Kapitel 11
»Du bist der erste Junge, der mich geküßt hat«, sagte sie zu mir.
Es war kurz vor Silvester. Jamie und ich standen an dem eisernen Landungssteg in Pine Knoll Shores. Um dorthin zu gelangen, mußte man die Brücke über den Intracoastal Waterway überqueren und ein Stück über die Insel fahren. Heutzutage findet man dort die teuersten Immobilien mit Meeresblick im ganzen Staat, aber damals waren es hauptsächlich Sanddünen, die sich an den Maritime National Forest schmiegten.
»Das habe ich mir schon gedacht«, entgegnete ich.
»Warum?« fragte sie unschuldig. »Habe ich etwas falsch gemacht?«
Sie sah nicht so aus, als würde es sie sehr treffen, wenn ich ja gesagt hätte, aber das hätte gar nicht der Wahrheit entsprochen.
»Du küßt richtig gut«, sagte ich und drückte ihr die Hand.
Sie nickte und sah auf das Meer. Ihre Augen drifteten wieder in die Ferne. In letzter Zeit hatten sie oft diesen Ausdruck. Ich wartete eine Weile, dann hielt ich das Schweigen nicht länger aus.
»Ist etwas nicht in Ordnung, Jamie?« fragte ich schließlich.
Statt mir zu antworten, wechselte sie das Thema.
»Warst du schon mal verliebt?« wollte sie wissen.
Ich fuhr mir mit der Hand durch das Haar und sah sie bedeutungsvoll an. »Meinst du, vor diesem Mal?«
Ich sagte es in bester James-Dean-Manier, auf Erics Rat hin, der meinte, diese Art käme gut an, wenn ein Mädchen einem diese Frage stellte. Eric kannte sich bei Mädchen aus.
»Ich meine es ernst, Landon«, sagte sie mit einem Seitenblick.
Vermutlich hatte Jamie diese Filme auch gesehen. Wenn ich mit Jamie zusammen war, das merkte ich allmählich, wechselte meine Stimmung von zu Tode betrübt zu himmelhochjauchzend, und zwar schneller, als man eine Mücke erschlagen konnte. Ich war mir nicht sicher, ob mir dieser Aspekt unserer Beziehung gefiel, obwohl er andererseits etwas sehr Belebendes hatte. Ich hatte mich noch nicht ganz gefangen, als ich über ihre Frage nachdachte.
»Doch, ich war schon einmal verliebt«, gab ich schließlich zu.
Ihr Blick war immer noch auf das Meer gerichtet. Vermutlich dachte sie, ich spräche von Angela, aber rückblickend stellte ich fest, daß das, was ich für Angela empfunden hatte, ganz anders war als die Gefühle, die ich jetzt hatte.
»Woher wußtest du, daß es Verliebtsein war?«
Als ich so neben ihr stand und sah, wie der Wind mit ihrem Haar spielte, wußte ich, daß dies nicht der Zeitpunkt war, ihr etwas vorzumachen.
»Also«, sagte ich ernsthaft, »man weiß, daß es Verliebtsein ist, wenn man die ganze Zeit mit dem anderen zusammen sein will und wenn man irgendwie merkt, daß es für den anderen genauso ist.«
Jamie dachte über die Antwort nach, dann lächelte sie leicht.
»Ach so«, sagte sie leise. Ich wartete darauf, daß sie weitersprach, aber sie sagte nichts mehr, und da begriff ich noch etwas.
Jamie hatte vielleicht keine Erfahrungen mit Jungen, aber ehrlich gesagt, sie wußte genau, wie sie unseresgleichen in den Griff bekam.
Zum Beispiel trug sie die Haare an den nächsten zwei Tagen wieder in einem Knoten.
Am Silvesterabend lud ich Jamie zum Essen ein. Es war ihre erste richtige Einladung. Wir gingen in ein kleines Restaurant direkt am Strand von Morehead City, das Flauvin's heißt. Flauvin's gehörte zu den Restaurants, in denen die Tische weiß gedeckt sind, Kerzen auf den Tischen stehen und um jedes Gedeck fünf verschiedene silberne Besteckstücke liegen. Die Kellner waren in Schwarz und Weiß gekleidet, wie Butler, und wenn man aus den großen Panoramafenstern guckte, die über die ganze Front gingen, dann sah man, wie sich das Mondlicht auf der leicht gekräuselten Wasseroberfläche brach.
Es gab einen Klavierspieler und sogar einen Sänger, zwar nicht jeden Abend, auch nicht jedes Wochenende, aber an Festtagen, wenn man damit rechnete, daß das Lokal voll werden würde. Ich mußte einen Tisch reservieren. Als ich anrief, sagten sie mir, daß sie ausgebucht seien, doch als meine Mom für mich noch einmal anrief, war gerade etwas frei geworden. Vielleicht wollte der Besitzer es sich nicht mit meinem Vater verscherzen, weil er vorhatte, ihn um einen Gefallen zu bitten, oder er wollte ihn nicht verärgern, weil er wußte, daß mein Großvater noch lebte.
Mom hatte übrigens die Idee gehabt, daß ich Jamie in ein besonderes Lokal ausführe. Ein paar Tage zuvor, an einem von denen, als Jamie ihr Haar zum Knoten hochgesteckt hatte, sprach ich mit meiner Mom über das, was ich gerade erlebte.
»Ich denke nur an sie, Mom«, gestand ich. »Also, ich weiß, daß sie mich mag, aber ich weiß nicht, ob sie meine Gefühle erwidert.«
»Ist sie dir so wichtig?« fragte Mom.
»Ja«, sagte ich einfach nur.
»Und, was hast du bisher probiert?«
»Wie meinst du das?«
Mom lächelte. »Ich meine, daß junge Mädchen, auch Jamie, gern spüren möchten, daß sie etwas Besonderes sind.«
Verwirrt dachte ich einen Moment darüber nach. Versuchte ich nicht die ganze Zeit, ihr dieses Gefühl zu geben?
»Na ja, ich bin jeden Tag bei ihr gewesen«, sagte ich. Meine Mom legte mir die Hand aufs Knie. Auch wenn sie keine gute Hausfrau war und mich manchmal ein bißchen aufzog, so war sie doch ein sehr einfühlsamer Mensch.
»Wenn du sie besuchst, so ist das zwar ganz nett, aber nicht besonders romantisch. Du könntest etwas tun, womit du ihr deutlich zeigst, was für Gefühle du für sie hast.«
Dann schlug sie vor, daß ich Jamie ein Fläschchen Parfüm schenken könnte. Obwohl ich dachte, daß Jamie sich vielleicht über das Geschenk freuen würde, klang es irgendwie nicht passend. Und da Hegbert ihr nicht erlaubte, Makeup aufzulegen außer bei der Aufführung zu Weihnachten -, war ich mir sicher, daß sie auch kein Parfüm tragen durfte. Das erklärte ich meiner Mom, und darauf schlug sie vor, Jamie zum Essen auszuführen.
»Ich habe kein Geld mehr«, bekannte ich niedergeschlagen. Obwohl meine Familie reich war und ich ein großzügiges Taschengeld bekam, kriegte ich nicht einfach einen Nachschlag, wenn ich es zu schnell ausgegeben hatte. »So lernt man Verantwortung«, hatte mir mein Vater einmal erklärt.
»Was ist mit deinem Sparkonto?«
Ich seufzte. Dann hörte meine Mom mir still zu, während ich es ihr erklärte. Am Schluß machte sie ein zufriedenes Gesicht, als wäre auch ihr klargeworden, daß ich endlich erwachsen wurde.
»Dann überlaß mir das«, sagte sie leise. »Finde du heraus, ob sie dazu Lust hat und ob Pfarrer Sullivan es erlauben würde. Wenn sie darf, dann wird es schon einen Weg geben, das verspreche ich dir.«
Am Tag darauf ging ich zur Kirche. Ich wußte, daß Hegbert dort in seinem Büro sein würde. Ich hatte Jamie noch nicht gefragt, weil ich annahm, daß sie Hegberts Erlaubnis brauchte, und aus irgendeinem Grunde wollte ich derjenige sein, der ihn fragte. Vermutlich lag das daran, daß Hegbert mich nicht gerade mit offenen Armen empfing, wenn ich vorbeikam. Immer, wenn er mich den Weg entlangkommen sah - er hatte wie Jamie einen siebten Sinn dafür, wann das war -, lugte er durch den Spalt am Vorhang und zog dann schnell den Kopf zurück, weil er dachte, ich hätte ihn nicht gesehen. Wenn ich klopfte, verging eine ganze Weile, bevor er die Tür aufmachte, als wäre er aus der Küche gekommen. Dann sah er mich lange an, seufzte tief und schüttelte den Kopf, bevor er endlich hallo sagte.
Die Tür zu seinem Büro stand einen Spalt offen, so daß ich ihn, die Brille auf der Nase, an seinem Tisch sitzen sehen konnte. Die Papiere vor ihm auf dem Tisch sahen aus, als hätten sie mit Zahlen zu tun - vielleicht stellte er das Budget für das kommende Jahr auf. Auch Pfarrer mußten Rechnungen bezahlen.
Ich klopfte. Er sah interessiert auf, als hätte er ein anderes Mitglied aus der Gemeinde erwartet, und runzelte die Stirn, als er mich erkannte.
»Hallo, Pfarrer Sullivan«, sagte ich höflich, »haben Sie einen Moment Zeit?«
Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Er sah noch erschöpfter aus als sonst, so daß ich annahm, daß es ihm nicht besonders gut ging.
»Hallo, Landon«, begrüßte er mich müde.
Ich hatte mich für den Besuch ganz förmlich gekleidet, mit Krawatte und Jackett. »Darf ich hereinkommen?«
Er nickte leicht, ich trat ein, und er zeigte auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.
»Was kann ich für dich tun?« fragte er.
Ich setzte mich nervös auf meinem Stuhl zurecht. »Also, Sir, ich wollte etwas mit Ihnen besprechen.«
Er sah mich lange prüfend an, bevor er fragte: »Hat es mit Jamie zu tun?« fragte er.
Ich holte tief Luft.
»Ja, Sir. Ich wollte fragen, ob ich sie am Silvesterabend zum Essen ausführen dürfte.«
Er seufzte. »Ist das alles?« wollte er wissen.
»Ja, Sir«, antwortete ich. »Und ich bringe sie nach Hause - Sie brauchen nur die Zeit zu sagen.«
Er nahm die Brille ab und putzte sie mit dem Taschentuch, dann setzte er sie wieder auf. Ich sah, daß er über mein Ansinnen nachdachte.
»Werden deine Eltern auch dabeisein?« fragte er.
»Nein, Sir.«
»Dann glaube ich nicht, daß es geht. Aber danke, daß du erst zu mir gekommen bist.«
Er sah wieder auf seine Papiere, was ein deutliches Zeichen dafür war, daß ich gehen sollte. Ich stand auf und ging zur Tür. Als ich gerade das Büro verlassen wollte, drehte ich mich noch einmal zu ihm um.
»Pfarrer Sullivan?«
Er sah auf, überrascht, daß ich noch da war.
»Es tut mir leid, daß ich mich so schlecht benommen habe, als ich noch jünger war, und es tut mir auch leid, daß ich mich Jamie gegenüber nicht immer so verhalten habe, wie sie es verdient hätte. Aber von jetzt ab wird das anders sein. Das verspreche ich Ihnen.«
Er schien durch mich hindurchzusehen. Es reichte nicht.
»Ich liebe sie«, sagte ich schließlich, und in dem Moment richtete sich seine Konzentration wieder auf mich.
»Das weiß ich«, erwiderte er traurig, »aber ich möchte nicht, daß sie leidet.«
Wahrscheinlich bildete ich es mir ein, aber es sah so aus, als würden seine Augen feucht.
»Ich würde ihr nicht weh tun«, sagte ich.
Er wandte sich ab und sah aus dem Fenster, wo die Wintersonne durch die Wolken zu dringen versuchte. Es war ein grauer Tag, kalt und bitter.
»Bring sie um zehn nach Hause«, sagte er schließlich in einem Ton, als wüßte er, daß er die falsche Entscheidung getroffen hatte.
Ich lächelte und wollte mich bedanken, ließ es aber. Ich sah, daß er allein sein wollte. Als ich über die Schulter zurückblickte, sah ich überrascht, daß er das Gesicht in die Hände gestützt hatte.
Ungefähr eine Stunde später war ich bei Jamie und fragte sie. Zuerst sagte sie, sie könne wahrscheinlich nicht gehen, aber als ich ihr sagte, daß ich schon mit ihrem Vater gesprochen hätte, schien sie überrascht.
Danach hatte sie, glaube ich, ein anderes Bild von mir. Ich erzählte ihr allerdings nicht, daß es, als ich sein Büro verließ, so ausgesehen hatte, als weinte Hegbert. Nicht nur war ich mir nicht ganz sicher, ich wollte auch nicht, daß sie sich Sorgen machte. Als ich abends noch einmal mit meiner Mom sprach, gab sie eine mögliche Erklärung, die ehrlich gesagt ziemlich plausibel klang. Hegbert muß zu der Erkenntnis gekommen sein, daß seine Tochter erwachsen wurde und er sie langsam verlieren würde. Insgeheim hoffte ich, daß das stimmte.
Ich holte Jamie pünktlich ab. Obwohl ich sie nicht darum gebeten hatte, ihr Haar offen zu tragen, tat sie es für mich. Schweigend fuhren wir über die Brücke zum Wasser und zum Restaurant. Als wir das Lokal betraten, kam der Besitzer selbst und führte uns an unseren Tisch. Es war einer der besseren Tische in dem Restaurant.
Als wir kamen, waren die meisten Tische schon besetzt. Es herrschte eine fröhliche Stimmung, und da es Silvester war, trugen die meisten Gäste feine Abendkleidung. Wir waren die einzigen Teenager im Restaurant, aber ich fand nicht, daß wir unpassend wirkten.
Jamie war noch nie bei Flauvin's gewesen, so daß sie ein paar Minuten brauchte, um sich umzusehen. Sie schien ein bißchen nervös, aber glücklich, und ich wußte, daß der Vorschlag meiner Mutter richtig gewesen war.
»Es ist wunderbar hier«, sagte sie. »Danke, daß du mich eingeladen hast.«
»Das Vergnügen ist ganz meinerseits«, antwortete ich aufrichtig.
»Warst du schon mal hier?«
»Schon öfter. Meine Eltern gehen hier gern essen, wenn mein Vater mal eine Weile zu Hause ist.«
Sie sah aus dem Fenster, wo ein Schiff hell erleuchtet vorbeifuhr. Einen Moment lang schien sie wie versunken vor Staunen. »Es ist so schön hier«, sagte sie.
»Du bist auch schön«, gab ich zurück.
Jamie errötete. »Das meinst du nicht ehrlich.«
»O doch«, sagte ich, »das meine ich ehrlich.«
Wir hielten uns an den Händen, während wir auf das Essen warteten, und sprachen über die Dinge, die in den letzten Monaten passiert waren. Sie lachte, als ich ihr von dem Schulball erzählte und den wahren Grund gestand, warum ich sie eingeladen hatte. Sie nahm es gutmütig hin. Wahrscheinlich hatte sie mich ohnehin schon durchschaut gehabt.
»Würdest du mich beim nächsten Mal wieder einladen?«
neckte sie mich.
»Unbedingt.«
Das Essen - wir hatten beide Seebarsch und Salat bestellt - war köstlich. Als der Kellner danach die Teller abräumte, fing gerade die Musik an. Wir hatten noch Zeit, bevor ich sie nach Hause bringen mußte, also forderte ich sie auf.
Am Anfang waren wir die einzigen, und alle sahen uns zu, während wir über das Parkett glitten. Ich glaube, die Älteren wußten, daß wir verliebt waren, und fühlten sich an die Zeit erinnert, als sie selbst jung waren. Hier und da sah ich ein Lächeln. Das Licht im Raum war gedämpft, und als der Sänger eine romantische Melodie anstimmte, zog ich Jamie näher an mich heran und schloß die Augen. Hatte es je einen vollkommeneren Moment in meinem Leben gegeben?
Ich war verliebt, ein Gefühl, das noch wunderbarer war, als ich es mir je vorgestellt hatte.
Nach Neujahr verbrachten wir die nächsten anderthalb Wochen zusammen und taten das, was junge Paare damals so taten, obwohl Jamie von Zeit zu Zeit müde und schlapp schien. Wir gingen zum Neuse River und vergnügten uns damit, Steine ins Wasser zu werfen und die Wellen zu beobachten, während wir uns unterhielten, oder wir gingen zum Strand in der Nähe von Fort Macon. Obwohl es Winter war und der Fluß die Farbe von Eisen hatte, machte es uns beiden Spaß. Nach einer Stunde bat Jamie mich meist, sie nach Hause zu bringen. Auf der Rückfahrt hielten wir im Auto Händchen. Manchmal war es, als würde sie einnicken, bevor wir zurück waren, dann wieder redete sie unentwegt, so daß ich nicht zu Wort kam.
Natürlich taten wir auch die Dinge, die ihr wichtig waren. Zwar begleitete ich sie nicht in ihren Bibelkurs - ich wollte mich vor ihr nicht blamieren -, aber wir fuhren zweimal ins Waisenhaus, und jedesmal fühlte ich mich dort mehr dazugehörig. Einmal mußten wir allerdings früher als geplant aufbrechen, weil Jamie erhöhte Temperatur hatte. Selbst mein ungeübtes Auge erkannte, daß ihr Kopf glühte.
Wir küßten uns auch, aber nicht jedesmal, wenn wir zusammen waren, und ich dachte überhaupt nicht daran, den zweiten Schritt zu wagen. Es war nicht nötig. Wenn wir uns küßten, war das schön, es fühlte sich zärtlich und richtig an, und das war genug. Je öfter ich sie küßte, desto klarer wurde mir, daß Jamie ihr Leben lang mißverstanden worden war, nicht nur von mir, sondern von allen anderen auch.
Jamie war nicht nur die Pfarrerstochter, die die Bibel las und anderen Menschen nach Kräften half. Jamie war gleichzeitig auch ein siebzehnjähriges Mädchen mit den gleichen Hoffnungen und Zweifeln, die auch mich bewegten. Zumindest nahm ich das an, bis sie mir endlich ihr Geheimnis verriet.
Ich werde den Tag nie vergessen, denn sie war ganz still gewesen. Die ganze Zeit hatte ich das komische Gefühl, daß ihr etwas Wichtiges auf der Seele lag.
Am Samstag, bevor die Schule wieder anfing, brachte ich sie von Cecil's Diner nach Hause. Es ging ein böiger, schneidender Wind, der seit dem Morgen davor aus Nordost wehte. Wir mußten uns eng umschlungen halten, um warm zu bleiben. Jamie hatte sich bei mir untergehakt, während wir langsam, noch langsamer als sonst, gingen. Ich merkte, daß ihr nicht gut war. Sie hatte wegen des Wetters nicht mit mir kommen wollen, aber ich hatte sie eindringlich gebeten, weil ich nämlich beschlossen hatte - daran erinnere ich mich -, daß meine Freunde von uns erfahren sollten. Bedauerlicherweise war jedoch keiner von ihnen bei Cecil's. Wie in vielen Gemeinden an der Küste war das Strandleben im Winter sehr ruhig.
Jamie sprach nicht. Ich wußte, daß sie darüber nachdachte, wie sie mir das, was ihr auf dem Herzen lag, beibringen sollte. Ihre Gesprächseröffnung, als sie dann kam, war überraschend.
»Die anderen denken, ich bin komisch, stimmt's?« sagte sie schließlich und durchbrach das Schweigen.
»Welche anderen?« fragte ich, obwohl ich die Antwort wußte.
»Die anderen in der Schule.«
»Das stimmt nicht«, log ich.
Ich küßte sie auf die Wange und drückte ihren Arm etwas fester an mich. Als sie zusammenzuckte, merkte ich, daß ich ihr weh getan hatte.
»Alles in Ordnung?« fragte ich besorgt.
»Alles in Ordnung«, sagte sie, faßte sich und griff das Thema wieder auf. »Kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Was immer du willst«, erwiderte ich.
»Kannst du mir versprechen, von jetzt ab immer die Wahrheit zu sagen? Ich meine, immer?«
»Na klar«, sagte ich.
Sie hielt mich plötzlich fest und sah mich an. »Lügst du jetzt im Moment?«
»Nein«, sagte ich abwehrend. Ich hatte keine Ahnung, wohin das Gespräch führen würde. »Ich verspreche, daß ich von jetzt an immer die Wahrheit sagen werde.«
Ich wußte in dem Moment schon, daß ich es später bereuen würde.
Wir gingen weiter. Als ich ihre Hand in meiner betrachtete, fiel mir ein großer blauer Fleck unterhalb ihres Ringfingers auf. Ich hatte keine Ahnung, woher der kam, denn tags zuvor war er nicht dagewesen. Einen Moment dachte ich, ich hätte ihn ihr zugefügt, aber dann wurde mir bewußt, daß ich sie da gar nicht berührt hatte.
»Die anderen finden mich komisch, stimmt's?« fing sie wieder an.
Mein Atem ging hastig.
»Ja«, antwortete ich schließlich. Es tat mir weh, das auszusprechen.
»Warum?«
Sie sah mich fast verzagt an.
Ich dachte nach. »Aus verschiedenen Gründen«, sagte ich ausweichend und wollte es dabei belassen.
»Aber warum genau? Ist es wegen meines Vaters? Oder weil ich versuche, nett zu den Menschen zu sein?«
Ich wollte dieses Gespräch nicht führen.
»Wahrscheinlich«, war alles, was ich zustande brachte. Mir war ein wenig schwindlig.
Jamie schien enttäuscht, als wir schweigend weitergingen.
»Findest du mich auch komisch?« fragte sie mich.
So wie sie es sagte, tat es mir noch mehr weh, als ich mir vorgestellt hatte. Wir waren schon fast bei ihrem Haus angekommen, als ich stehenblieb und sie an mich zog. Ich küßte sie. Als wir voneinander abließen, senkte sie den Blick.
Ich legte ihr einen Finger unter das Kinn und hob ihren Kopf, so daß sie mich ansehen mußte. »Du bist ein wunderbarer Mensch, Jamie. Du bist schön, du bist freundlich, du bist zärtlich… du bist alles, was ich gern wäre. Wenn die anderen dich nicht mögen oder dich komisch finden, dann ist das ihr Problem.«
In dem grauen Dämmerlicht des kalten Wintertages konnte ich sehen, wie ihre Unterlippe zu zittern begann. Auch mir war jämmerlich zumute, und mein Herz klopfte laut. Ich sah ihr in die Augen und legte alle meine Gefühle in ein Lächeln. Ich wußte, daß die Worte sich ihren Weg bahnen würden.
»Ich liebe dich, Jamie«, sagte ich zu ihr. »Du bist das Beste, was mir je in meinem Leben passiert ist.«
Es war das erste Mal, daß ich diese Worte zu einem Menschen, der nicht zu meiner Familie gehörte, sagte. Ich hatte gedacht, es würde mir schwerfallen, aber es war ganz leicht. Nie war ich mir einer Sache sicherer gewesen.
Sobald ich die Worte ausgesprochen hatte, ließ Jamie den Kopf sinken und fing an zu weinen. Ich nahm sie in die Arme und wunderte mich, daß sie so traurig war. Sie war dünn; erst jetzt merkte ich, wie zerbrechlich sie eigentlich war. Sie hatte abgenommen, sogar in den letzten anderthalb Wochen. Dann fiel mir ein, daß sie das Essen in Cecil's Diner kaum angerührt hatte. Sie weinte ziemlich lange, so schien mir, an meiner Brust. Ich wußte nicht, was ich denken sollte oder ob sie meine Gefühle teilte. Dennoch tat es mir nicht leid, die Worte ausgesprochen zu haben. Die Wahrheit bleibt die Wahrheit, und ich hatte ihr gerade versprochen, ihr immer die Wahrheit zu sagen.
»Bitte, sag so was nicht«, hörte ich sie, »bitte…«
»Aber wenn es doch stimmt…«, unterbrach ich sie, weil ich dachte, sie glaube mir nicht.
Sie schluchzte nur noch heftiger. »Es tut mir leid«, flüsterte sie zwischen den Schluchzern. »Es tut mir so leid…«
Plötzlich war meine Kehle wie ausgetrocknet.
»Was tut dir leid?« fragte ich. Ich mußte verstehen, was sie bekümmerte. »Hat es mit meinen Freunden zu tun? Was sie sagen werden? Das ist mir alles egal - wirklich.«
Ich versuchte, mich an irgend etwas zu klammern, ich war verwirrt und, ja ich hatte Angst.
Es dauerte eine ganze Weile, bevor sie aufhörte zu weinen, und dann sah sie zu mir auf. Sie küßte mich zärtlich, es war fast wie der Hauch eines vorbeiziehenden Atems, und fuhr mit dem Finger sanft über meine Wange.
»Du darfst nicht in mich verliebt sein, Landon«, sagte sie und sah mich mit rot geschwollenen Augen an. »Wir können Freunde sein, wir können uns treffen…, aber du darfst nicht verliebt in mich sein.«
»Warum denn nicht?« sagte ich heftig. Ich verstand gar nichts mehr.
»Weil ich sehr krank bin, Landon«, erwiderte sie leise. Die Vorstellung war mir so fremd, daß ich nicht begriff, was sie damit sagen wollte.
»Na und? Das geht doch in ein paar Tagen vorbei…«
Ein trauriges Lächeln zog über ihr Gesicht, da verstand ich, was sie mir sagen wollte. Sie sah mir fest in die Augen, als sie die Worte sprach, die meine Seele betäubten.
»Ich muß sterben, Landon.«