OSTSTRASSE

 

Die Wunde schmerzte, aber sie war nicht sehr tief und blutete nicht mehr. Der Pfeil hatte die Schulter nur gestreift. Lothiel hatte die Verletzung an dem kleinen Bach ausgewaschen und mit einem Tuch aus der Satteltasche Rochons verbunden. Nun wollte sie zur Oststraße reiten. Es war der direkteste und schnellste Weg. Rochons Karte bestätigte das. Um schneller voranzukommen, musste sie den Wald verlassen. Das war entweder in Richtung Süden oder eben im Norden auf der Straße möglich. Südlich befand sich unwegsameres Gelände und sie stieße bald auf Hindernisse, eine kleine Hügelkette und einen Fluss, die sie umgehen müsste.

Natürlich barg die Oststraße auch ein Risiko. Doch Lothiel war jetzt ziemlich sicher, wo sich das feindliche Heer befand. Wie viele Reiter es auch gewesen sein mochten, die am Morgen das Gut bei Iden überfallen hatten, sie konnten nur einen kleinen Teil des Heeres ausmachen, das Rochon beschrieben hatte. Ein Stoßtrupp vielleicht, dessen Auftrag die Sicherung der Umgebung gewesen war, während das Hauptheer vermutlich in Iden selbst lagerte. Der Ort, an der Kreuzung der Ost- und der Bhalstraße gelegen, stellte sicher einen strategisch wertvollen Punkt dar. Adar hatte ihr erzählt, er sei sogar leicht befestigt und es gäbe dort eine bewaffnete Stadtwache. Selbst die Streitmacht Naurhirs konnte durch Iden nicht einfach hindurchspazieren. Und von dort aus würden seine Truppen auf der Oststraße niemals so schnell vorankommen können wie Lothiel auf Carroch.

Trotz ihrer Sorgen und des Leids, das sie gesehen hatte, spürte Lothiel auch eine Erregung, die ihr nicht unangenehm war.

Selbst ihr Vater war nie westlich Idens gewesen. Sie ritt nun durch Landschaften, die er nie gesehen hatte. Und sie würde die Pracht der Königsstadt sehen, die weit größer als die der Grenzfeste sein sollte.

Nach wenigen Stunden sah Lothiel einen lichten Streifen. Die Straße. Still und friedlich lag sie vor ihr. Doch Lothiel vergaß nicht, umsichtig zu bleiben. Sie stieg ab und band Carroch an einen Baumstamm. Sie überlegte einen Moment, griff dann zu ihrem Bogen. Mit ihm fühlte sie sich sicherer. Dal Hatte sie da nicht Stimmen gehört? Angestrengt lauschte sie. Sie täuschte sich nicht. Ein Stück links von ihr, nicht weit von der Straße, mussten sich Menschen befinden. Es konnten nur Leute sein, die von oder nach Iden unterwegs waren und hier eine Rast hielten. Lothiel musste sie vor der drohenden Gefahr warnen. Aber die schrecklichen Bilder des Morgens ließen sie ihre Vorsicht nicht verlieren. So leise wie möglich näherte sie sich den Stimmen. Bald erkannte sie zwei Männer, die auf dem Waldboden hockten und ihr den Rücken zukehrten. Noch ein paar vorsichtige Schritte. Ein dritter Mann lag rücklings neben den anderen und schien zu schlafen. Lothiel konnte keines der Gesichter erkennen, darum wagte sie sich noch ein bisschen näher heran und versuchte, dem Gespräch zu lauschen.

Die Männer unterhielten sich in der Gemeinen Sprache. Doch sie sprachen schwerfällig und gebrochen, als sei sie ihnen sehr fremd. Beide hatten einen unterschiedlichen Akzent. Wahrscheinlich bedienten sie sich der Gemeinen Sprache, weil sie sich sonst nicht verstehen könnten. Wo kamen sie her? Ihre Kleidung gab wenig Aufschluss. Der Schlafende lag unter einer leichten Pferdedecke und auch die beiden anderen hatten sich, obwohl es ein schöner Herbsttag war, ihre Decken um die Schultern gelegt. Der eine war groß und kräftig gebaut, mit dichtem schwarzem Haar, doch seiner Stimme nach schien er noch recht jung zu sein. Das Haar des anderen, der seinem Gefährten im Körperbau nur wenig nachstand, färbte sich bereits rundum grau und sein voller Bart schimmerte silbrig. Das erinnerte Lothiel an Meister Cennan, den Kesselflicker. Sie lächelte, bis ihr einfiel, wie schlecht es um die Grenzfeste stand. Schnell konzentrierte sie sich wieder auf die Männer vor ihr.

»Weißt du, wie weit ist zu gehen es noch?«, fragte der mit der jungen Stimme.

»Nicht genau. Aber es wird einige Tage brauchen schon noch. Und nun lass mich schlafen endlich. Wir haben einen weiten Weg hinter uns. Und viele Anstrengungen werden folgen noch.«

Der Mann hatte eine angenehm weiche Stimme.

»Du bist der Jüngste eben nicht mehr«, antwortete der Schwarzhaarige lachend. »Dabei sitzen herum wir schon viel zu lang hier. Ich wünschte, es würde gehen endlich weiter.«

»Wenn wir den ganzen Weg hinter uns gebracht haben, wirst du wünschen, du hättest sitzen bleiben können hier.«

Einen Moment herrschte Schweigen. Dann begann der erste ein leises Lied zu summen.

Nach allem, was sie erlebt hatte, erschien Lothiel diese kleine Gruppe, die aus einem fernen Land kommen musste, so friedlich. Fast war es, als sei die Belagerung der Grenzfeste nur eine Geschichte gewesen, die sich Rochon erdacht hatte, um seine Zuhörer zu erschrecken. Und selbst der Überfall am Morgen kam ihr beinah wie ein Traum vor. Doch es war kein Traum gewesen. Der Krieg schlich sich unaufhaltsam und mit furchtbarer Geschwindigkeit in das Land und diese drei hier ahnten nichts davon.

Lothiel wollte gerade aufstehen, da trat ein Mann aus dem Gebüsch, das den Blick auf die Straße verwehrte. Hastig duckte sie sich zurück.

Der Mann trug dunkles Leder, auf der Brust eine rote Faust. Sein Gesicht war hinter einer grausamen Maske verborgen, die, wie Lothiel jetzt erkannte, ebenfalls aus Leder und der vordere Teil eines eisernen Kopfschutzes war.

 

»He, Wraca, warum verlässt du deinen Posten?«, fragte der Grauhaarige.

»Hunger«, antwortete der Maskierte und bückte sich nach einem Beutel, in dem offenbar etwas zu essen aufbewahrt wurde.

»Soll ablösen ich dich jetzt?«, fragte der Junge und sprang auf. Dabei fiel die Decke von seinen Schultern. Auch er trug lederne Kleidung, die auf dem Rücken mit der roten Faust gezeichnet war.

»Nein.«

»Ich kann leisten dir auch Gesellschaft.«

»Lass, Quaer. Schlaf lieber.« Damit drehte sich Wraca um und wollte wieder zwischen den Büschen verschwinden.

»Ist nichts los auf der Straße?«, wollte der Grauhaarige wissen.

»Wenig.« Wraca drehte sich gar nicht um. »Niemand aus Iden.«

»Können überfallen wir nicht doch Leute, die wollen nach Iden, Drugon?«, fragte Quaer, als der Posten verschwunden war.

»Der Befehl lautet: Alle rein-, niemand rauslassen!«

Der Junge grummelte ein wenig vor sich hin, setzte sich aber wieder.

 

Lothiel war erschrocken, welch schlimmen Fehler sie beinah begangen hätte. Doch sie spürte auch die Wut und den Hass in sich wachsen. Dies war der Feind. Zwar hatte sie sein schreckliches Angesicht nicht sofort erkannt, doch spätestens die letzten Sätze hatten es umso deutlicher gemacht: Da saßen grausame Kreaturen in Menschengestalt, die nichts als Tod und Verderben brachten. Einen Moment dachte sie an ihren Bogen. Doch der Feind war zu viert. Sie konnte nichts tun, als ihm auf lange Sicht die Pläne zu durchkreuzen. Vielleicht konnte sie noch etwas erfahren, was ihr dabei helfen würde. Denn eines war ihr jetzt klar: Der Feuermeister unternahm alles, um Nachrichten über sein Eindringen nach Laindor so lange wie möglich von Arminas und der Königin fernzuhalten.

»Was glaubst du, Drugon? Wird einnehmen Gashbaas die Grenzburg bald?«

»Du kannst Fragen stellen, Quaer. Natürlich. Zweifelst du an der Macht des großen Hexers etwa? Wahrscheinlich hat er sie überrannt schon längst.«

War Gashbaas ein anderer Name für Naurhir, den Feuermeister? War die Grenzfeste noch gar nicht gefallen? Hatte Naurhir sein Heer aufgeteilt?

»Ich wäre gewesen so gern dabei. Es muss gegeben haben dort eine tolle Schlacht. Aber wir müssen rennen wie Bubug vorneweg jede Nacht. Wir durften nicht in den Kampf, selbst in Iden. Mein Schwert hat gefressen noch nichts, bis auf ein paar Bauern, dumme Bauern.«

Lothiel ballte die Fäuste.

»Wart ab«, entgegnete Drugon dem jungen Krieger. »Du wirst früh genug in einer echten Schlacht stehen schon noch. Ich habe gekämpft schon, da warst du gar nicht geboren noch. Du wirst froh sein, wenn du es überstehst heil.«

»Glaubst du etwa nicht an den Sieg?«

»Doch, es wird einen Sieg geben. Aber Blut wird auf beiden Seiten fließen bis dahin.«

Drugon klang nachdenklich, fast ein bisschen traurig. Mit Schrecken stellte Lothiel fest, dass er ihr noch immer sympathisch war. Sie wehrte sich dagegen, schließlich war der Mann mit seinen Kameraden mordend und brandschatzend in ihr Land eingedrungen, doch ganz konnte sie das Gefühl nicht verdrängen.

Quaer war wieder aufgestanden und lief vor Drugon auf und ab. Lothiel sah seine weichen Gesichtszüge. Der Junge konnte trotz seines kräftigen Körperbaus kaum älter sein als sie.

»Ach, davor fürchte ich mich nicht«, sagte er jetzt. »Blut soll fließen ruhig viel. Es ist Krieg, Drugon. Ein Krieg, aus dem ich werde zurückkehren dann als Held.«

Drugon antwortete nicht, schüttelte nur den Kopf.

»Ein Krieg, den wir gewinnen werden sicher«, sprach der Junge weiter. »Nur eins verstehe ich noch immer nicht. Warum haben geteilt wir unsere Kraft? Warum nicht angreifen erst mit voller Stärke die Grenzburg und dann gemeinsam marschieren gegen die Königsstadt?«

»Weil unser Herr ein kluger Kopf ist. Er lässt dem Feind keine Zeit nämlich. Die große Streitmacht nimmt die Grenzburg ein und wir machen als Vorhut schon den Weg zur Hauptstadt frei. Wenn es uns gelingt, sind wir dort, bevor sie von uns wissen. Wir sollen die Königsstadt belagern und schwächen schon, bis Gashbaas kommt …«

Lothiel hatte genug gehört. Sie durfte keine Zeit mehr verlieren. Kriechend entfernte sie sich rückwärts. Sie war noch nicht weit gekommen, da brach ein am Boden liegender Ast unter ihrem Knie. Sie erstarrte. Quaer drehte sich um und suchte angespannt nach dem Verursacher des Geräuschs. In ihrer geduckten Haltung hinter einem Gebüsch konnte er sie wohl nicht sehen.

Drugon beruhigte ihn: »Sei nicht hitzig so, Quaer! Es wird ein Tier gewesen sein nur. Im Wald soll es das geben.«

Lothiel kauerte sich noch tiefer hinter die Sträucher. Hoffentlich hörte Quaer auf seinen älteren Kameraden.

»Sicher ist sicher. Sonst kann besorgen ich uns vielleicht einen leckeren Braten.«

Lothiel war verzweifelt. Sie musste fliehen. Doch die Furcht hielt sie am Boden. Der Krieger schien sich nicht schlüssig zu sein, wo genau das Geräusch hergekommen war. Er ging einige Schritte in den Wald hinein und blieb dann stehen, um erneut zu lauschen und zu spähen. Er war nun weiter von Lothiel entfernt als zuvor.

Vielleicht sieht er mich nicht und geht zurück.

Zitternd beobachtete sie den Mann. Dann erschrak sie.

Drugons Stimme erklang in ihrem Rücken.

»Es war ein Tier bestimmt.«

Er musste seinen Platz verlassen und hinter ihr in den Wald geschlichen sein.

»Hier ist nichts jedenfalls.«

Jetzt war es zur Flucht zu spät. Drugon ging auf Quaer zu. Dabei musste er unweigerlich an Lothiels Versteck vorbeikommen. Sie griff nach ihrem Bogen. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Es gelang ihr nicht, einen Pfeil auf die Sehne zu legen. Ihre Finger wollten sich nicht beruhigen lassen. Drugon war nur noch wenige Schritte entfernt. Gleich musste er sie sehen.

Konzentrier dich!

Endlich! Sie hob den Bogen. Das Zittern übertrug sich auf die Pfeilspitze. Noch einmal befahl sie sich Ruhe. Durch das dicke Lederwams würde sie mit ihrer kleinen Jagdwaffe nicht dringen können. Sie zielte auf sein Auge, wurde ganz ruhig, als ziele sie auf ein Eichhörnchen in den Bäumen hinter ihrem Hof.

Er sieht Meister Cennan wirklich sehr ähnlich.

Sie sah den überraschten Blick, den er ihr zuwarf. Ein Augenblick der Verwirrung. Dann ließ sie die bis zum Zerreißen gespannte Sehne los. Wie aus weiter Ferne hörte sie den Schmerzensschrei, als sich das schlanke Geschoss durch den Augapfel bohrte. Schon hatte sie einen zweiten Pfeil eingelegt und sich zu Quaer umgedreht.

Jetzt erst fand sie sein Blick. Erschrecken sprach aus seinen Augen, als die Sehne sirrte. Auch er schrie. Konnte sie jetzt fliehen? Nein, die Schreie blieben nicht ungehört. Da kam Wraca gelaufen. Er brüllte den Schlafenden an, er solle aufwachen, doch er wartete nicht auf ihn. Ein Fehler. Er bot ihr die Zeit, noch zweimal ruhig zu zielen. Das Leder der Maske konnte dem Pfeil nicht widerstehen, dem vierten Mann stand noch der Schlaf in den Augen.

 

Noch während sie den Weg zurücklief, verstummten die Schreie. Sie war außer Atem, als sie Carroch erreichte, und lehnte sich einen Moment an den Körper des Pferdes. Dann erbrach sie sich.

 

Die Tränen trockneten schnell im Wind, als Lothiel auf der Oststraße gen Westen preschte. Doch die Leere blieb.

Sie schaute nicht nach dem Fluss, als sie die Brücke über einen Nebenarm des Bhal passierte. Sie blickte nicht in die Gesichter derer, denen sie begegnete. Immer rief sie die gleiche Warnung: »Bringt Euch in Sicherheit! Schützt Euch! Laindor wird mit Krieg und Tod überzogen! Der Feind steht schon in Iden!«

Sie wusste nicht, ob ihre Worte die Menschen mehr erschreckten als ihr Anblick. Die Leute starrten sie oft schon verängstigt an, bevor sie ihre Botschaft hinausgeschrien hatte. Ihr war es gleichgültig. Niemand schien an der Nachricht zu zweifeln. Mehr interessierte Lothiel nicht.

Sie hielt sich nicht auf, ließ die Leute mit der Warnung allein. Denn sie war auch allein, in einer Welt, die sie nicht mehr verstand.

Erst am Abend fand sie ihre Tränen wieder und weinte sich in den Schlaf. Die erste Nacht ohne Träume.

 

Der nächste Tag brachte wenig Veränderung. Die Oststraße verließ die Wälder und stieg jetzt steiler an, strebte dem niedrigen Massiv der Smahiberge entgegen. Das Gebirge war kein großes Hindernis. Die Straße suchte sich einen leichten Weg hinauf. Die Nacht verbrachte Lothiel in einer kleinen Höhle und machte sich am nächsten Morgen an den Abstieg. Als sie die Berge hinter sich gelassen hatte, nahm der Verkehr zu und immer öfter durchquerte die Oststraße kleinere und größere Dörfer. Aber auch als Lothiel gegen Abend das kleine Enteri erreichte, verbreitete sie nur ihre Kunde und verließ die Stadt wieder. Sie wollte auch diese Nacht nicht unter Menschen verbringen.

 

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