Schwäne und Stürme
Sie befanden sich in der Mitte eines Sees, der vom Wasser des Brices Creek gespeist wurde. Er war nicht groß, vielleicht hundert Meter im Durchmesser, und doch war Allie erstaunt, daß man ihn vom Fluß aus nicht hatte sehen können Der Anblick war atemberaubend. Sie waren buchstäblich umringt von Tundraschwänen und kanadischen Gänsen. Von Hunderten, Tausenden! An manchen Stellen schwammen sie so dicht beieinander, daß man das Wasser kaum mehr sehen konnte. Und aus der Feme sahen manche Schwärme von Schwänen fast wie Eisberge aus.
»O Noah«, flüsterte sie schließlich. »Es ist wunderschön.«
Eine lange Weile saßen sie schweigend da und beobachteten das Treiben der Wasservögel. Noah deutete auf eine Gruppe frischgeschlüpfter Gänseküken, die eifrig paddelnd ihren Eltern folgten.
Während Noah sein Kanu über das Wasser ruderte, war die Luft erfüllt von Schnattern und Piepsen. Dabei schenkten ihnen nur die Vögel Beachtung, die dem nahenden Boot ausweichen mußten. Allie streckte die Hand nach einem der Vögel aus und fühlte sein flaumweiches Gefieder unter ihren Fingern.
Noah zog den Beutel mit dem Brot hervor und reichte ihn Allie. Sie brach es in kleine Stückchen und verteilte es, wobei sie die Kleinen bevorzugte und lachte, wenn sie sich um die Beute stritten.
Sie verweilten, bis in der Feme Donnergrollen zu hören war, noch schwach zwar, aber beide wußten, daß es höchste Zeit war, den Rückweg anzutreten.
Noah steuerte auf den versteckten Ausgang zu, ruderte kräftiger als vorher. Allie war noch immer wie verzaubert von dem, was sie gesehen hatte.
»Noah, was tun sie hi er? «
»Keine Ahnung. Ich weiß nur, daß die Schwäne jeden Herbst aus dem Norden zum Lake Matamuskeet ziehen, doch diesmal sind sie hier gelandet, warum, weiß ich auch nicht. Vielleicht hatte der frühe Blizzard etwas damit zu tun. Vielleicht sind sie von ihrer Route abgekommen. Auf jeden Fall finden sie ihren Weg zurück.«
»Sie bleiben nicht?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie werden von ihren Instinkten geleitet, und dies hier ist nicht ihr Ziel. Ein paar von den Gänsen werden vielleicht hier überwintern, aber die Schwäne fliegen zum Lake Matamuskeet zurück.«
Noah paddelte kräftig, während immer dunklere Wolken dicht über ihnen hinwegzogen. Bald fielen die ersten Tropfen. Leichter Sprühregen zunächst, dann immer dichter. Blitz… Pause… dann wieder Donner. Schon etwas lauter diesmal. Etwa sechs oder sieben Meilen entfernt. Noah legte noch an Tempo zu, und seine Muskeln schmerzten mit jedem Ruderschlag.
Immer dickere Tropfen jetzt.
Tropfen, die schräg mit dem Winde fielen.
Immer dichter fielen…
Und Noah ruderte im Zweikampf mit dem Himmel… ruderte und fluchte… und verlor den Kampf mit der Natur…
Es goß jetzt in Strömen, und Allie beobachtete, wie der Regen fast diagonal vom Himmel fiel und der Schwerkraft zu trotzen suchte, indem er sich vom Westwind, der über die Baumkronen jagte, tragen ließ. Der Himmel wurde noch schwärzer, und dicke, schwere Tropfen, Hurrikantropfen, fielen aus den Wolken.
Allie genoß den Regen und legte den Kopf in den Nacken, um die Tropfen auf ihrem Gesicht zu spüren. Sie wußte, daß ihr Kleid bald völlig durchnäßt sein würde, aber es störte sie nicht. Ob er es merken würde?
Sie strich sich mit den Fingern durchs nasse Haar. Es fühlte sich wunderbar an, alles fühlte sich wunderbar an, auch sie fühlte sich wunderbar. Trotz des prasselnden Regens konnte sie seinen schweren Atem hören, und das Geräusch erregte sie auf verwirrende Weise.
Eine Wolke entlud sich jetzt direkt über ihnen, und es schüttete wie aus Kübeln, heftiger als sie es je erlebt hatte. Allie schaute nach oben, lachte und gab jeden Versuch auf, sich gegen die Nässe zu schützen. Noah war erleichtert, denn er hatte nicht ahnen können, wie sie reagieren würde. Auch wenn es ihre Entscheidung gewesen war, konnte sie auf ein solches Gewitter nicht gefaßt gewesen sein.
Wenige Minuten später hatten sie den Steg erreicht, und Noah ruderte das Kanu so nahe an ihn heran, daß Allie ohne Schwierigkeiten aussteigen konnte. Er half ihr hinauf, kletterte dann selbst auf den Steg und zog das Kanu so weit die Böschung hinauf, daß es nicht fortgetrieben werden konnte. Zusätzlich band er es noch mit einem Seil an den Steg. Auf ein paar weitere Minuten im Regen kam es nun nicht mehr an.
Während er das Kanu vertäute, schaute er zu Allie hoch und war fasziniert. Sie war unbeschreiblich schön, wie sie so dastand, ihm zusah und sich naßregnen ließ. Ihr Kleid war völlig durchnäßt und klebte ihr am Körper, und er konnte sehen, wie sich die Umrisse ihrer Brüste unter dem Stoff abzeichneten.
Sogleich wandte er sich ab und murmelte, froh, daß der Regen jeden Laut dämpfte, etwas vor sich hin. Als das Kanu befestigt war, stand er auf, und zu seiner Überraschung ergriff Allie seine Hand. Trotz des Regens gingen sie ohne Hast zum Haus zurück, und Noah stellte sich vor, wie schön es wäre, wenn er die Nacht mit ihr verbringen könnte.
Auch Allie ließ ihrer Phantasie freien Lauf. Sie spürte die Wärme seiner Hand und malte sich aus, wie sie über ihren Körper wandern, ihn langsam erforschen würde. Bei dem bloßen Gedanken stockte ihr der Atem, und sie fühlte ein Kribbeln in den Brustwarzen und eine plötzliche Hitze zwischen den Schenkeln.
Sie war sich bewußt, daß sich etwas zwischen ihnen verändert hatte, seitdem sie hierhergekommen war. Wann es begonnen hatte, wußte sie nicht - war es gestern nach dem Abendessen oder vorhin im Kanu gewesen, oder begann es erst jetzt, während sie Hand in Hand durch den Regen gingen? Was sie jedoch wußte war, daß sie sich wieder in Noah Taylor Calhoun verliebt hatte und daß sie vielleicht, aber nur vielleicht, nie aufgehört hatte, ihn zu lieben.
Als sie mit tropfnassen Kleidern das Haus betraten, war bei beiden von Befangenheit keine Spur mehr. »Hast du etwas zum Wechseln mitgebracht?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich hole dir etwas, damit du die nassen Sachen ausziehen kannst. Es ist vielleicht ein bißchen groß, dafür aber warm.«
»Egal, was es ist.«
»Ich bin gleich wieder da.«
Noah zog seine Stiefel aus, eilte nach oben und kam eine Minute später zurück, eine Baumwollhose, ein langärmeliges Hemd über einem Arm, ein Paar Jeans und ein blaues T-Shirt über dem anderen.
»Hier«, sagte er und reichte ihr die Sachen. »Du kannst dich oben im Schlafzimmer umziehen. Im Badezimmer liegt ein Handtuch für dich, falls du duschen möchtest.«
Sie dankte ihm mit einem Lächeln, ging die Stufen hinauf und spürte, wie sein Blick ihr folgte. Im Schlafzimmer schloß sie die Tür hinter sich. Sie warf die trockenen Sachen aufs Bett und zog sich aus. Sie ging nackt zum Schrank, nahm einen Bügel und hängte ihr Kleid und ihre Unterwäsche im Badezimmer auf, damit die nassen Sachen nicht auf den Holzfußboden tropften. Sie fand es aufregend, splitternackt in dem Zimmer herumzulaufen, in dem er nachts schlief.
Duschen wollte sie nach dem Regenbad nicht. Sie mochte das sanfte Gefühl auf der Haut und stellte sich vor, wie die Menschen vor langer Zeit gelebt haben mochten. Naturverbunden. Wie Noah. Sie schlüpfte in seine Sachen und betrachtete sich im Spiegel. Die Jeans waren zu groß, aber wenn sie das Hemd hineinsteckte und die Hosenbeine hochkrempelte, ging es. Das Hemd war am Kragen leicht angerissen, natürlich viel zu weit und rutschte ihr fast über die Schulter; doch sie fühlte sich behaglich darin. Sie rollte die Ärmel fast bis zu den Ellenbogen hoch, holte ein Paar Socken aus der Kommode, zog sie an und ging ins Badezimmer, um eine Haarbürste zu suchen.
Sie bürstete ihr nasses Haar und ließ es über die Schultern fallen. Zu dumm, daß sie keine Spange dabei hatte oder wenigstens ein paar Haarnadeln.
Und ihre Schminkutensilien. Aber was konnte sie tun? Etwas Wimperntusche von heute morgen war noch vorhanden. Vorsichtig entfernte sie den Rest mit einem Waschlappen.
Als sie fertig war, warf sie einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel, fand sich trotz allem hübsch und ging leise die Treppe hinunter.
Noah war im Wohnzimmer, kauerte vor dem Kamin, um das Feuer wieder in Gang zu bringen. Er hörte sie nicht eintreten, und so konnte sie ihn in aller Ruhe bei der Arbeit beobachten. Auch er hatte sich umgezogen und sah gut aus; breite Schultern, nasse Haarsträhnen über dem Kragen, enge Jeans.
Er stocherte mit dem Schürhaken in der Glut, legte frische Holzscheite darauf und steckte Zeitungspapier dazwischen. Allie lehnte sich an den Türpfosten, schlug ein Bein über das andere und sah ihm weiter zu. Innerhalb von wenigen Minuten hatten alle Scheite Feuer gefangen und brannten jetzt gleichmäßig und beständig. Als er die noch unbenutzten Scheite neben dem Kamin aufstapeln wollte, nahm er Allie aus den Augenwinkeln wahr. Er drehte sich rasch zu ihr um.
Auch in seinen Sachen sah sie phantastisch aus. Leicht verlegen wandte er sich wieder seinen Holzscheiten zu.
»Ich habe dich nicht hereinkommen hören«, sagte er und versuchte, seiner Stimme einen möglichst beiläufigen Klang zu geben.
»Ich weiß. Das solltest du auch nicht.« Sie wußte genau, was er gedacht hatte, und stellte belustigt fest, wie jung er wirkte.
»Wie lange stehst du schon da?«
»Ein paar Minuten.«
Noah rieb sich die Hände an den Hosenbeinen sauber und deutete zur Küche.
»Soll ich dir einen Tee machen? Das Wasser müßte schon heiß sein.« Belanglose Worte, irgendwas, um einen klaren Kopf zu behalten. Aber verdammt, wie sie aussah…
Sie zögerte kurz, spürte seinen Blick, aber verdammt, wie er sie ansah…
»Gibt's nichts Stärkeres? Oder ist es noch zu früh für einen Drink?«
Er lächelte. »Ich habe noch etwas Whiskey in der Speisekammer. War' das was?«
»Klingt gut.«
Er ging in die Küche, und Allie sah, wie er sich mit den Fingern durchs nasse Haar strich.
Langanhaltender Donner dröhnte, und ein erneuter Gewitterschauer setzte ein. Allie hörte, wie der Regen aufs Dach prasselte, hörte, wie das Feuer knisterte, während die züngelnden Flammen den Raum erhellten. Sie trat ans Fenster und sah den dunklen Himmel kurz aufflammen. Gleich darauf ein weiterer Donnerschlag. Ganz nah diesmal.
Sie nahm eine Decke vom Sofa und hockte sich im Schneidersitz auf den Teppich vor dem Kamin. Dann wickelte sie sich in die Decke, machte es sich richtig bequem und starrte in die tanzenden Flammen. Noah kam zurück, lächelte, als er sie so am Boden sitzen sah, und ließ sich neben ihr nieder. Er stellte zwei Gläser ab und schenkte in beide etwas Whiskey ein.
Wieder Donner. Ohrenbetäubend. Wütender Sturm, der den Regen aufpeitschte.
»Da kommt ganz schön was runter.« Noah beobachtete, wie die Tropfen senkrecht die Fensterscheiben hinabflössen.
Er saß jetzt dicht neben ihr, freilich ohne sie zu berühren, sah, wie sich ihre Brüste hoben und senkten, sehnte sich danach, ihren Körper zu berühren, und kämpfte verzweifelt gegen seine Gefühle.
»Ich liebe Gewitter«, sagte sie und nippte an ihrem Glas. »Immer schon. Selbst als kleines Mädchen.«
»Warum?« fragte er, nur um irgend etwas zu sagen.
»Ich weiß nicht. Gewitter haben so etwas Romantisches.«
Sie schwieg eine Weile, und Noah sah, wie sich das Feuer in ihren smaragdgrünen Augen widerspiegelte. »Weißt du noch, wie wir abends kurz vor meiner Abreise das Gewitter beobachtet haben?« fragte sie schließlich.
»Natürlich.«
»Ich habe oft daran denken müssen, als ich wieder zu Hause war. So wie du damals aussahst, habe ich dich in Erinnerung behalten.«
»Habe ich mich sehr verändert?«
Sie nahm einen Schluck Whiskey, spürte, wie er sie wärmte. Dann legte sie ihre Hand auf seine.
»Nicht wirklich. Nicht in den wesentlichen Dingen. Du bist natürlich älter geworden, hast mehr Lebenserfahrung, aber du hast noch immer den gleichen Glanz in den Augen. Du liest noch immer Gedichte und liebst die Natur. Und selbst der Krieg hat dir deine Freundlichkeit, deine Sanftmut nicht nehmen können.«
Er dachte über ihre Worte nach und fühlte ihre Hand auf der seinen, spürte, wie ihr Daumen langsame Kreise zog.
»Allie, du hast mich vorhin gefragt, was mir von unserem gemeinsamen Sommer am besten im Gedächtnis geblieben ist. Woran erinnerst du dich im besonderen?«
Es dauerte eine Weile, bis sie antwortete. Ihre Stimme schien von weit her zu kommen.
»An unsere Liebesnacht. Daran kann ich mich am besten erinnern. Du warst der erste, und es war tausendmal schöner, als ich es mir habe vorstellen können.«
In Noah erwachten die alten Gefühle wieder. Plötzlich schüttelte er den Kopf. Es war fast unerträglich.
»Ich weiß noch, wie ich vor Angst zitterte«, führ sie fort. »Ich bin froh, daß du der erste warst. Bin froh, daß wir das gemeinsam erlebt haben.«
»Ich auch.«
»Hattest du auch solche Angst wie ich?«
Noah nickte stumm, und sie lächelte über seine Ehrlichkeit.
»Das dachte ich mir. Du warst so schüchtern damals. Vor allem zu Anfang. Ich weiß noch, wie du mich fragtest, ob ich einen Freund hätte. Als ich ja sagte, wolltest du kaum noch mit mir sprechen.«
»Ich wollte eure Beziehung nicht stören.«
»Das hast du aber, unschuldig, wie du warst«, sagte sie lächelnd. »Und ich bin froh darüber.«
»Wann hast du ihm von uns erzählt?«
»Als ich wieder nach Hause kam«
»War es schwer?«
»Überhaupt nicht. Ich war viel zu verliebt in dich.«
Sie drückte seine Hand, ließ sie los und rückte ein wenig näher zu ihm Sie schob ihre Hand unter seinen Arm und legte den Kopf an seine Schulter. Er nahm ihren Geruch wahr, zart wie Regen, warm.
»Weißt du noch, wie du mich nach dem Stadtfest nach Hause begleitet hast?« sagte sie mit sanfter Stimme. »Ich fragte dich, ob du mich Wiedersehen wolltest. Du hast nur genickt und kein Wort gesagt. Das war nicht gerade überzeugend.«
»Ich war vorher noch nie einem Mädchen wie dir begegnet. Ich war völlig überwältigt. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte.«
»Ich weiß. Du konntest nie etwas verbergen. Deine Augen haben dich stets verraten. Und du hattest die schönsten Augen, die ich jemals gesehen hatte.«
Sie verstummte, hob den Kopf von seiner Schulter und blickte ihn an. »Ich glaube, ich liebte dich damals mehr, als ich je einen Menschen geliebt habe.«
Wieder zuckte ein Blitz am Himmel. In den Sekunden vor dem Donner trafen sich ihre Augen, und während sie versuchten, die vierzehn Jahre auszulöschen, fühlten beide, was sich seit gestern verändert hatte. Als der Donner ertönte, seufzte Noah, wandte sich ab und blickte zum Fenster.
»Ich wünschte, du hättest die Briefe gelesen, die ich dir geschrieben habe«, sagte er.
Sie schwieg eine lange Weile.
»Ich habe es dir nicht erzählt, Noah«, sagte sie schließlich, »aber auch ich habe dir viele Briefe geschrieben. Ich habe sie nur nie abgeschickt.«
»Und warum?« fragte Noah überrascht.
»Weil ich Angst hatte.«
»Angst wovor?«
»Daß vielleicht alles gar nicht so war, wie ich es geglaubt hatte. Daß du mich vielleicht schon vergessen hattest.«
»Dich vergessen? Das hätte ich nie gekonnt.«
»Das weiß ich jetzt. Ich brauche dich nur anzuschauen. Aber damals war alles anders. Es gab so vieles, was ich nicht verstand, Dinge, die ein junges Mädchen nicht durchschauen kann.«
»Was meinst du damit?«
Sie hielt inne, um sich zu sammeln.
»Als deine ersehnten Briefe ausblieben, wußte ich nicht, was ich denken sollte. Ich erzählte meiner besten Freundin, was geschehen war, und sie sagte, du hättest gekriegt, was du wolltest, und sie wundere sich nicht, daß du nichts von dir hören ließest. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß du so bist, niemals. Aber als ich später über alles nachdachte, bekam ich Zweifel, ob dir der Sommer ebensoviel bedeutete wie mir… Und dann, als mir das alles durch den Kopf ging, erfuhr ich durch Sarah, daß du New Bern verlassen hattest.«
»Fin und Sarah wußten immer, wo ich war…«
Allie hob die Hand, um ihn zu unterbrechen.
»Ich weiß, aber ich wollte sie nicht fragen. Ich nahm an, daß du New Bern verlassen hattest, um ein neues Leben zu beginnen, ein Leben ohne mich. Sonst hättest du doch sicher geschrieben. Oder angerufen. Oder mich besucht.«
Noah schaute zur Seite, ohne Antwort zu geben, und sie führ fort:
»Ich wußte keine andere Erklärung dafür, und mit der Zeit verblaßte der Schmerz, und es wurde leichter, einfach zu vergessen. Wenigstens dachte ich das. Doch in jedem Jungen, dem ich in den folgenden Jahren begegnete, suchte ich nur dich, und jedesmal, wenn die Gefühle zu stark wurden, schrieb ich dir einen Brief. Doch ich schickte ihn nicht ab aus Angst vor dem, was ich herausfinden könnte. Du hattest ein neues Leben begonnen, und ich wollte nicht erfahren, daß du eine andere liebst. Ich wollte uns so in Erinnerung behalten, wie wir damals waren.«
Ihre Worte klangen so lieb, so unschuldig, daß Noah den Wunsch verspürte, sie zu küssen. Er unterdrückte ihn aber, weil er wußte, daß sie jetzt etwas anderes brauchte. Und doch war es so wunderbar, wie sie sich an ihn schmiegte, wie sie ihn berührte.
»Den letzten Brief habe ich vor ein paar Jahren geschrieben. Nachdem ich Lon kennengelernt hatte, schrieb ich an deinen Vater, um herauszufinden, wo du dich aufhieltest. Doch es war alles schon so lange her, und ich war nicht sicher, ob er noch unter der alten Adresse zu erreichen war. Und wegen des Krieges…«
Sie verstummte, und beide schwiegen eine Weile, jeder in Gedanken versunken. Erst als wieder ein Blitz den Himmel erhellte, brach Noah das Schweigen.
»Du hättest ihn trotzdem abschicken sollen.«
»Warum?«
»Ich habe mich so nach einem Lebenszeichen von dir gesehnt, wollte wissen, was aus dir geworden ist.«
»Du wärst vielleicht enttäuscht gewesen. Mein Leben ist nicht sonderlich aufregend. Übrigens bin ich nicht so, wie du mich in Erinnerung hast.«
»Du bist noch wundervoller, Allie, als ich dich in Erinnerung hatte.«
»Und du bist so gut, Noah.«
Beinahe hätte er nicht weiter gesprochen; er glaubte, nur durch Schweigen die Fassung bewahren zu können, so wie er es die vergangenen vierzehn Jahre stets getan hatte. Aber jetzt waren seine Gefühle so stark, daß er ihnen nachgab.
»Ich sage es nicht, weil ich gut oder nett bin. Ich sage es, weil ich dich jetzt liebe, weil ich dich immer geliebt habe. Viel mehr als du dir vorstellen kannst.«
Ein Holzscheit krachte im Kamin, und beim Sprühen der Funken merkten beide, daß das Feuer bald niedergebrannt sein würde. Neue Scheite mußten aufgelegt werden, doch keiner rührte sich.
Nach einem weiteren Schluck Whiskey begann Allie die Wirkung zu spüren. Doch nicht nur der Alkohol veranlaßte sie, Noah noch fester zu umfassen und seine Wärme zu suchen. Sie schaute zum Fenster hinüber und sah, daß die Wolken fast schwarz waren.
»Ich muß mich ums Feuer kümmern«, sagte Noah, der Zeit zum Nachdenken brauchte. Er erhob sich, schob das Kamingitter zur Seite und legte neue Scheite auf. Dann nahm er den Schürhaken und stocherte in der Glut.
Als das Feuer gleichmäßig brannte, ließ er sich wieder neben Allie nieder. Und wieder kuschelte sie sich an ihn, legte den Kopf an seine Schulter, strich mit der Hand über seine Brust. Noah beugte sich über sie und flüsterte ihr ins Ohr.
»Ist es nicht fast so wie damals? Als wir noch jung waren?«
Sie lächelte zustimmend, und sie schauten, eng umschlungen, in die Flammen.
»Du hast mich nie danach gefragt, Noah, aber trotzdem möchte ich dir etwas sagen.«
»Was denn?«
Ihre Stimme war ganz sanft.
»Es hat nie einen anderen gegeben, Noah. Du warst nicht nur der erste, du bist der einzige Mann, mit dem ich jemals wirklich zusammen war. Ich erwarte nicht, dasselbe von dir zu hören, aber ich möchte, daß du es weißt.«
Noah blickte schweigend zur Seite, während sie in die Flammen starrte. Als sie sich in die Kissen zurücklehnten, glitt ihre Hand über seine Brust, fühlte die Muskeln unter seinem Hemd, Muskeln, hart und fest Sie dachte an den Abend zurück, als sie sich zum letzten Mal so in den Armen gehalten hatten. Sie saßen auf dem Flußdeich des Neuse River, und sie weinte, weil sie meinte, nie wieder so glücklich sein zu können. Statt zu antworten, hatte er ihr einen Zettel in die Hand gedrückt, den sie auf der Heimfahrt gelesen hatte. Sie hatte ihn aufbewahrt und immer wieder gelesen, vor allem eine Passage daraus. Und die Zeilen, die sie wohl hundertmal gelesen hatte und fast auswendig kannte, kamen ihr jetzt in den Sinn. Sie lauteten:
Daß die Trennung so wehtut, liegt daran, daß unsere Seelen verbunden sind. Vielleicht waren sie es immer schon und werden es immer bleiben. Vielleicht haben wir tausend Leben vor diesem gelebt und haben uns in jedem Leben gefunden. Und vielleicht sind wir in jedem dieser Leben aus dem gleichen Grund getrennt worden. Das würde bedeuten, daß dieser Abschied zugleich ein Abschied der letzten Zehntausende von Jahren ist und ein Vorspiel zu dem, was vor uns liegt.
Wem ich dich anschaue, sehe ich deine Schönheit und Anmut und weiß, daß du mit jedem gelebten Lehen starker geworden bist. Und ich weiß, daß ich dich in jedem Lehen gesucht habe. Nicht jemanden wie dich, sondern dich, denn deine Seele und die meine sind dazu bestimmt, sich immer wiederzufinden. Doch aus einem Grund, den keiner von uns versteht, sind wir gezwungen, Abschied zu nehmen.
Ich würde dir gern sagen, daß sich alles für uns zum Guten wendet, und verspreche dir, mein Möglichstes dafür zu tim. Aber wenn wir uns trotzdem nicht Wiedersehen und dies ein Abschied für immer ist, so weiß ich doch, daß wir uns in einem anderen Leben wieder begegnen werden. Wir werden uns wiederfinden, und vielleicht stehen die Sterne dann günstiger für uns, und wir werden uns dann nicht nur dieses eine Mal lieben, sondern immer und ewig.
War das möglich? fragte sie sich. Könnte er recht haben?
Sie hatte es nie als unmöglich abgetan, hatte Halt gesucht an dieser Hoffnung, einer Hoffnung, die ihr über eine schlimme Zeit hinweggeholfen hatte. Aber ihr jetziges Beisammensein schien die Theorie bestätigen zu wollen, daß es ihnen bestimmt war, für immer getrennt zu sein. Es sei denn, die Sterne standen günstiger für sie als bei ihrem letzten Beisammensein.
Vielleicht war es so, aber sie wollte nicht hinsehen. Statt dessen schmiegte sie sich noch enger an ihn und spürte die Hitze zwischen ihnen, spürte seinen Körper, seinen Arm, der sie fest umschlang. Und ihr Körper begann so erwartungsvoll zu zittern wie damals, in ihrer ersten Liebesnacht.
Es war alles so, wie man nur wünschen konnte. Das Feuer, die Getränke, das Gewitter - es hätte gar nicht vollkommener sein können. Und wie durch ein Wunder schienen die Jahre ihrer Trennung völlig unwichtig zu sein.
Blitze durchzuckten den Himmel. Flammen tanzten auf weißglühendem Holz, verbreiteten Hitze. Oktoberregen prasselte gegen die Fenster, übertönte alle anderen Geräusche.
Und nun gaben sie all den Gefühlen nach, die sie vierzehn Jahre lang unterdrückt hatten. Allie hob den Kopf von seiner Schulter, sah ihn voller Leidenschaft an, und Noah küßte ganz zart ihre Lippen. Sie legte die Hand an sein Gesicht und strich über seine Wange. Er beugte sich tiefer über sie und küßte sie wieder, immer noch sanft und zärtlich, und sie erwiderte seine Küsse und spürte, wie vierzehn Jahre der Trennung sich in Verlangen auflösten.
Sie schloß die Augen und öffnete die Lippen, während seine Finger ihre Arme streichelten, ganz langsam, ganz leicht. Er küßte ihren Nacken, ihre Wange, ihre Augenlider, und sie spürte die Feuchtigkeit seines Mundes überall dort, wo seine Lippen sie berührt hatten. Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihre Brüste, und als er sie sanft durch den dünnen Stoff des Hemdes liebkoste, stöhnte sie leise.
Mit vom Licht des Feuers glühendem Gesicht löste sie sich von ihm und begann, ohne ein Wort, sein Hemd aufzuknöpfen. Er sah ihr dabei zu und lauschte ihrem erregten Atem. Bei jedem Knopf spürte er ihre Finger auf seiner Haut, und als sie sich schließlich bis nach unten vorgetastet hatte, lächelte sie ihn zärtlich an. Er fühlte, wie ihre Hände unter den Stoff glitten und seinen Körper zu erforschen begannen. Sie strich mit der Hand über seine heiße, leicht leuchte Brust und fühlte seine Haare zwischen ihren Fingern. Dann küßte sie seinen Nacken und zog das Hemd so über seine Schultern, daß seine Arme auf dem Rücken gleichsam gefesselt waren. Sie hob den Kopf und ließ sich küssen, während er sein Hemd mit einem Ruck auszog.
Dann beugte er sich langsam über sie. Er ließ seine Finger über ihren Bauch gleiten, bevor er ihre Arme hob und das Hemd darüber zog. Als er den Kopf senkte, sie zwischen den Brüsten küßte und mit der Zunge langsam bis zu ihrem Hals hinaufwanderte, konnte sie kaum noch Atem holen. Seine Hände streichelten sanft ihren Rücken, ihre Arme, ihre Schultern. Ihre erhitzten Körper preßten sich eng aneinander, Haut an Haut. Sie hob leicht die Hüften, damit er ihre Hose abstreifen konnte. Dann knöpfte sie langsam seine Jeans auf und schaute zu, wie er sie auszog. Wie in Zeitlupe kamen ihre nackten Körper schließlich zusammen, und die Erinnerung an damals ließ sie beide zittern.
Seine Zunge glitt über ihren Hals, während seine Hände über die weiche Haut ihrer Brüste und ihren Leib tasteten. Er war tief beeindruckt von ihrer Schönheit. Ihr schimmerndes Haar leuchtete im Licht der Flammen. Ihre Haut war zart und glatt, fast glühend im Feuerschein. Und als ihre Finger seinen Rücken streichelten, kam ihm das wie eine Ermutigung vor.
Sie sanken, dicht neben dem Feuer, noch tiefer zurück. Die Hitze machte die Luft fast stickig. Als er sich in einer fließenden Bewegung auf sie schob, war ihr Rücken leicht gewölbt. Sie hob den Kopf und küßte sein Kinn und seinen Hals, atmete schwer, fuhr mit der Zunge über seine Schultern, schmeckte den Schweiß auf seinem Körper. Sie strich mit den Fingern durch sein Haar, während er, die Armmuskeln angespannt, sich über sie beugte. Mit einem kleinen verführerischen Stirnrunzeln wollte sie ihn an sich ziehen, doch er widerstand, neigte sich noch tiefer herab, rieb seine Brust an ihrer, so daß ihr ganzer Körper wie elektrisiert war.
Er tat es langsam, immer und immer wieder, wobei er jedes Fleckchen ihres Körpers küßte und auf ihr sanftes Stöhnen lauschte.
Er tat es so lange, bis sie es vor Verlangen nicht mehr aushielt, und als er schließlich in sie eindrang, schrie sie laut auf und grub ihre Nägel in seinen Rücken. Sie schmiegte das Gesicht an seine Schulter und spürte ihn tief in sich, spürte seine Manneskraft und seine Zärtlichkeit. Sie bewegte sich rhythmisch mit seinem Körper, gab sich ihm völlig hin.
Sie öffnete die Augen und betrachtete ihn im Schein des Feuers, fasziniert von seiner Schönheit. Sie sah seinen Körper von Schweiß glänzen, sah die glitzernden Schweißtropfen seine Brust herabrinnen und, wie draußen der Regen, auf sie niederfallen. Und mit jedem Tropfen, mit jedem Atemzug fühlte sie, wie sie sich mehr und mehr in ihm verlor.
Ihre Körper waren eins im Geben und Nehmen, und ein nie gekanntes Gefühl durchdrang sie, ein Gefühl, von dem sie bisher nichts gewußt hatte. Es wollte gar nicht aufhören, es durchrieselte ihren Körper und wärmte sie, bis es schließlich nachließ und sie keuchend nach Atem rang. Doch fast im gleichen Augenblick begann das Feuer wieder aufzulodern, und alles fing von neuem an. Als der Regen aufhörte und die Sonne aufging, war ihr Körper wohl ermattet, aber nicht bereit, das Spiel ihrer Körper abzubrechen.
So ging der Tag dahin: Sie liebten sich und schauten dann eng aneinander geschmiegt dem Tanz der Flammen zu. Gelegentlich trug er ihr eines seiner Lieblingsgedichte vor; sie lauschte ihm mit geschlossenen Augen und konnte die Worte fast spüren. Nach einer Weile gewann die Lust wieder die Oberhand, und er flüsterte ihr zwischen Küssen Worte der Liebe zu.
So ging es weiter, und man hätte meinen können, sie wollten alles Versäumte nachholen. Erst am späten Abend sanken sie eng umschlungen in Schlaf. Immer wenn er aufwachte, schaute er sie an, sah ihren erschöpften, entspannten Körper und er hatte dann das Gefühl, die ganze Welt sei plötzlich, wie sie sein sollte.
Einmal öffnete auch sie die Augen, lächelte und strich ihm zärtlich über die Wange. Er legte den Finger auf ihre Lippen, ganz sanft, um sie am Sprechen zu hindern, und eine lange Weile schauten sie sich nur schweigend an.
Schließlich flüsterte er: »Du bist die Erfüllung all meiner Gebete. Du bist ein Lied, ein Traum, ein Flüstern, und ich weiß nicht, wie ich so lange ohne dich habe leben können Ich hebe dich, Allie, mehr als du dir vorstellen kannst. Ich habe dich immer geliebt und werde dich immer heben.«
»O Noah«, hauchte sie und zog ihn an sich. Sie wollte ihn, brauchte ihn mehr als je zuvor und mehr als alles in der Welt.