FRIEND, POETRY, WINE

Ich bin der Gärtner, doch ich bin auch die Blume,

mir ist nicht einsam im Verlies der Welt.

(Ossip Mandelstam)

1.

Unten im Tal: Ein Wasserfall wird zu einem Bergbach. Steine zeigen ihre Rücken. Wüsste man nicht, dass das Wasser ist, was sich bewegt, könnte man die Steine für Fische halten. Frauen knien auf dem Geröll, beugen sich zum schnellen Wasser und schwenken die Wäsche aus. Das eisige Bergwasser wäre nicht auszuhalten, aber die Wäschestücke zappeln in runden Weidenkörben, die Vogelbauern ähneln. Die Frauen halten bloß die Ringe oben an den Körben. Die Kiefern hier unten können endlich den Stamm aufrichten und die Zweige ausbreiten.

Oben, fast schon im Himmel: Kiefern knien auf den Felsen. Katzenähnlich stemmen sie sich mit ihren Tatzen gegen den Stein und blicken nach unten, wo die Frauen vor dem Bach knien.

In der Mitte: Eine natürliche Terrasse bildet einen ins Tal geöffneten Klosterhof. Hier hockt ein Mönch vor einer katzengroßen Zirbelkiefer, die auf einem steinernen Tisch steht und sich raubtierhaft nach unten beugt, zu einem im Staub badenden Schmetterling.

Der Mönch schaut nach oben, zu einer Felsenkiefer, die, nach unten gekrümmt, eine Wiederholung des Klostergarten-Bäumchens ist, oder wiederum von ihm wiederholt wird. Nur einen Zweig muss man bei der kleinen entfernen, der eine falsche Richtung genommen hat. Der Mönch richtet sich auf und geht eine Säge holen, die geschrumpfte Variante einer Säge, nicht größer als eine Katzenpfote. Unterwegs bleibt er bei einem Ahorn stehen. Etwas stört den kleinen luftigen Kosmos seiner Krone. Der Mönch hockt sich vor ihn hin, um die gestörte Ordnung zwischen den Ästen auf Augenhöhe betrachten zu können.

Der Mönch ist alt. Er weiß nicht, wann er alt geworden ist. Seine Augenschärfe ist ihm erhalten geblieben, er glaubt das dem Rhythmus der Äste zu verdanken, der Gewohnheit, das Große im Kleinen und das Kleine im Großen zu sehen. Er kennt in seinem Hof jede Staude, jede Rispe, sogar die Grasgrannen. Auch jeden Kiesstein um den Teich in der Mitte des Klosterhofs, so dass er immer weiß, welcher Stein sich gleich als eine kleine Schildkröte erweisen wird. Er weiß, dass es eine Zeit gegeben hat, in der er sich diese Einzelheiten nicht merken konnte, nicht einmal von ihnen wusste, aber er kann sich diese Zeit nicht vorstellen. Nicht mehr.

Sein Liebling: eine Lärche. Ein zwar mit einer nervösen Biegung, aber sonst unbeirrt emporstrebender Stamm, nur drei Seitenäste oben, die sich zu wundern scheinen, dass sie noch da sind. Einsam und sonst schwer zu bestimmen: standhaft? gelassen? konzentriert?

Blick nach oben: Eine Lärche wird von einem Felsen über die übrige Landschaft erhoben. Winterstürme haben sie zu einem Asketen gemacht, nur drei Äste oben. In jedem Baum lebt ein Wind, denkt der Mönch, in den drei Ästen der Lärchen lebt ein gelassener Dreiwind: da oben ein großer Dreiwind; hier unten sein kleiner Bruder.

2.

Da kamen sie – vier Mann, laut, lachend, kein Wind, nur seit langem still stehender Weindunst in den Köpfen. Der Geruch betrunkener Männer war hier so unpassend, dass er lachte. Er war nicht sonderlich stark, wenngleich ihm übernatürliche Kampffähigkeiten nachgesagt wurden. Von den Bauern unten. Von den Bäumen oben. Er hatte nie Angst. Wem käme in den Sinn, diesen Ort zu schänden? Und nun –

Die vier lachenden Männer beachteten den Mönch nicht. Der eine drohte plötzlich dem anderen mit einem Messer, das größer war als die Astsäge des Mönches. Der andere griff mit seiner breiten Hand den Lärchenstamm. Zusammen mit dem kantigen Topf wurde der Baum zu einer Art Morgenstern. Der Vierte stand schon in der Tür des Tempels. Der Mönch dachte mit unangenehmer Unruhe, die eigentlich zu gemächlich für die Geschwindigkeit des Geschehens war, an den goldenen Drachen. Der Dritte schrie: »Hol den goldenen Drachen, von dem uns die Bauern erzählt haben, schnell!«

Er blickte schräg nach oben zu den Felsenkiefern. Er schaute seine Katzenkiefer an. Im Himmel kreiste ein Bussard. Im Staub der Schmetterling. Unten im Tal hopsten die Steinrücken im Bach, hier schien eine Quelle, die vom Felsen herunterfiel, zu erstarren. Eine Eidechse hätte ihn ablenken können, weil sie kein Gegenstück in der Umgebung hatte, nur den unsichtbaren Himmelsdrachen, der den Vorgang im Hof nicht ohne Interesse beobachtete. Der Mönch beachtete beide nicht, er wusste ohnehin, dass sich jedes Wesen auf einer Leiter befindet, auf der oben und unten seine kleinen und großen Ebenbilder sind.

Grüße dich, Tod, ich bin bereit, dachte er, ich habe keine Angst. Er hatte in der Tat keine. Nur die Glieder seines Körpers schickten einander panische Signale.

Der Erste begann über die Dreiastwaffe des Zweiten zu lachen. Der Zweite begriff die Komik und lachte mit. Der Dritte in der Türöffnung gab dem Vierten zu verstehen, dass er den Mönch wegschaffen musste.

Er schaute die vier Männer an und sah sie klein, als wären da vier übermütige dreijährige Kinder. Er merkte sich jedes Glied, jede Bewegung, jedes Härchen an jedem der vier. Es kostete ihn keine Mühe, sie am Arm, am Kragen, am Fuß, am Gürtel zu packen und zurück zum Wald hinter dem Tempel zu bringen. Als wären sie in der Tat dreijährige Kinder.

Was die vier plötzlich nüchtern gewordenen Männer verspürten, war schlimmer als Angst. Teile ihrer Körper schickten einander panische Signale: Den erstbesten Weg nehmen. Den dunklen Bergwald hinter sich zuschnüren!

3.

Der dritte Räuber hatte keine Lust mehr, den Seinigen zu folgen. Als er im Wegrennen zurückblickte, sah er, wie der Mönch immer kleiner wurde, bis er weniger Platz einnahm als sein kleinster Baum. Der dritte Räuber blickte noch einmal zurück, um sich zu vergewissern. Der Mönch war verschwunden. Das kann nicht sein, dachte der dritte Räuber und ging weiter, gegen den Zwang, zum Klosterhof zurückzukehren. Er stellte sich vor, wie wohltuend das sein müsste, einfach zu verschwinden. Wie der Mönch es getan hatte. Ob er das in der Tat getan hatte? Wir werden sehn, wir werden sehn, dachte er und nahm einen Seitenpfad. Er horchte. Ein Frosch. Ein Pirol. Kein Geräusch, das mit menschlichem Tun hätte verbunden werden können, war zu vernehmen.

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Die anderen drei: Wo ist der Blöde, wo ist er? Hat der Scheißmönch ihn totgeschlagen? Verwundet? Sollen wir zurück? In ihren Augen kreiselten immer noch Ehrfurcht, Staunen und Fluchtwunsch. Sie wagten nicht einmal zurückzublicken, um zu prüfen, ob der dunkle Bergwald hinter ihnen gut zugeschnürt war. Sie gingen mit schlechtem Gewissen weiter. Na gut, der war sowieso blöd. Ein reiner Idiot. Ein blöder Tor.

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Der Räuber: Völlige Leere, keine Seele, wenn man Tiere und Pflanzen nicht dazu zählt. Sollte man aber, dachte er und war selbst überrascht. Von allen Pflanzen und Tieren, dachte er, ist ein Mensch einem Bonsai am nächsten: ein Wesen zwischen Kunst und Natur, es wird als ein Wilder unbestimmter Bestimmung geboren und muss zu einem Menschen erst gepflegt werden. Von nun an werde ich mich selber gestalten, dachte der Räuber, ich werde zu diesem verschwundenen Mönch, nur so werde ich eines Tages einfach verschwinden können, wie er. Am Ende werde ich zu einem Bonsai womöglich, wie wahrscheinlich der Mönch es geworden ist. Aber zu welchem?

Eine Quelle erinnerte ihn daran, dass es warm und schwül war. Er kniete nieder und stellte sich während der Bewegung die angenehme Kälte vor. Einem in der feuchten Luft verschwitzten Menschen scheint das kalte Wasser nicht nur kühl, sondern dazu noch trocken zu sein. Das Wasser war aber warm und salzig, wie der Tee der Hirten, nur ohne das Fett, das die Hirten in ihren gesalzenen Tee tun.

4.

Am siebenten Tag der Betrachtung des Gartens und des Trinkens des warmen Wassers wurde er hungrig. Er betrat die Hütte neben dem Tempel. Zwischen dem Tempel und der Hütte sah er seinen Schrei in der Luft: »Nimm den goldenen Drachen, schnell!« Komisch, was soll das?, dachte er. Er brachte etwas Wasser zum Kochen und sah die zappeligen Dampfgeister über dem Topf. Er blickte hinauf: Der Nebel umhüllte den Wipfel: Mull um einen verwundeten Kopf. Er ging noch einmal zur Quelle und benetzte den Verband auf seiner Stirn, um das getrocknete Blut einzuweichen und den Stoff zu lösen. Das war nicht nötig. Die Wundkruste fühlte sich fest an und tat nicht weh. Am Stoff des Verbandes war kein Eiter mehr zu sehen. Er unterdrückte das Verlangen nach Abkratzen der Kruste und kam zurück. In der Hütte fand er einen Sack Reis und röstete eine Handvoll Reiskörner in Baumwollöl. Die Körner wurden hagelglasig. Er warf ein paar Safranfäden ins kochende Wasser und goss das Wasser auf den gerösteten Reis, der mit Tanz und Prasseln über der Wasseroberfläche reagierte. Es war kälter geworden im Laufe dieser sieben Tage. Er sah die Schwaden aus der Quelle aufsteigen. Der Himmel verfinsterte sich abrupt. Es begann zu hageln und zu blitzen.

Er hörte, wie sich seine Gedanken dachten, laut und langsam. Blitz. Hagel. Blitz. Reis. Blitz. Kochdampf. Blitz. Der Nebel auf dem Berg. Blitz. Die Sonne wieder. Blitz. Die Stille.

Er wusste endlich, welcher Zweig der Föhre zu entfernen war. Er hockte sich nieder, um das zu überprüfen. Stimmt, eilt aber nicht. Er pflückte etwas zum Reis passendes Kraut. Der Reis war gar. Er aß langsam ein halbes Schälchen, nach sieben Tagen Fasten durfte es nicht mehr sein. Er war glücklich.

Er wusste, dass das Glücksgefühl ein Unglücksgefühl verursachen würde. Dass das Glücksgefühl die Stille zerstörte, die ihn gerade umhüllte. Er betrat die Hütte und nahm eine geeignete Säge.

5.

Als die Bauern, die ihm gegen Heilkräuter Reis, Tee, Maulbeerwein und Öl brachten, zum ersten Mal kamen, überfiel ihn eine fröhliche Redseligkeit. Er erzählte ihnen von den Bäumen seines Gartens, von den jadegrünen Eidechsen, die immer in den Tempel wollten, zum goldenen Drachen, von den Nachtgeräuschen des Waldes, die er noch nicht alle entziffern konnte. Sie schauten ihn misstrauisch an. Er zwang sich zu schweigen. Seitdem sprachen nur die Bauern, wenn sie kamen. Sie baten um Regen. Sie schimpften auf die Soldaten, die ihnen alles wegnahmen. Sie wollten, dass er ihnen auf kleine Holzkugeln glückbringende Zeichen zeichnete.

Als er nun die Schritte hörte, nahm er zwei Körbe voll Kräuter und kam aus der Hütte. Aber das waren keine Bauern.

6.

John: »Hi, where am I?« John lächelte ein offenes Lächeln, das ihm schon immer geholfen hatte, wo auch immer er es lächelte. (Dein amerikanisches Lächeln!, sagten Fjodor und Marina und meinten damit, man ließe jemanden ruhig fallen und lächle so ein ehrliches Lächeln. Nein, das ist nicht wahr, versteht ihr, wollte er ein inneres Gespräch mit den beiden anfangen, aber er musste dabei bleiben, an diesem Ort, bei diesem Mönch oder wem auch immer.)

Räuber/Mönch: Hi (vor langer, langer Zeit, weit unten, am Marktplatz eines Städtchens, hatte er ein paar Wörter in dieser Sprache zusammengebracht). »Welcome!«

Während der Mönch den Reis kochte, dachte John, dass es nicht schwer sein dürfte, bei diesem Mönch die beiden Dinge herauszufinden, die er dringend wissen musste: 1. welches Land das überhaupt war, 2. wo das nächste amerikanische Konsulat sein mochte.

7.

Im Hof, unterm Mond, bei Maulbeerwein und Schokolade (diese aus Johns Notration) hatte der Mönch (Räuber) keine Lust, die wenigen ihm bekannten Wörter der Sprache des Gastes zusammenzukratzen. Er sprach einfach.

Er sprach, dass diese violette Luft und dieser goldene Wein mit einem Freund zu teilen wären, dessen klarer Verstand und leichter Geist die Bedeutung der Berglandschaft erkennen könnten, des Lichtes, das im Teich auf den Kräuselwellen zuckte, der gespreizten Föhrennadeln im Himmel. Mit dem man Gedichte austauschen könnte. Aber was willst du tun – der vorige Mönch war zu einem Bonsai geworden, unwiderruflich. Der Gast spricht kein Wort der hier gängigen Sprachen. Er hatte einst drei Freunde, aber sie zählen nicht.

John hörte ihm aufmerksam zu, der milde Klang der fremden Sprache schien ihm vertraut zu sein. Er antwortete, dass er hier sitze und nicht wisse, was mit seinem Freund, dem Dichter in einer Dichterstadt, gerade geschehe, der sterbe wahrscheinlich, und er, John, der hier sitzt, müsste jetzt eigentlich dort sein; dass er, John, der hier sitzt, jetzt eigentlich mit seinem Freund dessen letzten Wein trinken müsste, sein Gehen begleiten.

Der Mönch hörte ihm aufmerksam zu. Einige Wörter, die er erkennen konnte – friend, poetry, wine – ließen ihn denken, sein Gast hätte ihn verstanden. Nach dem dritten (dem besten, nach dem eine längere Trinkpause angesagt ist, denn es versetzt einen Trinkenden in den Zustand der Vollkommenheit) Glas Wein sprach er davon, dass er zu einem Dichter geworden war und nicht zu einem Mönch, wie es wahrscheinlich vorgesehen gewesen war, wie die Bauern im Tal und die Hirten in den Bergen meinten.

Und John sprach nach seinem dritten Glas Wein davon, dass er manchmal zum Sterben bereit sei, von der Todesangst befreit. Manchmal aber nicht.

Als es zu tagen begann und die Weinkanne sich leerte, ging John in den krausen Bergnebel.

Im Gehen sah er noch die Lärche. Den einsamen Stamm mit einem kleinen Dreiwind im Kopf. Das ist der Mensch der Zukunft, dachte John: Die Menschen werden wieder zu mächtig. Sie werden nach noch mehr streben. Sie werden nicht mehr zum Olymp kugeln wollen, sie können ja nicht mehr kugeln mit ihren nur zwei Beinen und zwei Armen. Sie werden an ihren Geräten sitzen und stehen, die immer ausgeklügelter sein werden. Und eines Tages werden die Götter denken: Wenn es so weiter geht, werden sie so mächtig wie wir. Brauchen wir das? Nein! Und sie werden die Menschen wieder halbieren. Es entstehen Monomenschen: Auf einem Bein, zyklopisch, einarmig, mit Halbmündern, mit Blumentrichterohren, die mit ihrer Größe ihre Einsamkeit kompensieren werden. Sie werden langsam schwanken: an, vor, zwischen und mitten in ihren Geräten, von ihnen bedient und regiert. Das langsam schwankende denkende Rohr. Also aus der Sicht der ursprünglichen Kugelmenschen: entviert. Gevierteilt. Sehnsüchtig nach ihren drei Vierteln suchend. Halbierte Geschlechtsorgane mit falschen Hälften vereinend. Sich mit einer anderen aus zwei falschen Vierteln falsch vereinten Hälfte falsch liieren. Das dachte John noch, bevor er in den krausen Bergnebel ging.

John: »Bye!«

Der Mönch: »Bye!«