Kapitel 2

Nach der High School hatte ich vor, auf der University of North Carolina in Chapel Hill zu studieren. Mein Vater wollte, daß ich nach Harvard oder Princeton ging, wie die Söhne anderer Kongreßabgeordneter, aber bei meinen Noten war das nicht drin. Nicht, daß ich ein schlechter Schüler gewesen wäre, aber ich nahm die Schule nicht besonders ernst, und meine Noten reichten für die Ivy League nicht aus. Als mein letztes Schuljahr anfing, stand es sogar ziemlich auf der Kippe, ob ich überhaupt einen Studienplatz an der UNC bekommen würde, und dabei war das die Alma Mater meines Vaters, wo er also einen gewissen Einfluß geltend machen konnte. Als mein Vater an einem Wochenende zu Hause war, unterbreitete er mir seinen Plan, mich reinzuhieven. Ich hatte gerade die erste Schulwoche nach den Ferien hinter mir. Er war über Labor Day für drei Tage zu Hause, und wir saßen beim Essen.

»Ich finde, du solltest dich für das Amt des Schülersprechers bewerben«, fing er an. »Im Juni bist du mit der Schule fertig, und ich bin der Meinung, daß es sich auf deinem Zeugnis gut machen würde. Deine Mutter ist übrigens derselben Meinung.«

Meine Mutter nickte und kaute ihre Erbsen. Sie sprach nicht viel, wenn mein Vater da war, aber sie zwinkerte mir zu. Ich glaube, manchmal gefiel es meiner Mutter zu sehen, wie ich mich vor Unbehagen wand, obwohl sie sonst so lieb war.

»Ich glaube nicht, daß ich eine Chance habe, die Wahl zu gewinnen«, erwiderte ich hastig. Ich war zwar der reichste Schüler an der Schule, aber keineswegs der beliebteste. Diese Ehre kam Eric Hunter zu, meinem besten Freund. Er konnte einen Baseball mit fast neunzig Stundenkilometern werfen und hatte dem Football-Team als herausragender Quarterback zu wichtigen Siegen verholfen. Er war ein ganzer Kerl. Selbst sein Name klang cool.

»Natürlich kannst du die Wahl gewinnen«, widersprach mir mein Vater. »Wir Carters gewinnen immer.«

Das war ein weiterer Grund, warum es mir nicht paßte, daß mein Vater ab und zu nach Hause kam. Denn wenn er mal da war, wollte er mich offenbar zu einer Miniaturversion von sich selbst formen. Da ich praktisch ohne ihn aufgewachsen war, gefiel mir seine sporadische Anwesenheit überhaupt nicht. Seit Wochen war das unser erstes Gespräch. Er unterhielt sich nicht gern mit mir am Telefon.

»Und wenn ich nicht Schülersprecher werden will?« Mein Vater legte die Gabel hin - auf den Zinken stak noch ein Stück Schweinefleisch. Er sah mich verärgert an, und zwar von oben bis unten. Obwohl es fast dreißig Grad im Haus hatte, trug er einen Anzug, und das schüchterte mich noch mehr ein. Mein Vater trug übrigens immer einen Anzug.

»Ich finde«, sagte er langsam, »daß es eine gute Idee wäre.«

Wenn er in diesem Ton sprach, wußte ich, daß es beschlossene Sache war. So war das in meiner Familie. Das Wort meines Vaters war Gesetz. Aber es blieb dabei: Auch nachdem ich mich bereit erklärt hatte, wollte ich nicht Schülersprecher werden. Ich hatte keine Lust, für den Rest des Schuljahres einmal in der Woche nachmittags nach der Schule - nach der Schule! - auf Schüler-Lehrer-Versammlungen rumzusitzen, um mir ein Motto für den nächsten Schulball auszudenken oder über die Farbe der Luftschlangen zu diskutieren. Mehr taten die Schülervertreter doch nicht, wenigstens nicht zu meiner Zeit. Bei wichtigen Fragen mitentscheiden durften wir Schüler doch sowieso nicht.

Andererseits wußte ich, daß mein Vater recht hatte. Wenn ich zur UNC gehen wollte, mußte ich etwas tun. Ich spielte weder Football noch Baseball, ich spielte kein Instrument, ich war nicht im Schach-Club oder im Bowling-Club oder sonst irgendwo drin. In der Schule war ich auch nicht unbedingt eine Leuchte - ich war in nichts eine Leuchte. Mich verließ der Mut, und ich fing an, mir die Dinge aufzuzählen, die ich gut konnte, aber um ehrlich zu sein, es kam nicht viel dabei heraus. Ich konnte acht verschiedene Seglerknoten, ich konnte barfuß auf kochendheißem Asphalt eine längere Strecke zurücklegen als sonst jemand, ich konnte einen Bleistift dreißig Sekunden lang auf der Fingerspitze balancieren… aber es war klar, daß nichts davon bei einer Bewerbung um einen Studienplatz besonderen Eindruck machen würde. Da war ich also, lag die ganze Nacht wach im Bett und machte mir langsam bewußt, daß ich ein Versager war. Besten Dank, Dad.

Am nächsten Morgen ging ich ins Sekretariat und setzte meinen Namen auf die Kandidatenliste. Zwei andere Schüler bewarben sich mit mir um das Amt - John Foreman und Maggie Brown. John, das war sonnenklar, hatte keine Chance. Er war einer von denen, die einem die Fusseln von den Kleidern zupften, wenn man mit ihnen sprach. Er war zwar ein guter Schüler, aber er saß immer in der ersten Reihe und hob jedesmal, wenn der Lehrer eine Frage stellte, die Hand. Wenn er aufgerufen wurde, gab er fast immer die richtige Antwort und sah sich dann mit einem so selbstgefälligen Ausdruck nach rechts und links um, als hätte er, im Vergleich zu den übrigen Trotteln im Raum, den Beweis seiner intellektuellen Überlegenheit erbracht. Eric und ich beschossen ihn mit Spuckebällchen, wenn der Lehrer gerade nicht guckte.

Bei Maggie Brown standen die Dinge anders. Auch sie war eine gute Schülerin. Sie war schon drei Jahre lang in der Schülervertretung gewesen, und im Jahr zuvor war sie Klassensprecherin der Vorabschlußklasse gewesen. Das, was gegen sie sprach, war die Tatsache, daß sie nicht besonders attraktiv war, und da sie im Sommer noch einmal zehn Kilo zugenommen hatte, war es klar, daß nicht ein einziger Junge für sie stimmen würde.

Nachdem ich wußte, gegen wen ich antrat, rechnete ich mir doch eine Chance aus. Meine ganze Zukunft stand auf dem Spiel, also entwarf ich eine Strategie. Eric war der erste, der mir beipflichtete.

»Klar, ich sorge dafür, daß die Leute im Team dich wählen, gar keine Frage! Wenn du das wirklich willst.«

»Und ihre Freundinnen?« fragte ich.

Das war mehr oder weniger meine Kampagne. Natürlich bin ich auch zu den Diskussionen gegangen und habe Flugblätter verteilt, auf denen stand: »Was ich tun werde, wenn ich Schülersprecher bin«, aber am Ende war es wahrscheinlich Eric Hunter, der mir das gewünschte Ergebnis brachte. Beaufort High School hatte nicht viel mehr als vierhundert Schüler; wenn man also die Sportlerriege hinter sich hatte, war das die halbe Miete, und den meisten von denen war es egal, wen sie wählten. Am Ende ging alles so auf, wie ich es geplant hatte.

Ich wurde mit ziemlich großer Mehrheit zum Schülersprecher gewählt. Natürlich ahnte ich nicht, was ich mir damit eingebrockt hatte.

Als ich noch in der Vorabschlußklasse war, hatte ich eine feste Freundin, Angela Clark. Sie war meine erste richtige Freundin, obwohl das Ganze nur ein paar Monate dauerte. Kurz vor den Sommerferien hatte sie mit mir Schluß gemacht und ging jetzt mit einem gewissen Lew, der schon zwanzig war und in der Werkstatt seines Vaters als Automechaniker arbeitete. Sein wichtigstes Wesensmerkmal war, soweit ich sehen konnte, sein wirklich klasse Auto. Er trug immer ein weißes T-Shirt und hatte sich eine Packung Camel in den Ärmel gesteckt. Dann stand er da, an die Motorhaube seines Thunderbird gelehnt, ließ den Blick schweifen und sagte so was wie:

»He, Schätzchen«, wenn eine Frau vorbeikam. Er war echt der Siegertyp, könnte man sagen.

Also, wie auch immer, es kam die Zeit des Schülerballs, und wegen der Sache mit Angela hatte ich immer noch keine Partnerin. Diejenigen, die in der Schülervertretung waren, mußten zu dem Ball gehen - es war Pflicht, denn wir mußten helfen, die Turnhalle zu schmücken, und am nächsten Tag beim Aufräumen dabeisein -, außerdem machte es normalerweise auch Spaß. Ich rief ein paar Mädchen an, aber sie hatten alle schon einen Partner, also rief ich noch ein paar an. Die hatten auch schon Partner. Eine Woche vor dem Ball war die Auswahl ziemlich mies. Das Angebot beschränkte sich jetzt auf die Mädchen, die dicke Brillen trugen und lispelten. Beaufort hatte sich noch nie seiner Schönheiten rühmen können, aber das kümmerte mich jetzt nicht, ich brauchte eine Ballpartnerin. Ich wollte nicht ohne Partnerin auf dem Ball erscheinen - wie sähe das aus? Ich wäre der einzige Schülersprecher, der je allein bei einem Schulball aufgekreuzt war. Ich wäre dann der, der den ganzen Abend alkoholfreie Bowle ausschenken oder Erbrochenes in den Toiletten aufwischen müßte. Das machten nämlich normalerweise diejenigen, die keinen Partner hatten.

In einem Anfall von Panik nahm ich mir das Jahrbuch vom Jahr davor heraus und blätterte es ganz durch, um zu sehen, wer vielleicht noch solo war. Zuerst guckte ich mir die Seiten der Abschlußklasse an. Die meisten waren inzwischen zwar auf dem College, aber einige waren in der Stadt geblieben. Obwohl ich mir keine großen Chancen ausrechnete, rief ich ein paar von ihnen an, aber natürlich hatte ich keinen Erfolg. Ich konnte kein Mädchen finden, keins, das mit mir gehen würde. Inzwischen nahm ich jede Absage gelassen hin, obwohl das ja nichts ist, womit man vor seinen Enkelkindern angibt, wahrhaftig nicht. Meine Mom wußte, was ich durchmachte, und schließlich kam sie in mein Zimmer und setzte sich neben mich aufs Bett.

»Wenn du niemanden findest, könnte ich mit dir gehen«, bot sie an.

»Danke, Mom«, sagte ich niedergeschlagen.

Als sie wieder gegangen war, fühlte ich mich noch mieser als vorher. Selbst meine Mom dachte, ich würde niemanden finden. Und wenn ich mit ihr als Partnerin ginge? Selbst wenn ich hundert Jahre alt würde, das würde ich nie verwinden.

Es war übrigens noch einer der Jungen in der gleichen Situation wie ich. Carey Dennison war zum Kassenwart gewählt worden, und er hatte auch keine Partnerin. Carey gehörte zu den Leuten, deren Gegenwart man tunlichst mied. Er war nur deswegen gewählt worden, weil kein Gegenkandidat aufgestellt worden war. Selbst so hatte er, glaube ich, kaum genügend Stimmen bekommen. Er spielte die Tuba in der Bläserkapelle und hatte einen ganz unproportionierten Körper, als wäre er mitten in der Pubertät plötzlich nicht mehr weitergewachsen. Er hatte einen dicken Bauch und lange, dünne Arme und Beine. Außerdem sprach er mit hoher, piepsiger Stimme - wahrscheinlich war er deswegen so ein guter Tubaspieler - und hörte nie auf, Fragen zu stellen. Wo warst du am Wochenende? War es gut? Hast du irgendwelche Mädchen kennengelernt? Er wartete nicht einmal die Antwort ab, und wenn er einen ausfragte, lief er ständig hin und her, so daß man ihm mit den Augen hinterherwandern mußte. Er nervte wie kein zweiter, das steht fest. Wenn ich keine Partnerin fand, würde er den ganzen Abend neben mir stehen und mich mit Fragen bombardieren wie ein verrückt gewordener Staatsanwalt.

Ich saß also da und blätterte die Seiten der Vorabschlußklasse um, als ich zu Jamie Sullivans Bild kam. Ich hielt nur einen Moment inne, dann blätterte ich weiter und fluchte schon deshalb, weil mir der Gedanke überhaupt gekommen war. Die nächste Stunde versuchte ich, ein Mädchen zu finden, das halbwegs gut aussah, doch langsam kam ich zu der Erkenntnis, daß sie alle vergeben waren. Schließlich schlug ich noch einmal die Seite mit Jamies Bild auf und sah es mir an. So schlecht sah sie gar nicht aus, sagte ich mir, und sie ist wirklich lieb. Wahrscheinlich würde sie zusagen, dachte ich…

Ich klappte das Buch zu. Jamie Sullivan? Hegberts Tochter? Auf gar keinen Fall. Niemals. Meine Freunde würden mir das Leben zur Hölle machen.

Aber wenn mir sonst nur die Wahl blieb, mit der eigenen Mutter zu gehen oder Erbrochenes aufzuwischen oder, grauenvoller Gedanke, Carey Dennison zu ertragen?

Den Rest des Abends verbrachte ich damit, das Für und Wider meiner ausweglosen Situation abzuwägen. Wirklich wahr, ich habe hin und her überlegt, aber am Ende war klar, was zu tun war, sogar mir. Ich mußte Jamie zu dem Ball einladen, und während ich im Zimmer auf und ab ging, überlegte ich mir, wie ich das am besten anstellte.

In dem Moment kam mir ein furchtbarer Gedanke, wirklich schrecklich. Mir wurde nämlich bewußt, daß Carey Dennison in dem Moment wahrscheinlich genau das gleiche tat wie ich. Er blätterte bestimmt auch das Jahrbuch durch! Er war zwar komisch, aber er wischte auch nicht gern Erbrochenes auf, und wenn man seine Mutter kannte, war einem klar, daß seine Alternative noch schlimmer war als meine. Wenn er jetzt Jamie als erster fragte? Jamie würde ihm keinen Korb geben, und es war nur realistisch anzunehmen, daß sie seine einzige Wahl war. Keiner außer ihr würde sonst mit ihm gesehen werden wollen, tot oder lebendig. Aber Jamie würde jedem helfen - sie war einer von diesen Gleichheitsaposteln. Wahrscheinlich würde sie sich seine mit piepsiger Stimme vorgetragene Bitte anhören, die Güte seines Herzens erkennen und ohne lange zu zögern zusagen.

Da saß ich nun in meinem Zimmer und wurde wild bei dem Gedanken, daß Jamie nicht mit mir zum Ball gehen würde. In der Nacht schlief ich so gut wie überhaupt nicht, was für mich eine besonders seltsame Erfahrung war. Ich glaube nicht, daß sich schon jemals jemand Sorgen darüber gemacht hatte, ob er Jamie zur Partnerin bekam oder nicht. Ich nahm mir vor, sie gleich als erstes zu fragen, solange mein Mut noch vorhielt, aber Jamie war nicht in der Schule. Ich nahm an, daß sie den Vormittag im Waisenhaus von Morehead City verbrachte, wie jeden Monat. Ein paar von uns versuchten ebenfalls, mit dieser Entschuldigung vom Unterricht befreit zu werden, aber Jamie war die einzige, der man das zugestand. Auch der Direktor wußte, daß sie den Waisen vorlas oder mit ihnen bastelte oder spielte. Sie würde sich nicht ein paar schöne Stunden am Strand oder in Cecil's Diner machen. Diese Vorstellung war völlig absurd, auch für den Direktor.

»Hast du eine gefunden?« fragte Eric mich zwischen zwei Schulstunden. Er wußte genau, daß ich noch keine Partnerin hatte, aber obwohl er mein Freund war, machte es ihm Spaß, gelegentlich ein bißchen zu sticheln.

»Noch nicht«, erwiderte ich, »aber ich kümmere mich drum.«

Carey Dennison stand vor seinem Schließfach im Flur. Ich hätte schwören können, daß er mir einen vielsagenden Blick aus seinen Glubschaugen zuwarf, als er sich unbeobachtet fühlte.

So fing der Tag schon an.

In der letzten Schulstunde verstrichen die Minuten schrecklich langsam. Ich hatte es mir so ausgerechnet: Wenn Carey und ich zur selben Zeit aus der Schule kamen, würde ich als erster bei ihrem Haus ankommen, weil er diese schlaksigen Beine hatte und so. Ich bereitete mich also innerlich darauf vor, und als es läutete, rannte ich aus dem Gebäude, und zwar in vollem Galopp. Ich sprintete ungefähr hundert Meter, dann ging mir die Puste aus. Und darauf bekam ich Seitenstechen, so daß ich praktisch nur noch schleichen konnte. Die Stiche taten dermaßen weh, daß ich mich krümmte und mir die Seite hielt. Auf meinem Weg durch die Straßen von Beaufort muß ich ausgesehen haben wie eine asthmatische Ausgabe vom Glöckner von Notre Dame.

Hinter mir glaubte ich Careys piepsiges Gelächter zu hören. Ich drehte mich um und preßte mir die Finger in meine schmerzende Seite, aber ich konnte ihn nicht sehen. Vielleicht nahm er eine Abkürzung durch irgendwelche Gärten! Solche krummen Touren sahen ihm ähnlich, dem Hund. Man konnte ihm nicht eine Minute lang trauen.

Ich stolperte jetzt etwas schneller weiter und kam bald in Jamies Straße. Inzwischen war ich schweißgebadet - mein Hemd klebte mir am Leib -, und ich japste immer noch nach Luft. Immerhin, ich kam an ihrer Tür an, atmete einmal tief durch und klopfte. Obwohl ich mich sagenhaft beeilt hatte, argwöhnte der Teil von mir, der zum Pessimismus neigte, daß Carey mir die Tür öffnen würde. Ich stellte mir sein Siegerlächeln vor und seinen Blick, der sagte: Tut mir leid, Partner, du kommst zu spät.

Aber es war nicht Carey, der aufmachte, es war Jamie, und zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir klar, wie sie aussehen könnte, wenn sie ein normaler Mensch wäre. Sie trug Jeans und eine rote Bluse. Zwar hatte sie ihr Haar immer noch zu einem Knoten aufgesteckt, aber sie sah viel lässiger aus als sonst. Mir dämmerte, daß sie richtig süß aussehen könnte, wenn sie es nur einmal probierte.

»Landon«, rief sie und hielt die Tür auf, »was für eine Überraschung!«

Jamie freute sich immer, einen zu sehen, auch mich, obwohl ich glaube, daß sie mein Aussehen etwas erschreckte. »Bist du gerannt«, fragte sie.

»Eigentlich nicht«, log ich und wischte mir über die Stirn. Zum Glück ließ das Seitenstechen nach.

»Dein Hemd ist richtig durchgeschwitzt.«

»Ach, das«, murmelte ich und sah an mir herab. »Das macht doch nichts. Manchmal schwitze ich einfach sehr viel.«

»Vielleicht solltest du mal zum Arzt gehen.«

»Es ist nichts, wirklich.«

»Ich werde trotzdem für dich beten«, erklärte sie mit einem Lächeln. Jamie betete immer für irgend jemanden, warum sollte ich da nicht mit von der Partie sein?

»Danke«, sagte ich.

Sie senkte den Blick und schien einen Moment lang unruhig. »Ich würde dich ja hereinbitten, aber mein Vater ist nicht da, und er will nicht, daß Jungen ins Haus kommen, wenn er weg ist.«

»Oh«, sagte ich niedergeschlagen, »das macht nichts. Wir können uns ja hier draußen unterhalten.«

Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich lieber im Haus mit ihr gesprochen.

»Möchtest du ein Glas Limonade, während wir uns unterhalten?« fragte sie. »Ich habe gerade welche gemacht.«

»Gern«, sagte ich.

»Ich bin gleich zurück.«

Sie ging ins Haus, ließ aber die Tür offenstehen, so daß ich mich ein bißchen umsehen konnte. Das Haus war klein, aber ordentlich; an einer Wand stand ein Klavier, an der anderen ein Sofa. In der Ecke drehte sich ein kleiner Ventilator. Auf dem Couchtisch lagen Bücher mit Titeln wie »Hör auf Jesus« und »Der Glaube ist die Antwort«. Auch ihre Bibel lag auf dem Tisch. Sie war beim Lukas-Evangelium aufgeschlagen.

Im nächsten Moment kam Jamie mit der Limonade, und wir setzten uns auf zwei Stühle in der Ecke der Veranda. Ich wußte, daß sie und ihr Vater abends dort saßen, weil ich manchmal an dem Haus vorbeikam. Kaum hatten wir uns gesetzt, sah ich, wie Mrs. Hastings, die Nachbarin von der anderen Straßenseite, uns zuwinkte. Jamie winkte zurück, während ich meinen Stuhl so drehte, daß Mrs. Hastings mein Gesicht nicht erkennen konnte. Obwohl ich im Begriff war, Jamie zu dem Ball einzuladen, wollte ich nicht, daß jemand - auch nicht Mrs. Hastings - mich erkannte, für den Fall, daß Jamie schon Careys Einladung angenommen hatte. Mit Jamie zum Ball zu gehen war eine Sache, von ihr wegen eines Typen wie Carey abgewiesen zu werden war eine ganz andere.

»Was machst du da?« fragte Jamie. »Du rückst ja den Stuhl in die Sonne.«

»Ich mag die Sonne«, gab ich zur Antwort. Doch sie hatte recht. Fast auf der Stelle merkte ich, wie die Strahlen durch mein Hemd hindurchbrannten und mir den Schweiß aus den Poren trieben.

»Wenn du meinst«, sagte sie lächelnd. »Und weshalb wolltest du mit mir sprechen?«

Jamie nestelte an ihrem Haar. Soweit ich sehen konnte, war jedes Härchen an Ort und Stelle. Ich atmete tief ein, um mich zu sammeln, aber ich konnte mich nicht dazu durchringen, gleich mit der Sache herauszurücken.

»Du warst also wieder im Waisenhaus heute?« sagte ich statt dessen.

Jamie musterte mich merkwürdig. »Nein. Mein Vater und ich waren beim Arzt.«

»Ist alles in Ordnung mit ihm?« Sie lächelte. »Kerngesund.«

Ich nickte und warf einen Blick über die Straße. Mrs. Hastings war wieder ins Haus gegangen, und ich konnte sonst niemanden entdecken. Die Luft war rein, aber ich war noch nicht soweit.

»Wirklich ein schöner Tag heute«, sagte ich und zögerte den Moment hinaus.

»Ja, finde ich auch.«

»Und warm.«

»Du sitzt ja auch in der Sonne.« Ich sah mich um, der Druck stieg.

»Also, ich glaube, es ist keine einzige Wolke am Himmel.«

Diesmal antwortete Jamie nicht, und wir saßen ein paar Augenblicke schweigend da.

»Landon«, sagte sie schließlich, »du bist nicht hergekommen, um mit mir über das Wetter zu sprechen, oder?«

»Eigentlich nicht.«

»Warum dann?«

Der Moment der Wahrheit war gekommen. Ich räusperte mich.

»Also… ich wollte wissen, ob du zum Schulball gehst.«

»Ach so«, sagte sie. Es klang, als hätte sie gar nicht gewußt, daß es so etwas gab. Ich rutschte unruhig hin und her und wartete auf ihre Antwort.

»Ich hatte eigentlich nicht vor zu gehen«, gestand sie endlich.

»Aber wenn dich jemand einlädt, würdest du vielleicht gehen?«

Sie ließ einen Moment verstreichen, bevor sie antwortete.

»Ich weiß nicht recht«, sagte sie nachdenklich.

»Vielleicht würde ich gehen, wenn sich die Möglichkeit ergäbe. Ich war noch nie bei einem Ball.«

»Es macht Spaß«, sagte ich schnell. »Nicht riesigen Spaß, aber doch Spaß.«

Besonders, wenn man bedachte, was meine Alternativen waren. Das sagte ich aber nicht.

Sie lächelte über meine Redensart. »Ich muß natürlich erst meinen Vater fragen, aber wenn er es mir erlaubt, dann würde ich wohl gehen.«

In dem Baum neben der Veranda fing ein Vogel lauthals zu schimpfen an, als wüßte er, daß ich da nichts zu suchen hatte. Ich konzentrierte mich auf den Lärm und versuchte so, meine Nerven zu beruhigen. Noch vor zwei Tagen wäre mir der Gedanke völlig absurd vorgekommen, aber jetzt war ich da und hörte mich die Zauberworte sprechen:

»Ja, würdest du mit mir zu dem Ball gehen?«

Ich sah, daß die Frage sie überraschte. Ich glaube, sie hatte angenommen, daß meine kleine Vorbereitung bedeutete, jemand anders wolle sie einladen. Manchmal schickten Teenager ihre Freunde aus, um »die Lage zu sondieren«, sozusagen, damit man sich keine Absage einhandelte. Obwohl Jamie nicht so wie andere Teenager war, nahm ich doch an, daß sie mit diesem Vorgehen vertraut war, wenigstens in der Theorie.

Statt jedoch sofort zu antworten, wandte Jamie den Blick für lange Zeit ab. Mein Magen krampfte sich zusammen, weil ich dachte, sie würde nein sagen. Bilder von meiner Mutter, von Erbrochenem und von Carey gingen mir durch den Kopf, und plötzlich bedauerte ich, daß ich mich ihr gegenüber all die Jahre so schäbig verhalten hatte. Ich mußte daran denken, wie ich sie immer gehänselt und ihren Vater einen Unzuchttreibenden genannt hatte, und wie ich sie hinter ihrem Rücken verspottet hatte. Als mich diese Gedanken gerade richtig niederdrückten und ich mir vorstellte, wie ich Carey wohl fünf Stunden lang ertragen könnte, drehte sie sich wieder zu mir um. Auf ihrem Gesicht lag ein kleines Lächeln.

»Ich würde gerne mit dir gehen«, sagte sie, »unter einer Bedingung.«

Ich machte mich auf alles gefaßt und hoffte, es wäre nicht zu schwierig.

»Und die wäre?«

»Du mußt mir versprechen, daß du dich nicht in mich verliebst.«

Das meinte sie nicht ernst, denn sie lachte, und ich atmete unwillkürlich vor Erleichterung auf. Ich muß zugeben, daß Jamie manchmal einen richtig guten Sinn für Humor hatte.

Ich lächelte und versprach es ihr.