Noah saß in seinem Schaukelstuhl, trank gesüßten Tee und wartete. Als er Allies Wagen schließlich in die Einfahrt biegen hörte, trat er vors Haus und sah, daß sie ihren Wagen unter der Eiche abstellte. Genau an derselben Stelle wie gestern. Clem kam herbeigetrabt und bellte zur Begrüßung an der Wagentür. Allie winkte aus dem Wageninnem.
Sie stieg aus, streichelte Clem, die freudig mit dem Schwanz wedelte. Dann richtete sie sich auf und lächelte Noah an, der langsam auf sie zukam. Sie wirkte gelöster als gestern, zuversichtlicher, und bei ihrem Anblick empfand er erneut eine seltsame Erregung. Und doch war es anders als gestern. Frischere Gefühle, nicht mehr bloße Erinnerungen. Ihre Anziehungskraft war über Nacht noch stärker geworden, noch intensiver, und das machte ihn ein wenig nervös.
Allie ging ihm, ein kleines Täschchen in einer Hand, entgegen. Sie verdutzte ihn mit einem auf die Wange gehauchten Begrüßungskuß, wobei ihre freie Hand einen Augenblick auf seiner Taille ruhte.
»Hallo«, sagte sie, und ihre Augen strahlten. »Und wo ist die Überraschung?«
Zum Glück legte sich seine Nervosität ein wenig. »Nicht mal ein »Guten Morgen‹ oder ein ›Wie hast du geschlafen‹?« fragte er.
Sie lächelte. Geduld hatte nie zu ihren Starken gehört.
»Also: Guten Morgen. Wie hast du geschlafen? Und wo ist die Überraschung?«
Er lachte, sah dann aber besorgt drein. »Allie, ich muß dir etwas Unerfreuliches sagen.«
»Was?«
»Ich wollte dir etwas zeigen, aber wenn ich mir diese Wolken anschaue, weiß ich nicht, ob wir fahren sollen.«
»Warum?«
»Das Gewitter. Wir könnten naß werden. Und außerdem könnte es blitzen.«
»Es regnet doch noch nicht. Wie weit ist es denn?«
»Den Fluß hinauf. Etwa eine Meile.«
»Und ich bin noch nie dort gewesen?«
Er schüttelte den Kopf.
Sie überlegte einen Augenblick und schaute sich um.
»Laß uns fahren«, sagte sie schließlich entschlossen. »Regen macht mir nichts aus.«
»Bist du sicher?«
»Ja. Absolut sicher.«
Er schaute wieder hinauf zu den Wolken, sah die schwarze Wand langsam näher kommen. »Dann laß uns sofort aufbrechen«, sagte er. »Soll ich schnell die Handtasche ins Haus bringen?« Sie nickte und reichte sie ihm. Er rannte los, deponierte die Tasche auf einem Stuhl im Wohnzimmer, steckte auf dem Rückweg rasch etwas Brot in einen Beutel und war schon wieder draußen.
Seile an Seite machten sie sich auf den Weg zum Steg.
» Wohin fahren wir?«
»Du wirst schon sehen.«
»Einen kleinen Hinweis-bitte!«
»Also gut«, sagte er. »Weißt du noch, wie wir rausgefahren sind, um den Sonnenaufgang zu beobachten?«
»Ich hab' erst heute morgen daran gedacht. Und ich erinnere mich genau, daß mir die Tränen gekommen sind, so überwältigt war ich.«
»Das ist nichts im Vergleich zu dem, was du gleich sehen wirst.«
»Ich soll mir wohl als etwas Besonderes Vorkommen.«
Er wartete einen Augenblick mit der Antwort.
»Du bist etwas Besonderes«, sagte er schließlich, und an der Art, wie er es sagte, glaubte sie zu fühlen, daß er noch etwas hatte hinzufügen wollen. Doch er schwieg, und Allie schaute lächelnd zur Seite. Und während sie den Blick schweifen ließ, spürte sie den Wind auf ihrem Gesicht. Er war seit heute morgen etwas stärker geworden.
Kurz darauf hatten sie den Steg erreicht. Er verstaute den Beutel im Bug des Kanus und vergewisserte sich, daß er nichts vergessen hatte, bevor er das Boot ins Wasser gleiten ließ.
»Kann ich irgendwas tun?«
»Nein, nur einsteigen.«
Nachdem sie ins Kanu geklettert war, stieß er es ein Stück weiter ins Wasser, etwas näher zum Steg hin. Dann sprang er mit einem eleganten Satz vom Steg ins Boot, ohne es übermäßig ins Schwanken zu bringen. Allie war beeindruckt von seiner Geschicklichkeit, denn was wie ein Kinderspiel ausgesehen hatte, war in Wirklichkeit, das wußte sie, viel schwieriger.
Allie saß, Noah zugewandt, im vorderen Teil des Kanus. Er hatte irgend etwas von schlechterer Sicht gesagt, als er zu paddeln begann, aber sie hatte den Kopf geschüttelt und gemeint, sie sitze gut so.
Und so war es auch.
Sie konnte alles sehen, was sie wollte, wenn sie nur zur Seite blickte, aber sie wollte vor allem Noah beobachten. Sie war hergekommen, um ihn zu sehen, ihn, und nicht den Fluß. Sein Hemd war oben aufgeknöpft, und sie sah bei jedem Ruderschlag seine Brustmuskeln arbeiten. Seine Ärmel waren hochgekrempelt, und so konnte sie auch seine Armmuskeln bewundern, die vom allmorgendlichen Kajakfahren fest und kräftig waren.
Ein Künstler, dachte sie bei sich. Er hat etwas von einem Künstler an sich, wenn er sich so bewegt. Auch etwas Natürliches, als wäre er auf dem Wasser geboren und von jeher mit dem Element vertraut. Und während sie ihn beobachtete, überlegte sie, wie die Eroberer dieser Gegend wohl ausgesehen haben mochten.
Niemand, den sie kannte, hatte auch nur die leiseste Ähnlichkeit mit ihm. Er war kompliziert, in mancherlei Hinsicht fast ein Widerspruchsgeist und dabei doch einfach - eine merkwürdige erotische Mischung. An der Oberfläche war er der Bursche vom Lande, der eben aus dem Krieg zurückgekehrt war, und wahrscheinlich sah er sich selbst auch so. Und doch war da viel mehr. Vielleicht war es die Poesie, die ihn so anders machte, vielleicht waren es die Werte, die ihm sein Vater mit auf den Weg gegeben hatte, als er heranwuchs. Was immer es war, er schien intensiver zu leben als andere, und das war es, was ihr gleich zu Beginn so sehr gefallen hatte.
»Woran denkst du? «
Sie zuckte zusammen, als Noahs Stimme sie in die Gegenwart zurückholte. Sie hatte kaum ein Wort gesagt, seitdem sie auf dem Wasser waren, und hatte die Stille genossen, die er ihr zugebilligt halte. Er war immer schon so rücksichtsvoll gewesen.
»Lauter angenehme Dinge«, entgegnete sie ruhig, und sie konnte in seinen Augen sehen, daß er wußte, daß sie über ihn nachgedacht hatte. Ihr gefiel die Vorstellung, daß er es wußte, und sie hoffte, daß auch er an sie gedacht hatte.
Und während sie ihn ansah, während sie sah, wie sein Körper sich bewegte, spürte sie wieder dieses sonderbare Brennen in ihrem Innern, wie vor so vielen Jahren. Als sich ihre Blicke begegneten, fühlte sie die Hitze in ihrem Nacken und in ihren Brüsten, und als sie merkte, daß sie errötete, wandte sie sich schnell ab.
»Ist es noch weit?« fragte sie.
»Etwa eine halbe Meile. Nicht mehr.«
»Es ist wunderschön hier draußen«, fuhr sie nach einem kurzen Schweigen fort. »So ruhig. Fast so, als wäre die Zeit stehengeblieben.«
»In gewisser Weise ist das auch so. Der Fluß kommt aus dem Wald. Zwischen hier und der Quelle gibt es kein einziges Farmhaus, und das Wasser ist rein wie Regen. Wohl genau wie seit Ewigkeiten.«
Sie beugte sich vor.
»Sag mal, Noah: Woran kannst du dich am besten erinnern, wenn du an unseren Sommer zurückdenkst?«
»An alles.«
»An nichts Besonderes?«
»Nein«, sagte er.
»Du erinnerst dich nicht?«
Er ließ sich Zeit mit der Antwort und sagte dann ruhig und erst:
»Nein, Allie, nicht an das. Nicht an das, was du meinst. Es war mir erst, als ich sagte: ›An alles‹. Ich kann mich an jeden Augenblick erinnern, den wir zusammen verbracht haben, und jeder Augenblick war wunderschön. Ich kann nicht einen einzelnen nennen und sagen, daß er mir wichtiger war als ein anderer. Der ganze Sommer war vollkommen, ein Sommer, wie jeder ihn einmal erlebt haben sollte. Wie kann ich da einen Augenblick hervorheben?
Dichter beschreiben die Liebe oft als ein Gefühl, das wir nicht kontrollieren können, ein Gefühl, das Logik und Verstand ausschaltet. Und genau das war es für mich. Ich hatte nicht die Absicht, mich in dich zu verlieben, und auch du hattest sicher nicht die Absicht, dich in mich zu verlieben. Aber als wir uns begegnet sind, war klar, daß keiner von uns seine Gefühle mehr unter Kontrolle hatte. Wir haben uns verliebt, obwohl wir so verschieden waren, und dann geschah etwas Seltenes und Wunderschönes. Ich habe eine solche Liebe nur einmal erlebt, und deshalb hat sich mir jede mit dir verbrachte Minute für immer eingeprägt. Ich werde niemals auch nur einen einzigen Augenblick vergessen können.«
Allie sah ihn mit großen Augen an. Noch nie hatte ihr jemand so etwas gesagt. Noch nie. Da sie nicht wußte, was sie entgegnen sollte, saß sie schweigend mit glutroten Wangen da »Entschuldige, Allie, wenn ich zuviel gesagt habe. Das wollte ich nicht. Aber dieser Sommer ist unvergeßlich für mich, und das wird er immer bleiben. Ich weiß, daß es zwischen uns nie mehr so sein kann wie damals, doch das ändert nichts an dem, was ich für dich empfunden habe.«
»Du hast nicht zuviel gesagt, Noah«, entgegnete sie mit ruhiger Stimme und fühlte eine angenehme Wärme durch ihren Körper strömen, »Es ist nur so, daß ich solche Dinge sonst nie höre. Was du gesagt hast, ist wunderschön. Nur ein Dichter kann so sprechen wie du, und, wie gesagt, du bist der einzige Dichter, den ich kenne.«
Friedliches Schweigen folgte. In der Feme ertönte der Schrei eines Fischadlers. Das Paddel bewegte sich gleichmäßig, verursachte winzige Wellen, die das Boot sanft schaukelten. Der Wind hatte sich gelegt, und die Wolken wurden immer schwärzer, während das Kanu einem unbekannten Ziel entgegen glitt.
Allie nahm alles wahr, jeden Laut, jeden Gedanken. Ihre Sinne waren hellwach und wanderten noch einmal durch die letzten Wochen. Sie dachte daran, wie sehr sie sich vor dieser Reise gefürchtet hatte. Wie sehr sie dieser Zeitungsartikel erschreckt hatte. Wie schlecht sie nachts geschlafen hatte und wie gereizt sie tagsüber gewesen war. Selbst gestern noch hatte sie Angst gehabt und wäre am liebsten davongelaufen. Die inneren Spannungen hatten nachgelassen. An ihre Stelle war etwas anderes getreten, und sie war glücklich darüber.
Sie war auf sonderbare Weise froh, daß sie hergekommen war, glücklich, daß Noah sich so entwickelt hatte, wie sie es sich vorgestellt hatte, glücklich, daß sie mit diesem Wissen leben würde. Sie hatte in den letzten Jahren zu viele Männer gesehen, die der Krieg, die Zeit oder auch das Geld zerstört hatten. Man brauchte viel Kraft, um sich innere Begeisterung zu bewahren, und das hatte Noah getan.
Die Welt, in der sie lebten, war eine Welt der Arbeit, des Geldes, nicht der Poesie, und es würde den Menschen schwer fallen, Noah zu verstehen. Amerika befand sich im Aufschwung, alle Zeitungen sprachen davon; die Menschen stürzten sich in die Arbeit, um die Schrecken des Krieges zu vergessen. Allie wußte warum, doch sie sah, daß alle, auch Lon, vor allem um des Profits willen so hart arbeiteten und dabei die Dinge vernachlässigten, die die Welt schön machten.
Wer in Raleigh würde sich Zeit nehmen, ein Haus zu restaurieren? Oder Whitman oder Eliot lesen und poetische Bilder ersinnen? Wer würde der Morgendämmerung im Kanu nachjagen? Das waren keine Beschäftigungen, die Gewinn brachten, doch Allie wußte, daß sie das Leben erst lebenswert machten.
Für sie galt das auch für die Kunst, obwohl sie das erst erkannt - oder, besser gesagt, wiedererkannt -hatte, nachdem sie hierhergekommen war. Damals hatte sie es gewußt, und sie verwünschte sich jetzt, etwas so Wichtiges wie das Schaffen von Schönheit vergessen zu haben. Sie würde wieder anfangen zu malen, das wußte sie. Schon heute morgen war ihr klar geworden, daß sie, was auch geschähe, einen neuen Anfang wagen würde.
Würde Lon sie dazu ermuntern? Sie erinnerte sich, ihm am Anfang ihrer Beziehung eines ihrer Bilder gezeigt zu haben. Es war ein abstraktes Gemälde gewesen, eines, das die Phantasie anregen sollte. In gewisser Weise ähnelte es dem Bild über Noahs Kamin, dem, das Noah sogleich verstanden hatte. Lon hatte darauf gestarrt, es eingehend studiert und dann gefragt, was es darstellen sollte. Sie hatte nicht einmal Lust gehabt zu antworten.
Sie schüttelte den Kopf, denn sie wußte, daß sie nicht ganz gerecht war. Sie liebte Lon, liebte ihn schon lange, wenn auch aus anderen Gründen. Zwar war er nicht Noah, doch er war in ihren Augen immer der Mann gewesen, den sie heiraten wollte. Mit Lon würde es keine Überraschungen geben, und es war ihr beruhigend vorgekommen zu wissen, was die Zukunft bringen würde. Er würde ihr ein guter Ehemann sein und sie ihm eine gute Ehefrau. Sie würde ein Haus in der Nähe von Freunden und Verwandten haben, einen angemessenen Platz in der Gesellschaft und Kinder. So war das Leben, das sie hatte leben wollen. Ihre Beziehung würde gewiß nicht leidenschaftlich genannt werden können, doch sie hatte sich schon vor langer Zeit eingeredet, daß es darauf nicht ankam. Die Leidenschaft würde mit der Zeit zwangsläufig vergehen; Achtung und Kameradschaftlichkeit würden an ihre Stelle treten. Beides würde sie bei Lon finden, und sie hatte geglaubt, daß sie mehr nicht brauchte.
Das aber erschien ihr plötzlich fragwürdig, als sie Noah beim Rudern zusah. Er verströmte bei allem, was er tat, allem, was er war, eine solche Sinnlichkeit, daß sie sich bei Gedanken ertappte, die sie als verlobte Frau nicht haben sollte. Sie versuchte, ihn nicht anzustarren, und schaute oft zur Seite, doch seine Art, sich zu bewegen, machte es ihr schwer, den Blick von ihm zu lösen.
»Da wären wir«, sagte Noah und steuerte auf das Ufer zu. Allie schaute sich um, konnte aber nichts Besonderes entdecken.
»Wo ist es?«
»Hier«, sagte er und lenkte das Kanu auf einen alten umgestürzten Baum zu, der eine Öffnung verdeckte, die als solche gar nicht zu erkennen war.
Er ruderte um den Baum herum, und beide mußten den Kopf einziehen, um sich nicht zu stoßen.
»Mach die Augen zu«, flüsterte er, und Allie schlug die Hände vors Gesicht. Sie hörte das leise Plätschern und spürte die Bewegung des Kanus bei jedem Ruderschlag, der sie aus der Strömung des Flusses trieb.
»Gut«, sagte er schließlich und hörte auf zu rudern. »Jetzt kannst du sie wieder aufmachen.«