KÖNIGSSTADT

 

Lothiel achtete kaum auf die wenigen Leute, die ihr entgegenkamen, und die vielen, die wie sie in Richtung der Königsstadt unterwegs waren. Dennoch fiel ihr auf, dass die Menschen unruhig wirkten. Sie starrten Lothiel schon von Weitem an, zeigten auf sie, tuschelten und machten beinah ehrfürchtig Platz. Vermutlich hatte man sich in Enteri nicht nur um das eigene Wohl gesorgt und noch am Abend die Kunde von dem Mädchen mit den schlimmen Nachrichten verbreitet.

Lothiel kümmerte sich jetzt noch weniger um ihre Umgebung. Ihre warnende Botschaft war schon in aller Munde und so musste sie nur stur ihrem Ziel entgegenstreben. Bereits kurz nach der Mittagsstunde konnte sie in dem flachen Land fern die Türme von Arminas erkennen. In den letzten Tagen hatte sie sich keine Gedanken mehr darüber gemacht, was sie dort erwarten würde. Doch nun spürte sie eine gewisse Erleichterung. Hatte sie die Stadt erst erreicht und ihre Pflicht getan, konnte sie nach Hause reiten. Endlich würde ihr die Last von den Schultern genommen. Diesen Weg war sie Rochon schuldig gewesen. Auch Ellian und seinen Begleitern. Bald aber durfte sie den großen Angelegenheiten der Welt erst einmal den Rücken zuwenden und in den Schoß der Familie heimkehren.

Je näher Lothiel ihr kam, desto mehr forderte die Königsstadt ihre Aufmerksamkeit. Bald schon konnte sie ihren Blick nicht mehr von den hohen Mauern und Türmen wenden, die sich unter roten Fahnen majestätisch hinter dem blauen Band des Pann gen Himmel erstreckten. Schon aus der Entfernung war die Größe der Stadt beeindruckend. Lothiel hatte immer für einen Moment der Atem gestockt, wenn die mächtige Grenzfeste vor ihr aufgetaucht war. Doch Arminas übertraf diesen Anblick bei weitem. Dazu erschien ihr die Stadt nicht nur viel größer, sondern auch ungleich schöner. Und sie strahlte Macht, Stärke und Sicherheit aus. Es war, als stelle sie sich selbstbewusst jedem Feind entgegen. Dies war die Hauptstadt Laindors, die Hoffnung des ganzen Landes. Und was auch immer Lothiel in den letzten Tagen gesehen hatte: An diesen Mauern musste es scheitern.

Als sie am späten Nachmittag zum Tor gelangte, fühlte sie sich besser als in den Tagen zuvor. Auch die Menschen erschienen ihr jetzt nicht mehr so fremd. Die Kunde hatte die Stadt bereits erreicht und in vielen Augen konnte sie die Furcht erkennen. Lothiel wurde von einer berittenen Garde in prächtigen Gewändern in leuchtendem Rot und Blau erwartet und den langen Weg durch die Straßen zum Palast begleitet. Die Männer trieben zur Eile, doch selbst die wenigen Eindrücke, die Lothiel erhaschen konnte, ließen sie wünschen, eines Tages gemächlich über die baumbestandenen Grünflächen oder zwischen den festlich geschmückten Bürgerhäusern hindurch zum Markt zu spazieren, ohne die offensichtliche Aufmerksamkeit, die ihr jetzt zuteil wurde.

 

Der Palast thronte auf einem Hügel über der Stadt. Geschützt wurde er durch zwei Mauerringe, einen am Fuß des Hügels und einen am Ende der Steigung. Der breite Streifen dazwischen diente den Palastbewohnern als weitläufiger Park. Innerhalb des zweiten Mauerrings fanden sich Ställe, Werkstätten, Wohn- und Wachgebäude. Doch wie schon in der Stadt mit ihren schnurgeraden Straßen und Wegen wirkte alles viel aufgeräumter als in der Grenzfeste. Es schien, als seien alle Gebäude nach einer Ordnung, einem festgelegten Plan erbaut worden, sodass sie sich stimmig in das Gesamtbild fügten. Rechts gab es einen freien Platz, auf dem ein großes und prunkvolles Haus der Bräuche stand. Doch selbst dieses wurde überragt von dem eigentlichen Palast, der den Mittelpunkt des inneren Mauerrings darstellte. Er bestand aus vier riesigen Türmen an den Ecken des rechteckigen Hauptgebäudes und Lothiel schien es von unten, als ragten ihre roten Kuppeln bis weit über die Wolken hinaus. Auch der mächtige Bau zwischen den Türmen trug ein leuchtend rotes Dach über drei Reihen hoher, nach oben spitz zulaufender Fenster. Die großen gleichmäßigen Steine, aus denen der gesamte Bau und die Türme errichtet waren, schimmerten hell, fast weiß, mit zierlichen rotgoldenen Einschlüssen.

Links des Palastes sah sie einen ähnlich weiten Platz wie auf der rechten Seite, nur dass hier aus dunklen Ziegeln ein einzelner niedriger Turm mit einer runden Grundfläche erbaut war, dessen Funktion Lothiel nicht erraten konnte.

Ein Mann der Garde führte sie durch lange, lichte Gänge, deren Wände gegenüber den Fenstern mit bunten Teppichen und Bildern behängt waren, und brachte sie in einen Saal, der im hinteren Teil des Palastes lag. Die Decke wurde von mächtigen weißen Säulen getragen, zwischen denen respekteinflößende Standbilder wachten. Im Saal waren viele Menschen anwesend, schön und reich bekleidet, und alle traten beiseite, als der Gardist Lothiel zum Thron geleitete, der am Ende des hohen Raumes stand und aus Elfenbein gefertigt war. Seine Rückenlehne endete in einem aufrecht stehenden, kunstvoll geschnitzten Bogen. Lothiel erinnerte sich: Die Waffe gehörte zum Wappen der Königin.

 

Lothiel war aufgeregt. Sie wusste nicht, wie man sich einer Königin gegenüber verhielt. Doch ihr wurde noch rechtzeitig bewusst, dass man einer solch hohen Persönlichkeit seine Demut zeigen musste, und so kniete sie vor dem Thron nieder. Königin Araniel erhob sich. Sie sah noch erstaunlich jung aus, wenn man bedachte, dass sie es gewesen war, die Laindor vor zwanzig Jahren in den Grenzkriegen zum Sieg geführt hatte, nachdem ihr Vater gefallen war. Sie trug ein seidenes hellblaues Kleid, das gleichwohl schlicht geschnitten war und an der schmalen Taille von einem breiten silbernen Gürtel gehalten wurde. Silbern war auch der Reif, der allein ihr goldenes Haar zierte, das ihr offen über die Schultern fiel.

»Wir haben dich erwartet«, sagte sie, nachdem sie Lothiel eine Weile betrachtet hatte. »Knie nicht vor mir, sondern begleite mich und meine Berater, damit wir die schrecklichen Neuigkeiten aus deinem Mund erfahren. Denn ich fürchte, wir müssen schnell handeln.«

Die Königin nahm Lothiel an der Hand und führte sie in einen Nebenraum. Einige Männer folgten ihnen. In der Mitte des Raumes hatte man auf einem Tisch eine große Karte Laindors ausgebreitet. Lothiel staunte, als sie sich ein wenig zurechtgefunden hatte, welche Ausmaße das Land hatte. Acht Tage war sie geritten, um nach Arminas zu gelangen, und müsste doch noch einmal mehr als diese Strecke zurücklegen, um das Meer und damit die westliche Grenze des Königreichs zu erreichen. Weiter noch zog sich das Land nach Norden und Süden. Und viele der Nachbarreiche waren mit Laindor verbündet oder ihre Herrscher erkannten Araniel gar als Hochkönigin an. Als Lothiel in die Runde der edlen und aufrechten Männer blickte, als sie das aufmunternde Lächeln der mächtigen Herrscherin sah, da schwand ihre Sorge um das große Land Laindor. Niemand konnte diese Stadt, geschweige denn das riesige Land mit all seinen Verbündeten einnehmen. So begann sie leichteren Herzens zu erzählen.

Doch schon bald wurde ihr Bericht stockender. Wieder sah sie die armen Menschen in Waldruh und ihre schrecklich maskierten Wächter. Wieder fand sie die toten Söldner auf der Oststraße und ärgerte sich über Unwan. Als sie zum Überfall auf Ellians Gut kam, musste ihr die Königin gut zureden, damit sie von den Schrecken berichtete. Und nachdem sie wiedergegeben hatte, was sie bei dem Vorposten des Feindes erlauscht hatte, schwieg sie ganz und behielt ihre eigene grausame Tat für sich. Erst als die Königin sie daran erinnerte, übergab sie ihr die Botschaften Cunndurs.

»Sie kommen von Eurem Hofmarschall, Glanost«, sagte Araniel.

Zwei Männer traten vor. Der eine in mittleren Jahren mit kurzen dunklen Haaren, der andere alt und doch mit wachen Augen unter seinen grauen Brauen. Als Lothiel ihn betrachtete, überkam sie ein beruhigendes Gefühl. Hatte sie den Mann schon einmal gesehen? Den Dunkelhaarigen jedenfalls kannte sie nicht, aber sie ahnte, dass er Graf Glanost von Rimgarth sein musste. Er wirkte nervös, über seine Stirn zogen sich Sorgenfalten und aus seinem Blick, der auf die Königin gerichtet war, sprachen gleichermaßen zornige Erregung und Trauer. Er nahm mit einer hastigen Bewegung das für ihn bestimmte Schriftstück und überflog mehrmals die Zeilen. Sein Blick verdüsterte sich noch. Dann sah er auf und schaute wieder die Königin an, die ihre Botschaft an den alten Mann weitergereicht hatte. Doch bevor Glanost etwas sagen konnte, hob sie die Hand.

»Ich fühle mit Euch, Graf, und wir haben viel zu beraten. Doch lasst uns zunächst nicht das Naheliegendste vergessen.« Sie wandte sich wieder Lothiel zu. »Du bist ein tapferes Mädchen, wir alle sind dir zu höchstem Dank verpflichtet. Und das gilt für ganz Laindor. Wenn wir unser Land retten können, ist das zu einem großen Teil dir geschuldet. Daher ist es nur Recht, wenn ich dir des Landes Dankbarkeit beweise. Nun ist auf unserer Seite Eile geboten, du aber sollst dich ausruhen und mit aller Ehre bewirtet und umsorgt werden, bis die Zeit herangekommen ist, dich angemessen zu belohnen. Doch nenne mir einen Wunsch, den ich dir sofort erfüllen kann.«

»Ich möchte nur schnell nach Hause zurück, Herrin. Denn dort warten Vater und Mutter auf mich und grämen sich sicher vor Sorge.«

Die Königin betrachtete sie eine Weile nachdenklich. Dann antwortete sie: »Das kann ich gut verstehen, mein Kind. Doch ist es nicht klug, die Heimreise noch am heutigen Abend anzutreten. Denn die Oststraße kannst du nicht wählen. Darum bitte ich dich auch den nächsten Tag noch hier zu verbringen, so kann ich einige Vorbereitungen treffen und dir jemanden zur Seite stellen, der dich sicher zum Hof deiner Eltern bringt.«

»Ich bitte Euch, meine Königin«, sagte Glanost. »Gebt das Mädchen bis dahin in die Obhut meiner Tochter. So kann auch ich ihr meine Dankbarkeit zeigen und Ostwen wird es eine Freude sein, der Heldin aus meiner Grafschaft Gesellschaft zu leisten.«

 

Zwei Hofdamen geleiteten Lothiel in ein Zimmer im obersten Stockwerk des Palastes. Sie ließen ihr ein Bad ein, brachten ihr frische Kleidung und eine Kleinigkeit zu essen, um die Zeit bis zum Abendmahl im Saal zu überbrücken. Alles war neu und ungewohnt für Lothiel, die Größe und Pracht des Palastes, das wertvolle Kleid aus einem samtweichen Stoff, die erlesenen Früchte und das weiße Brot, die respektvolle und zuvorkommende Art, mit der die Damen sie behandelten. Und es wäre noch weit aufregender für sie gewesen, hätte sie die Erinnerung verdrängen und ihre Sorgen vergessen können.

Kaum hatte sie ihren ersten Hunger gestillt, klopfte es an die Tür. Eine junge Frau trat ein.

»Ich bin Ostwen, Glanosts Tochter.«

Sie war vielleicht zwei Jahre älter als Lothiel, hatte das dunkle Haar ihres Vaters, das sie zu einem kunstvollen, mit Perlen verzierten Knoten zusammengebunden hatte, und trug ein purpurnes Kleid, das in Lothiels Augen auch der Königin gut zu Gesicht gestanden hätte. Lothiel senkte den Blick und kniete nieder.

»He, lass das«, lachte die Grafentochter. »Heute gebührt alle Ehre dir.« Sie trat vor Lothiel hin und verbeugte sich.

Lothiel fühlte sich ein wenig unbehaglich. Noch nie hatte sich jemand vor ihr verbeugt. Erst recht keine Frau des Hochadels. Das Auftreten Ostwens erinnerte sie zudem an ihre zwanglosen Gespräche mit Gilborn. Das verkrampfte sie nur noch mehr und sie spürte wieder Tränen ihre Wangen herablaufen. Auch Ostwens Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an.

»Es sind schlimme Nachrichten, die du uns bringst und Furchtbares musst du gesehen haben. Ich würde dir gern Trost spenden, doch fällt es mir nicht leicht, muss ich doch fern der Heimat meiner Lieben gedenken.«

Jetzt erst wurde Lothiel bewusst, dass die Grafentochter ihre fröhliche Leichtigkeit nur ihretwegen aufgesetzt hatte. Ostwen war den Nachrichten über die Grenzfeste noch hilfloser ausgesetzt als sie, wusste sie doch nur ihren Vater in Sicherheit und musste um das Leben der Mutter, Geschwister und Freunde fürchten. Niemand konnte sagen, wie es dort stand.

Lothiel richtete sich auf und schaute Ostwen in die Augen. »Ich bin sicher, die Königin wird alles tun, um die Menschen auf der Grenzfeste zu retten.«

»Da magst du recht haben«, antwortete die junge Edle, doch ihr Lächeln verbarg ihre Sorge nicht. »Ich hoffe nur, Arminas kann eine Streitmacht entbehren und es ist nicht längst zu spät. Lass uns hier nicht sitzen. Der Palast ist der schönste, den ich je sah. Und doch würde ich mich jetzt unter freiem Himmel wohler fühlen.«

 

Lothiel bat Ostwen, zunächst nach Carroch schauen zu dürfen. Er war in den Ställen der Königin vorzüglich untergebracht, wurde gut versorgt und schnaubte fröhlich bei Lothiels Eintreten. Lange schmiegte sie sich an seinen Hals, bevor sie Ostwen folgte. Eine ganze Weile gingen sie Hand in Hand durch den königlichen Park, ohne ein Wort zu sprechen. Und auch am nächsten Tag nach dem Morgenmahl suchten sie gemeinsam die Einsamkeit in dem weitläufigen Grün. Die Angelegenheiten Laindors wurden im Beratungssaal Araniels besprochen, sie hingen ihren eigenen Sorgen nach.

Nach dem Mittag begleitete sie der Graf ein Stück.

»Hat meine Tochter dich in der Stadt herumgeführt?«

»Sie wollte nicht, Vater«, antwortete Ostwen, als Lothiel schwieg.

»Es ist eine aufregende und schöne Stadt. Es gibt sicher viel zu entdecken für ein Mädchen vom Lande. Selbst ich bin immer wieder beeindruckt, wenn ich nach Arminas komme.«

»Ich konnte sie von hier oben aus sehen, Herr«, antwortete Lothiel leise. »Es sind so viele Menschen dort.«

Graf Glanost betrachtete sie eine Weile. »Du sagtest, dein Vater sei Adar?«

»Ja, Herr.« Lothiel schluckte.

»Ich bin ihm zu großem Dank verpflichtet und habe seine Heldentat nicht vergessen. Nun zeigt sich, dass seine Tochter aus demselben Holz geschnitzt ist. Er muss sehr stolz auf dich sein.«

Lothiel blickte erstaunt auf. »Glaubt Ihr das wirklich?«

»Ich bin mir dessen sicher. Nach allem, was du für Laindor auf dich genommen und vollbracht hast.«

Lothiel dachte einen Moment darüber nach. Dann senkte sie ihren Blick. »Ich wünschte, ich könnte mein Tun ebenso zweifelsfrei betrachten.«

Der Graf setzte einige Male zu einer Antwort an, seufzte dann aber nur. Ostwen jedoch griff nach Lothiels Hand und drückte sie fest.

»Dein Vater ist sicher schon wieder wohlauf«, sagte Glanost schließlich. »Und bald wirst du ihm von deinen Taten berichten können.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Ich hoffe, dass auch mein Bote geheilt wird.«

»Meine Mutter versorgt ihn. Er wird sich erholen.«

»Wie war sein Name noch?«

»Rochon.«

Ostwen ließ überrascht Lothiels Hand los. »Rochon?«

»Kennst du ihn, mein Kind?« Glanost zog eine Augenbraue hoch.

»Ja … ich … ich hörte von ihm.«

»So? Verschweigst du mir etwas?«

»Nein, Vater.«

Glanost schien der Antwort wenig Glauben zu schenken. Und auch Lothiel hatte das Gefühl, die Grafentochter wüsste mehr über Rochon zu sagen, als sie zugeben wollte. Lothiel beäugte sie misstrauisch, doch der Graf wollte das Thema nicht weiter verfolgen.

»Nun, jetzt gibt es Wichtigeres zu tun«, sagte er. »Ich wünschte nur, ich könnte dem Feind schon in dieser Stunde entgegenreiten.«

Damit verabschiedete er sich und schritt auf den Palast zu. Doch er drehte sich noch einmal zu ihnen um. »Lothiel, fast hätte ich es vergessen. Istyar will dich sprechen. Er erwartet dich in seinem Turm.«

 

Begleitet von Glanosts Tochter klopfte Lothiel an die Tür des runden Baus neben dem Palast, die man über eine steinerne Treppe an der Außenmauer des Turmes erreichte. Istyar selbst öffnete. Er war der grauhaarige Mann mit den wachen Augen, der Lothiel schon bei der Königin aufgefallen war. In seiner Kleidung unterschied er sich nur durch ihre Zurückhaltung von den anderen Edelmännern, die sie dort gesehen hatte. Gleichwohl wirkte er wie einer der ihren und hatte etwas Würdevolles an sich. Er betrachtete sie neugierig.

Ostwen wollte sich an der Tür verabschieden, doch Istyar hielt sie zurück. »Mir scheint, du möchtest Lothiel gern eine Freundin sein. Euch verbindet viel. Beide seid ihr fern der Heimat und beide könnt ihr in diesen Tagen eine Freundin brauchen, selbst wenn ihr euch bereits morgen wieder trennt. Oft reicht es zu wissen, dass es an einem anderen Ort jemanden gibt, der an einen denkt. Wenn also Lothiel nichts dagegen hat, darfst du sie gern in mein Haus begleiten.«

Zu ihrer eigenen Überraschung zögerte Lothiel. Ostwen konnte ihr Trauer und Sorgen nicht nehmen. Aber sie half ihr über die Einsamkeit unter den fremden Menschen. Doch warum hatte sie so geheimnisvoll auf den Namen Rochon reagiert? Und warum bereitete Lothiel diese Frage solche Schmerzen?

Schließlich nickte sie dennoch. Morgen endlich würde sie die Stadt verlassen, nach Hause zurückkehren und Ostwen vermutlich nie wieder sehen. Diesem Istyar wollte sie nicht mehr erzählen, als sie schon im Saal der Königin gesagt hatte. Sie fühlte sich viel zu verwundbar, um ihre Wunden vor einem Fremden offen auszubreiten.

Der alte Mann führte sie in einen Raum, der den gesamten Grundriss des Turmes einzunehmen schien. Lothiel wurde nun doch neugierig. Sie schaute sich unter halb geschlossenen Augenlidern um. Es gab wenig Besonderes zu entdecken. In der Mitte des Raumes, der durch drei kleine Fenster schwach erleuchtet wurde, stand ein massiver Eichentisch. Auf ihm war eine Karte ausgebreitet, ähnlich der, die sie im Beratungssaal der Königin gesehen hatte. Eine hohe Kerze in einem einfachen Halter spendete zusätzliches Licht. Bei dem Fenster, das sich der Tür gegenüber befand, stand ein mächtiges Lesepult, auf dem ein großes Buch aufgeschlagen lag. An den Wänden auf Ablagen, Gestellen, Truhen und Schemeln stapelten sich weitere Bücher und vergilbte Schriftrollen. Ein freier Schemel stand bereits am Tisch und Istyar räumte zwei weitere frei, die er an die andere Seite des Tisches stellte. Er bedeutete seinen Gästen, sich dort hinzusetzen, und nahm selber Platz. Eine Weile betrachtete er Lothiel, die sich unter seiner Aufmerksamkeit nicht besonders wohl fühlte.

»Da ist viel Unruhe in dir«, sagte er. »Doch spricht die Königin weise, wenn sie meint, es sei besser, du begibst dich morgen auf einen sicheren Weg, als heute auf einen, dessen Ende du vielleicht nicht erreichst.«

Lothiel antwortete nicht.

»Es muss ein gutes Zuhause sein, das dich zu sich ruft. Und es sind sicher gute Menschen, um die du dich sorgst und deren Sorge zu beenden jetzt dein einziges Ziel ist. Willst du mir nicht von ihnen berichten?«

Lothiel unterbrach ihr Schweigen nicht. Er war ein Fremder. Und doch meinte sie, ihm früher schon begegnet zu sein.

»Glaube mir, es hilft, sich in schlimmen Zeiten der besseren zu erinnern.«

Lothiel begann zu erzählen. Sie sprach und Istyar hörte ihr zu. Er unterbrach sie nicht, sah sie an und rührte sich kaum. Wären da nicht seine aufmerksamen Augen und ein gelegentliches verständnisvolles Nicken gewesen, hätte man denken können, er sei eingeschlafen. Doch Lothiel fühlte, dass sein Interesse nicht geheuchelt war. Sie verlor sich in ihrer eigenen Geschichte, sprach von Adar und Naneth, von Tass und Hu, vom Hof und der Arbeit, die sie dort verrichtete. Auch dass sie sich manchmal etwas einsam fühlte, verschwieg sie nicht. Sie erlebte ihre Freude, als Adar sie das erste Mal zur Grenzfeste mitnahm, staunte über die vielen kleinen Wunder, die sie dort gesehen hatte und die nicht weniger wurden, als sie die Stadt wieder und wieder besuchte. Zuletzt hatte sie dort sogar einen Freund gewonnen. Einen Freund, der vielleicht gar nicht mehr am Leben war.

»Warte.«

Hatte Istyar ihr Stocken bemerkt?

»Von den nächsten Ereignissen hast du bereits bei der Königin berichtet. Sie haben einen Schatten auf deine junge Seele gelegt. Doch vieles aus der Zeit davor hast du dir bewahrt, wenn es jetzt auch verborgener ist. Und das ist gut so.«

»Glaubt Ihr …«, fragte Lothiel zögernd. »Glaubt Ihr, ich habe Vater und Mutter im Stich gelassen?«

Der alte Mann dachte über die Frage nach. Lothiel spürte, wie ernst er sie nahm.

»Nein, das glaube ich nicht. Du fehlst ihnen sicher sehr. Auf dem Hof und in ihren Herzen. Sie sorgen sich um dich. Doch sie wissen auch, dass du das Richtige tust.«

»Woher sollen sie das wissen? Ich hätte längst zurückkehren müssen.«

»Weil sie dich kennen und lieben.«

»Doch vielleicht habe ich gar nicht immer das Richtige getan. Viele konnte ich nicht retten. Und ist es nicht meine Schuld, dass Ellian sein Leben geben musste?«

»Niemand kann wissen, was geschehen wäre, wenn du anders gehandelt hättest. Auch ich nicht. Vielleicht hast du nicht immer das Beste getan. Vielleicht könnte Ellian noch am Leben sein. Aber es ist nicht sehr wahrscheinlich. Und unmöglich konntest du die vielen anderen retten. Doch du hast es versucht, denn es war dein Antrieb, als du dich auf den Weg machtest. Und du hast immer in guter Absicht und in bestem Wissen gehandelt. Wer weiß, wie vielen mehr du dadurch ihr Leben gerettet hast?«

»Aber«, flüsterte Lothiel, »ich habe auch getötet.«

Istyar schwieg lange und betrachtete Lothiel, die die Augenlider gesenkt hielt. »Erzähl mir davon.«

 

Als sie geendet hatte, fragte sie: »Glaubt Ihr, mein Vater kann mir auch das verzeihen?«

Diesmal antwortete Istyar sofort: »Ja, das glaube ich. Ich will nicht gutheißen, was geschehen ist. Aber du hattest keine Wahl. Und nicht ich bin es, der dir die Last nehmen kann. Auch dein Vater nicht. Eines anderen Vergebung solltest du erflehen.«

»Wen meint Ihr?«

»Du wirst es wissen, wenn die Zeit gekommen ist.«

Damit konnte Lothiel wenig anfangen. Und doch fühlte sie sich seltsam beruhigt. »Wenigstens kann ich hoffen, dass Rochon zufrieden ist.«

Ostwen schaltete sich ein – Lothiel hatte sie ganz vergessen. Sie hatte Tränen in den Augen. »Istyar, ich bitte Euch! Könnt Ihr nicht helfen? Ihr seid weise und man sagt, Euer magisches Auge reiche weit über das Land und ebenso in seine Vergangenheit wie in seine Zukunft. Seht Ihr nicht, wie Lothiels Eltern jetzt empfinden und ob sie ihr vergeben werden? Könnt Ihr ihnen nicht gar eine Botschaft senden, die ihre Sorgen mildert und Lothiel die Rückkehr erleichtert?«

Der alte Mann lachte. »Wahrlich, vieles sagt man mir nach. Und solche Gaben wären in unserer Lage vielen hilfreich, wenigstens schiene es so. Doch deine Hoffnungen übersteigen meine Fähigkeiten. Ich sehe viel und lese in den Augen und Herzen der Menschen. Ich höre ihnen zu. Wenn Lothiel aufmerksam war, konntest auch du ihr jetzt einen Teil der Zweifel nehmen und ihr Kraft für die weitere Reise geben. Doch es wird Zeit, dass ich meinen Rat wieder Araniel zur Verfügung stelle.«

Als sie mit Ostwen zum Palast zurückkehrte, dachte Lothiel über die Worte Istyars nach. Sie hatte nur wenig verstanden und doch den Eindruck, er habe ihr geholfen.

Die Grafentochter griff nach ihrer Hand. Lothiel dachte an Rochon und war für einen Moment versucht, sie abzuschütteln. Stattdessen drückte sie sie fest und spürte, wie Ostwen zitterte.

Wie schon am Morgen und zum Mittag durfte Lothiel beim Abendmahl neben der Königin Platz nehmen. Doch wie zuvor sprach und aß sie wenig. Sie schaute auch kaum einmal auf. Nur wenn die Königin sie ansprach, bemühte sie sich, es nicht an der gebotenen Höflichkeit fehlen zu lassen. Sie nickte freundlich, wenn man ihr den Wein aufgoss, und bedankte sich für die Speisen. Erleichtert bemerkte sie, dass sich das Interesse der meisten Anwesenden längst nicht mehr so sehr auf sie richtete wie noch am Morgen. Nur Istyar, der an der rechten Seite der Königin saß, beobachtete sie aufmerksam. Es störte sie nicht. Sein Blick fühlte sich beruhigend an. Ostwen saß links von ihr und Lothiel wäre ihr gern eine bessere Tischnachbarin gewesen, wusste sie doch, wie sehr die Tochter des Grafen selbst Beistand gebraucht hätte. Doch ihre eigenen Sorgen ließen nicht mehr als ein seltenes, wenig aufmunterndes Lächeln zu.

Nach dem Essen erhob sich die Königin.

»Liebe Freunde, treue Gefährten. Wenn ich heute in eure Gesichter schaue, sehe ich Sorge, Ungewissheit und Furcht, Zwanzig Jahre lebtet ihr nun in diesem unseren Land in Frieden. Nun bricht für uns alle überraschend eine neue Welle des Krieges über uns herein und mit ihr ein Feind, den wir glaubten, nur in alten Legenden fürchten zu müssen. Aber er trifft uns nicht so unvorbereitet, wie er es sich erhofft hat, und er wird zu spüren bekommen, dass Laindor gewappnet und bereit ist, ihn zu empfangen. Der Kreis, in dem wir jetzt versammelt sind, ist kleiner geworden. Denn viele, die noch gestern meine Gäste waren, sind aufgebrochen, ihre Gefolgsleute für den Kampf um unsere Heimat aufzubieten. Boten sind im ganzen Land unterwegs und auch unseren Verbündeten und Freunden hinter Laindors Grenzen soll die Nachricht überbracht werden.

Die Zeit drängt. Doch dass sie uns nicht überrannt hat, verdanken wir dem Mädchen, das an meiner Seite sitzt.« Sie deutete auf Lothiel. »Diese tapfere Tochter Laindors wird uns morgen in aller Frühe verlassen. Sie hat den Auftrag eines anderen aus freien Stücken übernommen und ihn zu Ende geführt. Nun warten auf sie die Ruhe und Geborgenheit ihrer Familie. Damit sie einen Weg dorthin findet, der sie sicher zurückführt, will ich sie nicht allein gehen lassen. Lange habe ich darüber nachgedacht, welches die beste Lösung ist in einer Zeit, in der Arminas kaum einen Verteidiger entbehren kann. So wird es nur ein Mann sein, den ich mit ihrem Schutz betraue. Doch gibt es keinen besseren, denn schon in den Grenzkriegen hat er sich als Kundschafter einen Namen gemacht. Herr Magor wird Lothiel sicher nach Hause bringen.«

Der Mann, der sich jetzt erhob, um sich zur Königin hin zu verbeugen, musste zur Zeit der Grenzkriege noch ein junger Bursche gewesen sein, denn er konnte kaum älter als vierzig Jahre sein. Er schien nicht überrascht. Wahrscheinlich hatte die Königin ihn schon vorher gesprochen. Lothiel hatte allerdings nicht den Eindruck, dass er sich über diesen Auftrag freute.

»Der weise Istyar bat mich um zwei weitere Begleiter«, fuhr die Königin fort. »So will ich Lothiel einen Knecht für den Hof ihres Vaters unterstellen. Und dies soll nicht das einzige Geschenk ihrer Königin sein. Auch Leithian, Bruder von Beleg, soll von nun an Lothiels Begleiter sein.«

Rundum erhob sich ein raunendes Gemurmel. Ein Mann betrat den Saal. Er trug auf einem großen Tablett feierlich einen Langbogen und einen ledernen Köcher mit langen, rotbefiederten Pfeilen herein und überreichte ihn der Königin. Diese wandte sich mit der Waffe Lothiel zu. »Leithian, der Erlöser. Bewahre ihn gut.«

Der Bogen war schlicht gestaltet, trug keinerlei Verzierungen. Und er war nicht für die Jagd, sondern den Krieg gemacht. Lothiel wollte ihn nicht. Sie würde dem Krieg den Rücken kehren. Nie mehr einen Menschen töten. Eine solche Waffe erschien ihr wie eine böse Erinnerung und eine grausame Prophezeiung. Sie hob abwehrend die Hände. Dann fiel ihr Blick auf Istyar. Der alte Mann nickte ihr aufmunternd zu. Seine Augen schienen ihr zuzusprechen. Plötzlich erinnerte sie sich: das Gesicht im Traum. Der alte Mann hatte ihr einen Mantel versprochen. Sie drehte die Handflächen, griff nach Leithian und bedankte sich mit einer tiefen Verbeugung.

 

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