MEIN HERZ IST KEIN WACHOLDERHARZ
1. JOHN
John klopft mit dem Wanderstab kräftig gegen den Boden, um Schlangen zu verscheuchen, und fragt sich, ob es auf dieser Erde noch Menschen gibt. Es ist schon mehrere Tage her, dass der Russe und er in einer Berghütte saßen und zusahen, wie abseits- und runterwärts der Wind riesige Regenfetzen über das Tal trieb. Auf der anderen Seite des Tunnels war alles so anders, als hätten sie mehrere Tausende Kilometer hinter sich gelassen. Sie nahmen einen Pfad nach oben zu einem Pass, wie ihnen die Sprachkundigen geraten hatten. Dort war die Berghütte, und unter ihr die Gipfel der Nadelhölzer. Als der Russe eingenickt war, verließ John die Hütte und nahm einen verwachsenen Pfad den Berg hinunter. Seitdem geht er einfach nach Norden und ist von der immer gleichen Taiga umgeben. Der Wald beginnt zu läuten und nach Parfum zu riechen, und John vermutet, er habe Hungervisionen. Er bleibt stehen und nimmt ein anderes Klopfen gegen den Boden wahr. Während er sich überlegt, ob er sich lieber hinter einer Zirbe verstecken sollte, erscheint ein graubärtiger Mann mit dem Stock in der Hand und einem Sack über der Schulter. Am Stockknauf baumeln kleine Glöckchen. John lächelt sein offenes Lächeln, nickt und wartet, welche Sprache der Mann sprechen wird.
»Guten Tag«, sagt der parfümierte bärtige Mann auf Russisch, vorsichtig und argwöhnisch.
»Guten Tag«, sagt John herzlich und aufgeschlossen und lächelt sein Lächeln weiter, »ich bin ein Journalist aus Moskau, ich habe mich verirrt und meine Leute verloren, wir drehen einen Film über die Taiga. Wie weit ist es noch bis zur nächsten Siedlung?«
»Du hast Glück, dass du mich triffst, hier sind wahnsinnige Tiere in der Gegend. Wenn du dich nicht parfümierst, werden sie dich zerreißen. Im letzten Jahr geisterte hier ein verrückter Menschenfresser-Tiger. Ich sammle übrigens seltene Kräuter, das kann für euren Film interessant sein.« John bekommt vom Kräutersammler ein flaches Fläschchen, in dem er einen Flakon »Krasnaja Moskwa« erkennt: »Rotes Moskau«, ein Parfum, das er (auf Marinas Rat) immer für seine Mutter aus Russland mitgebracht hat.
2. DER SCHAMANE
Er erinnert sich noch an die Geschichten, die seiner Abgrenzung von der übrigen Welt vorangegangen sind, bringt sie aber immer weniger in Verbindung mit sich. Man nennt das Schamanenkrankheit. Schamanenruf, so kann es auch heißen. Je nachdem. Je nachdem, wie man solche Dinge bewertet.
Na gut. Iwan kam damals zu seinem Großvater:
»Hast du mich gerufen?«
»Nein. Die Unsrigen, die schon. Aber nicht direkt ich.«
»Die Unseren?«, sagte er, um etwas zu sagen, ihm war nicht ganz geheuer.
»Mein Vater war ein Schamane. Sein Vater war ein Schamane. Die Mutter seines Vaters war eine Schamanin. Das ist eine lange Reihe, die ich aufzählen müsste, bis wir den ersten Schamanen unseres Geschlechtes begrüßen würden. Das ist noch zu früh für dich. Seine Begrüßung ist so eine Sache. Wie du heute bist, würdest du sie nicht überleben.«
»Und mein Vater?« Iwan fragte, und sein Bauch meldete ein Luftlochgefühl. Sein Vater war ein in der Sowjetunion preisgekrönter Dichter, einer von denen, die als poetische Zunge ihrer kleinen Völker gefeiert wurden. Iwans Sprache sprachen weniger als zweitausend Menschen, nach der letzten Volkszählung waren es 1354 Köpfe. Iwan wurde nicht mitgezählt, er gab Russisch als seine Muttersprache an. Jetzt, im Haus seines Großvaters, schämte er sich dafür. Aber was war falsch daran? Er wurde in Moskau von einer russischen Frau geboren, sagte er sich, aber dem Schamanengewissen war das egal. Sein Vater hat seine Mutter früh verlassen, sagte er sich, aber dem Schamanengewissen war auch das egal. Er sprach die Sprache seiner Mutter besser als die Sprache seines Vaters. Aber auch das zählte nicht für sein Gewissen, das sich aber dankenswerterweise nicht besonders laut meldete. Sein Vater war großartig. Großzügig. Als Kind hatte Iwan Spielzeug, von dem die anderen nicht einmal träumten. Später kamen Klamotten aus dem Westen, Whisky, Marlboro, noch später nahm ihn sein Vater »zu den Mädchen« mit, das hieß, in ein illegales Bordell, das auf einer Datscha für sowjetische Alphatiere betrieben wurde. »Die Mädchen« waren sportlich und frech. Als die Sowjetunion plötzlich nicht mehr da war und sich niemand mehr für die poetischen Stimmen der 1354-Köpfe-Völker interessierte, bekam sein Vater Heimweh und suchte seine ferne Heimat auf, die durch das privatisierte Öl reich geworden war. In der Nacht strahlte die Hauptstadt der kleinen Republik so viele und so helle Lichter in den Himmel, dass mancher in den dunklen Wolken verirrte Engel, der eigentlich nach Las Vegas wollte, in die Taiga gelockt wurde. Iwans Vater erklärte sich zum geistigen Führer seines Volkes, wurde zu einem Bühnen-Schamanen und trat mit einer riesigen Schellentrommel aus Bärenfell auf. Er gastierte in der ganzen Gegend und wurde von Ölmagnaten und ihren Frauen bewundert und gut bezahlt.
Der Großvater sagte: »Dieses Arschloch. Der Dieb. Quacksalber.«
Am Anfang seiner literarischen Karriere bediente sich Iwans Vater der geheimen Texte seines Volkes, der Sagen, der Lieder, der Heilsprüche, der Bannformeln, der Beschwörungen. Schon in seinen Nacherzählungen waren sie verblasst und aller beseelenden Zusammenhänge bar. Sein erstes Buch erschien in seiner Heimat in einer Auflage von 2708 Exemplaren, und bald darauf erschien es in russischer Übersetzung. Denn selbst die kleinsten Völker der Sowjetunion sollten ihre Sprache erhalten, wofür jedes einen Nationaldichter zu haben hatte und, damit alle Völker brüderlich miteinander verbunden waren, alle Nationaldichter ins Russische übersetzt werden mussten. Die Übersetzer dichteten zu gestohlenen Kultbruchstücken ihre Albernheiten dazu, es wurden mehrere Tausende Bücher gedruckt und in die Regale der Buchhandlungen und Büchereien gesteckt. Als das erste Buch des damals jungen Vaters von Iwan erschien, kehrten die Bienen nicht mehr aus der Taiga zurück. Die Zeitungen meldeten ihr rätselhaftes Verschwinden, die Biologen waren ratlos, und Iwans Großvater wusste, dass die Bannsprüche, deren Ruf die Bienen zurücklockte, durch Missbrauch entkräftet worden waren. Er verließ seinen Stamm und ging in die Taiga, um nach Bienen und Bannsprüchen zu suchen. Es war eine große Wanderung, bis zum Ozean. Er stand am Wasser und sprach: Biene, komm zurück. Der Wald kicherte. Der Ozean raschelte. Er sprach: Biene, ich weiß, dass du keine Biene bist. Der Wald schwieg. Der Ozean raschelte leiser. Er sprach: Biene, du bist ein kleiner Stern, dein Bienenkorb ist ein kleiner Himmel. Der Wald begann zu brummen. Der Ozean begann seine Wellen zu erheben. Ich habe den Schlüssel zu deinen Wegen. Ich sperre deine Wege zum Himmel auf. Komm zurück. Ich sperre deine Wege zu und werfe den Schlüssel in den Ozean. Er ging, ohne auf eine Reaktion des Ozeans zu warten. Als er wieder daheim war, waren die Bienen da.
Er musste auch andere Schäden beheben, die sein Sohn verursacht hatte. Danach schrieb er ihm, dass er sich nicht mehr in der Heimat blicken zu lassen brauche, dass die Tür des Geburtshauses für den Verräter verschlossen sei. Heute führte der Großvater einen verzweifelten Kampf gegen das Oberhaupt der autonomen Republik, das sein Haus (gegen ordentliche Bezahlung) enteignen und darin das Museum des Nationaldichters einrichten, also dem Verräter die Tür seines Geburtshauses mit Gewalt öffnen wollte. Iwan erfuhr all das erst hier, nachdem er Großvaters Ruf gefolgt war und von ihm in die Lehre genommen wurde. Auch als falscher Schamane verursachte Iwans Vater viel Durcheinander. Wenn er auf der Bühne für gute Ernte sang und tanzte, wuchs das Unkraut besonders üppig, und der Großvater schickte Iwan an einen geheimen Ort, an dem die Geister ihr Ohr für die Menschen offen hielten, um die falsch ausgesprochenen Beschwörungen zu korrigieren.
Das letzte, was der Nationaldichter vor dem Zusammenbruch der gewohnten Ordnung für seinen Sohn beschaffte, war ein Studienplatz im Literaturinstitut. Aber auch diese Traumlaufbahn bedeutete nichts mehr. Die beschworene Freiheit von den Kommunisten kam zu völlig unvorbereiteten Menschen. Alles war erlaubt, nichts war etwas wert (außer Geld). Iwan bekam Geld vom Vater, soff, begann im Funk zu arbeiten, dann fürs Fernsehen, reiste viel und war im Großen und Ganzen zufrieden.
Bis der Ruf kam. Und Iwan zu seinem Großvater fuhr und fragte: »Hast du mich gerufen?«
Es dauerte nicht lange, bis ihm das Leben in Moskau unwirklich vorkam, als hätte er nur davon gelesen. Er hörte auch auf zu verstehen, warum er seinen Vater immer so bewundert hatte. Der Vater wurde zu einem Scheinglied in der Ahnenkette.
Manchmal sah er in einer Talkshow jemanden, mit dem er im Literaturinstitut studiert hatte. Oder sah in einer Zeitung ein Foto, auf dem er seine alten Bekannten erkannte, die auf einem verschneiten Moskauer Boulevard standen und bunte Spruchbänder hielten. Er wusste zwar noch, wer sie waren, aber sie lebten in einer Welt, die zu einer Parallelwelt geworden war. Nur einer seiner alten Freunde, Mischa Bison, ein Althippie und streunender Philosoph, kam gelegentlich hierher und schickte ab und zu die anderen, die herumzogen, ohne Rast und ohne Ziel, und einen echten Schamanen sehen wollten. (»Was?«, sagten sie zu einander, »Iwan Semjonow? Schamane? Irre!«) Als er John sah, hielt er ihn für einen von denen und fragte ihn, ob er von Mischa Bison käme.
Er saß in seiner »Schamanenresidenz«, einem geräumigen Holzhaus mit Lehmboden, das etwas entfernt vom Dorf stand. Über den Boden war trockenes Gras geworfen, kleine Fenster waren gegen die Mücken mit Mull überzogen, überall standen Regale mit seinem Schamanenzeug. Er dachte gerade über seinen echten Namen nach, den ihm Großvater versprochen hatte bald zu verraten (»Iwan! Dass ich nicht lache!«, sagte der Großvater, er sagte aber auch, dass die Zeit, ihm seinen echten Namen zu verraten, noch nicht gekommen sei), als der Kräutersammler in Begleitung von John auftauchte. John erinnerte sich an Mischa Bison, den er auf seinen früheren leichtsinnigen Autostoppreisen durch die sich auflösende Sowjetunion öfter getroffen hatte, und sagte, ja, er käme von ihm. Der Schamane nahm den Sack mit den Kräutern, bedankte sich bei dem parfümierten bärtigen Sammler und lud John zum Mittagessen ein. Das übliche Gespräch begann: Kennst du Ljuba Tornado? Hast du gehört, dass Katja Känguru einen Ami geheiratet hat? Echt? Stark! Wassja Sputnik ist gestorben. Was?!
Die Unterhaltung wurde immer wieder von Dorfbewohnern unterbrochen, die mit ihren kleinen und großen seelischen und körperlichen Schmerzen kamen, von denen sie in ihrer tanzenden Sprache erzählten: schnelle schnalzende Laute oder gedehnte pfeifende Töne. Manche waren Russen aus der benachbarten Stadt und sprachen laut, langsam und in vereinfachten Sätzen, weil sie meinten, der Schamane würde sie sonst nicht verstehen (obwohl er viel gepflegteres Russisch sprach als sie. Oder gerade deswegen: sein Moskauer Russisch klang in ihren Ohren gestellt und gezwungen). Jedes Mal schwieg der Schamane eine Weile, bevor er antwortete: In der Vollmondnacht im Froschteich baden und gleich danach diese Tinktur trinken / Eine Gabe zum heiligen Baum bringen / Wacholderbeerschnaps mit Asche des Wacholderholzes mischen, dazu dieses Pulver tun und drei Mal am Tag einen Esslöffel nehmen. Sie stellten die mitgebrachten Gaben auf einen großen hölzernen Tisch (Geld, Brot, Wollsocken, Stutenmilchschnaps), verbeugten sich und gingen.
Eine russische Frau mit einem gleichgültigen Gesicht, dem das Leiden alles, was ausdrucksvoll sein könnte, genommen hatte, wollte nur eines wissen:
»Sag mir, warum ich so viel ertragen muss? Ich will nur das wissen. Warum?«
»Gut, wenn du das unbedingt wissen willst, ich werde es dir sagen. Aber du darfst es nicht weiter erzählen. Du musst schweigen. Kannst du das? Schwörst du, dass du schweigen wirst?«
»Ich schwöre.«
»Gut. Es gibt sieben Dimensionen, in denen wir leben. Sie sind miteinander verbunden, wenn auch für das Bewusstsein undurchdringlich.
Du sitzt jetzt vor mir in der dritten Dimension.
In der ersten Dimension bist du Königin, eine schlechte Königin, die schlecht regiert, die gierig und grausam ist.
In der zweiten Dimension bist du Gefängnisaufseherin. Du machst nichts, was besonders grausam wäre, aber manchmal verpasst du die Gelegenheit, eines Menschen Not zu mildern.
In der dritten Dimension, in der du und ich nun sprechen, musst du die ersten zwei büßen. Das ist, weil die anderen vier ausgesprochen wichtig sind.
In der vierten bist du Gärtnerin.
In der fünften bist du Sängerin.
In der sechsten bist du Tänzerin.
Und was in der siebenten passiert, das kann sogar ich dir nicht sagen. Die aber ist die allerwichtigste. Ihretwegen müssen wir in den anderen Dimensionen alles ertragen.«
Die Frau hatte am Ende dieser Rede ihren längst verlorenen Gesichtsausdruck zurückerlangt, der sich als ernst und mild erwies. Sie stellte ihre Gabe vor den Schamanen, dankte, verbeugte sich und ging lautlos und nachdenklich davon.
»Sag mal, ist das dein Ernst?«, sagte John, der weniger von dem eben Gehörten verblüfft war, als wegen der Metamorphose im Gesicht der Frau.
»Ach wo, natürlich nicht. Was weiß ich von diesen Dimensionen. Aber sie brauchen das. Diese Frau hat es tatsächlich hart. Ich werde es dir nicht erzählen, es ist sinnlos, die Menschen mit den Leiden anderer Menschen zu beladen. Mitleid- und Empathiekapazitäten sind nicht unbegrenzt, du wirst deine noch brauchen. Der Frau ist nicht zu helfen. Ich gebe ihr nur Kraft, das auszuhalten. Sie muss durch. Wer weiß. Wie ein besoffener Amerikaner sagte: Schlechtes Karma verursacht notwendigerweise gutes Karma.«
John erkannte ein Kerouac-Zitat und sagte: »Fluch nicht so viel und komm mit, bald sitzen wir schön auf einem flachen Hügel.«
Der Schamane sah ihn mit staunender Anerkennung an.
In der Nacht tranken sie Stutenmilchschnaps, und der Schamane erzählte John von einem Plan des Schamanenbundes und der anderen Mitglieder der weltweiten Vereinigung für spirituelle Angelegenheiten. Sie entwickelten ein unaufdringliches Transportmittel zur Verminderung der allgemeinen Hassgefühle: ein als modisches Training getarnter Aufruf zur Nächstenliebe. Er zeigte verschiedene Ratgeber über Nächstenakzeptanz und einen Flyer, der für das Training warb, und erzählte, dass Menschen dieses Angebot mit Dankbarkeit und großer Bereitschaft annehmen und teures Geld dafür zahlen.
3. JEDER MENSCH IST EINE ART MEMORY STICK
Es gab keinen Empfang für Mobiltelefone. Seit Anfang der Woche schon, sagte der Schamane. »Aber warte, es wird schon, man muss Geduld haben. In der Taiga begreift man, was Geduld ist und wozu sie gut ist. Es hilft dir hier diese blöde Auffassung nicht, dass jede Minute ausgebeutet werden muss, dass sie wie die allerletzte gelebt werden muss. Versuch es mit dem Gegenteil: so zu leben, als würdest du ewig leben. Entspann dich. Weißt du, wie die Alten sagten? Was davor war, ist nicht mehr da. Was kommt, ist noch nicht da. Nur das zählt, was jetzt ist. So sagt übrigens auch mein Großvater. Und was ist jetzt? Du siehst vor dir den größten Wald der Welt. Enjoy it. Du wirst nicht zu spät kommen. Niemand kommt zu spät. Wenn schon, dann zu früh.«
»Wenn schon«, sagte John.
»Wenn schon. Jeder Mensch ist eine Art Memory Stick, er sammelt Information, die nach seinem Ableben in den Hauptspeicher kommt. Frag mich nicht, wozu, das weiß ich nicht. Niemand weiß, was genau das bedeutet. Mit jeder Entdeckung der Wissenschaft wird das nur noch rätselhafter. Aber glaub mir, es geht um die Qualität dieser Information, je entspannter du sie sammelst, desto klarer wird sie dann sein. Im Dorf steht auch ein Telefon, aber Kinder haben den Hörer abgerissen und in den Froschteich geworfen. Gehen wir ins Dorf, vielleicht waren die aus der Stadt schon da und haben einen neuen Hörer montiert. Ich werde dich meinem Großvater vorstellen. Und dir meine Kinder und meine Frau zeigen.«
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Der Großvater sagte John, er solle seine Spiele lieber sein lassen:
»Wenn du willst, dass wir dir helfen, sag uns, was du brauchst und wer du bist.«
Ein Memory Stick, wollte John sagen. Was tue ich jetzt, Colonel? Er fragte, wie weit entfernt die Stadt sei. Was er wissen wollte – aber er wusste nicht, wie er fragen sollte –, war: Wo befindet sich das nächste amerikanische Konsulat?
Der Großvater schwieg. Iwan auch. Ok, Colonel, manchmal ist die Wahrheit das Beste:
»Ich muss von hier weg. Ich bin Amerikaner, habe mich verirrt, und alle meine Papiere sind weg. Ich brauche ein Konsulat der USA.«
Der Großvater schwieg. Iwan sagte:
»Wieso hast du mir das nicht gleich gesagt? Ich habe dich wie der letzte Idiot für einen von uns gehalten!«
»Bin ich auch. Habe ich etwa gesagt, dass ich kein Amerikaner bin? Ich habe gesagt, dass ich Mischa Bison kenne. Den habe ich gekannt, schon als du noch ein Dreikäsehoch warst. Und ich habe übrigens gesagt, dass ich John heiße!« John wusste, dass das gemogelt war, die Namen in diesem Kreis von Mischa Bison waren oft etwa »Jimmy« oder »Harry« oder »Andy«. Oder »John«.
Der Großvater schwieg. Iwan sagte:
»Und was hast du hier verloren, in der Taiga?«
»Nichts, wie alle, die hierher kommen. Ich wollte den größten Wald der Welt erleben.«
Der Großvater sagte: »Hilf ihm. Ich weiß zwar immer noch nicht, was er hier tut, aber er ist in Ordnung. Bring ihn in die Stadt. Du musst jetzt sowieso in die Kraftstelle, es regnet in der benachbarten Republik ununterbrochen, sie haben Hochwasser und ein paar Dörfer sind schon dahin. Ich glaube, dein Vater hat bei seinem Zirkus wieder mal um Regen gebeten. Der Narr glaubt, unsere Geister müssen nun nach seinem Willen tanzen!«
4. MEIN HERZ IST KEIN WACHOLDERHARZ
»Halt!«, sagte der Schamane, «es gibt wieder Empfang! Du kannst es versuchen«, und gab John sein Taschentelefon. John wählte. Er sagte »Natascha«. Er schwieg. Er sagte: »Natascha, es tut mir so leid, ich konnte mich nicht früher melden, was für eine schreckliche Nachricht, ich wusste das, ich hab davon geträumt, Natascha, wie geht es dir, ich bin bald in Petersburg, so schnell wie möglich, in ein paar Tagen, hoffe ich.« Er klappte das schamanische Taschentelefon zu und nahm aus den schamanischen Händen eine Schüssel mit bitterem Sud.
In der Morgendämmerung ging John aus der Schamanenhütte in die nach Zirbelharz riechende Trübe und sang:
Fällt die Abendsonne ins Nachtgewässer,
kannst du nichts dafür.
Verlässt dein Freund die Welt,
kannst du nichts dafür.
Das Herz meines Bruders fiel ins Nachtgewässer,
ein Wurm kroch heraus aus seinem Herzen.
Niemanden kannst du an die Welt anketten.
Das Herz meines Bruders wird ein Würmernest,
aber auch mein Herz ist kein Wacholderharz.
Wenn die Morgensonne den Nachttau verlässt,
kannst du nichts dafür.
Du kannst einen, der geboren wurde,
nicht ungeboren machen.
Hätte die Sonne den Morgentau nicht verlassen,
hätte sie nicht ins Gewässer der Nacht fallen müssen.
Mein Herz ist auch kein Wacholderharz.
Was übel riechen kann, ist kein Wacholderharz.
Das Leben ist kein Wacholderharz.
In meinem Herzen schweigt deine Seele.
Für sie spinnt mein Herz das seidene Blut.
Mein Herz ist kein Wacholderharz,
aber ein Seidenspinner.
Als du, mein Bruder,
der du jetzt in meinem Herzen schweigst,
im Sterben lagst,
trank ich Maulbeerwein in der klaren Gebirgsnacht.
Als du, mein Freund,
der du jetzt in meinem Herzen schweigst,
im Sterben lagst,
war ich bei einer Frau
mit kalten Fingernägeln und warmen Fingerkuppen
und zeugte ein Kind.
Mein Himmelsfasan mit Sternen-Augen,
picke die Würmer aus dem Herzen meines Bruders.
Mein roter Spielzeugdampfer,
bring die Seele meines Freundes sicher in mein Herz.
Mein zufälliger Weggefährte, mein Bruder,
gib mir deinen teerigen Schamanentrank wieder.
Der Schamane folgte John. Die Strophen von Johns Klagelied waren nur die Blüten der Schamanenkräuter. Sonst wäre er stumm vor Schmerz gewesen und sein Schmerz blütenlos: Ohne Schamanenkräuter hätte er gewusst, dass sein Klagelied nie so vollkommen hätte werden können, wie Fjodors Klagelied für ihn gewesen wäre. Er ging und sang den ganzen Tag und die ganze Nacht. Und trank den teerigen Trank wieder und wieder.
Nachdem das Lied gesungen war, sah John den Schamanen, der neben ihm schritt, und hörte ihn sagen: »Ich muss sowieso in die Stadt, zur Post, zur Apotheke und noch was vom Supermarkt holen. Ich zeige dir, wo dein Konsulat ist.« Und sie gingen weiter.
»Bruder«, sagte John, »was kann ich für deine Leute tun? Und für die Frau mit den sieben Dimensionen? Ich habe etwas Geld übrig«, sagte John und trank die Reste des Stutenmilchschnapses, die der Schamane brüderlich mit ihm teilte.
Der Schamane nahm das Geld und saß am Abend in einem der teuersten Etablissements dieser Stadt, die groß genug war, um ein amerikanisches Konsulat, Niederlassungen einiger westeuropäischer und fernöstlicher Unternehmen und eben ein Etablissement mit 500 Weinsorten im Keller zu haben, bis es kein Geld mehr gab, nur, was er von Anfang an dabei hatte, für die Post, die Apotheke und ein paar Einkäufe. Denn er glaubte nicht an Geld.
Danach ging er in den nahen Wald und schlief einen tiefen Schamanenschlaf unter einer geheimen Schamanenzirbe. Er träumte vom Wasser, von einem raschen Guss, er träumte, wie das Flussbecken anschwoll, wie sich ein riesiges Tal mit Wasser füllte.
Er wachte auf und zwang sich wieder zum Schlafen. Er träumte, wie sein Vater vom Wasser weglief und den hundert Flüssen, die auf ihn einstürzten, zurief: »Stehe! Stehe! Wehe! Wehe!«, und wie sein Vater ihm zurief: »Herr und Meister! Hör mich rufen!«
Er wachte auf, und es war ihm peinlich, dass ihn der eigene Vater »Herr und Meister« nannte, wenn auch nur im Traum. Er sagte: »Seid’s gewesen.«
Erst dann ging er wieder in die Stadt, um die Post abzuschicken, Medizin und noch ein paar Dinge im Supermarkt zu kaufen und das Internet für die nächsten drei Monate zu bezahlen. Als er zu seinem Stamm zurückkam, war der Großvater zufrieden: das Hochwasser in der benachbarten Republik war zurückgegangen.
5. ENDE
Im Konsulat bekam John den Pass, aus dem man ersehen konnte, dass er vor einem Monat ganz normal eingereist war, und ein Flugticket nach Hause. »Nein«, sagte er, »ich muss noch nach St. Petersburg. Ein Freund von mir ist gestorben. Ich muss seine Witwe besuchen. Sein Grab sehen.« Aha, dachte der Konsul, das ist noch eine Legende, er darf uns natürlich nichts verraten, und je weniger wir wissen, desto besser ist es für uns alle, und sie gaben John ein anderes Ticket und andere Papiere. Im Flughafen sah John den alt gewordenen Major, der den auch nicht jünger gewordenen John zum Glück nicht erkannte.
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