SIEBEN
Es war der Erschöpfung zuzuschreiben, dass Lüder tief und traumlos geschlafen hatte. Der Blick in den Spiegel zeigte seinen schon seit Tagen sprießenden Bart, aber die tiefen Ringe unter den Augen waren ein wenig verblasst.
Er stellte sich ans Fenster und atmete die klare, noch angenehm kühle Luft ein. Am Horizont konnte man die Weite der Steppe erahnen.
Das Frühstück bestand aus stark gesüßtem schwarzen Tee und einem Brot, das einem Pfannkuchen ähnelte. Noch zwei Tage, dachte Lüder, dann gibt es wieder knackige Kieler Brötchen, holsteinische Landbutter, Holtseer Tilsiter und kräftige Lotsenmettwurst, dazu ein weich gekochtes Ei. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Das wäre jetzt ein kulinarisches Highlight.
Der Mann an der Rezeption verlangte US-Dollar und ließ sich auf dreißig herunterhandeln, nachdem Lüder in die Verhandlungen hatte einfließen lassen, dass er gegebenenfalls Innenminister Shiikh um Vermittlung bitten würde. Wenig später stand er vor der Tür und wartete auf das Taxi.
Urs Hürlimann war auch trotz mehrerer Versuche telefonisch nicht erreichbar gewesen. Lüder wollte zum Regierungsgebäude fahren und versuchen, über offizielle Stellen eine Reisemöglichkeit zu finden. Es war ihm gleich, ob man ihn nach Mogadischu, Addis Abeba oder Dschibuti fliegen würde. Er wollte fort.
Er wartete etwa eine halbe Stunde unter dem Baldachin des Hoteleingangs, als ein klappriger Toyota Starlet auftauchte. Lüder wunderte sich, dass das Fahrzeug mit drei Männern besetzt war. Das konnte nicht das angeforderte Taxi sein. Er griff sein Reisegepäck und wollte sich ins Hotel zurückziehen. Vergeblich. Das Personal hatte die Eingangstür verschlossen.
Die Männer sahen verwegen aus. Sie glichen eher Abenteurern oder Landarbeitern als Stadtbewohnern oder gar Taxifahrern. Der offensichtliche Anführer trug eine Jeans und ein Freizeithemd europäischen Zuschnitts, die anderen eine eigentümliche Mischung aus einheimischer und westlicher Kleidung.
»Kommen Sie«, forderte der Anführer Lüder auf und nickte mit dem Kopf in Richtung des Autos.
Lüder zog in Erwägung, seine Pistole aus dem Hosenbund zu ziehen und der Aufforderung nicht nachzukommen.
»No«, sagte der Anführer, der Lüders Reaktion zu ahnen schien, und zeigte auf den dritten Mann, der im Auto sitzen geblieben war und den Lauf eines Gewehrs auf Lüder richtete. Dabei grinste er und zeigte sein Gebiss. Ein Zahnarzt würde bei der Bestandsaufnahme viele fehlende Zähne dokumentieren, schoss es Lüder durch den Kopf.
Sich gegen die Aufforderung zur Wehr zu setzen, wäre sinnlos gewesen. Der Gewehrschütze hätte jede Aktion vereitelt.
»Wer sind Sie? Was wollen Sie?«, fragte Lüder den Wortführer.
»Kommen Sie mit. Ganz einfach«, erklärte der in einem holprigen Englisch. Dann sagte er etwas zu seinen Kumpanen. Der zweite Mann umrundete Lüder und klopfte ihn ab. Er zog die Pistole aus dem Hosenbund und hielt sie in die Höhe. Dann steckte er die Waffe ein. Der Mann setzte die Durchsuchung fort und beförderte alles zutage, das wertvoll schien. Zwischendurch schlug er von unten gegen Lüders Unterarme, um zu signalisieren, dass diese hochzustrecken seien. Wäre er der englischen Sprache mächtig gewesen, hätte er es vermutlich bei einem schlichten »hands up« belassen.
Das ist die Straßenkriminalität, wurde Lüder bewusst, von der stets berichtet wird. Und er war dem Überfall machtlos ausgeliefert. Lüder konnte sich nicht umdrehen, um zu sehen, ob das Hotelpersonal den Raub beobachtete. Aber was sollte auch geschehen? Hier gab es keinen Polizeinotruf, hier würde keine Streife vom nächsten Revier erscheinen. Und die verschlossene Hoteltür deutete darauf hin, dass man den Überfall erwartete und auf diese Weise jeden Rückzug ausschließen wollte. Ob das Personal mit den Kriminellen unter einer Decke steckte?
Der Mann plünderte ihn in aller Seelenruhe aus. Selbst die Armbanduhr, ein Geschenk von Margit zur Promotion, ließ er in seiner Tasche verschwinden. Mit einem Grunzlaut quittierte der Mann die US-Dollar in bar, die Lüder in einer Brusttasche um den Hals trug. Zwischendurch erhielt Lüder immer wieder Stöße und Rempler von seinem Widersacher. Als der Gangster nichts mehr fand, stieß er Lüder ins Kreuz, dass der vorwärtstaumelte.
»Einsteigen«, befahl der Anführer, während sich der zweite Verbrecher über Lüders Reisegepäck hermachte, alle Taschen öffnete und in der einheimischen Sprache dem Anführer den Inhalt aufzählte. An der Tonlage glaubte Lüder zu erkennen, dass die Männer mit ihrer Beute zufrieden waren.
Lüder quetschte sich auf den Rücksitz des Zweitürers, und der Mann mit dem Gewehr drückte ihm die Spitze des Laufs schmerzhaft in die Rippen.
Die Täter verstauten Lüders Gepäck im Kofferraum, stiegen ein und verließen die Zufahrt des Hotels. Lüder sah sich noch einmal um. Er konnte niemanden vom Personal entdecken. Das Haus schien wie ausgestorben.
Was hatten die Männer mit ihm vor? Herzog hatte ihn vor der Allgemeinkriminalität gewarnt. Ein Menschenleben galt hier nichts. Vielleicht befürchteten sie, Lüder könne sie beschreiben und die Sicherheitskräfte würden sie verfolgen. Lüder war nicht wohl in seiner Haut. Er war den Leuten ausgeliefert. Hilfe konnte er nicht erwarten.
Die Täter unterhielten sich lautstark in ihrer Sprache, lachten dabei und machten einen zufriedenen Eindruck. Sie fuhren die Hauptstraße entlang, durchquerten das Zentrum, wenn man es so nennen konnte, und verließen Garoowe am anderen Ende der Stadt. Gleich hier begann die trostlose Wüste aus rotem Sand. So weit das Auge reichte: Sand.
Lüders Herz schlug heftig. Sein Puls raste. Er versuchte, seine Anspannung vor den Leuten zu verbergen. Vielleicht wollten die Täter Zeit gewinnen und würden ihn irgendwo dort draußen aussetzen?
Nein!, dachte Lüder. So viel Umstände machte man nicht mit Opfern. Er versuchte, der Haltung der drei Männer und der Art und Weise, wie sie miteinander sprachen, etwas zu entnehmen. Es gelang ihm nicht. Zu fremd war die Sprache, um wenigstens am Klang etwas heraushören zu können.
Nach wenigen Kilometern bremste der Fahrer ab und bog auf ein umzäuntes Areal ab. Hinter der Mauer verbarg sich eine armselige Hütte, mehrere Unterstände, ein Brunnen. Ein paar Tiere liefen über den Hof und knabberten an den wenigen verdorrten Grashalmen.
Vor der Hütte stand ein Toyota Pick-up mit Doppelkabine, der arg mitgenommen aussah. Auffallend war das auf der Ladefläche montierte Maschinengewehr. Ein Technical. Fuhren gewöhnliche Kriminelle mit einem solchen Fahrzeug herum? Peltini und seine Leute, auch wenn der Sicherheitschef die mangelnde Reichweite seines Einflusses beklagte, würden das nicht akzeptieren. Nicht in Garoowe.
Was verbarg sich dann hinter diesem Kidnapping?
Entführung!
Lüder atmete durch. Seltsam, dass ihm dieser Begriff plötzlich einen Hauch Hoffnung verlieh. Man wollte Lösegeld für ihn. In einem Anflug von Sarkasmus huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Was ist ein deutscher Beamter dem Steuerzahler wert? Und wenn man leugnen würde, ihn zu kennen, ihn auf diese Mission geschickt zu haben? Wenn Rukcza und seine Leute den Standpunkt vertreten würden, die Bundesrepublik ließe sich nicht erpressen? Schlagartig fiel Lüder ein, dass seine Fragen nach dem Befinden der Besatzung der »Holstenexpress« stets unbeantwortet geblieben waren.
Der Mann mit dem Gewehr stieß noch einmal zu. Es war schmerzhaft. Auch ohne Worte verstand Lüder, dass er aussteigen sollte. Er folgte dem Fahrer und dem Anführer, die zum Eingang der Hütte gegangen waren, als es hinter ihm knallte. Natürlich verursachte das Geschoss keinen Luftzug, und doch spürte Lüder es. Abrupt blieb er stehen und zog automatisch den Kopf zwischen die Schultern. Es war ein Reflex. Der Mann hinter ihm brüllte etwas. Lüder hob die Hände und drehte sich ganz langsam um. Der Schütze wedelte mit der Waffe und schrie etwas auf Somali.
»Sprich vernünftig mit mir, du Arsch«, sagte Lüder und baute damit seine Anspannung ab. Der Mann schwenkte die Waffe und deutete auf einen Punkt zwischen sich und dem Pick-up.
Lüder zuckte die Schultern, um anzuzeigen, dass er den Somalier nicht verstanden hatte. Der hob das Gewehr und schoss erneut. Er zielte dabei etwa einen Meter an Lüder vorbei.
Jetzt war hinter ihm Gebrüll zu hören. Mehrere Männer verließen rufend die Hütte. Der Schütze antwortete etwas. Es entspann sich ein hektisch geführter Dialog, bis schließlich der Anführer an Lüder herantrat.
»Rühr dich nicht von der Stelle«, sagte er und befahl Lüder, die Hände auf den Rücken zu legen.
Ein weiterer Täter trat an ihn heran und band ihm die Hände hinter dem Körper zusammen. Dann wurde ihm eine Art Bettuch über den Kopf gestülpt. Kräftige Hände packten ihn, schleiften ihn über den Platz und warfen ihn auf die Ladefläche des Pick-ups. Sie nahmen dabei keine Rücksicht, sodass Lüder mit dem Schienbein gegen die Ladekante stieß und sich eine blutige Wunde einfing.
»Jeder Fluchtversuch wird bestraft«, schrie ihn der Anführer an.
Lüder versuchte sich etwas zurechtzuruckeln und lehnte sich gegen das Gestell des Maschinengewehrs. Dann wartete er. Er vernahm Stimmen, die lautstark palaverten. Nach einer Weile entfernten sie sich. Lüder vermutete, dass sich die Gruppe in die Hütte zurückgezogen hatte.
Die Männer ließen sich Zeit. Lüder wusste nicht, wie lange er dagelegen hatte. Es wurde wärmer, und die Ladefläche, auf der er lag, heizte sich auf. Zudem erschwerte der Sack, den man ihm über den Kopf gestülpt hatte, das Atmen. Endlich erschienen die Leute wieder. Lüder hörte Stimmen, dann stiegen mehrere Männer in den Pick-up ein. Er vernahm das Klappen von drei Türen. Der Motor wurde angelassen, und das Fahrzeug setzte sich in Bewegung.
Aufgrund der Fliehkraft, der er in der Kurve ausgesetzt war, erkannte Lüder, dass sie nach links auf die Straße abgebogen waren, das hieß, sie entfernten sich von Garoowe Richtung Wüste.
Die Straße war mit Schlaglöchern übersät. Lüder spürte jeden Stoß. Die Sonne brannte unerbittlich, auch wenn der Fahrtwind ein wenig Linderung verschaffte. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren.
Seit einer Ewigkeit rollten sie über die Straße. Selten wurde die Monotonie durch das tiefe Brummen eines entgegenkommenden Fahrzeugs unterbrochen. Es klang wie Lastkraftwagen. Ebenso selten waren Kurven. Lüder bekam jede zu spüren, weil er gegen die Halterung des Maschinengewehrs stieß. Seine Bemühungen, die Fesseln zu lösen, waren vergeblich. Bei dem Versuch schnitt das Seil noch tiefer ins Fleisch.
Zweimal hielt der Wagen an. Seine Bewacher stiegen aus, unterhielten sich, entfernten sich ein Stück vom Fahrzeug, ließen Lüder aber liegen. Niemand sprach mit ihm.
Erst bei der dritten Pause nahm man ihm den Sack vom Kopf und holte ihn von der Ladefläche. Er durfte ein paar Schritte laufen, bekam Wasser zu trinken, und man gestattete ihm, sich zu erleichtern. Auch die Hände wurden jetzt nicht mehr hinter dem Rücken, sondern vorn zusammengebunden. Ganz langsam begann das Blut wieder zu zirkulieren. Dann ging die Fahrt weiter.
Nach einer Zeit, die gefühlt unendlich währte, verringerte der Wagen die Geschwindigkeit und bog ab. Jetzt ging es langsamer voran. Das Fahrgeräusch hatte sich verändert, und Lüder vermutete, dass sie die Asphaltstraße verlassen hatten. Er nahm an, dass sie mehrere Stunden Richtung Norden gefahren waren. Dort lag die größte und wirtschaftlich bedeutendste Stadt Puntlands: die Hafenstadt Boosaaso. Sie fuhren noch eine Weile, bis sie erneut eine Pause einlegten. Er empfand es als Erleichterung, dass ihm der Sack abgenommen wurde. Er durfte auch wieder einen Schluck Wasser trinken, nachdem man ihn von den Handfesseln befreit hatte. Seine drei Bewacher saßen ein wenig abseits, lachten und tranken Tee.
Es war kühler geworden. Nach der Hitze des Tages war das fast angenehm. Lüder sah sich um. Sie befanden sich mitten in der Wüste. Ringsherum war nur karge Landschaft zu sehen. Lediglich im Norden – er orientierte sich am Stand der untergehenden Sonne – zeigte sich in der Ferne die Silhouette schroffer Berge; Felsungetüme, die nicht vergleichbar mit der vertrauten Kalenderschönheit der Alpen waren.
In diesen Breitengraden gab es nur eine kurze Dämmerung im Unterschied zur langen Phase, die der Tag im heimatlichen Schleswig-Holstein benötigte, um sich zu verabschieden. Und Tag und Nacht waren annähernd gleich. Da sie nördlich des Äquators waren, musste es etwa gegen achtzehn Uhr sein, überlegte Lüder. Dann war er schon neun Stunden in der Gewalt der Entführer.
Man bedeutete ihm, wieder auf den Pick-up zu klettern. Die Männer verzichteten darauf, ihm die Haube über den Kopf zu ziehen und ihn an dem Gestell des Maschinengewehrs festzubinden. Er konnte sich auf der Ladefläche selbst einen Platz suchen, als sie sich wieder in Bewegung setzten.
Kurz darauf war es stockfinster. Es war nichts mehr zu sehen. Der Fahrer musste dennoch den Weg kennen. Traumwandlerisch lenkte er den Toyota über die immer schlechter werdende Sandpiste. Sie durchquerten ein Wadi, schlängelten sich über Serpentinen, ohne im Gebirge zu sein, und erreichten nach einer schier endlosen und qualvollen Fahrt schließlich ihr Ziel.
Gierig sog Lüder die klare frische Luft ein. Er roch das Meer. Der Indische Ozean. Eine sanfte Brise streichelte ihn. Sie waren an einem Ort angekommen, der aus lauter armselig wirkenden Hütten bestand. Nur aus wenigen drang noch Licht. Das ganze Dorf schien zu schlafen. In seiner Trostlosigkeit wirkte es friedlich.
Man hatte ihn an die Küste gebracht. Sollte das bedeuten, dass die Entführer nicht gewöhnliche Kriminelle waren, sondern in Verbindung mit den Piraten standen? Dem Gefühl nach waren sie auch lange Richtung Norden gefahren. Demnach befanden sie sich nicht in Eyl oder einer der anderen Piratenhochburgen. Es musste das Ende der Welt sein, dort, wo die »Holstenexpress« ankerte. Lüder war sich sicher, in Hordio zu sein, unweit des Horns von Afrika.
Wenn es schon nach Mitternacht war, war der Sonnabend hereingebrochen. Heute wollte er mit der Familie in den Sommerurlaub nach Schweden aufbrechen. Und mittags wollte er sich bei Große Jäger gemeldet haben. Ob der Husumer schon mit Kriminaldirektor Nathusius gesprochen hatte? Fragen, auf die Lüder keine Antwort erhalten würde.
Einer der Entführer winkte ihm, den Pick-up zu verlassen und ihm in eine Hütte zu folgen. Lüder war erstaunt. Hinter der heruntergekommenen Fassade zeigte sich eine andere Welt. Die Einrichtung wirkte orientalisch, er sah Schnörkel an den Möbeln. Es sah plüschig aus. Das alles wurde durch eine trübe Funzel an der Decke erleuchtet. Nicht erwartet hatte Lüder den modernen Großfernseher und eine Batterie von Computern.
Ein schlanker Mann saß vor einem der Bildschirme. Er sah den Ankömmlingen entgegen, erhob sich, kam auf Lüder zu und streckte ihm die Hand entgegen.
»Ah, Herr Wolfram«, sagte er auf Deutsch. »Es ist sicher unangebracht, wenn ich Sie willkommen heiße. Andererseits – warum nicht. Sie haben sich von Nairobi bis hierher durchgefragt.«
»Die Art und Weise des Empfangs veranlasst mich nicht, Ihren Gruß in angemessener Weise zu erwidern«, sagte Lüder.
Der Mann schüttelte amüsiert den Kopf.
»Aber, aber«, sagte er.
Er trug die Galabija, was Lüder überraschte. Dieses Gewand trugen Männer heutzutage hauptsächlich in ländlichen Gegenden westlich des Nils.
»Sind Sie Ägypter?«, fragte Lüder.
»Ich? Aus Ägypten?« Für einen Moment war der Mann erstaunt. »Ach so«, sagte er. »Deshalb.«
Dabei hob er mit spitzen Fingern ein wenig den Stoff seines langen hemdartigen Gewandes mit den weiten Ärmeln an. Es war traditionell mit weitem Rockteil und Brustschlitz geschnitten. Der Kragen fehlte. Wie die berühmte Frage nach dem, was die Schotten unterm Kilt tragen, war die Frage in diesem Fall praktisch zu beantworten. Es ging westlich zu mit Unterhemd und Boxershorts, bei Kälte durfte es auch ein Pullover sein.
»Wo sind wir hier? In Hordio?«
»Kennen Sie sich aus am Horn von Afrika? Übrigens … Ich stamme aus Somalia. Ich trage die Galabija nicht nur aus Tradition, sondern weil es bequem ist. Warum ich Deutsch spreche, werden Sie als Nächstes fragen? Ich habe an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel Biological Oceanography bis zum Master studiert.«
»Ist Entführung ein Studienschwerpunkt gewesen?«
»Vielleicht haben wir Gelegenheit, ein wenig Licht in die Angelegenheit zu bringen«, erklärte der Mann und stellte sich vor: »Mein Name ist Youssef Galaydh. Aber das werden Sie sicher schon wissen.«
Lüder versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Wie kam Galaydh zu der Überzeugung, seine Identität wäre schon aufgedeckt? Traute er den deutschen Sicherheitsbehörden so viel zu?
»Mein Name ist Achim Wolfram«, sagte Lüder.
»Ich weiß.« Galaydh lächelte. »Journalist bei den Kieler Nachrichten. Sie interessieren sich für die Entführung der ›Holstenexpress‹. Warum?«
Lüder nahm den angebotenen Platz ein und berichtete vom Interesse in Deutschland, insbesondere im Norden der Bundesrepublik, an einem durch kriminelle Handlungen ungefährdeten Seehandel.
»Interessiert Sie auch die Situation der Menschen hier an der Küste? Gibt es in Deutschland Informationen darüber?«
»Sie können doch nicht die schwierige Lage in Somalia als Begründung nehmen für kriminelle Handlungen. Die gekidnappte Besatzung hat niemandem ein Leid zugefügt.«
»Wir haben keine andere Möglichkeit. Sonst erhört uns niemand. Wären Sie hierhergekommen, wenn Sie nicht das Schiff hier vermuten würden?«
»Ich glaube nicht. Es liegt hier«, sagte Lüder bestimmt. »Und wie soll ich über Ihren Standpunkt berichten, wenn man mich meiner Arbeitsmittel beraubt hat? Kamera. Notebook. Telefon. Alles wurde gestohlen.«
»Leider gibt es eine sehr hohe Allgemeinkriminalität in unserem Land. Das hätten Sie wissen müssen.«
»Ist es nicht eine Farce, wenn Sie mir scheinheilig erklären, ich wollte nach Hordio, und nun sei mein Wunsch erfüllt worden? Die Art und Weise, wie mich Ihre Leute gezwungen haben, ihnen zu folgen, ist Schwerkriminalität. Das wird auch in Puntland bestraft.«
Galaydh lachte herzhaft, als hätte Lüder einen ausgezeichneten Scherz von sich gegeben. »Sie meinen Peltini? Wollen Sie ihm unseren Aufenthaltsort verraten?« Erneut lachte der Somalier wie ein Kind. »Den kennt er, und zwar besser als Sie.«
»Sorgen Sie dafür, dass ich umgehend mein Eigentum zurückerhalte. Ich will mit der Besatzung sprechen und mich vom ordnungsgemäßen Zustand des Schiffes überzeugen.«
Galaydh wurde ernst. »Gar nichts werden Sie«, sagte er. »Sie haben keine Forderungen zu stellen.«
»Ich bin Journalist. Wenn Sie viele Jahre in Deutschland gelebt haben, muss ich Ihnen nicht die Bedeutung einer freien und unabhängigen Presse erklären.«
Der Somalier nahm eine drohende Haltung ein.
»Schweigen Sie«, sagte er im Befehlston. »Hier gelten unsere Regeln. Jeder weiß, dass vor den Küsten Somalias und seiner Nachbarstaaten … Haben Sie das gehört? Auch die Nachbarn sind betroffen! Dort herrscht ein großes Risiko von Piratenangriffen und Kaperungen. Der Einzugsbereich reicht bis tief in den Indischen Ozean, bis zu den Seychellen und Madagaskar. Jeder weiß das. Auch Ihre Regierung. Man warnt vor der Gefährdung in diesem Seegebiet. Und? Aus purer Profitgier kreuzen dort draußen, direkt vor unserer Haustür, weiter jede Menge Schiffe. Niemand will auf die Güter verzichten, die dort übers Meer befördert werden. Textilien, Spielwaren und Elektronikartikel könnten Sie auch in Europa produzieren. Aber nein. Es ist viel günstiger, es bei den Underdogs in der Dritten Welt herstellen zu lassen, um es dann ungeachtet der verheerenden ökologischen Folgen über die Meere zu transportieren. Wie viel Cent wäre eine indische Jeans teurer, wenn sie um das Kap der Guten Hoffnung geschifft würde?«
»Und Sie nehmen sich das Recht heraus, wie ein finsterer Wegelagerer Zoll zu erheben. Die Zeiten haben wir seit dem Mittelalter überwunden. Leben Sie hier noch im Mittelalter?«
Lüder registrierte, dass es Galaydh zunehmend schwerer fiel, die Beherrschung zu wahren. Es war ein riskantes Unterfangen, den Mann zu reizen, dabei aber nicht den Bogen zu überspannen. Auch wenn der Somalier in Deutschland studiert hatte und der westlichen Lebensart und Kultur begegnet war, konnte Lüder sein Verhalten nicht einschätzen. Immerhin hatte sich Galaydh den Entführern angeschlossen, schien sogar eine Führungsrolle einzunehmen. Und seine traditionelle Kleidung zeigte, welche Wahl er bei der Entscheidung zwischen Orient und Okzident getroffen hatte.
»Haben Sie ein Stipendium in Deutschland gehabt?«
»Warum?«, fragte Galaydh überrascht.
»Mich würde interessieren, wie sich bei Ihnen Dankbarkeit gegenüber dem Land ausdrückt, das Ihnen das Studium ermöglicht hat.«
»Muss ich mich deshalb westlicher Dekadenz beugen?«
»Sie sollen nicht Ihre Seele verbiegen, aber sich an das erinnern, was Sie als Moral aus Deutschland mitgenommen haben.«
Der Somalier machte eine verächtlich wirkende Geste. »Soll ich mich wirklich daran erinnern, wie mich kahl geschorene Typen in Kiel behandelt haben?«
Es hatte keinen Sinn, dachte Lüder, die fruchtlose Diskussion fortzusetzen. Es gab keine Grundlage, auf der ein Konsens zu erzielen wäre. Und heute hatte Galaydh die handfesteren Argumente. Lüder war ihm ausgeliefert.
»Lassen Sie mich umgehend frei«, forderte Lüder.
»Sie werden das tun, was wir für richtig halten«, sagte der Somalier mit Entschiedenheit. Dann sagte er etwas auf Somali, drehte sich um und setzte sich wieder vor den Computer.
Aus dem Hintergrund löste sich einer der Männer, stieß Lüder die Waffe ins Kreuz und dirigierte ihn hinaus zu einer anderen Hütte, die eine stabile Bohlentür hatte. Er schubste Lüder hinein und blieb im Türrahmen stehen. Kurz darauf erschien ein Kind. Lüder schätzte den Jungen auf höchstens zehn Jahre. Der Bursche brachte einen Krug mit Wasser und ein Stück des pfannkuchenartigen Brotes. Er reichte es Lüder, trat ein Stück zurück und spie vor Lüder aus. Auch Kindern hatte man schon den Hass beigebracht, dachte Lüder voller Bitterkeit. Die Tür wurde geschlossen.
Lüder hörte, wie ein Riegel vorgelegt wurde. Aus dem fensterlosen Raum, in dem es jetzt stockfinster war, gab es kein Entkommen. Wohin hätte er auch fliehen sollen? Rundherum war ein lebensfeindliches Land. Er tastete nach dem Krug, trank angewidert von dem faulig schmeckenden Wasser und brach stückchenweise von dem Brot ab, um seinen Hunger zu stillen. Irgendwann übermannte ihn die Erschöpfung, und er schlief auf dem harten Fußboden ein.
Zunächst vernahm Lüder Lärm von draußen, dann polterte es gegen die Tür, bevor der Riegel beiseitegeschoben wurde. Durch die Ritzen der Bohlen schimmerte es hell. Der Tag musste angebrochen sein. Es war also nach sechs Uhr früh.
Die Tür wurde aufgestoßen, und zwei Somalier kamen herein. Lüder hatte sie noch nie gesehen. Der ältere von beiden war höchstens achtzehn Jahre alt, der jüngere, der eine MPi auf Lüder richtete, war noch ein Kind. Das Alter war schwer zu schätzen. Sicher war er noch keine fünfzehn Jahre alt. Beide schrien auf Lüder ein und fuchtelten mit ihren Waffen. Als der Jüngere Lüders abschätzigen Blick bemerkte, visierte er Lüders Gesicht an und brüllte etwas mit sich überschlagender Stimme. Der Junge war gefährlich. Das tödliche Werkzeug in seiner Hand verlieh ihm eine Macht, die er in seinem Alter nicht zu beherrschen vermochte. Lüder hob die Hände und verschränkte sie im Nacken.
»Ist gut, du kleines Arschloch«, sagte er in besänftigendem Ton und versuchte ein Lächeln. Die Wortwahl diente Lüder dazu, sich selbst zu signalisieren, dass er noch Herr der Situation war, wenn die äußeren Umstände auch dagegensprachen.
Der Gestik der beiden entnahm Lüder, dass er ihnen folgen sollte. Als er aus dem dunklen Verlies ins Freie trat, benötigte er einen Moment, bis sich seine Augen an das grelle Licht gewöhnt hatten.
Hordio erwies sich bei Tag als schmutziges Nest. Die Straßen waren aus Sand und dreckig, die Häuser armselig und verfallen. Wo einst Farbe die Tristesse verschönt hatte, blätterte nun der Lack ab und zeigte schonungslos das vergammelte Holz. Nur wenige Menschen waren zu sehen, ausnahmslos Männer und Kinder, die Lüder und seine Bewacher aus der Distanz mit einer Mischung aus Neugierde und Furcht betrachteten.
Die beiden Jugendlichen dirigierten ihn Richtung Meer. Sanft rollten die Wellen des Indischen Ozeans auf den breiten Strand. Mancher europäische Nobelbadeort hätte sich glücklich geschätzt, über einen so breiten und feinkörnigen weißen Sandstrand zu verfügen. Das klare Wasser des Ozeans, die Wellen, die leichte Brise … Das waren die Zutaten für einen Traumurlaub. Doch für die Fremden in dieser Region war es ein Alptraum.
Im seichten Wasser schaukelte eine Handvoll offener Holzboote. In einem stand ein Mann, dem ebenfalls eine Maschinenpistole über der Schulter baumelte, und erwartete sie.
Lüder watete durch das Wasser Richtung Boot, zog sich über die Bordwand und folgte dem knurrig vorgetragenen Wink, sich am Bug des Fahrzeugs niederzukauern. Als er auf der Reling Platz nehmen wollte, zeigte der Mann auf den Boden. Der jüngere der Jugendlichen stieg mit in das Boot. Dann startete der Mann den Außenbordmotor, und das wendige Gefährt nahm rasch Fahrt auf. Der kräftige Volvo-Motor schien Lüder moderner und neuer Bauart zu sein.
Lüder vermied den Blickkontakt mit den beiden und versuchte sich zu orientieren. Dem Sonnenstand nach fuhren sie in südlicher Richtung und durchquerten eine Art Lagune, bis das Boot nach einer längeren Fahrtstrecke nach links schwenkte. Das Wasser war flach, und zu beiden Seiten waren Sandbänke zu erkennen.
Der Mann ließ das Boot auf den Strand auflaufen und zwang Lüder, es an Land zu ziehen. Dann musste er vor den beiden herlaufen, nachdem sie ihm eine Richtung angegeben hatten. Das Gehen erwies sich als schwierig. Der sandige Boden, der einer Dünenlandschaft ähnelte, war mit niedrigen Gräsern bewachsen. Es war ein kräftezehrender Marsch, auch wenn es nur eine Dreiviertelstunde dauerte, bis am Horizont eine Siedlung auftauchte.
Das musste Hafun sein, eine Hafenstadt auf dem Landvorsprung, der hier in den Indischen Ozean hineinreichte. Lüder sah eine Ruine, die ein wenig an die herabgestürzte Fassade des World Trade Centers erinnerte. Die Reste eines zerstörten Stegs ragten wie tot aus dem Wasser. Die Straßen zwischen den weiß getünchten Häusern mit den auffallend grünen Dächern waren staubig. Ein Belag fehlte.
Kurz darauf hatten sie ihr Ziel erreicht, zwei Hütten in Strandnähe. Sie waren von einer der für Somalia typischen Mauern umgeben. Das Tor wurde hinter ihnen geschlossen, nachdem seine Führer von zwei anderen Männern begrüßt worden waren. Die drei erwachsenen Männer verschwanden ins Innere des Hauses, während der Junge sich in den Schatten der Hütte setzte und die MPi auf den Knien hielt. Dabei ließ er Lüder, der mitten auf dem Hof stand, nicht aus den Augen.
Nachdem man ihn eine Weile hatte stehen lassen, hockte Lüder sich auf den sandigen Boden. Es war mittlerweile warm geworden, und der Schweiß drang ihm aus allen Poren. Außer einem aus der Hütte dringenden Palaver war nichts zu hören. Das passte zum Gesamteindruck des Anwesens. Es wirkte verlassen.
Schließlich kamen die drei Männer aus der Hütte. Lüders Führer verabschiedete sich und wurde zum Tor begleitet, während einer der Bewacher auf Lüder zukam und in gebrochenem Englisch sagte: »Kommen Sie.«
Er führte Lüder zur zweiten Hütte, zog aus seinem Gewand einen altertümlichen Schlüssel, über den sich jeder Requisiteur eines Historienfilms begeistert gezeigt hätte, schob den zusätzlichen stabilen Sperrriegel auf und öffnete die Tür.
»Rein«, sagte er.
»Wie soll es weitergehen?«, begehrte Lüder auf.
Aber der Mann holte aus und trat Lüder schmerzhaft an den Oberschenkel. Lüder stolperte in das Innere und hörte, wie hinter ihm krachend die Tür ins Schloss fiel.
Lüder schlug eine Welle unglaublichen Gestanks entgegen, die ihm den Atem raubte. Er versuchte flach zu atmen, aber die schlechte Luft blieb. Dann bemerkte er die Menschen, die wie in einem schlechten Mantel-und-Degen-Film auf dem Fußboden kauerten, gegen die Wand lehnten oder sich zusammengerollt hatten.
»Hello«, sagte er auf Englisch.
Unverständliches Gemurmel drang ihm entgegen.
»Ich bin Achim Wolfram, Journalist aus Kiel«, versuchte Lüder es auf Deutsch.
»Aus Kiel?« Eine Stimme in unverkennbar breitem Hamburger Dialekt kam aus einer Ecke. Dann schraubte sich eine Gestalt in die Höhe und wankte mehr, als dass sie ging, auf ihn zu. Im Halbdunkel sah Lüder eine Hand, die sich ihm entgegenstreckte.
»Hein Piepstengel. Von Hamburch. Genau genommen von Barmbek. Kennst die Dehnhaide? Da bin ich von her. Mensch. Wie haben sie dich denn erwischt? Bist auch mit ’nen Kahn unterwegs gewesen?«
»Ich bin auf der Suche nach den Entführern der ›Holstenexpress‹ und ihrer Besatzung.«
»Glückwunsch. Hast beide gefunden. Komm, setz dich.« Piepstengel zog Lüder am Ärmel an die Wand und ließ sich dort nieder. Lüder setzte sich neben ihn.
»Mensch. Das ist ja ’nen Ding.« Piepstengel war sichtlich aufgeregt. »Hätt ich nicht gedacht, dass da so ’n Schreiber bis hierher dackelt. Nur für uns.« Er stieß seinen Nachbarn an. »Das glaubst nicht, Datu, was?« Dann knuffte er Lüder in die Seite. »Ach, der versteht mich ja nicht. Ist Matrose. Kommt von den Philippinen. Komisch, was? ’nen deutsches Schiff, und nur zwei können die Sprache.«
»Wer spricht noch Deutsch?«, fragte Lüder in den Raum hinein.
Niemand antwortete.
Piepstengel rückte an Lüder heran. »Schöster, der Zahlmeister. Ist erst in Chennai, dem früheren Madras, an Bord. Komischer Knabe. Spricht mit kein was.«
»Und welche Funktion üben Sie an Bord aus?«
»Sie? Sag man Du. Ich bin Hein.«
»Achim«, wiederholte Lüder seinen Decknamen.
»Ich bin der Ingenieur an Bord. Na ja, eigentlich bin ich ja nur Schmiermaxe. Hab nicht studiert. Und auch nicht gelernt, ich mein, so als Beruf«, flüsterte Piepstengel. »Aber was soll’s. Ich kenn die Maschine ausm Effeff. Bin sozusagen mit ihr verheiratet. Ist auch billiger für die Reederei. Mir müssen sie nicht so viel Piepen löhnen wie ’nem richtigen Ingenieur.«
Dann berichtete Piepstengel, wie das Schiff in die Hände der Piraten gefallen war.
»Wir sind ganz arglos längs geschippert. War ’nen schöner Tag. Plötzlich sind die Brüder aufgetaucht mit ihren Speedbooten. So schnell kannst gar nicht gucken. Ratzfatz war’n die an Bord. Vorher haben die mit MGs und Gewehrgranaten über unsere Köpfe geballert. Bringt nichts, sich wehren zu wollen. Die sind uns über.«
»Wie viele Piraten waren an dem Überfall beteiligt?«
»So ungefähr fünfzehn. Ich hab das nur am Rande mitgekriegt. Welche sind zur Brücke rauf und haben den Kapitän zur Kursänderung gezwungen. Die hatten Ahnung von Seefahrt. Den konntest du nichts vormachen und woandershin schippern. Nix da. Einer ist mit seiner Bleispritze zu mir in den Keller.«
»Keller?«, fragte Lüder.
»Ja. Runter in den Maschinenraum. Der war doof wie Schifferscheiße. Aber er hatte die Bleispritze. Ich hätt ihm ja gern was mit dem großen Schraubenschlüssel verpasst, aber gegen seine Kumpels kommst nicht gegen an. So ’n Mist. Nun sitzen wir hier in diesem Drecksloch.«
»Ist jemand verletzt?«, fragte Lüder.
»’nen paar Schrammen und blaue Flecken.«
»Aber ernstlich verletzt wurde niemand?«
»Nee. Auch keiner tot.«
»Was hatte die ›Holstenexpress‹ geladen?«, fragte Lüder.
»Keine Ahnung.« Es klang ehrlich. »Das erfährst du nicht unten im Keller. Ist auch egal, ob wir Schnaps fahren, heiße Weiber oder Dynamit.«
»Dynamit? Waffen?«
»Quatsch. War nur so gesagt. Wirklich. Davon weiß ich nichts.« Piepstengel räusperte sich. »Sag mal. Wann komm wir hier wieder raus aus diesem Scheißloch? Hier erstickst ja. Ich will endlich duschen, aber vorher ’ne Lulle und ’nen kühles Bier zischen.«
»Sind alle gesund?«, fragte Lüder.
»So leidlich. Ist nur noch ’ne Frage der Zeit, bis die Ersten krank werden. Riechst das?«
Der bestialische Gestank war nicht zu verleugnen.
»Die haben uns hier einen Eimer reingestellt.« Er zeigte auf eine Ecke. »Du weißt schon. Für Dingsbums. Da müssen alle rauf. Und das Dings wird nur selten ausgeleert. Dann darf es einer nach draußen tragen. Inzwischen reißen sich alle darum, den Scheißeimer leeren zu dürfen. Sonst kommst du nicht an die Luft.«
»Nicht mal kurz?«, fragte Lüder.
»Nix da. Wir hocken hier stumpfsinnig herum.«
»Wie ist die Verpflegung?«
Piepstengel lachte voll Bitterkeit auf. »Gut«, sagte er unüberhörbar ironisch. »Weil … das ist so miserabel. Da gehen nicht mal die Ratten ran. ›Canjeero‹. So nennen die das Brot. Dazu gekochte Adzukibohnen mit Zucker. Brrrh.« Er schüttelte sich. »Und zu trinken fauliges Wasser. Das schmeckt, als wenn die da reingepisst hätten. Wundert dich das, dass es alle am Darm erwischt hat?«
Dann wollte Piepstengel wissen, wie die Situation draußen war. Ob das Lösegeld für das Schiff gezahlt würde? Wann?
»Hoffentlich schicken die nicht die GSG9«, sagte er. »Das gibt sonst ein Gemetzel.«
»Man bemüht sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln um eure Freilassung«, log Lüder.
»Das will ich auch schwer hoffen.«
»Wo ist der Kapitän?«
»Da an der Seite«, sagte Piepstengel und drückte Lüders Unterarm. »Schön, dass du da bist.«
Lüder kroch in die angegebene Richtung und stieß gegen ein paar ausgestreckte Füße.
»Pass auf, du Armleuchter«, schimpfte eine Stimme auf Englisch, die aber einen unverkennbaren harten Ostblockklang aufwies.
»Kapitän Syrjanow?«
»Hier«, meldete sich eine müde Stimme ein Stück weiter.
Lüder robbte an Porfirij Syrjanow heran. Aus der Besatzungsliste wusste er, dass der russische Kapitän vierundfünfzig Jahre alt war.
»Ich heiße Achim Wolfram und bin Journalist«, begann Lüder und erzählte in gekürzter Form seine erfundene Geschichte.
»Wie blöde muss man sein, um sich einem solchen Risiko auszusetzen«, mischte sich die andere Stimme ein.
»Wer ist das?«, fragte Lüder den Kapitän.
»Wadym Kalynytschenko, mein Erster Offizier«, sagte Syrjanow mit matter Stimme.
Lüder erinnerte sich an die Besatzungsliste, die er in Flensburg gesehen hatte. Der zweite Mann an Bord war ein siebenunddreißigjähriger Ukrainer.
»Mich interessiert die Geschichte hinter der Entführung«, erklärte Lüder. »Haben die Piraten es auf die Ladung abgesehen?«
»Bei allen bisherigen Entführungen ging es nur ums Lösegeld«, sagte der Kapitän. »Die Piraten sind Kriminelle. Das ist alles. Es gibt keine Hintergrundstory.«
Genau das war die Frage, die Lüder beschäftigte. Warum ließen sich die Piraten so lange Zeit, um ihre Forderung vorzutragen?
»Was hat die ›Holstenexpress‹ geladen?«
»Vieles«, erwiderte der Kapitän. »Als wir noch Stückgut fuhren, hatte man einen besseren Überblick. Heute sind es Container. Da kann alles Mögliche drin sein.«
»Nennen Sie ein paar Beispiele.«
»Sie stellen merkwürdige Fragen«, warf Kalynytschenko ein.
»Das pflegen Journalisten berufsmäßig zu tun.«
»Ich glaube nicht, dass Sie Journalist sind.«
»Was denn?« Lüder hielt für einen Moment den Atem an.
»Vielleicht kommen Sie von einer Versicherung und suchen nach Gründen, die Zahlung des Lösegeldes zu verweigern.«
Darüber wurde in Berlin nicht gesprochen, überlegte Lüder. Niemand hatte erwähnt, dass es eine solche Versicherung für die ›Holstenexpress‹ und ihre Besatzung gab.
»Ist das Schiff versichert?« Lüder richtete seine Frage an den Ersten Offizier.
»Da müssen Sie die Reeder fragen.«
»Wissen Sie das?«, wandte sich Lüder an den Kapitän.
»Darüber sind wir nicht informiert. Und zu Ihrer Frage nach der Ladung … Die Piraten haben uns gezwungen, das Schiff vor der Küste vor Anker zu legen. Dort kann niemand die Ladung löschen. Hier gibt es nicht das notwendige Geschirr. Und wie wollen Sie das logistisch bewerkstelligen? Die Gegend ist vermutlich sehr einsam.«
Das konnte Lüder bestätigen. Würde es wirklich gelingen, Teile der Container umzuladen, würde die Deutsche Marine die Feederschiffe per Satellit bis zum Bestimmungshafen verfolgen und mit Hilfe der dortigen Behörden eingreifen. Ein Transport über Land war ausgeschlossen. Und für den möglicherweise sehr wertvollen Inhalt eines einzelnen Containers konnten sich die Entführer nicht interessieren. Sie hatten nicht die technischen Möglichkeiten, die in vielen Lagen übereinanderstehenden Behälter zur Seite zu räumen, um an einen bestimmten heranzukommen.
»Warum zieren Sie sich, Auskünfte über die Ladung zu erteilen?«, fragte Lüder.
»Wissen Sie, was es bedeutet, ein Schiff zu führen? Um was es sich zu kümmern gilt? Lediglich bei gefährlichen Gütern ist es für den Kapitän bedeutsam zu wissen, was er an Bord hat. Außerdem ist für die Ladung der Erste Offizier zuständig.«
»Dann sagen Sie es mir«, forderte Lüder Kalynytschenko auf. »Oder ist das ein Geheimnis? Vielleicht können mir die Piraten die Fragen beantworten. Ich glaube, ich werde sie darauf ansprechen.«
Der Erste Offizier stand auf. Er war ein großer, breitschultriger Mann. Er baute sich vor Lüder auf und sah auf ihn hinab.
»Sie sollten Ihre Klappe halten. Unsere Lage ist schlimm genug. Wenn Sie auch noch unqualifizierte Gerüchte streuen, kann es noch ärger werden. Wollen Sie die Verantwortung dafür übernehmen? Sofern Sie hier lebend herauskommen, könnte man es als konspirative Zusammenarbeit mit den Verbrechern auslegen. Das ist sicher Ihrer Karriere nicht förderlich. Und Ihrer Gesundheit auch nicht.« Die Drohung hinter dieser Warnung war unüberhörbar.
»Halten Sie endlich die Klappe. Ihre Fragen sind hier nicht angebracht«, meldete sich der Mann, den Piepstengel als Schöster vorgestellt hatte, zu Wort. Der Zahlmeister. »Die Menschen in diesem Verlies haben andere Sorgen. Lassen Sie den Kahn und die Scheißladung doch absaufen, wenn wir hier nur rauskommen. Und das einigermaßen heil und gesund. Als Schönwetterjournalist haben Sie keine Ahnung, was hier vorgeht.« Schöster hatte englisch gesprochen.
»Dann erklären Sie es mir«, erwiderte Lüder. »Ich möchte es gern verstehen.«
Kalynytschenko trat Lüder gegen das Knie. Es war nicht heftig, aber spürbar.
»Maul halten«, sagte der Erste Offizier im Befehlston.
»Sie haben hier nichts zu sagen«, erwiderte Lüder.
»Halt die Schnauze. Du hast hier nichts zu melden. Dein Geseire geht uns auf die Nerven. Ich führe hier das Kommando.«
»Die Befehlsgewalt liegt beim Kapitän«, warf Lüder ein.
»Wir sind hier nicht auf dem Schiff. Hast du das immer noch nicht kapiert? Noch einmal als letzte Warnung: Halt’s Maul.« Erneut trat Kalynytschenko zu.
Es hatte keinen Sinn, mit dem Ersten Offizier einen Machtkampf auszufechten, überlegte Lüder. Ihm stand die gesamte Mannschaft der »Holstenexpress« gegenüber.
Nachdem sich Kalynytschenko zurückgezogen hatte, kam Piepstengel herangekrochen und zupfte Lüder am Arm, und sie entfernten sich ein Stück von den Schiffsoffizieren.
»Leg dich nicht mit dem Russen an«, wisperte der Maschinist auf Deutsch.
»Mit dem Kapitän?«
»Der ist ganz in Ordnung. Der Erste ist ein Widerling.«
»Der ist Ukrainer«, erwiderte Lüder.
Piepstengel stutzte. »Woher weißt du das?«, fragte er misstrauisch. »Das hat hier keiner gesagt.«
»Ich habe mich vorher informiert«, erklärte Lüder. Er musste vorsichtiger sein.
Piepstengel blieb skeptisch. »Kalynytschenko hat vielleicht recht. Dein Auftauchen hier ist schon merkwürdig. Woher wusstest du so genau, wo sie uns versteckt haben? Das ist hier am Arsch der Welt.«
»Die Marine hat euch per Satellit verfolgt.«
»Und warum kommen die nicht und schicken einen Zeitungsmenschen?«
»Mich hat keine offizielle Stelle geschickt«, erklärte Lüder. »Ich bin Reporter und arbeite für eine Zeitung.«
»Dann kommen wir auf die Titelseite der Bildzeitung?«
»Ich arbeite für eine andere Zeitung. Und hierhergefunden habe ich auch nicht allein. Ich habe mich in Kenia und Somalia ein wenig umgehört und muss dabei einigen Leuten auf die Füße getreten haben. Schließlich bin ich genauso entführt worden wie ihr und hocke nun in diesem Loch in Hordio.«
»Das ist nicht Hordio, sondern Hafun«, korrigierte ihn Piepstengel.
Das hatte Lüder wissen wollen. Die Männer waren folglich informiert über ihren Aufenthaltsort.
»Woher weißt du das?«, fragte er.
Der Maschinist zeigte ins Dunkel in Richtung der Schiffsführung. »Das hat der Erste gesagt.«
»Kalynytschenko? Woher weiß der das?«
»Na, hör mal«, empörte sich Piepstengel. »Wenn die Nautiker nicht wissen, wo sie gerade sind, dann ist aber zappenduster.«
Vielleicht hatte er recht, überlegte Lüder. Und wenn der Kapitän und Kalynytschenko doch besser informiert waren? Ich fange an, Gespenster zu sehen, sagte Lüder zu sich selbst.
»Wie oft bist du schon diese Strecke mit der ›Holstenexpress‹ gefahren?«
»Och.« Piepstengel überlegte eine Weile. »Keine Ahnung. Für mich ist das so, als wenn du von Barmbek nach dem Hauptbahnhof fährst.« Lüder schmunzelte. Hein Piepstengel war Hamburger. Er fuhr »nach dem Hauptbahnhof« und nicht »zum«. »Da denkst auch nicht drüber nach. Irgendwann guckst du nicht mehr aus dem Fenster.«
»War auf dieser Fahrt irgendetwas anders als sonst?«
»Nö«, antwortete Piepstengel. »Wie immer.«
»Denk mal nach«, forderte Lüder ihn auf.
»Fällt mir schwer, ich mein, das Denken mit meiner Birne. Das war wie immer. Nur in Madras, also in Chennai, wie das heute heißt, da haben wir noch auf Ladung gewartet.«
»Kommt das öfter vor?«
»Eigentlich achtet die Reederei darauf, dass der Fahrplan eingehalten wird. Das ist ein Umlauf, verstehst du? Hamburg – Indien – Ostasien und zurück. Alles unter Zeitdruck. Wenn du mal ’ne Verspätung hast, schleppst du die ewig vor dich her.«
»Vor dir.«
»Wieso vor mich?«
Lüder unterließ es, Piepstengel weiter zu korrigieren.
»In Indien habt ihr noch auf Ladung gewartet.«
»Ja. Die sind einfach nicht an Land gekommen, die Maharadschas. Is nix mit just in time bei denen.«
»Was war das für Ladung?«, wollte Lüder wissen.
»Weiß ich doch nicht. Blechkisten. Wie die fünftausend anderen Dinger, die wir an Bord haben. Meinst du, ich guck da rein?«
»Wenn ihr die zuletzt geladen habt, müssten die doch oben stehen, also in der obersten Lage.«
»Müsste eigentlich«, sagte Piepstengel zögernd. »Das ist ganz schön kompliziert mit dem Verladen. Macht ein Computer. Du kannst ja nicht die Kisten nach unten packen, die zuerst wieder raussollen. Das macht kein Sinn.«
»Also werden die Container, die ihr als Letztes in Madras an Bord genommen habt, als Erstes wieder entladen?«
»Das ist doch logisch.«
»Die werden also in Genua in Italien wieder gelöscht, weil die oben sind.«
»Kann sein. Aber warum interessiert dich das?«
»Worüber sollen wir sonst sprechen«, sagte Lüder. Es klang eher beiläufig. »Für Kreuzworträtsel ist es hier zu dunkel.«
Piepstengel lachte. »Stimmt.«
»Hast du eine Freundin in Genua?«, wich Lüder aus.
»Wie denn? Weißt du, wie lange wir im Hafen liegen bleiben? Das ist wie ein Quickie. Kurz rein und dann wieder raus und ab zur Nächsten.« Er lachte meckernd. »Ich mein natürlich Hafen.«
»Und das ist Le Havre?«
»Jo.«
»Und dann geht’s ab nach Hamburg?«
»Ohne Pause. Direkt bis Barmbek«, bestätigte der Maschinist.
Sie machten eine kleine Pause, bis Lüder schließlich fragte, ob Piepstengel Familie habe. Dabei dachte er an seine eigene, die jetzt in Kiel im Ungewissen saß und auf ihn wartete.
Der Maschinist erzählte etwas über ziemlich verworrene Verwandtschaftsverhältnisse. Lüder hörte nur mit einem halben Ohr zu.
»Schöster, der Zahlmeister, stammt der auch aus Hamburg?«
»Keine Ahnung. Weiß nicht. Der ist erst in Madras an Bord.«
»Ach«, tat Lüder überrascht. »Hat sein Vorgänger abgemustert?«
»Nö. Wir hatten keinen. Der ist neu.«
»Einfach so?«
»Mensch. Meinst du, die in Flensburg fragen Hein Piepstengel? Ich bin nur der Schmiermaxe unten im Keller.« Dann herrschte Schweigen, bis dem Maschinisten schließlich doch noch etwas einfiel. »Ist schon merkwürdig.«
»Was denn?«
»Der Neue ist mit der verspäteten Ladung gekommen.«
»Bitte?«, fragte Lüder erstaunt.
»Sah fast so aus, als hätte er sie begleitet.«
Das war eine sensationelle Neuigkeit und bestärkte Lüder in der Vermutung, dass die Ladung der ›Holstenexpress‹ eine entscheidende Rolle spielte. Vermutlich lag das Geheimnis irgendwo in den Containern, die in Indien an Bord genommen wurden. Hatte Hans-Günter Schöster die Funktion eines Kontrolleurs inne, der ein besonderes Augenmerk auf diese Container werfen sollte? Was war, um in der Sprache der Seefahrt zu bleiben, aus dem Ruder gelaufen?
Irgendetwas war anders bei diesem Piratenüberfall, etwas, das sogar das politische Berlin in helle Aufregung versetzte. War das einer der Gründe, weshalb man den polizeilichen Staatsschutz informiert hatte? Und da maritime Belange berührt waren, hatte man eine norddeutsche Landespolizei auserwählt. Hamburg war der Zielhafen der ›Holstenexpress‹. So wäre es naheliegend gewesen, das dortige Landeskriminalamt einzuschalten. Hatte man Kiel gewählt, weil die Reederei in Schleswig-Holstein beheimatet war? Oder, überlegte Lüder mit einem Anflug von Sarkasmus, war die Wahl auf Kiel gefallen, weil man in Berlin vermutete, dort seien die Deppen beheimatet?
Und als man in der Bundeshauptstadt feststellte, dass Lüder vorankam, hatte ihn Staatsminister Rukcza umgehend zurückbeordert. Nicht mit mir, sagte er sich grimmig. Es wird überall nur mit Wasser gekocht. Aber die Nordsee hat Salzwasser. Das wird den Berlinern die Suppe verleiden, die sie auslöffeln müssen.
»Hein!« Es war ein Befehl. Der Erste Offizier hatte gerufen.
»Ja?«
»Komm rüber zu mir.«
»Warum?«
»Komm!«
»Das ist ein Stinkstiefel«, raunte Piepstengel Lüder zu, folgte dann aber der Aufforderung.
»Setz dich zu uns«, forderte Kalynytschenko den Maschinisten auf.
Die auf Deutsch geführte Unterhaltung mit Lüder war den Schiffsoffizieren offenbar nicht geheuer. Sie wollten Piepstengel unter Kontrolle haben. Lüder wusste nicht, ob die Männer Deutsch verstanden. Insofern war das Gespräch in der Muttersprache keine Gewähr für Vertraulichkeit, insbesondere da Schöster auch Deutscher war und sicher eher mit dem Kapitän und Kalynytschenko kooperieren würde als mit Lüder. Und der leutselige Piepstengel hatte sich an den Anweisungen seiner Schiffsführung zu orientieren. Merkwürdig erschien Lüder auch, dass der Erste Offizier das Wort zu führen schien, während sich Kapitän Syrjanow auffallend zurückhielt. Das galt auch für Wang Li, den Zweiten Offizier aus China, der sich überhaupt noch nicht zu Wort gemeldet hatte.
Es herrschte Stille im Verlies, wenn man vom leisen Getuschel der Philippiner absah, die sich in ihrer Muttersprache unterhielten.
Lüder kauerte sich an die Wand und umschloss seine angewinkelten Knie mit den Händen. Es waren nicht nur die schreckliche Luft und der erbärmliche Gestank, sondern auch die Myriaden von Insekten, die um ihn herumschwirrten, die ihm zusetzten. Zunächst hatte er noch versucht, sie abzuwehren, aber irgendwann resignierte er und schlug nicht mehr nach ihnen.
Das Warten zerrte an den Nerven. Man saß auf dem gestampften Lehmboden und stierte stumpfsinnig vor sich hin. Abwechslung bot nur der Gang zur fensterlosen Öffnung in der Wand, durch die gerade der Kopf hindurchpasste und die den Blick auf den tristen Innenhof freigab. Dort kauerte immer noch der Junge mit der Maschinenpistole, der Lüder hierher begleitet hatte. Sonst war es totenstill auf dem Areal.
Die nicht zu enden scheinende Gleichförmigkeit wurde nur unterbrochen, wenn eine der Geiseln zum Eimer taumelte, um sich zu entleeren. Es war entwürdigend. Lüder versuchte, diese Funktionen seines Organismus unter Kontrolle zu halten. Irgendwann aber musste auch er nachgeben und den letzten Rest seiner Selbstachtung in die Ecke des Raumes tragen. Die Lage, in der sich die Männer befanden, war mehr als erbärmlich.
Das stupide Kauern auf dem Fußboden wurde unterbrochen, als einer der Bewacher das Essen brachte. Er stellte es vor der Tür ab, öffnete sie und zog sich ein Stück zurück. Neben ihm stand das Kind, die Waffe im Anschlag auf die Geiseln gerichtet. Wie Verdurstende stürzten sich die Männer auf das kärgliche Mahl und den Krug mit Wasser.
»Komm«, forderte Piepstengel Lüder auf. »Es gibt nur einmal am Tag was zu futtern.« Gierig griffen die Leute zu. Auch wenn Lüder speiübel wurde beim Anblick des Essens, nahm er sich seinen Teil und versuchte, es herunterzuwürgen. Er zwang sich auch, vom fauligen Wasser zu trinken. Nicht ein Krümel blieb nach der Verteilung der Mahlzeit übrig. Danach zog wieder die Tristesse ein.
Lüder setzte sich neben Hans-Günter Schöster. »Aus welcher Gegend kommen Sie?«, fragte er unverfänglich.
Er musste seine Frage wiederholen, bevor Schöster antwortete: »Ich lege keinen Wert auf eine Unterhaltung mit Ihnen.«
Lüder versuchte, den Dialekt einzuordnen. Es gelang ihm nicht. Schöster hatte eine harte Aussprache. Mit ein wenig Phantasie klang es wie Böhmisch. Blödsinn, dachte Lüder. Der Name war urdeutsch.
»Haben Sie die Container in Indien bis zum Schiff begleitet?«
Ein Ruck ging durch den Mann. »Ich lege keinen Wert auf eine Unterhaltung. Das hatte ich schon einmal gesagt.« Es klang forsch.
»Haben Sie etwas zu verbergen? Ist das nicht merkwürdig, dass Sie zusammen mit den rätselhaften Containern an Bord kamen und eine Position bekleiden, die es zuvor nicht gab?«
»Sie sollen mich zufriedenlassen«, schimpfte Schöster auf Englisch und zog damit die Aufmerksamkeit aller auf sich.
»Ah, Treffer«, fuhr Lüder auf Deutsch fort. »Ich freue mich schon, Ihre Geschichte auf der Titelseite abgedruckt zu sehen.«
»Kann man mich nicht von diesem Kerl befreien?«, sagte Schöster in den Raum hinein. Dann folgte etwas auf Russisch.
Sofort sprang Kalynytschenko auf und rief drei der philippinischen Matrosen mit Namen auf, die ihm folgten und Lüder umringten.
»Noch ein Wort, und ich lasse von den Männern Ihr Maul stopfen«, drohte der Erste Offizier.
»Wir sollten uns nicht gegenseitig bekriegen«, meldete sich Wang Li, der Zweite Offizier, erstmalig zu Wort. »Wir sind doch alle in derselben Situation.«
»Der nicht«, fluchte Kalynytschenko und zeigte auf Lüder. »Der ist nicht auf dem Schiff überfallen worden. Und seine seltsamen Fragen stören mich auch. Wenn du«, dabei schwenkte er die Faust vor Lüders Gesicht, »nicht augenblicklich schweigst, wirst du keine Artikel mehr schreiben. Mit mehrfach gebrochenem Arm oder zertretenen Händen geht das nicht. Ist das klar?«
Der Ukrainer stieß Lüder so heftig vor die Brust, dass der taumelte und gegen die Wand in seinem Rücken fiel.
Lüder verzichtete auf eine Erwiderung. Wenn er den Mann weiter reizen würde, würde die Situation eskalieren. Und Lüder war in der unterlegenen Position. Er hatte eine Menge gehört. Nur die Zusammenhänge erschlossen sich ihm noch nicht.
»Kapitän Syrjanow, wollen Sie Ihren Wüterich nicht an die Kette legen? Lassen Sie die Drohungen zu? Es reicht doch, wenn wir der Gewalt der Entführer da draußen ausgesetzt sind. Müssen wir uns auch noch selbst zerfleischen?«
Es war seltsam. Der Russe knurrte etwas Unverständliches, aber er ging nicht auf Lüders Worte ein.
Danach herrschte Schweigen, auch wenn die Spannung im Raum fast fühlbar war.
Wieder verging Zeit, die sich bis ins Unendliche dehnte. Irgendwann vernahmen die Gefangenen Geräusche auf dem Innenhof. Ein Auto war eingetroffen. Sofort drängten sich die Männer um das kleine Loch in der Wand. Als Erste erreichten die Matrosen den Ausguck, wichen aber zurück, als Kalynytschenko auftauchte und mit donnernder Stimme den Platz für sich beanspruchte.
»Der Boss ist eingetroffen«, kommentierte der Erste Offizier. »Mit einem Mercedes.« Er sah sich um und suchte Lüder. »Wenn irgendwo auf der Welt etwas Negatives passiert, ist etwas Deutsches nicht weit.«
»Wer ist der Boss?«, fragte Lüder, ohne auf die Stichelei einzugehen.
»Sie stehen im Hof und unterhalten sich. Zwei weitere Kerle sind mit dem Boss gekommen.«
»Kennen wir den Boss?«, wiederholte Lüder seine Frage.
Kalynytschenko antwortete nicht. Durch die schwere Bohlentür und das Loch war Stimmengemurmel zu hören, ohne dass Lüder die Anzahl der Leute einschätzen konnte.
»Ich möchte auch einen Blick darauf werfen«, sagte er und trat an die Maueröffnung heran.
Kalynytschenko tat, als hätte er es nicht gehört.
»Machen Sie Platz«, forderte Lüder den Mann auf.
»Halt das Maul.«
Wenn Lüder weiter die Demütigungen des Ersten Offiziers duldete, würde er jeden Respekt unter den Geiseln verlieren. Außerdem musste er wissen, was dort draußen vor sich ging. Er stellte sich neben Kalynytschenko, zog die Schultern ein wenig zur Seite und ließ sie dann mit ganzem Körpereinsatz gegen den Ukrainer schnellen, sodass der zur Seite geschleudert wurde und sich nur mit Mühe auffangen konnte.
»Ich sagte, ich werde mir das ansehen«, erklärte Lüder betont.
Вы чертовски немецких собака«
Lüder sah auf den Offizier, der wutschnaubend zwei Schritte von ihm entfernt stand.
»Was heißt das?«, fragte Lüder. »War das eine Liebeserklärung? Fehlanzeige. Ich bin nicht schwul.«
»Das hieß: ›du verdammter deutscher Hund‹«, übersetzte der Kapitän aus dem Hintergrund.
Kalynytschenko holte tief Luft. Lüder beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Gleich würde der Angriff erfolgen. Mit einem Satz sprang der Erste Offizier vor und versuchte, Lüder zu greifen. Der hatte den Angriff erwartet, stieß sich von der Wand ab, streckte das rechte Bein vor und ließ den vor Wut blinden Ukrainer darüber stolpern. Als Kalynytschenko an ihm vorbeischoss, gab ihm Lüder noch einen Stoß mit, dass der Mann mit der rechten Körperseite gegen die Mauer prallte und daran entlangschrammte. Das war sicher schmerzhaft.
Es schien, als würden alle im Verlies die Luft anhalten. Lüder bangte, dass Teile der Schiffsbesatzung über ihn herfallen könnten. Er wäre den Männern hilflos ausgeliefert. Tatsächlich machten zwei philippinische Matrosen einen Schritt auf ihn zu. Zu Lüders Überraschung wurden sie durch einen Zwischenruf des Kapitäns zurückgepfiffen.
»Stopp«, kommandierte Syrjanow, der sich bisher immer zurückgehalten hatte.
Kalynytschenko hatte sich wieder aufgerafft. Er startete den nächsten Angriff auf Lüder, unkontrolliert und voll blinden Zorns.
Lüder fiel es nicht schwer, die Attacke mit einem Soto maki komi zu parieren, indem er Kalynytschenko blitzschnell mit der linken Hand am Ärmel zog, ihn dadurch zu einem großen Schritt zwang und zu sich heranzog. Dann drehte sich Lüder weiter und riss Kalynytschenko durch den Schwung zu Boden. Bevor der Erste Offizier reagieren konnte, klammerte ihn Lüder mit einem Haltegriff am Boden fest.
»Der verdammte Deutsche kann Judo«, sagte er lässig und verstärkte den Haltegriff bis zur Grenze der Schmerzhaftigkeit. »Und ich kann noch mehr. Arme brechen, zur Not auch das Genick. Davon mache ich aber ungern Gebrauch. Ist das klar?«
Der Ukrainer schimpfte in seiner Muttersprache. Lüder verschärfte noch einmal den Druck, bis der Mann aufschrie. Dann ließ er ihn frei und klopfte sich demonstrativ die Hände sauber.
»Möchte noch jemand mit mir diskutieren?«
Niemand rührte sich.
Lüder wusste nicht, wie Kalynytschenko auf die Niederlage reagieren würde. Er musste jetzt darauf vertrauen, dass der Erste Offizier aufgab. Dadurch, dass Lüder ihm den Rücken zuwandte, bekundete er, dass er sich vor dem Mann nicht fürchtete. Er hatte Glück. Kalynytschenko fluchte unentwegt in seiner Muttersprache und sprach vermutlich alle möglichen Verwünschungen aus. Aber Lüder hatte diese Machtdemonstration für sich entschieden und gezeigt, dass man ihn nicht tyrannisieren durfte und, was ihm noch wichtiger war, dass von nun an sein Wort Gewicht haben würde.
Dann konzentrierte er sich auf das Geschehen auf dem Hof. Dort stand ein über und über mit Dreck bespritzter Mercedes der G-Klasse. Trotz der Schmutzschicht wirkte das Fahrzeug noch neu. Der Geländewagen sah wuchtig aus. Im Unterschied zur Hamburger Mönckebergstraße oder Düsseldorfer Königsallee, wo man häufig diese Marke zu sehen bekam, passte es mit seinem Reserverad auf der hinteren Tür hier in diese Umgebung.
Ein Stück entfernt standen drei Männer. Einen erkannte Lüder wieder.
»Ist Youssef Galaydh der Boss, von dem Wadym sprach?«, fragte Lüder in den Raum hinein. Er benutzte mit Bedacht den Vornamen des Ersten Offiziers.
»Wir kennen keinen Youssef Galaydh«, antwortete Kapitän Syrjanow.
»Lass mal sehen«, mischte sich Hein Piepstengel ein und trat zu Lüder an das Loch in der Wand. Niemand hinderte ihn daran. Der Maschinist warf nur einen kurzen Blick in den Hof. »Der mit dem Nachthemd«, umschrieb er die Galabija, die Galaydh auch heute trug.
»Das ist der Boss?«, fragte Lüder erstaunt. Der Mann, der in Kiel studiert hatte? Lüder versuchte, Wortfetzen aufzuschnappen.
Er glaubte, mehrfach etwas, das wie »Abu Talha« klang, zu verstehen. Auch wenn er die Sprache nicht kannte, wollte er versuchen, aus dem Sprechrhythmus der Beteiligten einen Eindruck von deren Seelenzustand zu gewinnen. Jedenfalls schienen die Männer unterschiedlicher Auffassung zu sein. Schließlich brachen sie ihren Disput ab und zogen sich in die andere Hütte zurück. Lediglich der Junge mit der Maschinenpistole hockte in stoischem Gleichmut im Schatten der Hauswand und liebkoste seine Waffe.
Lüder zog sich vom Fenster zurück. Dann hieß es wieder warten. Warten. Warten.
»Was passiert als Nächstes?«, fragte er schließlich Hein Piepstengel.
»Tjä. Wenn nichts Besonderes geschieht – nichts. Morgen gibt es wieder Essen. Das ist alles.«
Wie lange würde es dauern, bis die erste Geisel die Nerven verlor?, überlegte Lüder. Und wenn sich andere anstecken ließen … Er mochte diesen Gedanken nicht fortsetzen.
Nach einer ganzen Weile meldete sich noch einmal der Maschinist. »Ich habe noch ein tägliches Highlight vergessen: Das Entleeren des Toiletteneimers.« Er drehte sich um und fragte in den Raum: »Wer darf heute den Eimer entleeren?«, und wechselte dabei ins Englische.
Niemand meldete sich. Lüder bemerkte, dass ihn zahlreiche Augenpaare ansahen.
»Ich«, erklärte Lüder. Es drängte ihn nicht nach dieser Aufgabe, aber er würde so eine Möglichkeit haben, sich auf dem Gelände umzusehen. Niemand widersprach ihm.
Lüder vermochte nicht zu sagen, wie lang er an die Wand gelehnt vor sich hingedöst hatte, als einer der Matrosen aufgeregt rief: »Da kommt jemand.«
Niemand machte den Philippinern den Platz am Fensterloch streitig. Kurz darauf wurde das Schloss betätigt und der Holzbalken zur Seite geschoben. Mit dem Licht drang ein Schwall heißer Luft herein. Trotzdem empfand Lüder es als Wohltat.
»Wolfram. Komm«, sagte einer der Somalier und wiederholte die Wörter laut, da Lüder nicht so schnell reagiert hatte.
Lüder stand auf und wankte leicht Richtung Türöffnung. Das Kauern auf dem Boden hatte seine Gelenke steif werden lassen. Er brauchte einen Moment, bis er sich an das grelle Licht gewöhnt hatte. Der Mann mit dem Gewehr in der Hand dirigierte ihn zur anderen Hütte und bedeutete ihm, dort zu warten.
Kurze Zeit später erschien Youssef Galaydh.
»Ah, Herr Wolfram.« Es klang fast jovial. »Ich möchte mit Ihnen einen kleinen Spaziergang machen.«
Galaydh, der sichtbar keine Waffe trug, wandte sich zum Tor. Sie wurden von einem älteren Mann mit einem sehr lückenhaften Gebiss und zerfurchtem Gesicht und dem Jungen begleitet. Der Junge hielt immer noch die Maschinenpistole fest in den Händen, während der Alte sein Gewehr über die Schulter gehängt hatte. Er trug eine Sirwal, eine weite Pluderhose. Die beiden Bewacher folgten Lüder und Galaydh, der über die staubigen Straßen ging, die aus Sand bestanden, und Lüder den Weg zwischen den weißen Häusern mit den grünen Dächern hindurch wies.
Nur wenige Bewohner begegneten ihnen.
»Wohnen hier nur Männer?«, fragte Lüder, da er nirgendwo eine Frau entdecken konnte.
»Sie wollen über uns urteilen, ohne die Kultur zu kennen.« Es klang wie ein Vorwurf. »Frauen sollen ihre Reize bis auf Augen und Hände bedecken.«
»Sind Frauen nicht auch Gottes Geschöpfe mit den gleichen Rechten wie Männer?«
»So können nur Kuffer sprechen«, sagte Galaydh geringschätzig.
»Was sind Kuffer?«
»Ungläubige.«
Lüder schüttelte den Kopf und verzögerte dabei etwas den Schritt. Sofort hob der Junge seine MPi, als Lüder nicht mehr direkt neben Galaydh marschierte. »Sie haben in Deutschland studiert. Hat Sie die Toleranz nicht beeindruckt, die man anderen Menschen gleich welcher Rasse und welchen Geschlechts entgegenbringt?«
»Die richtige Antwort kennt nur der Islam. Mich hat stets die fehlende Moral der Kuffer gestört.« Er zeigte über die Schulter auf die beiden bewaffneten Begleiter. »Man muss den Menschen etwas Angst einjagen. Es gibt Glaubensbrüder, die die Meinung vertreten, einige Kuffer sollten zur Abschreckung abgeschlachtet oder gehängt werden, weil sie einen Shirk verrichten. Das ist ein Götzendienst derer, die nicht an Allah glauben.«
»Gehören Sie auch zu denen, die Andersgläubige töten wollen?«
»Ich möchte allen Menschen die Möglichkeit geben, sich zu bekehren oder zumindest den Islam zu achten.«
»Und wenn nicht?«
»Gegen die Kuffer führen die Gotteskrieger einen weltweiten Krieg, den Dschihad. Wir verkaufen unsere Seele an Allah, und Allah wird es uns im Paradies belohnen.«
»Ist die Entführung der ›Holstenexpress‹ religiös motiviert?«, fragte Lüder.
»Sie stellen zu viele Fragen«, erklärte Galaydh und zeigte auf eine kleine Gruppe von Männern, die eine fast drohende Haltung bei ihrem Erscheinen einnahm. »Meine beiden Männer dienen auch Ihrem Schutz.«
»Weshalb?«
»Die Menschen weiter südlich haben sehr erfolgreiche Kaperungen vorgenommen. Das hat sich auch bis Hafun und Hordio herumgesprochen. Nachdem meine Leute die ›Holstenexpress‹ gekapert haben, sind gestern Abend ein paar Männer mit ihren Booten hinausgefahren und wollten ebenfalls ein Schiff übernehmen.«
»Das klingt, als wäre der Versuch erfolglos geblieben.«
»Es war ein chinesisches Schiff. Als die Fischer sich dem Frachter näherten, tauchten Sicherheitskräfte an der Reling auf und schossen ohne Vorwarnung auf sie.«
»Fischer ist gut«, warf Lüder ein. »Für mich sind das Piraten und damit ganz gewöhnliche Kriminelle. Wundert es Sie, dass die Chinesen sich wehren und ihre Schiffe schützen?«
»Die Chinesen – ja. Und einige andere Nationen. Schuld sind die westlichen Staaten, die ihre Schiffe ohne Begleitschutz fahren lassen.«
»Es gibt die Mission Atalanta«, gab Lüder zu bedenken.
»Ich spreche von Einzelfahrern. Man hat den Menschen hier an der Küste suggeriert, dass sich die Schiffe ohne Gegenwehr beschlagnahmen lassen. Plötzlich wird auf meine Landsleute geschossen, ohne dass sie angegriffen haben. Dabei gab es zwei Tote. Jetzt wollen die Fischer Rache.«
»Das ist eine merkwürdige Logik. Sie machen mich indirekt dafür verantwortlich, dass ein Entführungsversuch gescheitert ist, weil die Piraten so dumm waren und keinen wehrlosen Europäer angegriffen haben? Lächerlich.«
»Lächerlich findet es hier niemand. Es sind einfache Menschen, die Rache wollen.«
Das hat wirklich nichts mit Logik zu tun, dachte Lüder. Dafür war es gefährlich. Es bedeutete gleichzeitig, dass seine Pläne zu fliehen nicht durchführbar waren. Die Flucht über Land war ihnen verwehrt. Lüder zog lediglich in Erwägung, eines der Fischerboote zu entwenden, die im Wasser vor dem Strand dümpelten, den sie jetzt erreicht hatten. Schließlich waren die Geiseln Seeleute, und eine Flucht über See wäre kein so gefährliches Abenteuer.
»Was haben Sie studiert?«, fragte Lüder, als er übers Wasser blickte und vergeblich Ausschau nach der ›Holstenexpress‹ hielt.
»Suchen Sie das Schiff?« Sein Begleiter schien Lüders Blick mitbekommen zu haben. »Das ankert an einer anderen Stelle.«
»In der Lagune von Hordio?«
»Sie sind gut informiert, Herr Wolfram. Allmählich bekomme ich Zweifel, ob Sie wirklich Reporter sind.«
»Wir haben unsere Quellen«, wich Lüder aus und wechselte das Thema. »Sie wollten mir erzählen, was Sie in Kiel studiert haben.«
»Das habe ich Ihnen schon einmal gesagt.«
»Etwas ausführlicher, bitte. Nicht jeder ist ein Experte«, bat Lüder.
»Biological Oceanography. Sie wissen, dass unsere Erde zu über siebzig Prozent mit Wasser bedeckt ist. Somit sind die Ozeane die größten, aber auch weitgehend unbekannten Lebensräume unseres Planeten. Es gibt in ihnen und über sie noch viel zu erforschen, was für die Menschheit lebenswichtig ist. Niemand kann beurteilen, welche Bodenschätze die Ozeane bergen. In meinem Studienfach wird das Verständnis für das natürliche Ökosystem der Meere gelehrt, für die Zusammenhänge der Veränderungen der Lebensgemeinschaften und auch die Folgen des fortschreitenden Missbrauchs durch die Menschen.«
»Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die mit Sicherheit für unser aller Zukunft von Bedeutung ist«, sagte Lüder. »Ich kann mir vorstellen, dass die Arbeitsbedingungen in Ihrem Land für dieses Forschungsgebiet nicht günstig sind.«
»Derzeit ist es schwierig«, gab der Somalier zu.
»Und deshalb haben Sie sich auf die Piraterie verlegt. Das ist auch viel einträglicher als ein Staatsjob. Ihre Bezirksregierung in Garoowe kann Ihnen kein Gehalt zahlen, von dem Sie sich einen großen Geländewagen leisten können.«
»Sparen Sie sich Ihren Zynismus. Die Straßen sind hier wenig ausgebaut. Für die Mobilität benötigen Sie deshalb ein entsprechendes Fahrzeug. Hafun erreichen Sie nur über eine schmale Landbrücke.«
»Deshalb fahren alle Mitbürger in Puntland große Geländewagen. Das freut die deutsche Automobilindustrie.«
»Schweigen Sie«, forderte Galaydh Lüder auf. »Sie verstehen nichts.«
»Doch. Ich muss mich nur umsehen. Ihr Büro in Hordio, das ich gestern kennenlernen durfte, war auch luxuriös ausgestattet. Ich kenne die Höhe der Lösegelder. Wohin lassen Sie sich Ihre Millionen überweisen? Zürich? London? Oder Kiel?« Lüder ging zwei Schritte weiter. Dann drehte er sich um und legte die Fingerspitzen gegen die Wange, als wäre ihm noch etwas eingefallen. »Mit wie viel Prozent ist Ihr Kumpel Peltini, der eigentlich für die Sicherheit in Puntland verantwortlich ist, daran beteiligt? Mir hält er in Garoowe ein leidenschaftliches Plädoyer gegen das Piratenunwesen. Und hinter dem Rücken kassiert er fleißig. Innenminister Shiikh deckt das Ganze. Alles ist eine große Geldmaschine. Schnell reich werden, bevor die nächsten Revolutionäre übers Land ziehen. Und sich dann in einen ruhigen Winkel der Erde zurückziehen. Hat man diese Masche nicht bei vielen Potentaten des schwarzen Kontinents erlebt? Das Volk hungert und darbt, und die korrupte Spitze tut sich daran gütlich.«
»Sie verstehen nichts. Nichts!« Galaydh scharrte wütend mit dem Fuß im Sand. Plötzlich streckte er den Arm aus. »Los«, sagte er. »Laufen Sie ins Wasser.«
»Bitte?«, fragte Lüder erstaunt.
»Gehen Sie ins Wasser und erfrischen Sie sich. Eine heiße Dusche kann ich Ihnen nicht anbieten. Behalten Sie aber Ihre Kleidung an. Alles andere wäre unsittlich, und die Leute würden es nicht verstehen. Und nicht tolerieren«, schob er hinterher.
Lüder zögerte einen Moment. Dann ging er langsam Richtung Wasser.
»Wussten Sie, dass der Salzgehalt des Indischen Ozeans etwa dem der Nordsee entspricht?«, rief ihm Galaydh hinterher. »Sie sollten es daher vermeiden, das Wasser zu trinken.«
Lüder zog seine Schuhe und die Strümpfe aus. Zunächst wollte er sie am Strand liegen lassen. Nach den Erfahrungen mit dem Raubüberfall in Garoowe behielt er sie aber in der Hand. Vorsichtig streckte er den linken Fuß ins Wasser. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, mit dem kühlen Nass in Berührung zu kommen. Er schob den anderen Fuß hinterher. Wer so lange dem Schmutz und Staub, der Hitze und der Dürre ausgesetzt war wie er, empfand das Wasser als Erlösung. Lüder setzte einen Fuß vor den anderen, immer schneller.
Nach wenigen Schritten erreichte das Wasser seine Hüfte. Er lief noch drei Meter weiter hinein, bis die Wellen um seine Brust spielten. Dann holte er tief Luft, tauchte in den Ozean ein und ließ die Wellen über sich hinwegplätschern. Er wiederholte es mehrfach und spürte, wie manches von ihm abgespült wurde. Noch nie hatte er Wasser als so lebenspendend empfunden. Es fiel ihm schwer, das Wasser wieder zu verlassen und zum Strand zurückzuwaten, wo ihn Galaydh mit einem Grinsen erwartete.
»Sehen Sie«, erklärte der Somalier. »So wichtig ist der Ozean für uns. Lebenswichtig. Und diese Grundlage haben uns die reichen Staaten entzogen, indem sie mit ihren Fangflotten unsere Küstengewässer leer gefischt haben. Nun entscheiden Sie selbst, was Gerechtigkeit ist.«
Mit der mir gegenüber erwiesenen Wohltat versucht der Somalier, mich zu beeinflussen, dachte Lüder. Man muss eine Geisel nur lange genug demütigen und drangsalieren, bis sie sich irgendwann mit dem Geiselnehmer solidarisch zeigt. Dieses Phänomen war schon oft beobachtet worden. Lüder wollte sich davon nicht beeindrucken lassen.
Da saßen irgendwo in Berlin Gutmenschen, beklagten das Schicksal der armen Piraten und hatten keine Vorstellungen, dass auch die Geiseln und ihre Angehörigen unendlichen Qualen ausgesetzt waren. Wie oft vergaß man bei der Sorge um die Täter das Wohl der Opfer?
Nein! Für Lüder waren die Piraten und ihre Hintermänner Verbrecher der übelsten Sorte. Allein das Elend, das die Besatzung in dem Drecksloch von Gefängnis erdulden musste, war unbeschreiblich.
»Wir müssen zurück«, mahnte Galaydh und ging langsam den Strand hinauf Richtung Ort.
»Müssen Sie so unmenschlich sein?«, fragte Lüder unterwegs. »Die Menschen, die Sie als Geiseln halten, sind unschuldig. Warum gehen Sie nicht humaner mit ihnen um? Gewähren Sie ihnen täglich Ausgang auf dem Hof, lassen Sie sie sich waschen. Irgendwann ist auch eine medizinische Versorgung nötig.«
»Was meinen Sie, wo Sie hier sind?«, winkte Galaydh ab und schwieg, bis sie wieder das Gefängnis erreicht hatten. Ohne ein weiteres Wort zu Lüder gesprochen zu haben, überwachte er, wie Lüder wieder weggesperrt wurde.
Erneut begann das Warten, das aber schon bald unterbrochen wurde. Gespannt sahen alle Geiseln zur Tür, als die geöffnet wurde und einer der Piraten erschien und vier der Gefangenen aussortierte, darunter den Kapitän.
»Ich will nicht«, schrie Bayani, einer der philippinischen Matrosen, und kauerte sich in eine Ecke.
Der Somalier im Kaftan zeigte auf Datu, einen anderen Decksmann, und befahl: »Du. Mitkommen.«
Mit gesenktem Kopf folgte der Aufgerufene, und die kleine Prozession verließ das Gefängnis.
»Sie werden hinter die andere Hütte geführt«, gab ein weiterer Matrose seine Beobachtungen am kleinen Loch in den Raum weiter. Unruhe machte sich unter den Männern breit.
»Ruhe!«, befahl Lüder. Er wollte hören, was mit den Männern geschah. Ob man sie foltern wollte?
Nichts war zu hören, bis schließlich Gelächter erklang.
»Diese Teufel«, fluchte Hein Piepstengel.
»Ist so etwas schon öfter vorgekommen?«, fragte Lüder.
»Am ersten Tag haben sie den Kapitän und die beiden Offiziere zum Verhör herausgeholt.«
»Was wollten die von Ihnen wissen?«, wandte sich Lüder an Kalynytschenko. Doch der Erste Offizier verweigerte die Aussage. Stattdessen meldete sich der schweigsame Zweite Offizier Wang Li zu Wort.
»Die wollten alles über das Schiff wissen. Woher wir kommen, wohin wir fahren, von welcher Reederei. Sie waren zufrieden, als sie hörten, wir wären ein deutsches Schiff.«
»Warum?«
»Das weiß ich nicht. Vermutlich hat es sich herumgesprochen, dass die Deutschen keine Gewalt anwenden und lieber stillschweigend zahlen. Das ist bei anderen nicht so.«
Lüder ließ unerwähnt, was ihm Galaydh von der vergeblichen Kaperung des chinesischen Schiffs in der vergangenen Nacht berichtet hatte. Es hätte nur zu Unruhe unter den Männern geführt.
»Man hat uns zunächst nicht geglaubt, dass wir ein deutsches Schiff sind.« Das Auflachen des Chinesen klang verbittert. »Die Flagge am Heck stammt aus Antigua und Barbuda. Schwarz-Rot-Gold sind den Barbaren als deutsche Farben geläufig, aber nicht die aufgehende Sonne zwischen den roten Dreiecken des Karibikstaates.«
»Das ist überall auf der Welt so«, mischte sich Piepstengel ein. »Weißt du auch, warum?«
Lüder verneinte.
»Ich hab mich auch gewundert. Selbst die, die nicht schreiben oder lesen können, kennen die deutsche Flagge. Vom Fußball!«
Lüder musste lachen. Trotz Goethe-Instituten weltweit waren Franz Beckenbauer und Jogis Jungs die weitaus effizienteren Botschafter Deutschlands.
»Mich haben die Piraten gefragt, wo Saint John’s in Deutschland liegen würde. Erst als ihr Boss auftauchte …«
»Galaydh«, warf Lüder ein.
»Genau. Erst ihm schenkten sie Glauben. Hinzu kam, dass sie nicht verstehen wollten, wie sich die Besatzung zusammensetzt. Sie verlangten unsere Pässe.«
»Die konnte keiner lesen«, schaltete sich Piepstengel ein weiteres Mal ein. »Ich wollte denen mein Rabattheft von ALDI geben.«
»So etwas gibt es doch nicht«, sagte Lüder lachend.
»Na gut. Dann eben meine Urkunde über das Seepferdchen.«
»Wurde jemand gefoltert?«, fragte Lüder.
»Die ganze Geiselnahme ist eine einzige Folter«, mischte sich Kalynytschenko ein.
Von draußen klang immer noch das heitere Lachen herein.
»Diese Schweine«, schimpfte der Erste Offizier.
Lüder war froh, dass sich der Ukrainer ungefragt in das Gespräch eingemischt hatte. Dabei hatte Kalynytschenko jede aggressive Regung missen lassen. Eine Deeskalation konnte ihrer Lage nur dienlich sein. Lüder erinnerte sich an eine bestimmte Vokabel, die er aus der Unterhaltung der Somalier herausgehört zu haben glaubte.
»Hat jemand von Ihnen den Begriff ›Abu Talha‹ gehört? Für mich klingt es nach einem Namen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es richtig ausspreche.«
»Das klang so ähnlich«, bestätigte Piepstengel, und auch Wang Li stimmte zu.
»Möglich«, knurrte sogar Kalynytschenko.
»Und Sie, Herr Schöster?«, fragte Lüder auf Deutsch. Doch aus der Ecke des dritten Deutschen drang kein Laut herüber.
»Das ist ein komischer Piefke«, wisperte Piepstengel, der sich neben Lüder niedergelassen hatte. »Den wünsch ich mir als Frau.«
»Bitte?«
»Weil der so schweigsam ist«, raunte der Maschinist und grinste.
Sie wurden durch einen Ausruf des Matrosen, der am Fensterloch hockte, abgelenkt.
»Sie kommen zurück.«
Sofort sprangen alle Männer auf und bildeten einen Halbkreis. Das altersschwache Schloss schnarrte, der Sperrriegel wurde zurückgeschoben, und dann öffnete sich die Tür. Mit dem gleißenden Sonnenlicht kam auch ein Schwall heißer Luft herein.
Im Gegenlicht erschien zunächst Kapitän Syrjanow und betrat schweigend das Verlies. Ihm folgte Datu, der für den verängstigten Bayani von den Piraten herausgeholt worden war. Der Philippiner hüpfte vergnügt von einem Bein aufs andere.
»Sie haben uns Wasser hingestellt. Wir konnten uns waschen und erfrischen«, sagte er.
Seine Landsleute fielen verbal über ihn her und wollten Einzelheiten wissen.
»Wir durften auch ein wenig über den Hof spazieren gehen«, berichtete Datu.
Lüder atmete auf. Sein Appell an Galaydh schien gefruchtet zu haben. Die zurückgebliebenen Männer drängten zur Tür. Jeder wollte bei der nächsten Gruppe dabei sein, und erst als einer der Bewacher in die Luft schoss, kehrte wieder Ruhe ein. Es war unglaublich, was eine kleine Erleichterung wie ein Eimer Wasser nach der langen Zeit der Qual für Euphorie auslösen konnte. Die Stimmung war für einen Moment fast heiter. Das hielt eine Weile vor, bis auch die letzte Gruppe wieder eingesperrt worden war.
»Haben wir das dir zu verdanken?«, fragte Piepstengel. »Hast du den Oberpiraten bekehrt, als du vorher mit ihm gesprochen hast?«
»Nicht der Rede wert«, winkte Lüder ab. Warum sollte er es leugnen? Der Funken Dankbarkeit, den die Geiseln für diese kleine Geste zeigten, könnte eventuell nützlich sein, falls später einmal sein Wort gefragt war.
Schon bald brütete jeder wieder im Stumpfsinn allein vor sich hin. Bald würde es Abend werden. Lüders Gedanken schweiften zu seiner Familie ab. Was würden Margit und die Kinder jetzt denken? Er war überzeugt davon, dass Große Jäger nicht untätig geblieben war. Gemeinsam mit Kriminaldirektor Nathusius würde er die richtigen Worte gefunden haben. Es war nicht auszuschließen, dass sich der Husumer auf den Weg nach Kiel gemacht hatte, um vor Ort Zuspruch zu geben. Aber was sollte er sagen? Wusste jemand, wo Lüder geblieben war?
Er selbst hatte keine Information über seine Geiselnahme mehr absetzen können. Staatsminister Rukcza hatte ihn förmlich erpresst, seine Mission abzubrechen. Dem Berliner konnte nicht verborgen geblieben sein, dass Lüder davon nicht begeistert war. Ob man beim Berliner Krisenstab glaubte, er hätte sich über Rukczas Anweisungen hinweggesetzt und würde auf eigene Faust weiterermitteln?
Möglicherweise schätzte man seine Situation falsch ein und ahnte nicht einmal, dass er sich in einer Notlage befand. Die Piraten würden mit Sicherheit keine Informationen weitergeben. Dafür sprach auch, dass sie so lange gezögert hatten, mit einer Lösegeldforderung an die Reederei heranzutreten. Und die Behörden in Garoowe würde sein Schicksal auch nicht interessieren. Zumal dann nicht, wenn sie in irgendeiner Weise an Lüders Entführung beteiligt waren.
Wie passten die Zahnräder zusammen, die offensichtlich ineinandergriffen? Wenn er darüber nachdachte, schien es fast wie ein Staffellauf zu sein. Und Lüder war der Stab, der auf wundersame Weise weitergereicht wurde. Man hatte ihn jedenfalls zielgerichtet hierher verschleppt. Was hatte Youssef Galaydh bei ihrer ersten Begegnung in Hordio zynisch gesagt? »Sie wollten hierher. Nun beklagen Sie sich nicht, dass Sie hier sind.«
Wer gehörte zu dieser unheilvollen Staffel? War Dr. Mbago in Nairobi der Startläufer gewesen? Oder der undurchsichtige Journalist John Kiambi? Gehörte Urs Hürlimann zum Team? Waren Kasayah Peltini, der für die Sicherheit in Puntland Verantwortliche, oder sein Innenminister Shiikh beteiligt? Als Einziger hatte sich Youssef Galaydh geoutet. Von ihm sprachen sie als »dem Boss«. Aber wer war der Mannschaftskapitän? Und gab es, um im sportlichen Umfeld zu bleiben, einen Trainer und einen Manager im Hintergrund? Es gab noch viele offene Fragen. Zu viele, fand Lüder.
»Störtebeker kommt«, rief Piepstengel, der die Position am Fenster übernommen hatte. Niemand außer Lüder verstand ihn.
»Galaydh«, übersetzte Lüder. »Der Boss.«
Dann stutzte er. Merkwürdig. Schöster hatte sich auch nicht gerührt bei Piepstengels Ankündigung. Jeder Deutsche wusste, wer Störtebeker war, der Anführer der »Likedeele«. Dieser soziale Bund war von gegenseitiger Loyalität und Unterstützung bestimmt. Das hielt die Vitalienbrüder zusammen. Dafür sprach die selbst gewählte Losung »Gottes Freunde und aller Welt Feinde«. Davon waren die somalischen Piraten weit entfernt.
Nachdem die Tür geöffnet war, erschien Galaydh und fragte, wer ein Kauholz wünsche.
»Ein – was?«, fragte Wang Li.
»Zur Zahnpflege«, erklärte der Somalier. »Das hat schon Mohammed als Zahnbürste benutzt.«
Nur wenige Männer hoben müde den Arm. Lüder war unter ihnen. Selbst wenn die Handhabung mühselig war, wollte er sich in den Gepflogenheiten fremder Kulturen üben.
Danach kehrte wieder Ruhe ein. Auch Piepstengel hatte sich von seinem Ausguck zurückgezogen. Das helle Rechteck verlor an Strahlkraft. Der Abend nahte. Lüder war jetzt schon einen ganzen Tag in diesem Verlies. Ein Tag voller Qualen.
Plötzlich schreckte Lüder hoch.
»Was war das?«, rief einer der Matrosen überrascht.
»Da wird geschossen«, sagte Kalynytschenko.
»Die haben Langeweile. Dann ballern die in die Luft. Einfach nur so.« Piepstengel ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Die singen ein Duett«, erwiderte Lüder, als ein anderes Gewehr antwortete. Dann ergänzte er: »Jetzt ist es ein ganzer Chor.« Es klang wie ein Feuergefecht.
Angespannt lauschten sie dem wütenden Bellen der Waffen. Es waren keine einzelnen Schüsse, sondern Feuerstöße. Wer versorgte die Piraten mit den modernsten Waffen? Rund um den Globus schien es kein Problem zu sein, mit den neuesten Errungenschaften der Waffentechnologie blutiges Unheil anzurichten.
Für einen Augenblick schwiegen die Gewehre. Dann waren in kurzen Abständen zwei Explosionen zu hören. Lüder wurde es mulmig. Das klang wie Handgranaten. Mit Sicherheit war es kein Salut aus Langeweile, sondern ein handfester Schusswechsel.
Auf dem Hof hörten sie Schreie. Die Somalier waren aus der Hütte der Bewacher herausgestürmt und liefen wie ein aufgeschreckter Hühnerhaufen durcheinander. Lüder hatte die Position am Ausguck eingenommen.
Galaydh versuchte, durch lautes Rufen Ordnung in seine Truppe zu bringen. Aber niemand hörte auf ihn. Die Leute schwenkten ihre Schnellfeuerwaffen und visierten imaginäre Ziele an, als würden sie einen Überfall von allen Seiten erwarten. Besonders der Junge mit der Maschinenpistole tat sich dabei hervor. Er hielt die für seine Körpergröße viel zu gewaltige Waffe mit ausgestreckten Armen von sich. Niemand der Leute hatte je eine Ausbildung im Schießen erfahren.
Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis Galaydh ein wenig Kontrolle über den wilden Haufen gewann. Der »Boss« ruderte mit beiden Armen in der Luft herum, während seine Männer mit ihm über die Anweisungen zu diskutieren schienen. Würde von der Wirkung der Gewehre nicht eine tödliche Gefahr ausgehen, hätte die Szene fast Anreiz zum Lachen geboten. Lüder konnte sich kaum vorstellen, dass diese Leute fähig waren, ein Schiff zu kapern. Sie waren aber gefährlich. Und diese Kraft zogen sie einzig aus dem Besitz der Gewehre in ihren Händen.
Immer wieder fiel Lüders Blick auf den Jungen. Der schien sich mit seiner MPi in der Hand wie Siegfried für unverwundbar zu halten.
Noch zweimal flammten Schusswechsel auf. Lüder schien es, als würde sich der Schauplatz der Auseinandersetzung nähern. Wie bei einem Gewitter wartete man darauf, dass das Unwetter über einen hereinbrach und die Blitze über dem eigenen Kopf zuckten. Und im Stillen hoffte man, dass es vorbeizog.
Dann war es ruhig.
»Was war das?«, fragte Kapitän Syrjanow.
»Die wollen uns hier herausholen«, sagte Kalynytschenko.
Lüder hielt das für unwahrscheinlich. Eine Spezialeinheit wie die GSG9 würde nie auf diese Weise versuchen, den Weg durch den Ort zu beschreiten. Ob Galaydhs Befürchtungen wahr geworden waren und die Männer Rache für den missglückten Überfall auf das chinesische Schiff nehmen wollten? Das würde aber bedeuten, dass Galaydh noch weitere »Kämpfer« im Ort hatte. Nichts war berechenbar. Alles war unübersichtlich.
Zumindest schienen sich ihre Bewacher nach einer Weile wieder beruhigt zu haben. Sie tauchten aus ihrer Deckung auf. Und der Junge stand breitbeinig mitten im Hof und imitierte John Wayne. Lüder war sich sicher, dass der Bursche nie von dem Westernhelden gehört hatte.
Er wollte sich gerade abwenden, als eine weitere Explosion das Areal erschütterte. Lüder sah zunächst einen Lichtblitz. Es folgte eine Staubwolke, die das Tor einhüllte. Mit lautem Gebrüll stürmten mehrere Männer in Tarnanzügen herein und feuerten auf alles, was sich bewegte. Blitzschnell tauchte Lüder ab.
»Deckung«, schrie er in den Raum.
»Sie befreien uns«, rief Bayani, der Matrose.
»Nein«, versuchte Lüder gegen den Lärm der Schüsse anzuschreien.
Der kurze Eindruck hatte gereicht, um ihn misstrauisch werden zu lassen. Die Angreifer waren mit Maschinenpistolen Steyr AUG ausgerüstet, der Standardwaffe des österreichischen Bundesheers. Es war kaum anzunehmen, dass die Alpenrepublik eine Einsatzgruppe zu ihrer Befreiung geschickt hatte. Außerdem würde eine Einsatzgruppe nicht so wild um sich schießen.
Zwischen dem wütenden Bellen der Waffen waren Schreie zu hören. Englische Wortfetzen drangen in das Gefängnis, beantwortet von hysterischen Schreien der Somalier.
Ohne dass es jemand verhindern konnte, sprang Bayani ans Guckloch, streckte seinen Arm hindurch und schrie aus Leibeskräften: »Amerikaner. Hier sind w–«
Weiter kam er nicht. Wie von einer Riesenfaust gepackt wurde er zurückgeschleudert und landete mitten im Raum, während weitere Geschosse durch die Öffnung hereinsurrten und als gefährliche Querschläger durch den Raum flogen.
Lüder hatte sich eng an die Wand gekauert und die Hände und Arme schützend über den Kopf gelegt.
Das Ganze hatte sicher nicht länger als ein oder zwei Minuten gedauert, dann explodierte noch einmal eine Handgranate. Immer wieder bellten die Sturmgewehre auf. In das Geräusch hinein erklang das Aufheulen des Motors eines sich rasch entfernenden Fahrzeugs.
Atemlose Stille herrschte im Raum, als endlich auch die letzte Waffe verstummte.
»Die verflixten Amerikaner, diese Feiglinge«, schrie Kalynytschenko. »Die sind geflüchtet und lassen uns hier zurück.« Er heulte laut auf.
»Das waren keine Amerikaner«, versuchte Lüder den ersten Offizier zu beruhigen.
»Was denn? Deutsche?«
»Das waren keine Sicherheitskräfte.«
»Doch. Natürlich.« Der Ukrainer war außer sich. Er hockte auf dem Boden und schlug mit beiden Fäusten auf den Lehmuntergrund.
»Ist jemand verletzt?«, fragte Lüder.
Er erhielt keine Antwort, während er zu Bayani kroch, der mitten im Raum lag. Der Philippiner hatte das Martyrium hinter sich, stellte Lüder auf den ersten Blick fest. Eine ganze Salve hatte ihn am Kopf getroffen. Er musste sofort tot gewesen sein. Es war ein scheußlicher Anblick, den Lüder sicherlich niemandem beschreiben würde.
»Jemand muss mit anfassen«, sagte er. »Wir müssen ihn an die Seite legen.«
»Ist er … tot?«, fragte Kapitän Syrjanow.
»Ja«, erwiderte Lüder. »Er hat nicht leiden müssen.«
Der Kapitän kam näher. Auch Hein Piepstengel fasste mit an, um Bayani an eine Seitenwand zu legen.
Vorsichtig besah sich der Kapitän seinen Matrosen.
»Armer Kerl«, murmelte er. »Warum nur? Er hat niemandem etwas getan. Er musste als Seemann in die weite Welt hinaus, um seine Familie zu ernähren. Vier Kinder haben den Vater verloren.«
»Er ist nicht der Einzige, der in diesem verdammten Drecksloch krepiert«, schrie Kalynytschenko. »Verdammte Amerikaner. Mörder! Mörder!« Der Erste Offizier war kurz davor, die Nerven zu verlieren.
Das war jetzt nicht hilfreich, dachte Lüder und baute sich vor dem Mann auf.
»Schluss!«, schrie er ihn in einer Lautstärke an, dass der Ukrainer mitten im Wort innehielt und Lüder überrascht ansah.
»Das waren keine Amerikaner«, fügte Lüder wieder in normaler Lautstärke an.
»Was dann?«, fragte der Kapitän.
Lüder zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.«
»Waren es Somalier?«, wollte Syrjanow wissen.
»Nein«, entgegnete Lüder. »Eventuell waren es Söldner. Eine Sicherheitsfirma, wie die sich heute nennen.«
»Eine – was?« Syrjanow war überrascht.
»Dieses Geschäftsmodell haben skrupellose Geschäftemacher für sich entdeckt. Es sind oft Entwurzelte, manchmal auch Kriminelle oder Abenteurer, die das Geld lockt. Früher gingen diese Leute zur Fremdenlegion. Heute verdingen sie sich oft für schmutzige Geschäfte, die niemand anders machen will. Dabei fragen sie nicht, ob es einem vermeintlich guten Zweck dient wie einer Geiselbefreiung oder ob sie einem Warlord dienen.«
»Wer hat die angeheuert?«, interessierte den Kapitän. »Das kann doch nur die Reederei sein, der das Schicksal der Besatzung nicht gleichgültig ist.«
Lüder beließ Syrjanow in dem Glauben. Er war nicht davon überzeugt, dass die Schiffseigner die Söldner zu ihrer Befreiung angeheuert hatten. Irgendetwas stimmte nicht. Die Männer waren kaltblütig vorgegangen und hatten sich vom Strand bis zu diesem Versteck vorgearbeitet. Es hatte auf Lüder nicht so gewirkt, als hätte die Truppe den Ort durchkämmt und nach ihnen gesucht.
Die Söldner wussten, wo sie steckten. Aber woher? Irgendjemand musste es ihnen verraten haben. Lüder hatte keinen Hubschrauber gehört. Und über Land kam niemand bis in diese äußerste Ecke Afrikas. Nein! Die Aktion musste von einem Schiff aus gestartet worden sein. Leider hatte er nicht sehen können, mit welchem Fahrzeug die Leute gekommen waren. Hatten sie sich irgendwo im Ort eines bemächtigt? Oder waren sie mit einem Landungsboot gekommen, auf dem sie ihre Ausrüstung einschließlich des Fahrzeugs transportiert hatten? Sie waren professionell vorgegangen, auch wenn die Piraten sie vertreiben konnten.
Für Lüders Gefühl hatten die Söldner zu schnell aufgegeben. Mit Sicherheit waren sie Galaydhs Leuten überlegen gewesen. Eine viel interessantere Frage war, warum man gezielt auf Bayani geschossen hatte. Es war kein Zufall, davon war Lüder überzeugt. Erst als der Matrose laut »Amerikaner. Hier sind wir« gerufen hatte, war die Salve abgegeben worden. Es war eine Hinrichtung gewesen. Was machte das für einen Sinn? Wollte jemand die Geiseln ermorden lassen und damit lästige Mitwisser aus dem Weg schaffen? Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. Das konnte nicht sein.
Lüder ging zum Fenster und lugte vorsichtig hinaus.
Dort, wo zuvor das Tor war, gähnte ein Loch in der Mauer. Teile der Tür hingen zerfetzt in den Angeln. Die zweite Handgranate musste die Hütte der Bewacher getroffen haben. Sie wies erhebliche Schäden auf. Lüders Blick verweilte mitten auf dem Hof. Dort hatte sich eine große Blutlache gebildet, und das rote Lebenselixier versickerte im schmutzigen Sand.
Inmitten des Flecks lag der Junge, den Lüder nie ohne die Maschinenpistole gesehen hatte, der fest im Glauben gewesen war, er wäre mit diesem tödlichen Instrument unverwundbar. Die Garbe aus einer der automatischen Waffen der Angreifer hatte auf grausame Weise seinem Leben ein vorzeitiges Ende gesetzt. Lüder war froh, dass der Junge so lag, dass die Verletzungen vom Fenster des Gefängnisses nicht zu erkennen waren.
Vorsichtig tauchten drei Männer auf, unter ihnen Galaydh. Sie näherten sich dem Jungen und umrundeten ihn. Niemand beugte sich zu dem Kind hinab, prüfte, ob ihm ärztliche Hilfe noch Rettung bringen könnte. Es gab hier keinen Arzt, geschweige denn ein Krankenhaus.
Jetzt begannen die Somalier lautstark zu debattieren. Zwischendurch glaubte Lüder wieder mehrfach, das geheimnisvolle »Abu Talha« verstanden zu haben. Im Gespräch drehten sich die Männer zur Hütte der Geiseln um. Einer schien besonders erregt zu sein. Mit ausgestrecktem Arm zeigte er auf das Gefängnis. Dann wollte er losmarschieren, sein Sturmgewehr im Anschlag.
Es war wie ein böser Traum. Der Mann trug eine moderne G36, eine deutsche Präzisionswaffe. Deutsche Hightech-Waffentechnik richtete sich nun gegen Lüder und seine Gefährten. Ob man das in den Schaltzentralen der Waffenschmieden billigend in Kauf nahm? Ob man sich dort Gedanken darüber machte, über welche dunklen Kanäle die todbringenden Produkte in falsche Hände gerieten?
Galaydh eilte seinem Mann hinterher und versuchte ihn festzuhalten. Doch der zeigte sich grimmig entschlossen und riss sich los. Noch einmal setzte der Anführer an und umklammerte seinen Kumpan von hinten. Wie Schraubstöcke umschlossen dabei seine Arme den Oberkörper des Gewehrträgers. Während der ganzen Aktion ging die hitzig geführte Auseinandersetzung weiter.
Der Dritte stand unschlüssig zu Füßen des toten Jungen. Wenn er sich jetzt zu unseren Ungunsten einschaltet, überlegte Lüder und wollte diesen Gedanken nicht zu Ende führen.
Endlich ließ der Somalier mit dem G36 den Lauf des Gewehrs hinabsinken. Seine Körperhaltung entspannte sich. Galaydh schien ihn überzeugt zu haben. Ganz langsam drehten sich die Männer um und trotteten zurück zu ihrer Hütte.
Lüder atmete tief durch. Jetzt galt es, die nächsten Schritte zu organisieren. Er warf einen Blick auf den Toten in ihren eigenen Reihen. Sie mussten ihre Bewacher auf sich aufmerksam machen. Bayani durfte hier nicht liegen bleiben. Bei diesen Temperaturen war er ein gesundheitliches Risiko für alle Überlebenden, auch wenn der Gedanke vielleicht pietätlos war.
Mehrere seiner Landsleute hatten sich zu einem Ring zusammengefunden und murmelten gemeinsam etwas Gleichförmiges in ihrer Muttersprache. Auch wenn Lüder es nicht verstand, gemahnte ihn der Rhythmus an das Vaterunser. Er ließ den Männern ihre Trauer.
Erst nachdem sie ihre Gebete abgeschlossen hatten, legte er die Hände wie einen Trichter an den Mund und rief: »Galaydh!«
Es dauerte eine Ewigkeit, bis der Somalier erschien und langsam an die Hütte der Geiseln herantrat.
»Was ist?«
»Wir haben hier einen Toten«, erklärte Lüder.
»Wir auch«, erwiderte Galaydh und zeigte auf den Jungen, der immer noch mitten auf dem Hof lag. »Wissen Sie, wie alt er war?«
»Zu jung zum Sterben.«
»Seyam war vierzehn.«
»Warum haben Sie ihm die Waffe gegeben?« Lüder versuchte, es nicht wie einen Vorwurf klingen zu lassen. Sie waren darauf angewiesen, dass Galaydh sich kooperativ zeigte.
»Sie verstehen unsere Welt nicht. Niemand hätte Seyam daran hindern können. Er stammt aus der Hauptstadt. Sein Vater starb im Kampf gegen den Diktator Siad Barre. Seyam musste früh mit ran, die Familie ernähren. Er hat als Bewacher der Lebensmitteltransporte der Hilfsorganisationen gearbeitet. Wissen Sie, was das heißt? Die Lastwagen wurden von hungernden Menschen überfallen. Irgendwann hat er notgedrungen die Seiten gewechselt und die Lebensmittel, die er bewachen sollte, gestohlen. Das nennt sich ›Wirtschaft auf Somalisch‹, wie es der Spiegel einst beschrieb. So musste er mit seinem Onkel bis nach Hordio fliehen. Und jetzt? Da!« Galaydh zeigte auf den Leichnam. »Der Onkel wollte Seyam rächen. Sie haben es selbst beobachtet.«
»Das ist sein Onkel, den Sie vorhin nur mit Mühe aufgehalten haben?«
»Samimi muss Rache üben. Das ist das Gesetz. Nur so kann Seyam Frieden finden.«
»Aber von uns hat keiner seinen Neffen getötet! Samimi hätte den Jungen nie allein im Hof lassen dürfen. Er trägt doch ein großes Stück Verantwortung für das Drama.«
Galaydh winkte ab. »Wären Sie nicht hier, wäre das alles nicht passiert.«
»Lassen Sie uns gehen«, sagte Lüder. »Keiner von uns ist freiwillig hier.«
Galaydh schien Lüder gar nicht zuzuhören.
»Seyam starb, weil er Ihr Leben verteidigt hat.«
Galaydh bestätigte Lüders Vermutung, dass der Überfall nicht der Geiselbefreiung hatte dienen sollen.
»Wer waren die Täter?«
»Mörder.«
»In wessen Auftrag haben sie gehandelt?«, fragte Lüder.
»Das müssen Sie mir sagen.«
Sie drehten sich im Kreis. Lüder zermarterte sich schon eine Weile das Gehirn, fand aber keine Antwort auf die Frage, wer ihn und die Besatzung töten wollte. Auch wenn die Piraten sie menschenunwürdig untergebracht hatten, Galaydh war nicht am Tod der Geiseln gelegen. Der Somalier und seine Männer hatten sich nicht bedingungslos vor die Gefangenen gestellt, sondern sich und ihre Beute verteidigt.
»Waren es Amerikaner?«
»Möglich. Einer war Franzose oder Belgier«, sagte Galaydh. »Sein Englisch klang so.«
Lüder war sich sicher, dass das Kommando aus bezahlten Söldnern bestand.
»Wie sind die hergekommen?«
»Durch den Ort.«
»Es klang, als hätte es die erste Auseinandersetzung am Strand gegeben.«
Galaydh nickte. »Das würde ich auch vermuten.«
»Haben Sie zuverlässige Informationen?«
»Nein. Ich kann niemanden in die Stadt schicken. Sie haben selbst erlebt, wie explosiv die Lage ist. Meine Leute sind im Augenblick nicht mehr sicher.«
Die Lage wurde immer brisanter. Wenn sich die Situation weiter zuspitzte, es möglicherweise beim Vordringen der Söldner Opfer im Ort gegeben hatte, waren sie an diesem Ort in doppelter Gefahr, falls die Einheimischen das Lager angreifen sollten.
»Galaydh«, schlug Lüder vor, »lassen Sie uns aufbrechen und Hafun verlassen. Es wird für uns alle zu gefährlich. Sie, Ihre Leute und wir …«
»Und wie soll das gehen? Soll ich alle im Mercedes stapeln?«
»Beordern Sie ein Boot heran an die Stelle, an der ich ausgestiegen bin. Sie könnten uns dann über die Lagune nach Hordio bringen.«
»Das geht nicht.«
»Doch!«
»Und wenn Sie uns überwältigen? Ihre Leute können mit einem Boot umgehen.«
»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort.«
Galaydh lachte höhnisch. »Ehrenwort! Was gilt das in dieser Welt. Nein!« Es klang endgültig.
»Was ist mit unserem Opfer?«
»Zunächst müssen wir Seyam beerdigen. Gleich morgen früh, damit er Zugang zum Paradies findet.«
»Der ist nicht ganz dicht«, hörte Lüder Piepstengel wispern. »Was soll ein Vierzehnjähriger mit den ganzen Jungfrauen im Paradies? Wenn man dem eine elektrische Eisenbahn statt der MPi geschenkt hätte, wäre er bestimmt glücklicher geworden.«
»Auch Bayani war ein Mensch. Er hat es sich nicht ausgesucht, hier zu sterben. Er hinterlässt eine Frau und sechs Kinder«, übertrieb Lüder.
»Der interessiert mich nicht.«
»Hat Bayani nicht auch ein würdevolles Begräbnis verdient? Auch er hat einen Gott.«
»Er war ein Ungläubiger. Morgen, nachdem Seyam beerdigt ist, können Sie Ihren Mann hinter der Mauer verscharren.«
»Wir verscharren unsere Toten nicht«, erklärte Lüder. »Menschlichkeit und Anstand reichen über das Lebensende hinaus.«
»Es ist so, wie ich es gesagt habe.«
Galaydh wandte sich zum Gehen.
»Wer ist Abu Talha?«, rief ihm Lüder hinterher.
Der Somalier verharrte mitten im Schritt. Für den Bruchteil einer Sekunde hielt er sein Bein in der Schwebe über dem Erdboden, bevor er es absetzte und sich umdrehte.
»Das wissen Sie nicht?« Es klang erstaunt.
»Sonst hätte ich nicht gefragt.«
»Abu Talha – das heißt: ›der Deutsche‹.«
»Und wer ist …« Lüder brach mitten in der Frage ab. Für den Somalier draußen im Hof unhörbar beendete er fast tonlos seine Frage. »… ›der Deutsche‹?«
Wie oft war in der Diskussion der Piraten der Begriff gefallen. Sie hatten oft über »den Deutschen« gesprochen. Es gab verschiedene Antworten. Galaydh wurde als Anführer der Piraten akzeptiert. Sein Wort galt. Er hatte in Deutschland studiert. War er »der Deutsche«? Oder meinten die Piraten damit Lüder? Es konnte den Somaliern nicht entgangen sein, dass er eine Führungsrolle unter den Geiseln einnahm.
Es gab aber noch zwei andere Landsleute unter ihnen. Hein Piepstengel. Nein!, überlegte Lüder. Den hatten die Geiselnehmer nicht auf der Rechnung. Was war mit Hans-Günter Schöster, der still und unauffällig, aber keineswegs apathisch in der Ecke hockte und nie einen Ton von sich gab? Immer noch war ungeklärt, ob er in Verbindung mit der Ladung stand, die die ›Holstenexpress‹ in Madras an Bord genommen hatte. Es war wie verhext.
Noch nie hatte Lüder unter solchen Bedingungen Ermittlungsarbeiten leisten müssen. Galaydh war eine wichtige Figur in diesem Netzwerk von undurchsichtigen Verstrickungen, aber nicht der Mann an der Spitze, nicht der Kopf hinter den Verbrechen. Der Somalier war klug, aber ihm fehlten die Verbindungen und Möglichkeiten, eine solche Tat zu planen und zu organisieren. Ging es wirklich um Lösegeld für das Schiff?
Das Schiff. Die Geiselnahme der Besatzung erschien Lüder nur als notwendige Begleiterscheinung – Kollateralschaden würde man es zynisch umschreiben.
Ruhe war nun eingekehrt in ihrem Verlies. Eine unheimliche Ruhe. Nur das unentwegte Surren der lästigen Insekten war zu hören.
»Haben wir etwas, womit wir Bayani zudecken können?«, fragte Lüder.
Niemand antwortete.
Lüder machte sich daran, dem Matrosen die Jacke auszuziehen. Er wollte etwas über Kopf und Gesicht des Unglücklichen legen, um die fliegenden Plagegeister davon abzuhalten. Während Lüder sich abmühte, rückte Piepstengel heran.
»Ich helfe dir«, sagte der Maschinist und begann, mit erkennbar spitzen Fingern Lüder zu unterstützen. Nachdem das geschafft war, kroch Lüder zu Schöster.
»Es wird Zeit, dass wir ein ernsthaftes Wort miteinander wechseln«, sagte er, während der Zahlmeister ein paar Zentimeter zur Seite rutschte.
»Nun plaudern wir ein bisschen miteinander.«
Lüder registrierte im Halbdunkel, wie Schöster ihn von der Seite musterte. Aber der Mann schwieg beharrlich weiter.
»Was haben Sie mit der Ladung zu tun, die in Indien verschifft wurde?«
»Muss ich der Presse Auskunft erteilen?«
»Betrachten Sie mich nicht als Journalisten, sondern als jemanden, der überlegt, wie wir alle dieser Hölle entfliehen können.«
»Dann schmieden Sie doch tollkühne Fluchtpläne. Absurd.«
»Uns allen wäre damit gedient zu wissen, weshalb man uns hier festhält.«
»Wie naiv sind Sie eigentlich? Uns von der Besatzung hält man fest, weil man von der Reederei ein Lösegeld erpressen will. Und Sie sind hier, weil Sie Ihre sensationslüsterne Neugierde befriedigen wollten.«
Wenn du wüsstest …, schweiften Lüders Gedanken kurz ab.
»Es ist ungewöhnlich, dass bisher keine Forderung der Piraten eingegangen ist.«
»Woher wollen Sie das wissen? Wie aktuell ist Ihr Stand?«
»Aktuell genug.«
»Nein«, widersprach Schöster. »Üblicherweise werden die Verhandlungen über das Lösegeld diskret geführt. Man fürchtet Nachahmer. Deshalb gibt es Stillschweigen über das Verhandlungsergebnis. Ich habe aber Zweifel, dass Sie im Lösegeld eingeschlossen sind. Für Sie würde ich einen Extrabonus verlangen.« Schöster schien zu überlegen. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Sie würde ich …« Er fuhr sich mit der flachen Hand am Hals entlang, die unmissverständliche Geste des Halsabschneidens. »Ich hätte Befürchtungen, dass Sie verfälschte Artikel über Ihre Erlebnisse verfassen würden.«
»Es wirkt so, als würden Sie vor Gelassenheit nur so strotzen«, sagte Lüder.
»Kann ich etwas anderes machen als warten?«
Immerhin war es Lüder gelungen, Schöster zum Reden zu bewegen. Die Aussprache des Mannes klang ungewöhnlich. Es war keine Mundart, die Lüder sofort zuordnen konnte.
»Sind Sie Auslandsdeutscher?«, fragte er.
»Ich gebe keine Interviews.«
»Sie müssen sich die Frage gefallen lassen, in welchem Zusammenhang Sie persönlich mit den indischen Containern stehen.«
Schöster drehte den Kopf zur anderen Seite und signalisierte damit, dass er nicht bereit war, die Unterhaltung fortzusetzen.
»Mr. Syrjanow«, sagte Lüder und übersetzte eine Kurzfassung des auf Deutsch geführten Gesprächs für den Kapitän ins Englische. »Sie sind auf dem Schiff der Entscheider. Von Ihnen hängt viel ab. Vergessen Sie nicht die Verantwortung, die Sie für Schiff und Besatzung tragen. Ich halte Sie für einen rechtschaffenen Mann. Was wird hier gespielt?«
Zunächst schien es, als wollte auch der Kapitän schweigen. Dann überwand sich Syrjanow.
»Das frage ich mich auch schon eine Weile. Sicher muss man in diesen Gewässern mit dem Risiko eines Kaperns rechnen. Das ist allen Seeleuten bekannt. Ich teile auch nicht Ihre Auffassung, dass hinter dem Überfall etwas anderes steckt als ein ganz ordinärer Überfall von Piraten, sondern stimme meinem Zahlmeister zu: Die Verhandlungen werden geheim geführt. Es liegt weder im Interesse der Reedereien noch der Entführer, das publik werden zu lassen.«
»Gilt das auch für die indischen Container?«
Syrjanow dachte eine Weile nach und schien abzuwägen, welche Informationen er preisgeben durfte.
»Sie irren auch in diesem Punkt«, erklärte der Kapitän schließlich. »Natürlich kenne ich nur die Ladepapiere. Für die Ladung ist der Ladungsoffizier zuständig. Das ist bei uns Mr. Kalynytschenko.«
»Aber Sie wissen, was in den Containern ist? Ich glaube nicht, dass ein so erfahrener und umsichtiger Kapitän wie Sie uninformiert oder gar desinteressiert ist«, schmeichelte ihm Lüder. Es wirkte.
»Bei über fünftausend Containern an Bord kann man nicht jedes Detail kennen. Natürlich verschaffe ich mir einen Überblick über unsere Fracht.«
»Was anderes hatte ich von Ihnen nicht erwartet. Und? Was steht in dem Konnossement?«
»Maschinenteile.«
Lüder wiederholte es ungläubig. »Aus Indien? Wenn Sie so etwas in China oder Korea für Europa laden, verstehe ich es. Aber Indien ist doch ungewöhnlich. Seit wann produzieren die Inder für den europäischen Markt Maschinenteile?«
»Kapitän. Sir«, mischte sich jetzt der Erste Offizier formell ein. »Ich muss darauf bestehen, dass Sie das Gespräch abbrechen und keine weiteren Informationen weitergeben. Es ist Ihre Pflicht gegenüber Reeder und Versender, Diskretion zu wahren.«
»Doch nicht in einer solchen Situation, in der wir uns hier befinden«, erklärte Lüder barsch.
»Grundsätzlich«, beharrte Kalynytschenko auf seinem Standpunkt.
»Ich protestiere gegen Ihr Verhalten«, mischte sich überraschenderweise Schöster ein.
»Meinen Sie mich oder den Kapitän?«, fragte Lüder.
»Beide«, erwiderte der Zahlmeister. »Kapitän Syrjanow. Das kann Sie Ihren Job kosten.« Es klang wie eine unverhohlen vorgetragene Drohung.
»Ich habe nichts gesagt«, beschied ihm Syrjanow. »Mich hat allerdings gewundert, dass wir außerplanmäßig Limassol anlaufen sollten.«
»Limassol? Das ist auf Zypern. Dort sollten die indischen Container gelöscht werden?«, riet Lüder. »Das ist logisch. Schließlich stehen sie in der obersten Reihe.«
»Sie sollten sofort schweigen«, forderte Kalynytschenko seinen Kapitän auf.
»Sie machen die Sache nur noch schlimmer«, sagte Lüder und fuhr, mehr zu sich selbst gewandt, fort: »Was hat es mit indischen Maschinenteilen für Zypern auf sich? Warum gibt es einen Aufpasser für diese Container?«
»Das ist absoluter Blödsinn, was Sie sich zurechtphantasieren«, schimpfte Schöster.
Lüder drehte die Hand im Gelenk. »Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg.«
Syrjanow räusperte sich. »Ich war mit dieser Änderung nicht glücklich. Wir hätten dadurch einen Tag verloren. Die Zyprer gelten nicht als die Schnellsten. Es hätte eine Weile gedauert, bis die Container entladen worden wären. Ich weiß nicht, wie wir das bei dem äußerst knapp kalkulierten Zeitplan wieder hätten aufholen sollen.«
»Sir!« Kalynytschenko schrie den Kapitän jetzt an. Am liebsten wäre der Ukrainer handgreiflich geworden.
»Ich habe nichts Geheimnisvolles verraten«, erklärte Syrjanow. »Was erlauben Sie sich, mich zu maßregeln?«
»Ich weise Sie nur auf Ihre Treuepflicht hin.«
Gespannt verfolgte Lüder die Diskussion zwischen den beiden Schiffsoffizieren.
»Mr. Syrjanow. Die weltweite Handelsschifffahrt steht unter einem enormen Zeit- und Kostendruck. Nicht umsonst werden die Schiffe unter Billigflaggen ausgelagert. Ihre ›Holstenexpress‹ ist formell in Antigua beheimatet. Man spart auch bei der Besatzung. Wie erklären Sie es sich, dass Ihnen plötzlich ein Zahlmeister zur Seite gestellt wird? Traut man Ihnen nicht mehr?«
Lüder hatte Syrjanow an seiner russischen Seele gepackt. »Seit ich um die Welt fahre, ist mein Verhalten einwandfrei und ohne jeden Tadel. Ich verwahre mich gegen jede Verdächtigung.«
»Und?«, bohrte Lüder nach. »Warum kommt plötzlich ein Zahlmeister an Bord? Eine teure und überflüssige Personalie.«
»Darüber habe ich mir auch den Kopf zerbrochen«, gestand der Kapitän.
»Sind Sie zu einem Ergebnis gekommen?«
»Nein.«
Lüder drehte sich zu Hans-Günter Schöster um. »Ich denke, Sie haben uns einiges zu erklären«, sagte er.
»Ich habe gar nichts. Ihr Verhalten wird Konsequenzen haben.«
»Wollen Sie sich bei meinem Chefredakteur beschweren?«
Schöster zeigte auf den toten Matrosen. »Vergessen Sie nie, Wolfram, wie lebensgefährlich es hier ist.«
Offener konnte man eine Drohung nicht formulieren. Es drohte nicht nur die Eskalation durch die Geiselnehmer, sondern auch innerhalb ihres Gefängnisses.
»Wir müssen heute Nacht Wachen aufstellen«, wechselte Lüder das Thema.
»Lächerlich.« Kalynytschenko tippte sich verächtlich an die Stirn. »Wir werden hier gefangen gehalten.«
»Trauen Sie unseren Bewachern zu, dass sie die Situation im Griff haben?«
Der Erste Offizier ließ die Frage unbeantwortet.
»Was ist, wenn die Söldner ihren Versuch wiederholen und sich nachts anschleichen? Das sind Profis. Und wir hocken hier in der Falle.«
»Was wollen Sie unternehmen, wenn die wirklich kommen?«, mischte sich der Kapitän ein.
»Wir haben nur eine Waffe: Lärm machen. Deshalb müssen wir Wachen aufstellen. Das gilt auch für den Fall, dass Bayanis Onkel seinen Plan, Rache für seinen Neffen zu üben, umsetzen sollte.«
Bevor Kalynytschenko die Diskussion fortführen konnte, entschied Kapitän Syrjanow: »Wir werden es so machen, wie Mr. Wolfram es vorgeschlagen hat.«
»Sie haben an Bord des Schiffes das Kommando«, begehrte Kalynytschenko auf. »Wir sind hier aber an Land.«
»Sie haben meine Anweisung gehört«, erklärte der Kapitän mit fester Stimme.
»Sir.« Der Erste Offizier deutete an, dass er nicht weiter widersprechen wollte.
Lüder war es recht. Sie würden sich nur selbst schwächen, wenn sie nicht gemeinsam an ihre Sicherheit dachten.
»Der Hof ist unbeleuchtet«, beschrieb Lüder die Lage. »Nachts brennt nicht einmal eine einsame Funzel. Wir können nur hoffen, dass wir Mondlicht haben. Da es ermüdend ist, sollten wir jeweils zwei Mann für eine Wache abstellen.«
»Ich werde die Matrosen einteilen«, erklärte Kalynytschenko.
»Je Wache werden jeweils ein Matrose und ein Offizier aufpassen«, sagte Lüder.
»Sie haben hier überhaupt nichts anzuweisen.« Der Ukrainer wollte sich nicht von Lüder bevormunden lassen.
Lüder wischte Kalynytschenkos Antwort mit einer Handbewegung vom Tisch.
»Eine Wache werden sich jeweils ein Offizier und jemand von der Mannschaft teilen. Zu den Offizieren zähle ich auch Mr. Schöster, Hein Piepstengel und mich. Dann wären wir zu sechst. Das bedeutet für jeden eine Wachzeit von zwei Stunden.«
»Sind Sie größenwahnsinnig, sich und den Maschinisten mit zu den Offizieren zu zählen?«
Lüder trat dicht an Kalynytschenko heran und baute sich vor ihm auf. »Eines verspreche ich Ihnen: Wenn wir dieses Gefängnis verlassen haben, werden wir beide uns auf einer anderen Ebene unterhalten.«
Der Erste Offizier sah sich um und blickte der Reihe nach die Mitglieder der Besatzung an. »Habt ihr das gehört? Der hat mich bedroht.«
»Wie Sie es formulieren, ist mir ziemlich gleich. Ich habe Ihnen zu keiner Zeit Gewalt angedroht noch dass Sie um Gesundheit oder Leben fürchten müssen. Es gibt eine andere Gerechtigkeit.«
Kalynytschenko lachte höhnisch auf. »Jetzt ist er komplett durchgedreht und spricht schon wie die Piraten von einer göttlichen Gerechtigkeit.«
»Sie hören mir nicht zu. Ich sprach von einer höheren Gerechtigkeit. Die kann durchaus irdischer Natur sein.«
»Da bin ich gespannt.« Der Ukrainer lachte höhnisch auf.
»Das dürfen Sie.«
»Mr. Kalynytschenko«, unterbrach der Kapitän das Geplänkel. »Nehmen Sie die Wacheinteilung vor.«
Widerwillig folgte der Erste Offizier der Anweisung.
Lüder zog sich in eine Ecke zurück. Ihn quälte es, nicht zu wissen, wie der Informationsstand in der Heimat war. Er war sich sicher, dass hinter den Kulissen fieberhaft daran gearbeitet wurde, das Schicksal der Geiseln und auch seines aufzuklären. Lüder wusste, dass kluge Leute wie Nathusius und Große Jäger ihn nicht im Stich ließen und alles daransetzen würden, ihn aufzuspüren. Aber welche Möglichkeiten boten sich den Schleswig-Holsteinern? Was konnten sie unternehmen? Reimten sie sich zusammen, dass man Lüder entführt hatte? Oder war die Stimmung schon so weit umgeschlagen, dass man mit Schlimmerem rechnete? Es war eine Situation, die an den Nerven zerrte, ihm Angst und Sorge bereitete.
Jetzt stand ihnen wieder eine Nacht voller Ungewissheit bevor. Am liebsten hätte er Piepstengel gebeten, auch ein Auge auf ihn selbst zu werfen. Er vertraute dem Hamburger als Einzigem in dieser Runde. Kapitän Syrjanow würde auch keine Gewaltakte billigen, und der Zweite Offizier Wang Li hatte sich bisher neutral und passiv verhalten. Die größte Gefahr ging vom unberechenbaren Kalynytschenko aus. Und Hans-Günter Schöster verbarg irgendein Geheimnis. Der Mann war ebenso unnahbar wie undurchsichtig.
Lüder würde es nicht durchhalten, die Nacht über wach zu bleiben. Irgendwann würde ihn der Schlaf übermannen, auch wenn es in diesem Verlies nicht auszuhalten war. Die Luft war stickig und schlecht und ließ kaum Platz zum Atmen. Der Gestank war unerträglich. Sensibleren Naturen würde er auf den Magen schlagen. Unmengen von Insekten schwirrten um ihre Köpfe. In einer Ecke lag der tote Matrose, und nachts, wenn es hier Ratten gab … Lüder wollte den Gedanken nicht zu Ende führen.
Er versuchte sich abzulenken, indem er bei der Frage, wer die Söldner beauftragt hatte, alle Möglichkeiten in Betracht zog. Wenn die Männer über Land gekommen wären, hätten sie im Auftrag eines Warlords handeln können, der in Konkurrenz zum Anführer ihrer Kidnapper stand. Würden die Geiseln getötet, würde der Anführer der Piraten unglaubwürdig. Außerdem hätte er das Lösegeld verwirkt und könnte sich nicht refinanzieren. Das würde ihn im Kampf um die regionale Vormachtstellung schwächen und seinem Konkurrenten Vorteile verschaffen. Wenn das Kidnapping der »Holstenexpress« aber mit Duldung der Verantwortlichen der Regionalregierung Puntlands in Garoowe erfolgte, hätten sie es mit einem Gegner zu tun, der diese bekämpfte. In Somalia war alles unübersichtlich und nahezu unmöglich, den Überblick zu behalten.
Hatte man in Berlin, als man Lüder gedrängt hatte, diesen Auftrag zu übernehmen, das nicht überblicken können? Ermittlungen anzustellen und Hintergrundinformationen zu sammeln war ein Aspekt. Eine Strafverfolgung wäre aber nur schwer durchsetzbar. Tatsächlich hatte Lüder die Zusammenhänge auch nur sehr vage aufdecken können.
Um sich abzulenken, sprach er mit Kapitän Syrjanow und fragte ihn, wie man den ermordeten Matrosen beisetzen wolle. Niemand wusste, wie lange sie noch gefangen gehalten würden. Man konnte die sterblichen Überreste nicht hier im Verlies lassen.
Syrjanow sprach daraufhin mit Bayanis Landsleuten, die heftig protestierten. Sie wollten nicht akzeptieren, dass einer der Ihren in diesem gottverlassenen Nest in ungeweihter Erde vergraben wurde. Nur zu gern überließ Lüder dem Kapitän die Auseinandersetzung. Er hatte Verständnis für die Haltung der Philippiner. Es war eine ausweglose Lage, in der sie sich befanden. Was immer sie taten: Es war falsch. Über eines war Lüder sich im Klaren. Wenn er jemals heil diese Hölle verlassen würde, konnte er nicht über die Erlebnisse, nur über die innere Anspannung und die Gefühle und Sorgen berichten.
Syrjanow hatte es nach einer langen Diskussion geschafft, zumindest einige der Matrosen von der Notwendigkeit zu überzeugen, Bayani zu beerdigen. In dieser schweren Stunde erwies sich der Russe als einfühlsamer Mann, der auf die Sorgen seiner Mannschaft einging, aber dennoch das Unausweichliche vortrug. Lüder hätte nicht mit ihm tauschen mögen.
Schließlich brach die Nacht herein, und die erste Wache nahm ihren Dienst auf. Lüder versuchte zu schlafen, aber es gelang ihm nicht. Jede Faser seines Körpers schmerzte, er war erschöpft und übermüdet, aber sein Geist kam nicht zur Ruhe. Immerzu kreisten seine Gedanken um die ungelösten Fragen, auf die er keine befriedigende Antwort fand.
Die Zeit wollte nicht vergehen, und er war froh, als ihn Wang Li aufforderte, die Wache zu übernehmen. Lüders Partner hieß Gani und war noch angespannter als er selbst.
Fahles Mondlicht ließ alles unwirklich erscheinen. Nur mit Mühe waren Konturen zu erkennen, und wenn man länger darauf starrte, begannen die Augen zu tränen und zu schmerzen. Nichts rührte sich. In ihrem Rücken waren die Atemgeräusche der Männer zu vernehmen. Es war fast beruhigend, dass auch Schnarchen zu hören war. Das verlieh der Situation einen Hauch von Normalität.
Gani begann ohne Aufforderung von seiner Heimat zu erzählen, von seiner Familie, seiner Kindheit und seinem Werdegang als Seemann. Er stammte aus Taytay, einer Stadt im Norden der Insel Palawan zwischen dem Südchinesischen Meer und der Sulusee.
Lüder war froh über die Erzählung, auch wenn er nicht zuhörte, sondern sie als Geräuschkulisse an sich vorbeirauschen ließ.
Er stutzte, als Gani zwischendurch einschob: »Ich bin sehr traurig, dass wir hier gefangen gehalten werden. Nach dieser Fahrt hätte ich Urlaub gehabt. Endlich, nach zwei Jahren. Ich habe mich so auf meine Frau und meine Kinder gefreut. Das jüngste kenne ich nur von Bildern. Und nun … Ich habe mich schon geärgert, dass wir dieses Mal länger für die Fahrt gebraucht haben.«
»Wie kommt das?«
»Sonst fahren wir von Busan nach Hamburg neununddreißig Tage. Durch die Verzögerung in Madras und den außerplanmäßigen Halt in Limassol hätten wir zwei Tage verloren. Dann kursierte auch noch das Gerücht in der Besatzung, dass wir auch Dschidda in Saudi-Arabien anlaufen.«
»Bitte?« Lüder war überrascht und hatte lauter gesprochen. Sofort sah er sich um, ob jemand ihrem Gespräch lauschte.
»Genaues weiß ich nicht«, versuchte Gani das Gesagte zu relativieren. »Das Deckspersonal wird nicht informiert. Über solche Dinge weiß nur die Schiffsführung Bescheid.«
»Was wollten Sie in Saudi-Arabien?«
Gani zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich kann nicht einmal mit Gewissheit sagen, dass an diesem Gerücht etwas dran ist.«
»Wie lange fahren Sie schon auf der ›Holstenexpress‹?«
»Seit über sechs Jahren.«
»Kommt es oft vor, dass Sie außerplanmäßig Häfen anlaufen?«
»Fast nie«, antwortete der philippinische Matrose. »Und in Saudi-Arabien waren wir noch nie. Ich habe auch zu keiner Zeit gehört, dass ein anderes Schiff der Reederei dort war.«
»Könnte es mit den geheimnisvollen Containern zusammenhängen, die Sie in Madras übernommen haben?«
»Ich habe schon erklärt, dass ich darüber nicht informiert bin.« Gani klang jetzt ungehalten. Um das zu unterstreichen, sah er starr durch das Fenster in den dunklen Hof und schwieg fortan.
Ihre Wache blieb ereignislos, bis sie von Piepstengel und einem anderen Matrosen abgelöst wurden. Lüder warf einen Blick in die Ecken, in die sich Kalynytschenko und Schöster zurückgezogen hatten. Beide lagen ruhig auf dem Boden. Ob sie schliefen, konnte Lüder nicht feststellen. Er selbst suchte einen weit entfernten Platz, rollte sich zusammen und spürte nicht den Übergang vom Wachsein in einen tiefen traumlosen Schlaf.