprecher dreht den Kopf, blickt zur rechten Bühnenseite und sagt: »Von ihrem Lehrstuhl aus hat sie die Menschen überall auf der Welt Liebe und Ausdauer und Treue gelehrt …«
Im Gegenschnitt zeigen wir Miss Kathie und mich im Schatten der rechten Bühnenseite. Sie steht starr wie eine Statue, schimmernd in einem perlenbestickten Gewand, während ich ihr den Hals pudere, das Dekolleté, die Kinnspitze. Zu meinen Füßen liegen die Taschen und Tüten und Thermoskannen, die alle zu diesem Moment ihren Beitrag leisten. Haarteile und Schminke und rezeptpflichtige Medikamente.
Als Photoplay die sechsseitige Bildstrecke mit Aufnahmen aus Miss Kathies Stadthaus brachte, waren es meine Hände gewesen, die jedes Bettlaken in messerscharfe Krankenhausfalten gelegt hatten. Sicher, auf den Fotografien war Miss Kathie in einer Schürze zu sehen, wie sie auf den Knien den Küchenboden schrubbte, aber erst nachdem ich diese eine Fliese geputzt und gewienert hatte. Meine Hände erschaffen ihre Augen und Wangenknochen. Ich zupfe und male ihre berühmten Augenbrauen. Was man sieht, ist das Ergebnis von Zusammenarbeit. Nur gemeinsam, als Gespann, bilden Miss Kathie und ich eine außergewöhnliche Person. Ihr Körper und mein Blick.
»Als Lehrerin«, sagt der Conferencier, »hat Katherine Kenton zahllose Schüler in Geduld und harter Arbeit unterrichtet …«
In diesen zähflüssigen Monolog hinein blenden wir zu einer Rückblende über: ein sonniger Tag im Park, nicht lange her. Wie in der weichgezeichneten Mordfantasie zuvor schlendern Miss Kathie und Webster Carlton Westward III Hand in Hand Richtung Zoo. In der Halbtotalen sehen wir Miss Kathie und Webb an das Geländer einer Grube treten, in der Grizzlybären auf und ab schwanken. Miss Kathies Hände klammern sich so fest um das Metallgeländer, dass die Knöchel weiß aufleuchten, erstarrt ist ihr Gesicht so nah vor den Bären, nur eine stark pulsierende Ader an ihrem Hals verrät ihr Entsetzen. Im Hintergrund hören wir Kinder singen. Wir hören Löwen und Tiger brüllen. Hyänen lachen. Irgendein Urwaldvogel oder Brüllaffe kündet mit irrem Geschnatter von seiner Existenz. Unsere ganze Welt, immer im Kampf gegen die Stille und Dunkelheit des Todes.
Zwitscher, quack, i-aah … George Gobel.
Muh, miau, oink … Harold Lloyd.
Statt im Weichzeichner erscheint diese Rückblende körnig, als Hommage an das Cinema verité. Die einzige Lichtquelle, die Nachmittagssonne, fällt ins Objektiv der Kamera und überstrahlt immer wieder aufblitzend das Bild. Unten wanken die Grizzlys brüllend zwischen den Felsen umher. Im Off kreischt ein Pfau, kreischt mit der hysterischen Stimme einer Frau, die erstochen wird.
Über all diese Tierlaute hinweg hören wir immer noch leise den Conferencier bei seiner Ansprache: »Wir verleihen ihr die Ehrendoktorwürde der geisteswissenschaftlichen Fakultät nicht so sehr in Anerkennung dessen, was sie gelernt hat, als vielmehr in Dankbarkeit – in tiefster Dankbarkeit – für das, was Katherine Kenton uns gelehrt hat …«
Aus den Zoogeräuschen schält sich langsam ein Herzschlag heraus. Das regelmäßige bu-bumm, bu-bumm deckt sich mit dem Zucken der Ader an Miss Kathies Hals unmittelbar unterhalb des Kieferknochens. Die Schreie der Tiere und das Geplapper der Menschen werden leiser, der Pulsschlag lauter. Das Herz schlägt schneller, lauter; an Miss Kathies Hals treten die Sehnen zutage und künden von ihrem Entsetzen. Ähnliche Adern und Sehnen erscheinen zuckend auf den Rücken ihrer Hände, mit denen sie sich am Geländer der Bärengrube festhält.
Webster, der neben Miss Kathie am Geländer steht, hebt einen Arm und legt ihn ihr um die Schultern. Ihr Herz rast. Der Pfau kreischt. Als Webbs Arm ihre Schultern berührt, lässt Miss Kathie das Geländer los. Packt mit beiden Händen Webbs Hand neben ihrem Gesicht, reißt sie nach unten und schleudert Webster mit einem Judowurf über ihren Rücken. Übers Geländer. In die Grube.
Wir blenden zur rechten Bühnenseite zurück, in die Gegenwart, und hören einen Grizzlybären brüllen und den leisen Schrei eines Mannes. Miss Kathie steht in dem schwachen Licht, das der Sprecher reflektiert. Ihr Hals ist glatt, nichts pulsiert dort. Nur ihr Lippenstift bewegt sich, als sie sagt: »Hast du wieder neue Fassungen des Manuskripts gefunden?«
An der hinteren Bühnenwand erscheint sie als Mrs. Leonardo da Vinci, als Mrs. Stephen Foster, als Mrs. Robert Fulton.
Interviews, überhaupt alle Werbekampagnen sind im Grunde nichts anderes als sogenannte »Blind Dates« mit irgendwelchen Fremden, wo man flirtet und mit den Wimpern klimpert und sich alle Mühe gibt, nicht gefickt zu werden.
In Wirklichkeit hängt das Ausmaß eines Erfolgs davon ab, wie oft man das Wort Ja sagen und das Wort Nein hören kann. Wie oft man ausgebremst wird und trotzdem weitermacht.
Indem wir diese Szene mit demselben Publikum und in derselben Umgebung drehen wie die frühere, deuten wir an, dass Preisverleihungsfeiern bloß hübsch ausstaffierte Fallen sind, mit irgendeinem versilberten Plunderpreis als Köder. Tödliche Fallen, mit Applaus als Köder.
Ich bücke mich, schraube die Thermoskanne auf, nicht die mit schwarzem Kaffee, nicht die mit gekühltem Wodka, nicht die, in der Valium rasselt wie in einer Rumba-Rassel von Carmen Miranda. Vielmehr öffne ich eine andere Thermoskanne und zupfe ein dünnes Bündel Papier heraus, das eng zusammengerollt dort drin versteckt war. Als Kopfzeile steht auf jedem Blatt Sklave der Liebe. Ein dritter Entwurf. Ich gebe ihr die Blätter.
Meine Miss Kathie blinzelt auf den getippten Text. Sie schüttelt den Kopf und sagt: »Ich kann damit nichts anfangen. Nicht ohne meine Brille.« Und sie gibt mir die Blätter zurück und sagt: »Lies mir das vor. Erzähl mir, wie ich sterben soll …«
Und im Publikum brandet plötzlich donnernder Beifall auf.