»Ich geb dir die Adresse«, sagte er. »Dann kannst du unseren Prospekt anfordern.« Da klang etwas von dem gereizten Luke von einst durch, nur war das Herz nicht dabei. »Jane, können wir miteinander reden?«
Er faßte mich am Ellbogen und steuerte zwischen den Gästen durch auf die Tür zu.
»Das ist besser«, flüsterte er gehetzt, als sei er in Eile und könnte womöglich belauscht werden. Während er sich mit mir unterhielt, sah er über meine Schulter hinweg, so wie man auf Partys nach jemandem Ausschau hält, der einen weit mehr interessiert. »Ich habe gehört – Theo hat es mir erzählt –, daß Natalie ermordet worden ist. Tja, was für eine Überraschung. Dann sagte er noch, sie sei schwanger gewesen. Da hab ich kapiert, warum ich nach all den Jahren nicht gerade mit offenen Armen empfangen wurde. Martha hat mich nicht einmal begrüßt. Theo und alle meinen, ich sei es gewesen.«
»Was sollst du gewesen sein?«
Ich kam mir hart und grausam vor. Lukes Gesicht verzerrte sich, und er zog erneut ein Taschentuch hervor.
Das Bild des kleinen, schluchzenden Jungen von einst tauchte blitzartig vor mir auf und verschwand ebenso schnell wieder. Mir fiel auf, daß er von all den Männern in Natalies Leben der erste war, den ich um sie weinen sah.
»Ich habe sie geliebt. Sicher, ich war nur ein unreifer Teenager, aber ich habe sie geliebt. Sie war so süß und so
… so … grausam.«
»Wie kannst du dir so sicher sein, daß du sie nicht geschwängert hast?« fragte ich und wollte mir die Eigen-schaftswörter, die er benutzt hatte, für später merken.
Er weinte nicht mehr, sondern blickte mir kühl in die Augen.
»Weil wir es nie getan haben«, sagte er. »Sie wollte nicht. Es muß jemand anders gewesen sein.«
»Wer? Wann?«
»Wie soll ich das wissen? Ich habe wirklich versucht, mir jedes Detail ins Gedächtnis zurückzurufen. Einmal, weiß der Himmel, wo das gewesen ist, haben wir uns geküßt. Ich habe sie geküßt. Auf ihren Wangen lag ein goldener Flaum, obwohl sie so ein dunkler Typ war. Ich spüre ihn noch heute auf den Lippen. Als ich sie streicheln wollte, schob sie mich weg und sagte: ›Du bist noch ein Kind.‹ Dabei war ich ein ganzes Jahr älter als sie. Ich war fassungslos, aber so war sie eben. Du weißt es doch. Du kanntest sie besser als jeder andere.«
Ich wollte dieses Gespräch beenden.
»Gut, warum erzählst du es mir dann?«
»Glaubst du mir jetzt?«
»Wen interessiert, was ich glaube?«
»Mich«, sagte Luke und murmelte etwas Unverständliches. Er rang um seine Fassung. »Aha, jetzt komme ich langsam dahinter. Ihr haltet zusammen. Klar, das ist für euch bequem.«
Ich drehte mich um und ging.
»Ihr macht es euch wirklich ganz schön leicht«, hörte ich ihn hinter mir sagen.«
10. KAPITEL
»Hier, das sind alles deine.«
Ich fing an, die Schallplatten in Kartons zu verstauen.
Als Claud und ich uns kennenlernten, besaß er bereits eine riesige Sammlung Langspielplatten, die er nach Alphabet und verschiedenen Kategorien geordnet hatte. Meine fünf
– zwei von Miles Davis und drei von Neil Young – waren viel zu verkratzt für Clauds Anlage, außerdem hatte er sie selbst. Während unserer Ehe kaufte er immer wieder welche dazu. Klassische Musik, Jazz, Soul und Punk –
seine Begeisterung und seine Aufgeschlossenheit kannten keine Grenzen. Aus purem Widerspruchsgeist schleppten Jerome und Robert das neueste Gedröhn an: House, Techno, Grunge – nie lernte ich, das eine vom andern zu unterscheiden, stets reagierte ich mit Ignoranz und Entsetzen, wie es von mir erwartet wurde. Claud hingegen fand nach und nach Gefallen an dieser Musik und hörte Rap-Songs über ermordete Polizisten, die sogar Robert schockierten. Er erklärte, es sei einer der wichtigsten Aspekte der freien Meinungsäußerung, daß auch jemand wie Iced Tea, oder wie immer er heißen mochte, seine Ansicht kundtun dürfe. Genußvoll spielte Claud mir Guns’n Roses vor, während seine Söhne ihn schmollend ansahen und ich nachdenklich das Cover betrachtete, auf dem allen Anschein nach gerade eine Frau von einem Roboter vergewaltigt wurde. Wenn seine Brüder zu Besuch kamen, stürzten sie sich auf seine Sammlung, zogen diese oder jene Platte vergangener Tage heraus, beispielsweise ein entsetzliches fünfzehnminütiges Schlagzeugsolo, das eine Flut von Erinnerungen an eine längst vergessen geglaubte Party oder ein betrogenes Mädchen weckte.
»Und diese hier auch.« Ich legte die CDs ordentlich gestapelt neben die Kartons. Claud sah mich mit feuchten Augen an. Ich reagierte nicht. »Den größten Teil der Bücher habe ich durchgesehen, aber du solltest sicherheitshalber noch mal einen Blick drauf werfen. Bei manchen fällt mir die Entscheidung schwer. Ich habe sie alle hier aufs Regal gelegt.«
»James Morris’ Venedig. « Clauds Stimme klang wehmütig.
»Weißt du noch, wie wir dort waren?«
Ich erinnerte mich. Es war Februar gewesen, feucht, neblig und fast menschenleer. Wir machten lange Spaziergänge, achteten nicht auf den süßlichen Gestank des Wassers, bestaunten die bröckelnden Fassaden alter Palazzi und besichtigten Kirchen. Wir liebten uns auf harten Holzbetten mit Keilkissen zum Geräusch der klappernden Jalousien.
Die Pilze Europas, Aufstieg und Fall des Römischen Reichs, Auden, Gedichte von Hardy, Die Vögel Groß-
britanniens. Clauds Finger glitt das Regal entlang. » One is fun sollte ich wohl nehmen. Und das hier sieht aus, als wäre es meins.« Er zog einen schmalen Führer über Englands ländliche Kirchen heraus und legte ihn in seinen Karton. »Wir können die Bücher, die uns beiden gehören, den Jungen geben. Das scheint mir angemessen. Kann ich jetzt einen Drink bekommen?«
»Sie lesen keine Bücher. Wir haben noch nicht über die Bilder und das Porzellan gesprochen. Außerdem gehören dir auch eine Menge Möbel.«
»Jane, kann ich bitte einen Drink haben? Du kannst ja gar nicht schnell genug die letzten Spuren von mir tilgen.«
Wir setzten uns an den Küchentisch, und ich füllte unsere Gläser mit einem roten, billigen Wein. Dann zündete ich mir eine Zigarette an und inhalierte den Rauch krebserregend tief. Wir plauderten zunächst über die Jungen, dann, erstaunlich entspannt, über Natalie. Ich hatte genug nostalgische Schwärmerei gehört. Claud sprach darüber, wie übermütig Natalie sein konnte, über die Streiche, die sie ausgeheckt hatte, über ihr Geschick, Geheimnisse zu lüften und Bündnisse zu schließen. Er sprach über die lebendige Natalie, nicht über das tote Mädchen, das man jetzt idealisierte. Diese Natalie hatte ich vergessen. Nun lebte meine Erinnerung an sie wieder auf. Claud und ich riefen uns besondere Augenblicke ins Gedächtnis zurück und füllten die Weingläser nach. Es war schwierig, den Ablauf der Ereignisse zu rekonstruieren, aber Natalie war in den Wochen vor ihrem Tod nicht so häufig mit Luke zusammengewesen. Sie war seiner überdrüssig geworden und hielt ihn auf Abstand, was ihn ärgerte und verwirrte. Er versuchte sie anzurufen und fragte überall nach ihr, bis er schließlich bei mir oder Martha landete.
Wir redeten über die berüchtigte Party, meine verschwommene Erinnerung an den darauffolgenden Tag und auch über Clauds und Alecs Flug mit Air India nach Bombay, der ihm haargenau im Gedächtnis geblieben war.
Mit sage und schreibe zwanzig Pfund hatten sich die beiden dort drei Monate lang herumgetrieben. Dreck, Dope und Durchfall. Ich hatte immer die Absicht gehabt, nach Indien zu fahren. Mir fiel ein, daß Claud und ich uns vorgenommen hatten, diese Reise eines Tages etwas stilvoller zu wiederholen, und hoffte, er würde nicht darauf zu sprechen kommen. Ich spielte mit einem antiken Schälchen, das auf dem Tisch stand. Es stammte von einem berühmten Künstler und war sehr teuer gewesen.
Ich hatte vergessen, ob Claud es mir oder ich es ihm geschenkt hatte.
Daran hätte ich jetzt besser nicht denken sollen. Als Claud das Glas hob und mich mit einem bitteren Lächeln ansah, empfand ich ein hoffnungsloses, wehmütiges Verlangen nach diesem Mann. Als wir verheiratet waren, kamen wir in Gesellschaft anderer Leute oft am besten miteinander aus. Ich beobachtete sein charmantes Verhalten oder sah, wie eine attraktive Frau seinen Arm umklammert hielt und über eine Bemerkung lachte, die ich nicht hören konnte. Dann erkannte ich, wie glücklich ich mich schätzen durfte. Fast alle meine Freundinnen beteten Claud an und beneideten mich, weil er so gut aussah, sich mir gegenüber so aufmerksam verhielt, so treu war. Daß er nie merkte, wenn Frauen mit ihm flirteten oder sogar versuchten, ihn anzumachen, machte ihn um so begehrens-werter. Plötzlich waren wir gefangen in verhängnisvollem Schweigen. Ich ahnte, was jetzt kommen mußte.
»Ich weiß, ich sollte das nicht sagen«, begann Claud, und ich begriff, daß er eine Rede vorbereitet hatte. »Aber all das hier«, er deutete auf das Chaos um uns herum,
»erscheint mir unsinnig. Erst sagst du, wir haben Probleme, und als nächstes finde ich mich irgendwo in einem möblierten Zimmer wieder. Ich meine, wir sollten es noch mal versuchen.« Seine Stimme klang schrecklich aufge-kratzt. »Es fällt mir schwer, das zu sagen, aber vielleicht könnten wir zu einer Beratungsstelle gehen.«
Ob ich wollte oder nicht, ich war gerührt: Claud hatte bisher für jede Art von Therapie immer nur Verachtung übriggehabt.
»Nein, Claud.« Ich verkniff mir eine Erklärung, gegen die er Einwände erheben konnte.
»Aber du bist nicht glücklich«, beharrte er. »Sieh dich doch an: Du rauchst ununterbrochen, du bist dünn und blaß. Du weißt, daß du einen Fehler begangen hast.«
»Ich habe nie behauptet, daß ich glücklich bin«, sagte ich.
»Aber ich muß mit dem leben, was ich mir ausgesucht habe.«
»Was habe ich falsch gemacht? Was habe ich dir getan, daß du das hier möchtest?« Er deutete auf das Zimmer, auf mich.
»Nichts. Ich will nicht darüber reden. Es ist sinnlos.«
»Steckt etwas dahinter, über das du nicht reden willst?«
fragte er verzweifelt. »Ist es Theo? Da, jetzt hab ich es ausgesprochen. Entspreche ich nicht dem idealisierten Bild, das du dir von ihm machst?«
»Hör auf, Claud, das ist lächerlich.«
»Ich könnte dir eine Menge über Theo erzählen, was er so alles getan hat …«
»Das glaube ich dir nicht, Claud. Außerdem hat es nichts mit uns zu tun.«
Plötzlich sank er förmlich in sich zusammen.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Es tut mir leid, aber du fehlst mir furchtbar.« Er schlug die Hände vors Gesicht und spähte zwischen seinen Fingern hindurch wie durch das Gestänge eines Käfigs.
Hier saß ich also mit Claud am Küchentisch, wie so viele Jahre zuvor, sah seine Tränen, ohne ihn trösten zu wollen, und wußte nicht mehr, weshalb ich ihn verlassen hatte.
Die Wut, die heillose Frustration, die Panik, das Gefühl, daß die Zeit davonlief – all das war so weit weg. Was ich wollte, war Frieden, Freundschaft, ein geregeltes Leben, eine Heimat. Ich hatte mein Leben Stück für Stück aufgebaut, um es dann eines schönen Tages im vergangenen September über mir zusammenstürzen zu lassen.
Ich fühlte mich alt, müde und am Ende. Einen Augenblick meinte ich, ich müßte neben Clauds Stuhl niederknien, ihn in die Arme nehmen, bis seine Tränen versiegt waren, meinen Kopf in seinen Schoß betten und spüren, wie seine Hände mein Haar streichelten, in dem sicheren Bewußtsein, daß er mir vergeben hatte. Aber ich unternahm nichts, und der Augenblick verstrich. Nach ein, zwei Minuten erhob er sich.
»Ich hole die Sachen später.«
Ich spielte immer noch mit dem Schälchen. »Was ist hiermit?«
Ich reichte es Claud.
»Das hier? Es gehört uns beiden.« Er nahm es in beide Hände, zerbrach es ohne sichtbare Gefühlsregung in zwei Teile und reichte mir die Hälfte. Ich war sprachlos. Ich sah nur, daß er sich am Finger verletzt hatte.
»Ich nehme nur dieses hier.«
Er legte die Scherbe in einen CD-Karton. Als ich ihm die Tür öffnete, trieb der Wind den Regen ins Haus.
»Ich bin enttäuscht von dir, Jane«, sagte er. Ich zuckte nur die Achseln.
Im Schlafzimmer zog ich meine Jeans und meine graue Jacke aus, nahm die Ohrringe ab, bürstete mir das Haar und zog einen Morgenmantel an. Dann ging ich ins Bad und rieb meinen Finger mit Seife ein. Ich zog kräftig, und schon glitt der Ring über den Knöchel. Nachdem ich den schmalen Reif abgespült hatte, nahm ich ihn mit in mein Arbeitszimmer, Jeromes ehemaliges Schlafzimmer, in dem jetzt Flip-Charts standen und sich Millimeterpapier und unbeantwortete Briefe türmten. Dort öffnete ich die Schreibtischschublade, in der ich verschiedene Souvenirs aufbewahrte: die Namensbänder der Jungen, die man ihnen nach der Geburt ums Handgelenk gebunden hatte, den Korken der Champagnerflasche anläßlich der Abschlußprüfung, den letzten Brief meiner Mutter, den sie mir mit zittriger Hand und unter Schmerzen geschrieben hatte, die Fotos von Natalie, die ich vor kurzem bekommen hatte. Ich legte den Ring dazu und schloß die Schublade. Dann ging ich zu Bett und mußte lange auf den Schlaf warten.
11. KAPITEL
»Schockiert es Sie?«
»Mehr als das«, antwortete ich. »Ich könnte Ihnen nicht mal richtig beschreiben, was ich empfinde.«
»Erzählen Sie«, forderte Alex mich auf.
Ich seufzte. »Ich werd’s versuchen. Nun, ich fühle mich hinters Licht geführt, und das ist noch untertrieben, denn offensichtlich hatte Natalie noch ein anderes Gesicht, eines, das ich nicht kannte. Um es etwas genauer auszu-drücken: Zwischen Natalie und mir bestand eine Kinder-freundschaft, und wir versicherten uns gegenseitig, die besten Freundinnen und Schwestern zu sein. Schließlich waren wir die einzigen Mädchen unter vielen Jungen.
Alles haben wir beredet, besonders nachts, in ihrem Zimmer. Im Sommer 1969 aber wandelte sich unsere Freundschaft. Wir hatten schon davor mit Jungs zu tun gehabt, aber zu ihrer Beziehung mit Luke fand ich keinen Zugang, das war irgendwie anders. Ich selbst war in der gleichen Zeit über beide Ohren in Theo verliebt.«
»Erzählen Sie mir von Theo.«
»Wie meinen Sie das? Damals oder heute?«
»Egal.«
»Theo ist immer noch ein toller Typ. Ich liebe ihn. Wenn Sie ihm begegnen würden, würde er Ihnen bestimmt auch gefallen. Er ist groß, attraktiv und hat mittlerweile eine Glatze, aber so wie ein Künstler, nicht wie ein Bankmanager, der sich die Strähnen quer über den Schädel kämmt.«
»Klingt interessant«, meinte Alex lachend. »Wir müssen Ihre Abneigung gegenüber Bankmanagern untersuchen.«
»Ich mag meinen Bankmanager«, beteuerte ich.
»Obwohl ich ihn so oft provoziert habe, war er immer sehr nett zu mir.«
Trotz der schlechten Neuigkeiten verlief diese Sitzung mit Alex entspannter. Die Atmosphäre war freundlich, sogar ein bißchen erotisch. Ich fühlte mich sicherer, ich wußte, daß ich sagen durfte, was ich sagen wollte.
»Wie auch immer, Theo ist weder Bankmanager noch Künstler. Er ist irgendwas dazwischen, und es ist sehr schwierig, genau zu sagen, was er tatsächlich tut. Er ist Spezialist in Fragen des Informationsmanagements und arbeitet für eine Firma, die ihren Sitz in Zürich hat.
Außerdem liest er als Gastprofessor mal hier, mal dort.
Eine etwas postmoderne Aufgabenstellung, sehr gut bezahlt und ein bißchen abstrakt und philosophisch. Er reist ständig. Mal ist er auf einem Kongreß in Toronto, mal überwacht er eine Firmenfusion auf einem Schloß irgendwo in Bayern. Dagegen scheinen Leute wie ich, die an einem Ort wohnen und in der Nähe arbeiten, unvorstellbar altmodisch. Er war und ist faszinierend.
Vor diesem Sommer im Jahr 1969 habe ich Theo mehrere Jahre lang etwas aus den Augen verloren. Er ging in einer anderen Stadt zur Schule, und ich hatte einen jungen Mann als Freund, der nicht nur ein Motorrad besaß, sondern es auch zerlegen und wieder zusammen-bauen konnte, ohne daß eine Schraube übrigblieb. Auf seine Art ganz schön imponierend. Als wir uns Ende Juli auf Stead zu der Party für Alan und Martha trafen, habe ich mich Hals über Kopf in Theo verknallt. Er war über einsachtzig und hatte lange Haare, besuchte die sechste Klasse und machte in ungefähr zwölf Fächern die Abschlußprüfung. Außerdem las er Rimbaud und Baudelaire im Original und konnte Gitarre spielen. Ich meine, richtig, nicht nur klimpern, sondern Melodien, die ein bißchen an Leonard Cohen erinnerten. Ich war ihm voll und ganz verfallen. Hauptsächlich im geistigen Sinne.
Entschuldigung, ich schweife ab. Ich wollte eigentlich nur klarmachen, daß das der Sommer war, in dem Natalie und ich sozusagen erwachsen wurden. Die gegenseitige Entfremdung, die dabei stattfand, war ein Zeichen dafür, daß jede von uns selbständig wurde und anfing, ein eigenes Leben zu leben. Wie soll ich das beschreiben? Ich erinnere mich an ein Ereignis ungefähr eine Woche vor ihrem Verschwinden. Ich war in Kirklow. Eine Gruppe junger Leute saß vor einem Pub beieinander, trank und rauchte. Natalie war auch mit von der Partie. Sie hatte das Haar aus der Stirn gestrichen und lachte über irgendeine Bemerkung. Dabei sah sie auf, und unsere Blicke trafen sich. Sie lächelte mich an und schaute dann schnell weg.
Mir war klar, daß ich nicht hinübergehen und mich dazusetzen durfte. Ich glaube, der Schmerz, den ich empfinde, wenn ich an diesen Sommer zurückdenke, hat nicht nur mit Natalies Tod zu tun, sondern auch damit, daß ich plötzlich kein Kind mehr sein durfte und mich der Erwachsenenwelt stellen mußte.«
Nachdem ich geendet hatte, entstand ein langes Schweigen, das ich nicht brechen wollte. Ich hatte keine Angst mehr vor Gesprächspausen.
»Aha, damit ist ja alles geklärt«, sagte Alex in einem sarkastischen Ton, der mich empörte.
»Wie meinen Sie das – ›alles geklärt‹?« fragte ich.
»Das klingt doch wunderbar, Jane. Sie haben alles miteinander in Verbindung gebracht. Sie haben es geschafft, sich mit Natalies Tod abzufinden und ihn mit einer positiven Entwicklung in Ihrem eigenen Leben zu verknüpfen. Natalie ist gestorben, Sie sind erwachsen und Architektin geworden. So weit, so gut. Analyse beendet.
Herzlichen Glückwunsch.«
Ich war wie erschlagen. »Warum sind Sie so sarkastisch, Alex? Das ist gräßlich.«
»Lesen Sie gern, Jane?«
»Wozu wollen Sie das wissen?«
»Ich wette, Sie lesen gern Romane. Im Urlaub bestimmt jeden Tag einen.«
»Nein, ich lese ziemlich langsam.«
»Wollten Sie schon mal selbst einen Roman schreiben?«
»Machen Sie sich über mich lustig, Alex?«
»Nein, ehrlich, Jane, ich denke, Sie sollten es in Erwägung ziehen. Ich bin überzeugt, Sie können das. Aber tun Sie’s nicht hier bei mir. Sie sind eine intelligente Frau, und das, was Sie mir gerade erzählt haben, ist durchaus keine unglaubwürdige Aneinanderreihung Ihrer Erfahrungen. Darin liegt ja Ihre Begabung. Ich bin sicher, Sie könnten morgen in meine Praxis kommen und mir eine zweite Version Ihres Lebens präsentieren, eine andere Interpretation, die genauso überzeugend klingt. Wenn Sie über Ihr Leben absolut glücklich wären und alles zu Ihrer Zufriedenheit laufen würde, könnten Sie es damit eigentlich bewenden lassen. Wir erzählen alle gern Geschichten, nur beherrschen es die meisten von uns nicht so gut wie Sie. Man schafft sich makellose Lebensinter-pretationen, denen man folgen kann wie der Tintenwolke eines Tintenfisches. Bin ich unfair, Jane?«
Ich fühlte mich, als hätte ich plötzlich jede Orientierung verloren.
»Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
Alex tauchte in meinem Blickfeld auf und kniete sich neben mich. »Wissen Sie, was ich vermute, Jane? Sie haben die Taschenbuchausgabe der Freudschen Werke zu Hause. Zwar haben Sie sich früher vorgenommen, sie zu lesen, sind aber nie dazu gekommen, sondern haben nur darin geblättert und hier und dort ein wenig geschmökert.
Außerdem kennen Sie ein, zwei Bücher über Psychotherapie und sind unter anderem darauf gestoßen, daß eine Analyse aus Gesprächen und Interpretationen besteht.
Fakten und Dinge spielen keine Rolle, es zählt allein der Wert, den man ihnen beimißt. Stimmt das in etwa?«
»Ich habe keine Ahnung von dem ganzen Zeug«, wandte ich ein. Ich wollte nicht klein beigeben. Er war sich seiner Sache so sicher.
»Ich möchte, daß Sie das alles vergessen«, fuhr Alex fort. »Ich will Sie – zumindest für eine Weile – von Ihrer Begabung abbringen, Ihr Leben in ein Schema zu pressen.
Ich möchte, daß Sie die Dinge in Ihrem Leben erkennen, die sich tatsächlich ereignet haben. Wir heben uns die Deutung für später auf, einverstanden?«
»Ich bin überrascht, daß Sie glauben, es gäbe neben der Interpretation noch Tatsachen.«
»Mir ist klar, daß Sie mir das nicht abnehmen. Wenn Sie wollen, können wir wochenlang hier sitzen, Spielchen machen und über den Sinn des Sinns philosophieren.
Möchten Sie das?«
»Nein.«
»Bisher haben Sie mir die übliche Geschichte über das Erwachsenwerden und den Sommer der ersten Liebe erzählt.« Er stand auf und ging zurück zu seinem Stuhl.
»Sagen Sie etwas über die peinlichen, unangenehmen Situationen.«
»Reicht es nicht, daß Natalie schwanger war und ermordet wurde? Brauchen Sie noch mehr Unangenehmes?«
»Aber Jane, Sie berichten über diesen herrlich idyl-lischen Sommer mit der Familie, die von jedermann bewundert wurde. Wo ist die Verbindung zu dem Mord?«
»Wieso soll es denn eine geben? Natalie kann doch von jemandem ermordet worden sein, der nichts mit der Familie zu tun hatte, von jemandem, den wir noch nie gesehen hatten.«
»Was denken Sie darüber, Jane?«
»Wollen Sie meine Gefühle wissen?«
»Nein, Ihre Gedanken, Überlegungen.«
Ich schwieg ziemlich lange.
»Mir fällt eigentlich nur eines dazu ein. Vielleicht bin ich dumm – das hat wahrscheinlich die Polizistin gedacht, mit der ich gesprochen habe –, aber ich muß immer an den Ort denken, an dem man Natalie gefunden hat. Das Versteck war fast perfekt, schließlich blieb ihre Leiche fünfundzwanzig Jahre unentdeckt und ist nur durch einen Zufall gefunden worden. Aber es ist wirklich sonderbar.
Ich weiß nicht viel über Mörder, aber ich stelle mir vor, daß sie ihre Opfer in abgelegenen Wäldern vergraben oder sie im Moor oder in Gräben liegenlassen. Natalie wurde zuletzt am Fluß gesehen. Man hätte sie doch einfach ins Wasser werfen können. Aber sie wurde am Tag nach einer großen Party unter unserer Nase begraben, als jede Menge Leute in der Nähe waren. Ich verstehe das Ganze zwar nicht, aber über eins bin ich mir sicher: Es war nicht irgendein Vagabund auf der Durchreise, der sie angegriffen und dann sozusagen vor unserer Haustür begraben hat.«
»So? Was wollen Sie mir außerdem sagen? Da muß doch noch was sein.« Alex ließ nicht locker.
»Ich weiß nicht. Es liegt so lange zurück. Ich habe das Gefühl, daß Sie meinen Worten mehr Bedeutung beimessen, als sie wirklich verdienen.«
»Stellen Sie mich auf die Probe.«
Ich klammerte mich an der Couch fest.
»Es gab Probleme, wie sie in allen Familien vorkom-men. Unsere traten vielleicht stärker hervor, weil wir uns so nahestanden und so oft sahen.«
»Lassen Sie die Entschuldigungen, erzählen Sie einfach.«
»Es ging immer nur um Kleinigkeiten. Man darf nicht vergessen, daß wir in einem Alter waren, in dem kleine Streitereien große Bedeutung haben. Natalie war gerade sechzehn geworden. Paul war achtzehn, er war auf dem Sprung nach Cambridge und absolut verrückt nach ihr.«
»Hatten sie eine Beziehung?«
»Natalie hat ihn abblitzen lassen. Heute kann man sich das nicht vorstellen, aber Paul war damals ein sehr schüchterner Teenager, aber einer von der aggressiven schüchternen Sorte, der bis dahin keine Freundin gehabt hatte. Es war ihm anzusehen, wie er seinen Mut zusammennahm und sich an Natalie heranmachte. Ein-, zweimal hat er spätabends versucht, sie zu umarmen, aber sie hat ihn ziemlich brutal abgefertigt.«
»Unnötigerweise brutal?«
»Weiß ich nicht. So was kann man doch nicht einschätzen. Ich erinnere mich – falls Sie gestatten, daß ich ein bißchen interpretiere –, daß es manchmal so wirkte, als ob Luke sich zum Teil deshalb zu Natalie hingezogen fühlte, weil er damit Paul weh tun konnte.
Und als sie sich von Luke abwandte, spielte sie mit Paul, um Luke zu quälen.«
»Und was haben Sie dabei empfunden?«
»Sie meinen, als mein älterer Bruder von meiner besten Freundin gedemütigt wurde? Es hat mich geärgert.
Vielleicht nicht genug. Hauptsächlich war es mir peinlich.
Möglicherweise war ich auch ein wenig eifersüchtig.
Natalie erregte überall Aufsehen – zumindest bei den Jungs. Sie tat, als würde sie das nicht interessieren, aber das stimmte natürlich nicht. Sie wirkte oft sehr arrogant.
Paul hatte sich schließlich damit abgefunden. Aber, sehen Sie, das Erwachsenwerden ist eine spannungsreiche Zeit.
Ich mache alles viel wichtiger, als es in Wirklichkeit war.«
»Wie war das für Paul?«
»Darüber hat er nie gesprochen, außer in Zusammenhang mit seiner goldenen Jugend, über die er jetzt eine Fernsehdokumentation machen will.«
»Glauben Sie, daß er diese Zeit wirklich so empfunden hat?«
»Heute vielleicht. Aber ich nehme ihm nicht ab, daß es ihm damals gefallen hat, zumindest nicht in jenem Sommer.«
»Wirklich nicht?«
»Nein.«
Hinter mir hörte ich ungeduldiges Seufzen.
»Jane, Sie haben mir einen Knochen hingeworfen. Aber das ist nicht das, was Sie mir erzählen wollten.«
Mir war, als stünde ich auf einem sehr hohen Sprung-turm und würde den Sprung nur wagen, wenn ich mich ohne nachzudenken hinunterstürzte.
»Das Schwierige an diesem Sommer war Alans Untreue
– das war immer ein Problem, aber in diesem Sommer ganz besonders.«
»Ja?«
Na ja, was machte es jetzt noch aus?
»Alans Untreue war ein offenes Geheimnis. Die alte Leier: Alan liebt Martha und ist total abhängig von ihr, aber er hatte eine Unzahl von Affären, praktisch während ihrer gesamten Ehe, soweit ich das beurteilen kann. Er hätte sein Verhalten ohnehin nicht geändert, aber als The Town Drain veröffentlicht und Alan berühmt wurde, waren die jungen, noch nicht anderweitig vergebenen Literatinnen nicht mehr zu bremsen.«
»Wußte Martha von diesen Affären?«
»Ich denke ja. Alans Bettgeschichten waren nichts Welt-bewegendes, sie plätscherten einfach dahin, man sprach nicht darüber. Sie waren bedeutungslos. Ich glaube, das war der springende Punkt.«
»Haben sie Martha gestört?«
»So was stört einen doch immer, oder nicht? Martha ist eine kluge Frau, und ich nehme an, sie hat Alan von Anfang an durchschaut und erkannt, daß man ihn so nehmen muß, wie er ist. Aber vielleicht hatte sie kein ausreichend dickes Fell. Ich bin sicher, sie hat immer sehr gelitten.«
»Wußten alle darüber Bescheid?«
»Nein. Manche Dinge haben sich erst rückblickend geklärt, nachdem wir sie uns zusammenreimen konnten.
Ihnen mag das schwer verständlich scheinen, aber manchmal weiß man etwas und weiß es doch wieder nicht.
Verstehen Sie, was ich meine?«
»Absolut.«
»Jedenfalls ließ sich in jenem Sommer Alans Verhalten nicht länger vertuschen. Um die lange schmutzige Geschichte auf den Punkt zu bringen: Wenige Tage vor der großen Party kamen wir dahinter, daß Alan mit einer Freundin von Natalie und mir im Bett gewesen war. Sie war sechzehn, genau wie wir. Sie hieß Chrissie Pilkington und war die Tochter von guten Freunden. Sie besuchte dieselbe Schule wie Natalie. Es war schrecklich.«
»Wie haben Sie das herausgefunden?«
»Sie hat es Natalie erzählt und Natalie wiederum mir. Es war eigentlich seltsam – wir haben uns den ganzen Nachmittag ausführlich darüber unterhalten. Ich glaube, mich hat es mehr mitgenommen als Natalie. Sie wirkte nicht überrascht, sondern eher angewidert. Sie ließ kein gutes Haar an ihrem Vater und machte sich über seine Bierfahne und seinen Wanst lustig. Ich weiß noch, wie sie ihn als Betrunkenen nachgeahmt hat. Doch später hat sie die Sache nie wieder erwähnt, und ich auch nicht.
Wahrscheinlich wußte ich, daß ich lieber den Mund halten sollte.«
»Haben Sie Alan darauf angesprochen? Oder Martha?«
»Nein, es schien mir nicht der richtige Zeitpunkt. Aber ich habe Theo davon erzählt. Ich nehme an, die meisten von uns jungen Leuten haben es gewußt.«
»Was ist dann passiert? Was haben Sie bei all dem empfunden?«
»Was passiert ist? Das weiß ich nicht, ehrlich. Irgendwie ging es in dem Tumult wegen Natalies Verschwinden unter. Solche Sachen beschäftigten Alan nie besonders lange, und er nutzte Natalies Verschwinden als Möglichkeit, um Gras über die Sache wachsen zu lassen.«
»Und wie waren Ihre Gefühle?«
»Unterschiedlich. Immer schon, was Alan angeht.
Manchmal glaube ich, er ist nur ein gemeines Arschloch, das zu allem fähig ist, wenn ihm gerade der Sinn danach steht. Und manchmal finde ich ihn nur bemitleidenswert und schwach und habe das Gefühl, man muß sich um ihn kümmern oder sich mit ihm abfinden. Und hin und wieder sehe ich ihn auch mit den Augen der Leute, die ihn nicht so gut kennen: der alte, unverbesserliche Alan, ein bißchen ausgeflippt und extravagant, aber originell – welch ein Glück, daß wir ihn haben. Wenn ich mich Martha besonders nahe fühle, hasse ich ihn, aber sie nimmt das alles ziemlich gelassen.«
Ich konnte nicht weitersprechen. Mein Kopf war leer.
Ich fühlte mich ausgelaugt. Auch Alex schwieg nachdenklich.
»Entschuldigen Sie, daß ich so grob war, Jane«, sagte er schließlich.
»Das waren Sie wirklich.«
Alex erhob sich und drehte seinen Stuhl so, daß ich ihn sehen konnte. »Jane, die Zeit ist fast um, und bestimmt sind Sie erschöpft, aber ich möchte trotzdem noch etwas ausprobieren. Ich wollte es für spätere Sitzungen aufhe-ben, aber es ist einen Versuch wert.«
»Was?«
»Immer mit der Ruhe, Jane. Ich möchte, daß Sie jetzt die Führung übernehmen. Ich will der Fährte folgen, die Sie mir weisen. Wir reden hoffentlich noch über viele Dinge, aber ich habe den Eindruck, daß sich die Erinnerungslücke um den Tag zentriert, an dem Natalie verschwunden ist, und zwar was Ihr Zusammentreffen oder Beinahezusam-mentreffen mit Natalie betrifft.«
»Und?«
»Ich möchte das noch einmal aufgreifen.«
»Ich bin nicht sicher, ob es da noch etwas aufzugreifen gibt. Es ist so lange her.«
»Ja, ich weiß. Lassen Sie uns eine Entspannungsübung machen. Sie tut Ihnen bestimmt gut. Legen Sie sich zurück, schließen Sie die Augen und entspannen Sie Ihren Körper vollständig, beginnend bei Füßen und Beinen, dann den Rumpf, die Arme, schließlich das Gesicht und den Kopf. Ist das ein gutes Gefühl?«
»Mmh.«
Alex’ Stimme ähnelte jetzt einem Summen im Hintergrund, ähnlich dem der Bienen vor dem Fenster.
»Jetzt, Jane, möchte ich Sie bitten, sich mit geschlossenen Augen noch einmal die Szene am Fluß ins Gedächtnis zurückzurufen, an dem Tag, an dem Natalie verschwand.
Ich möchte nicht, daß Sie sie beschreiben, und auch nicht, daß Sie sie sich anschauen. Sie sollen sich nur noch einmal erinnern, wie es war, als Sie am Fluß saßen. Gehen Sie noch einmal dorthin zurück. Können Sie das?«
»Ja.«
»Sie sitzen mit dem Rücken zum Hügel, richtig?«
»Ja.«
»Beschreiben Sie es mir.«
»Ich spüre den Felsen des Cree’s Top hinter mir. Zu meiner Rechten ist der Wald, der zwischen dem Fluß und Stead liegt. Links fließt der Col, von mir weg. Das weiß ich, weil die Papierstückchen, die ich zerknülle und hineinwerfe, wegschwimmen. Wenn sie die Biegung erreichen, hüpfen sie über die kleinen Stromschnellen, na ja, eigentlich ist es ja bloß seichtes Wasser, das über Steine fließt. Dann sind sie außer Sichtweite.«
»Wie ist das Wetter?«
»Warm, sehr warm. Früher Nachmittag. Ich sitze im Schatten einer Gruppe von Ulmen, die rechts von mir den Waldrand säumen. Der Felsen in meinem Rücken ist kühl.«
»Tun Sie irgend etwas?«
Plötzlich konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen und fing an zu stottern.
»Ist gut, Jane, öffnen Sie die Augen. Das reicht für heute.«
Ich richtete mich langsam auf.
»Übrigens«, sagte er, »weshalb heißt Alan Martellos Roman The Town Drain? Ist es ein Zitat oder etwas in der Art?«
»Haben Sie das Buch nicht gelesen?«
»Nein, aber ich habe es fest vor.«
»Ich dachte, jeder hätte das Buch gelesen. Der Titel geht auf einen Satz des Oxforder Geschichtsprofessors William Spooner zurück, in dem – ähnlich wie bei Schüttelreimen
– die im Satz auftauchenden Konsonanten vertauscht werden, so daß sich der Sinn verdreht. Man nennt das
›Spoonerismus‹. ›Town drain‹ steht für ›down train‹; gemeint ist damit der Zug von Oxford nach London.«
»Vermutlich wirkt der Witz erst, wenn man das Buch gelesen hat.«
»Es ist eigentlich gar kein Witz. Eher eine Metapher für ein ernüchterndes Aufwachen aus einem verzauberten Zustand.«
»Danke, für den erhellenden Vortrag, Jane. Vielleicht sollte ich Ihnen etwas zahlen?«
Ich zog eine Braue hoch.
»Das sollte jetzt wirklich ein Witz sein«, fügte Alex hastig hinzu.
12. KAPITEL
Als wir klein waren – acht oder neun Jahre alt – malten Natalie und ich uns abends vor dem Einschlafen immer aus, was wir werden wollten, wenn wir einmal groß waren. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie im Nachthemd auf dem Bett kauerte, die Arme um die Knie geschlungen.
Wir würden beide schön und beliebt sein und viele Kinder kriegen. Wir würden für alle Zeiten Freundinnen bleiben und uns gegenseitig in unseren großen Landhäusern besuchen. Alles war möglich. Als ich verkündete, ich wollte Sängerin werden, kam mir überhaupt nicht in den Sinn, daß meine Stimme wie die eines Ochsenfroschs klang, sobald ich den Mund aufsperrte. Ein unmelodisches Krächzen. Immer wieder spielte mir meine Mutter auf unserem ramponierten Klavier, das Dad verkaufte, als sie starb, Töne vor, und ich versuchte dann, sie nachzusingen.
Wenn dann der ermutigende Ausdruck einfach nicht aus ihrem schmalen Gesicht verschwinden wollte, sondern dort sichtbar blieb wie eine Flagge, die unendliche Geduld signalisierte, wußte ich, daß es mir nicht gelungen war.
Also ließ ich die Idee mit der Sängerin fallen und wandte mich von nun an lieber den Dingen zu, die mir leichtfielen: Zeichnen, Schreiben, Rechnen. Was konnte man alles mit Zahlen anfangen? Ich war noch keine zehn Jahre alt, da wußte ich schon, daß ich Architektin werden wollte, wie mein Vater. Aus Kartons bastelte ich Modelle, auf Millimeterpapier, das ich aus seinem Schreibtisch geklaut hatte, zeichnete ich utopische Baupläne, und aus leeren Streichholzschachteln baute ich futuristische Apartmentblocks. So schuf ich mir mein eigenes Territorium, eine Welt, zu der niemand sonst Zutritt hatte.
Anfangs verkündete Natalie, sie wolle Ballettänzerin werden, dann war ihr größter Wunsch eine Karriere als Schauspielerin, und schließlich entschied sie sich für Fernsehansagerin. Auf jeden Fall wollte sie im Rampen-licht stehen. Als sie älter wurde, verbrachte sie endlose Stunden vor dem Spiegel, starrte in ihr blasses Gesicht und war sozusagen ihr eigenes Publikum. Dabei wirkte sie jedoch nicht eitel, sondern so kühl und objektiv in ihrer Selbsteinschätzung, daß es mir schon auf die Nerven ging.
Für mich waren Spiegel eine Instanz, bei der ich mir regelmäßig einen Rüffel abholte und nur ganz selten eine angenehme Überraschung erlebte.
Während ich mir überlegte, was ich anziehen sollte, dachte ich an Natalie. Detective Sergeant Helen Auster wollte mich in meinem Büro aufsuchen. Anschließend war ich mit Paul zum Lunch verabredet. Würde es mich stören, hatte er sich ganz beiläufig erkundigt, wenn seine Assistentin auch dabei war? Sein Projekt war angenommen worden, die Produktion der Fernsehdokumentation war im Gang, der Programmdirektor hatte bereits einen Sendetermin im Frühjahr festgelegt. Ich wählte eine schwarze Weste zu meiner burgunderroten Seidenbluse und der engen schwarzen Hose; dann fahndete ich nach meinen schwarzen Stiefeln. Doch, es machte mir etwas aus. Seit ich wußte, daß Natalie schwanger gewesen war, erfaßte mich immer wieder die nackte Panik. Und als ich nun mit dem Fahrrad durch die Straßen Londons fuhr, dachte ich: Niemand, der mich so sieht, merkt, daß ich am Abgrund des Schreckens lebe.
Vor ein paar Tagen hatte ich Kim von Natalies Schwangerschaft erzählt. »Die Arme«, hatte sie nur gesagt, aber in ihren Augen standen Tränen, und ihr Mitgefühl erschreckte und beschämte mich. Ich hatte versucht, ein technisches Problem zu lösen. Hatte ich dabei wirklich an meine Freundin gedacht? Hatte ich überhaupt versucht, mir vorzustellen, was sie durchgemacht haben mußte?
Kim unterbrach meine Grübelei.
»Es gab eine Zeit, da wollte ich unbedingt schwanger werden. Als ich mit Francis zusammen war.«
»Das wußte ich gar nicht.«
»Damals schien mir das eine gute Idee zu sein. Aber es hat nicht geklappt. Wir haben alles mögliche probiert und uns sogar beide untersuchen lassen, aber es kam nichts dabei heraus. Na ja, jetzt ist Francis verheiratet und hat zwei Töchter. Eigentlich zum Lachen, findest du nicht auch?«
»Warum hast du mir nie davon erzählt, Kim?«
»Jetzt erzähle ich es dir ja. Es ist wichtig für mich, dir das zu erzählen. Und ich hoffe, du weißt, daß du auf meine Hilfe zählen kannst, genau wie ich auf deine zähle.«
»Aber du hast sie nie in Anspruch genommen.«
»Sei nicht albern, Jane, ich war immer auf dich angewiesen.«
Zum Abschied umarmten wir uns, und ich ließ Kim mit ihrem verlegenen Lächeln in der Tür stehen. Aber irgendwie war ich unzufrieden mit dem Gespräch. Ich rief mir unsere frühere Freundschaft ins Gedächtnis, die Wochenendausflüge, unsere gemeinsamen Mahlzeiten, Tee in irgendwelchen billigen Imbißstuben, ausgiebige Spaziergänge. Hatte Kim recht? Ich fragte mich, ob meine Beziehung zu ihr wirklich darin bestanden hatte, daß ich sie um Unterstützung bat und sie mir diese gewährte.
Selbst das, was sie mir jetzt offenbart hatte, kam mir vor wie ein Köder, der mich ermutigen sollte, weiterhin auf diese Weise von ihr abhängig zu sein. Während ich am Kanal entlangradelte, entwarf ich ein Bild unserer Freundschaft, in dem ich stets die Fehlbare, die Bedürftige war und Kim der vitale Freigeist. Beruhten selbst die engsten Freundschaften auf diesem Verhaltensmuster?
Daß der eine gab und der andere nahm?
Diesmal war Helen Auster allein. Bedauernswert abgekämpft kam sie die Treppe zum Büro emporgestapft, unter der Last ihrer dicken Umhängetasche keuchend. Wir schüttelten uns die Hände, und ich führte sie zu meinem Schreibtisch. Helen war tief beeindruckt von der Aussicht, die ich an meinem Arbeitsplatz genoß; ich zeigte ihr den Kai unten beim Kanal, den Weg, auf dem ich immer nach Hause radelte. Dann traten wir ans gegenüberliegende Fenster, von dem man den Turm auf der Isle of Dogs sah, der es ganz nebenbei geschafft hatte, der gesamten Skyline von London ein frivoles Flair zu verleihen.
»Das gefällt mir«, meinte sie.
Ich schenkte uns Kaffee ein, und wir setzten uns an den Tisch.
»Worüber möchten Sie sprechen?« fragte ich. »Bei Unterhaltungen mit der Polizei bekomme ich immer gleich ein schlechtes Gewissen.«
»Ich glaube nicht, daß unser Gespräch so verlaufen wird«, entgegnete Helen.
»Es ist bestimmt schwierig, nach fünfundzwanzig Jahren die Ermittlungen in einem Mordfall wiederaufzunehmen.«
»Unter uns gesagt – eigentlich fangen wir bei Null an«, erwiderte Helen. »Damals hielt die Kriminalpolizei stur daran fest, daß Natalie ausgerissen war. Und deshalb« –
Helen klopfte auf ihre Aktentasche –, »müssen wir die Arbeit jetzt erledigen.«
Damit öffnete sie den Reißverschluß, zog einen schmalen Ordner heraus und reichte mir zwei Blätter, an die jeweils ein paar weitere geheftet waren.
»Hier sind zwei Namenlisten«, erklärte sie. »Auf der einen sind die Gäste der Party, die Alan und Martha Martello am 26. Juli 1969 gegeben haben. Auf der zweiten stehen alle diejenigen, die am darauffolgenden Tag, also dem Sonntag, an dem Natalie zum letztenmal gesehen wurde, anwesend waren: Leute, die entweder im Haus der Martellos oder bei einem der Nachbarn wohnten oder nur für den einen Tag auf Besuch gekommen waren.«
Rasch überflog ich die Namen. Die Listen umfaßten jeweils mehrere Seiten.
»Interessant«, sagte ich. »Woher haben Sie all die Namen? Gab es denn eine Gästeliste?«
»Nein, aber wir haben uns mit mehreren Familien-mitgliedern unterhalten. Am hilfreichsten war Theodore Martello. Ich habe mich jetzt schon einige Male mit ihm getroffen, und er hat ein ganz erstaunliches Gedächtnis.«
Wurde sie jetzt etwa rot?
»Da haben Sie wohl recht. Aber ich entdecke hier Namen von Leuten, an die ich mich überhaupt nicht mehr erinnere. Ich glaube, William Fagles habe ich seit der Party nicht mehr gesehen. Hier steht, die Courtneys wohnen jetzt in Toronto. Ihre Tochter war eine von Natalies besten Freundinnen. Könnte ich Kopien von den Listen bekommen?«
»Das hier sind Ihre Exemplare. Vielleicht hilft es Ihrem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge, wenn Sie sich die Namen einfach durchlesen. Wie Sie sehen, haben wir von manchen Gästen nur die Vornamen, vielleicht können Sie die Nachnamen hinzufügen. Möglicherweise fallen Ihnen auch noch andere Leute ein, die dabei waren.«
»Na ja, beispielsweise dieser Gordon hier – das müßte Gordon Brooks sein. Er war ein Freund der Zwillinge.«
»Mit den Zwillingen bin ich die Liste noch nicht durch-gegangen. Aber schreiben Sie den Nachnamen doch bitte dazu.«
»Klingt nach einem ziemlich mühsamen Verfahren.«
»Ganz bestimmt interessanter als so manches, was andere Kollegen machen müssen.«
»Haben Sie schon mit Alan gesprochen?«
»Ja, selbstverständlich«, antwortete Helen. »Hier, sehen Sie, welches Buch ich gerade lese.«
Sie wühlte in ihrer Tasche und zog ein nagelneues Exemplar von The Town Drain hervor.
»Gefällt es Ihnen?«
»Es ist toll. Zwar bin ich in Literatur nicht sonderlich gut bewandert, aber ich finde das Buch höchst amüsant. Alan Martello wirkt immer so vornehm, man kann sich gar nicht vorstellen, daß er etwas so … na ja, etwas so Respektloses verfaßt.«
»Ich finde Alan gar nicht so wahnsinnig vornehm.«
»Jedenfalls hat er ziemlich scharf reagiert, als ich ihn fragte, was er momentan schreibe. Ihre Familie ist wirklich bemerkenswert.«
»Anscheinend sind sehr viele Leute dieser Ansicht.
Wenn Sie alle Bücher lesen würden, die von Mitgliedern unserer Familie verfaßt worden sind, müßten Sie sich ein Jahr freinehmen. Angefangen mit den ganzen Kinderbüchern, die Martha illustriert hat. Manche davon sind wirklich wunderbar, und während Alan lautstark und theatralisch mit seiner Schreibhemmung kämpfte, hat Martha in aller Stille fleißig weitergearbeitet.«
»Ich denke, fürs erste halte ich mich weiter an Alan Martello. Sind seine anderen Bücher auch so gut?«
»Es gibt nur noch einen Roman und ein paar Antholo-gien. Nichts, was qualitätsmäßig auch nur ansatzweise an den Town Drain heranreicht. Aber erzählen Sie Alan bloß nicht, daß ich das gesagt habe.«
Eine Weile plauderten wir über andere Dinge. Helen fragte mich über Architektur aus, und ich erkundigte mich, weshalb sie zur Polizei gegangen war. Sie erzählte mir, daß sie Physik studiert hatte, bei der Aussicht an ein Leben im Labor aber plötzlich panisch geworden war und alles über den Haufen geschmissen hatte – was mir äußerst sympathisch war. Schließlich trank sie ihren Kaffee aus.
»Ich glaube, ich gehe jetzt lieber«, sagte sie. »Wenn Sie die Liste durchgesehen haben, können wir uns ja noch mal verabreden, falls Sie möchten. Zur Zeit bin ich sehr oft in London.«
»Stört das Ihren Mann nicht?«
»Er arbeitet noch mehr als ich.«
Ich brachte sie zur Treppe, denn ich mußte unbedingt noch etwas loswerden.
»Helen, fünfundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Hat diese neue Ermittlung denn wirklich einen Sinn?«
»Aber sicher.«
»Ich dachte, man könnte vielleicht einen DNS-Test vornehmen, an dem … na ja, Sie wissen schon, an dem Baby. Aber Claud meint, das kann man nicht, nicht nach so langer Zeit.«
Helen lächelte.
»Stimmt.«
»Es gibt also keinen forensischen Nachweis.«
»Wir können noch das eine oder andere versuchen.
Allerdings nichts, was die gute altmodische Polizeiarbeit ersetzen könnte. Das predigt uns unser Chef unablässig.
Auf Wiedersehen, Jane, bis bald.«
Mein Vater erklärte kategorisch, er wolle nichts mit Pauls Fernsehsendung zu tun haben. Paul hatte gebettelt und getobt und ihm sogar Erica auf den Hals gehetzt – mit Blumenzwiebeln für Dads Garten als Vorwand –, damit sie sich für ihn verwendete. Doch mir kam es überhaupt nicht in den Sinn, Paul abzuweisen.
Ich radelte durch den leichten Nieselregen zu dem Restaurant in Soho, das Paul ausgesucht hatte. Seine Assistentin war eine junge Frau namens Bella – sehr groß und schlank, mit einer roten Mähne und großen, kajalumrandeten Augen, die sie voller Verehrung auf Paul gerichtet hielt. Außerdem war sie offenbar Kettenrau-cherin, denn sie steckte sich eine penetrant riechende Zigarette nach der anderen an. Dazu trank sie Mineralwasser und stocherte in ihrem Salatteller herum.
Während ich meine pochierten Eier verzehrte, fragte ich Paul, mit wem er sich sonst noch zu einem Gespräch verabredet hatte.
»Weißt du eigentlich, daß Dad nicht mit mir sprechen will?«
Ich nickte. »Aber Alan war großartig. Ich hatte schon zwei Termine mit ihm. Meine Güte, er ist wirklich wort-gewaltig. Übrigens hat er sich den Bart und die Haare etwas länger wachsen lassen, so daß er jetzt hager und richtig wild aussieht. Dauernd hat er aus irgendwelchen Gedichten zitiert und davon geredet, daß die Schwächsten sich als die Stärksten erweisen werden und solches Zeug.
Von unseren gemeinsamen Sommern sprach er, als würde er aus einem Roman vorlesen.«
Ich verzog das Gesicht. »Er hat die letzten beiden Jahrzehnte in Pubs und Restaurants wie diesem hier verbracht und seinen nächsten Roman ausgeplaudert.«
Ohne auf meine Bemerkung einzugehen, tunkte Paul ein Stück Brot in seine Artischockensuppe und nahm einen großen Schluck Rotwein.
»Über Natalie hat er eigentlich nicht viel gesagt, aber er hat mir ein paar Fotos gegeben. Martha hat sich zwar nicht direkt geweigert, mit mir zu sprechen, aber als ich das Tonband eingeschaltet hatte und ihr ein paar Fragen stellte, hat sie mich bloß angelächelt – ein sehr trauriges, dünnes Lächeln – und den Kopf geschüttelt. Sie wirkt nicht gerade glücklich, Jane.«
»Sie ist krank«, erwiderte ich und fragte dann: »Was ist mit den anderen?«
»Sie werden allesamt auspacken. Schließlich will jeder mal ins Fernsehen. Theo beispielsweise glaubt, das Zeug zu einem echten Teleguru zu haben. Mit Alfred und Jonah kann ich wohl auch rechnen, und Claud ist ausgesprochen hilfsbereit.« Er warf mir einen raschen Seitenblick zu, und auch Bella musterte mich neugierig. »Es wird hochinteressant, Jane. Und eine große Sache, denke ich. Wahrscheinlich werden wir eine Art Waltons.«
»Ich glaube, ich möchte doch ein bißchen Wein«, meinte ich.
»Was wollt ihr von mir wissen?«
Bella beugte sich vor und stellte das Tonbandgerät ein.
»Ist das in Ordnung«, erkundigte sie sich, aber am Ende des Satzes war kein Fragezeichen zu hören. Schließlich ging es doch ums Fernsehen. Was konnte ich dagegen einzuwenden haben?
Es ist seltsam, ja eigentlich erschreckend, daß man vor einem Tonbandgerät und einem Publikum von Millionen anonymer Zuhörer Dinge sagen kann, die man einem Freund oder Liebhaber nie anvertrauen könnte oder wollte.
Oder einem Bruder. Paul fragte mich nach meinen Erinnerungen an Stead (»erzähl einfach, was dir gerade einfällt«), und während sich die Spulen im Aufnahmegerät drehten und Bellas Stift emsig über die Seiten ihres Notizbuchs glitt, kramte ich Erinnerungen hervor, von denen ich nicht einmal gewußt hatte, daß sie in meinem Gedächtnis haftengeblieben waren. Krocket auf dem Rasen, wildes Fangenspielen, Expeditionen durch den Wald unter Clauds Führung, geheime Mitternachtsgelage, für die wir das Essen aus der stets üppig gefüllten Speisekammer von Stead stibitzten, der sabbernde Retrie-ver mit den herabhängenden Lefzen, den die Martellos früher hatten (hieß er nicht Candy?) und der unbeholfen in den Bach sprang, um Stöckchen zu apportieren. Ich erinnerte mich an die unter grünen Schutznetzen verborgenen Himbeeren, die wir an heißen Nachmittagen pflückten, an die Tage, die wir mit Marmeladeeinkochen verbrachten (Stachelbeeren, Brombeeren, Erdbeeren, Pflaumen), an Sonnenbrand, der kribbelte, wenn wir einander Creme auf die Schultern schmierten, lärmende Picknicks, bei denen wir uns alle nach Herzenslust produzierten und Alan uns mächtig anstachelte. Ich erinnerte mich an frühe Morgenstunden, in denen noch der Tau auf dem Gras lag, an lange Abende, an denen die Erwachsenen spät zu Abend aßen und wir das Geklapper von Tellern und Messern hörten und das leise Gemurmel ihrer Unterhaltung. Ich erinnerte mich daran, wie wir mit bloßen Füßen in unsere Gummistiefel schlüpften, den Garten zu der großen Blutbuche hinunterrannten und uns auf der Schaukel über den Bach schwangen. In meinen Erinnerungen tauchten wir Kinder stets als Gruppe auf, während die Erwachsenen brav im Hintergrund blieben, und immer schien die Sonne. Doch das war anscheinend nicht das, was Paul von mir wollte.
»Es ist interessant«, sagte er, »daß du dich nur an die Zeit als kleines Mädchen erinnerst. Was ist mit später, als du ein Teenager warst?«
Plötzlich schmeckte der Wein in meinem Mund schal.
Warum hatte ich mich auf dieses Spielchen eingelassen?
Ich wollte aussteigen, und zwar sofort.
»Möchtest du über den Sommer reden, in dem Natalie verschwunden ist? Ist es das, worum es dir geht?«
»Erzähl darüber, wenn du magst.«
»Ich erinnere mich daran, wie du gelitten hast, Paul. Ich habe beobachtet, wie Natalie dich gedemütigt hat, und ich habe mir den Kopf zerbrochen, was ich dagegen unternehmen könnte …«
»Was soll der Quatsch?« unterbrach Paul mit scharfer Stimme. Sofort schaltete Bella das Gerät ab und legte den Stift aus der Hand. »Wofür hältst du dich eigentlich, Jane?«
»Was meinst du damit?«
»Tu nicht so unschuldig. Du weißt genau, was ich meine. Du zerstörst absichtlich die Erinnerung an jenen Sommer, stimmt’s? Na los, hab ich nicht recht?«
»Nein, du irrst dich«, widersprach ich. Entschlossen schob ich meinen Teller weg, trank noch einen Schluck Wein und zündete mir eine Zigarette an. Inzwischen fühlte ich mich nicht mehr so ausgeliefert, nicht mehr so verführerisch angezogen vom sanften goldenen Licht meiner Phantasievergangenheit.
»Willst du die Tatsache einfach ignorieren, daß du in Natalie verliebt warst und sie dich gnadenlos zurückge-wiesen hat? Es war eine komplizierte Geschichte, stimmt’s? Da warst du und Natalie, aber da waren auch Natalie und Luke, ich und Theo und später dann ich und Claud – und die Zwillinge, die sich wirklich etwas seltsam benahmen und alberne Streiche ausheckten, und außerdem gab es noch Alan, der mit allen verfügbaren Mädchen rumbumste, während Martha für uns das Essen kochte und unsere Knie verpflasterte, und Mum, die unglücklich war, und Dad, bei dem keiner weiß, was er von alldem hielt.
Und noch etwas fällt mir ein«, jetzt war ich so in Fahrt, daß die Worte nur so aus mir heraussprudelten und ich sie nicht aufhalten konnte, »ich erinnere mich, daß Natalie verschwunden ist, damals, als ich sechzehn war und du achtzehn. Für dich symbolisierte dieses Ereignis das Ende unserer Unschuld. Das macht sich im Fernsehen vielleicht gut, aber glaubst du wirklich, daß es den Tatsachen entspricht?«
Irgendwann im Lauf meiner Rede hatte Paul das Tonband wieder angestellt. Ich sah ihm an, daß er hin- und hergerissen war zwischen persönlicher Verwirrung und professionellem Interesse. Ich lieferte ihm reichhaltiges Material, so weit, so gut. Doch dann sagte ich etwas Schreckliches. Ehe ich sie in Gedanken fassen konnte, waren die Worte schon aus meinem Mund und lagen zwischen uns wie ein Schwert: »Wann hast du Natalie zum letztenmal gesehen, Paul?«
Zu meiner Überraschung reagierte Paul nicht wütend. Er musterte mich ein paar Sekunden eindringlich. Dann rollte er nachdenklich ein Brotkügelchen zwischen den Fingern, beugte sich über den Recorder und sprach direkt ins Mikrophon: »Ich weiß es nicht mehr. Es ist so lange her.«
Später tranken wir Kaffee, und Bella und ich rauchten noch eine Zigarette. Zwischen unseren beiden bläulichen Rauchwolken saß Paul und stellte mir noch ein paar Fragen, aber das eigentliche Interview war gelaufen.
Wenig später schlüpfte ich in meine Lederjacke, küßte Paul auf die Wange, nickte Bella zu und ging. London war grau und schäbig im feuchten Wind, überall auf den Gehwegen lagen Papierfetzen. Eine Frau mit einem kleinen Kind im Schlepptau bettelte mich an. Als ich ihr fünf Pfund in die Hand drückte, wollte sie zehn haben.
Was für eine trostlose Welt!
13. KAPITEL
»Irgendwie genießt Alan doch die ganze Geschichte.«
Ich kochte Abendessen für Kim, die gerade erschöpft aus der Chirurgie gekommen war, mit zwei Flaschen Wein unter dem Arm. Das Kartoffelpüree war fertig, ein grüner Salat vorbereitet, auf dem Tisch standen frische Blumen: Endlich konnte ich mal wieder jemanden bekochen. Kim hatte die Schuhe abgestreift und tappte gedankenverloren in der Küche herum, lüftete hier und dort einen Topf-deckel und spähte in den Kühlschrank. Auf dem Heimweg vom Büro war ich im Supermarkt gewesen, und nun war der Kühlschrank reichlich gefüllt: verdächtig rote Tomaten, Fenchelknollen, ein Salat mit einem merkwürdigen Namen, ein großes Stück Parmesan, jede Menge Joghurt, italienische Nudeln, eine Packung Räucherlachs.
Ich hatte beschlossen, gesund zu leben. Kein Essen mehr, das nur angezündet und inhaliert zu werden brauchte.
Morgens auf dem Weg zur Arbeit ging ich jetzt meistens kurz schwimmen, und ich bemühte mich, mir abends regelmäßig ein ordentliches Abendessen zu kochen.
»Wie meinst du das?«
Kim entkorkte eine Weinflasche und schenkte uns beiden ein Glas voll. Ich nahm einen Schluck, dann warf ich die kleingeschnittenen Zwiebeln in die Pfanne und begann, mit dem Finger den Schleim aus dem Tintenfisch zu entfernen.
»Na ja, ich vermute, er ist am Boden zerstört. Aber hast du eigentlich das Interview im Guardian gelesen? Also ehrlich! Paul hat mich angerufen und behauptet, er wäre einfach nur für eine Frauenzeitschrift fotografiert worden.
Dabei machen die ein großes Feature über Prominente, denen ein Kind gestorben ist.«
»Es gibt eben keine Probleme«, meinte Kim sarkastisch.
»Nur Chancen.«
»Das erzählst du deinen Patienten, stimmt’s? Dann ist die größte aller Chancen wahrscheinlich die Veranstaltung morgen abend in der Kunstakademie. Sie gehört zu ihrer Reihe über ›zornige alte Männer‹. Alan Martello im Gespräch mit Lizzie Judd. Weißt du, das ist die Frau, die sich mit dem Buch Sitting Uncomfortably einen Namen gemacht hat, einer Attacke auf C. S. Lewis und Roald Dahl und andere Kinderbuchautoren. Damit hat sie das Interesse der Presse auf sich gezogen. Sie hat Haare auf den Zähnen. Und in diesem Fall springt der Fisch von allein ins Netz, um sich erschießen zu lassen.«
»Gehst du auch hin?«
»Selbstverständlich. Es ist wie ein Stierkampf, stimmt’s?
Man sagt, so was sollte man mindestens einmal im Leben gesehen haben. Ich weiß nicht, ob Alan als ritterlicher Gentleman auftritt oder als unerschrockener Verfechter unliebsamer Wahrheiten, aber egal, welche Maske er aufsetzt, es wird garantiert eine Katastrophe.«
»Mach dir keine Sorgen, Jane, die Leute werden sich auf alle Fälle gut amüsieren. Eine Art neuzeitliche Bärenhatz.
Genau das, was Alan liebt.«
»Für die Schwiegertochter des Bären wird es wahrscheinlich nicht sonderlich lustig.«
Während ich den Tintenfisch zubereitete, erfuhr ich, daß Kim einen Mann kennengelernt hatte. Er hieß Andreas, war Musiker, sechs Jahre jünger als sie, klein, gut aussehend und sentimental. Ihre erste Verabredung hatte sich über ein ganzes Wochenende erstreckt und nur deshalb ein Ende gefunden, weil Kim ihre Hausbesuche nicht länger aufschieben konnte und deshalb aus dem Bett steigen mußte. Ich hatte Kim schon immer um ihr Sexualleben beneidet; es war so abwechslungsreich und aufregend – schon allein die Anzahl ihrer ständig wechselnden Partner! Eine ihrer bemerkenswertesten Qualitäten als Freundin bestand darin, daß sie stets bereit war, über das zu reden, was sie mit diesen Männern im Bett machte. Leider hatte ich sehr wenig dagegenzuhalten.
Jetzt wagte ich die vorsichtige Frage, ob es denn etwas Ernstes werden könnte, aber Kim winkte nur ab – wie immer.
»Vermißt du Claud?« fragte sie, während wir uns an Käse gütlich taten.
Was sollte ich darauf antworten? Zum Glück wußte ich, daß Kim mir meine Verwirrung nicht vorwerfen würde.
»Ich vermisse einen Teil meines Lebens, aber das ist alles passé. Ich möchte mich aus dieser alten Vertrautheit lösen. Manchmal erschrecke ich über das, was ich getan habe, aber irgendwie finde ich es auch spannend.« Einen Augenblick mußte ich innehalten, um meine Gedanken zu ordnen. »Ich spüre, daß sich in meinem Leben etwas Großes ereignen wird, aber momentan ist meine Umgebung noch nicht die richtige dafür. Hin und wieder wünsche ich mir beinahe, ich könnte mich der Polizei an die Fersen heften und bei den Ermittlungen mitmachen.
Als müßte ich meinen Beitrag leisten bei der Suche nach der Wahrheit über Natalies Tod. Ich muß unbedingt wissen, wie sie gestorben ist.«
»Aber es war doch bestimmt ihr ehemaliger Freund, oder nicht?«
»Du meinst Luke?«
»Ja, und die Polizei hat ihn sich auch vorgenommen.«
»Man hat ihm ein paar Fragen gestellt.«
»Na bitte. Luke hat Natalie geschwängert, die beiden haben sich gestritten, und er hat sie umgebracht, vielleicht aus Versehen. Und sie dann vergraben.«
»Im Garten von Alan und Martha. Direkt neben dem Haus.«
»Wenn man jemanden ermordet hat, handelt man nicht unbedingt logisch. Hab ich dir noch nie von meinem Patienten erzählt, der seine Frau umgebracht hat? Er hat die Leiche zerstückelt und in Einzelteilen an alle möglichen Filialen der Barclays Bank verschickt, überall auf der ganzen Welt.«
»Das klingt ziemlich gerissen.«
»Wenn man davon absieht, daß er seine Adresse auf die Zollerklärung geschrieben hat.«
»Warum hat er das getan?«
»Sein Psychiater meint, er wollte erwischt werden.«
»Ist das eine wahre Geschichte?«
»Na klar. Jedenfalls leuchtet mir nicht ein, weshalb das Argument, daß er unvernünftig gehandelt hat, Luke als Täter weniger verdächtig machen sollte als andere. Irgend jemand hat die Leiche schließlich dort begraben.«
»Ja«, räumte ich ein. »Deswegen sind wir ja alle auch weniger verdächtig.«
Es wird gern behauptet, wenn man öffentliche Einrichtungen wieder einführte, würde das Heerscharen von Schaulustigen auf den Plan rufen. Der Saal in der Kunstakademie war bis auf den letzten Platz gefüllt, größtenteils mit jüngeren Leuten. Vorn wurden Fernseh-kameras aufgebaut, und ein großer Mann mit einer runden Nickelbrille à la Bert Brecht wanderte mit einem Klemm-brett unter dem Arm auf der Bühne herum. Ich quetschte mich durch die Reihe zu zwei leeren Plätzen in der Mitte.
Theo war noch nicht da. Neben mir saß ein Mann, der in seinem weiten Tweedmantel beinahe versank. Zuerst trat ich ihm auf den Fuß, dann stolperte ich über seinen Plastikbeutel.
»Entschuldigung«, sagte ich etwas gereizt, aber er nickte nur kurz, bevor er wieder an die Decke starrte.
Theo erschien. Mit schwarzem Anzug und Aktentasche wirkte er förmlich und fehl am Platz. Er küßte mich auf die Wange und flüsterte: »Ich war eben bei Alan. Er ist betrunken.«
»Betrunken?« wiederholte ich entsetzt.
»Ja, ich glaube, er hat Schiß.«
»Wie meinst du das, er ist betrunken? In ungefähr einer Minute soll er auf der Bühne stehen.«
»Na ja, er kann noch reden«, erklärte Theo. »Vermutlich wird es Mrs. Judd schwerfallen, ihn zu unterbrechen.«
Ich stöhnte. Warum war ich nur hierhergekommen?
Kurz nach acht betrat Lizzie Jud entschlossenen Schrittes die Bühne: eine strenge, schöne Frau in einem figurbetonenden grauen Kostüm. Ihre blonden Haare waren straff aus dem Gesicht gekämmt; sie trug keinerlei Schmuck oder Make-up und hatte auch keine schriftlichen Notizen bei sich. Sie nahm auf einem der beiden Stühle Platz und schenkte sich ein Glas Wasser ein. Dann kam Alan – beschwingt und lässig wie zu einer Talkshow.
»Was hat er denn bloß an, Theo?« fragte ich voller Entsetzen.
Natürlich kannte ich die Antwort: Alan war in dem Samtjackett erschienen, das er manchmal abends zu Hause trug. Auf seiner grauen Haarmähne thronte ein schwarzer Filzhut. Unwillkürlich mußte ich an das Toulouse-Lautrec-Poster denken, das ich früher einmal in einer meiner Studentenbuden an der Wand hängen hatte. Dieser trotzige Mann, der so wenig Wert auf ein würdevolles Äußeres legte, rührte mich zutiefst. Zögernder Applaus ertönte, doch der Mann neben mir gehörte zu den wenigen, die klatschten. Alan ließ sich schwer auf den Stuhl neben Lizzie Judd sinken. In der Hand hielt er ein großes Glas, dreiviertelvoll mit einer whiskyfarbenen Flüssigkeit. In aller Ruhe nahm er einen Schluck und ließ dabei seine Augen über das Publikum schweifen.
Elizabeth drückte ihm ihr Mitgefühl aus (»und sicher auch das aller Zuhörer«), da der Fund von Natalies Überresten nun ihren Tod endgültig bestätigt hatte. Dann beschrieb sie in knappen Worten The Town Drain (»antiromantisch … ganz in der Tradition des satirischen Realismus … untere Mittelschicht … aus rein männlicher Perspektive«). Mit einem Satz ging sie noch auf die weit weniger bekannten Nachfolger des Romans ein und schloß mit der Bemerkung, daß die lange Veröffentlichungspause ein Thema war, auf das man sicher später noch zu sprechen kommen würde.
»Mr. Martello«, wandte sich Lizzie Judd dann an Alan.
»Bitte nennen Sie mich Alan«, unterbrach er sie.
»In Ordnung, Alan. John Updike hat einmal gesagt, es gibt keinen Grund, humoristische Romane zu schreiben.
Was sagen Sie dazu?«
»Wer ist John Updike?« erwiderte Alan.
Lizzie Judd machte ein erschrockenes Gesicht.
»Wie bitte?«
»Ist er Amerikaner?«
»Ja.«
»Na dann.«
»Ist das Ihre Antwort auf meine Frage?«
Während dieses Wortwechsels lümmelte sich Alan auf seinem Stuhl (mir fiel auf, daß er verschiedenfarbige Socken trug). Doch nun setzte er sich langsam aufrecht, nahm noch einen Schluck Whisky und beugte sich zu Lizzie hinüber.
»Sehen Sie, Lizzie, ich habe einen guten Roman geschrieben. Einen verdammt guten Roman. Haben Sie vielleicht zufällig ein Exemplar davon mitgebracht?
Nein?« Er wandte sich ans Publikum. »Hat jemand mein Buch dabei?« Keine Reaktion. »Offnen Sie doch bitte The Town Drain auf der Seite mit dem Impressum, dann werden Sie sehen, daß der Roman Jahr für Jahr neu aufgelegt wird. Offensichtlich bringt er die Leute zum Lachen. Warum sollte ich mich darum kümmern, was irgendein verklemmter Amerikaner labert?«
Von Lizzie Judd ging eine eisige Ruhe aus.
»Vielleicht sollten wir zum nächsten Punkt übergehen«, meinte sie. »Ihre Romane sind in letzter Zeit ins Kreuzfeuer feministischer Kritik geraten.«
Alan schnaubte verächtlich.
»Wie bitte?« fragte Lizzie.
»Schon gut, fahren Sie fort.«
»Man hat gesagt, daß Frauen in Ihren Büchern entweder als Schreckschrauben oder aber als großbusige Sexobjekte für die jeweiligen männlichen Hauptpersonen dargestellt werden. Sogar einige Ihrer Bewunderer haben bemängelt, daß selbst jetzt, nach vierzig Jahren, der Sexismus Ihrer Romane problematisch bleibt.«
Wieder nahm Alan einen großen Schluck Whisky, der ihn erstaunlich lange am Sprechen hinderte.
»Warum sollte das ein Problem sein?« fragte er schließlich.
»Ich freue mich, daß meine Bücher immer noch sexy wirken. Was ist dagegen einzuwenden, daß man groß-
busige Frauen sexy findet? Ist doch herrlich!« Ich schlug die Hände vors Gesicht. Neben mir hörte ich unterdrücktes Kichern. Es kam nicht von Theo, sondern von dem Mann auf meiner anderen Seite. Alan hielt inne; offenbar genoß er die peinliche Stille. Auch Elizabeth Judd schwieg erwartungsvoll. »Ich mache nur Spaß, Lizzie. Ich sollte lieber nicht über Busen sprechen, stimmt’s? Das ist ein unpassendes Thema und hier nicht erwünscht. Wollen Sie andeuten, ich mag keine Frauen, liebe Lizzie?«
»Was veranlaßt Sie zu der Annahme, daß ich so etwas denke?«
»Das sagen Leute wie Sie doch immer. Reden wir über mich oder reden wir über meine Bücher. Lizzie? Ich liebe die Frauen. Ich mag Sex. Jedenfalls habe ich ihn früher gemocht, als ich noch in der Lage war, ihn auch zu praktizieren. Ist es das, was Sie hören möchten? Also, sollen wir uns nun über mein Buch unterhalten?«
Inzwischen lag mein Kopf schon fast zwischen meinen Knien, und ich überlegte, ob ich mir nicht auch noch die Ohren zuhalten sollte. Da hörte ich ein schlurfendes Geräusch. Stand Alan etwa auf? »Ich habe diesen Roman mit meinem Herzblut geschrieben.« Dumpf schlug die Faust gegen seine Brust. Durch das Mikrofon, das er trug, klang der Schlag um ein Vielfaches lauter – wie ein Rammbock, der gegen ein Schloßtor geschmettert wurde.
»Ich habe ihn geschrieben, als ich noch sehr jung war, und die Leute, die das Buch benutzen, um zu zeigen, was Alan Martello über Frauen denkt, sind mir scheißegal. Ich hab die Nase voll, gestrichen voll von diesen ganzen Diskussionen, in denen behauptet wird, das eine Buch ist besser als das andere, nur weil es irgendwie hübscher ist.«
Im Publikum erhob sich nervöses Gemurmel. Ich blickte auf und sah mich inmitten eines Walds emporgestreckter Arme. Lizzie Judd deutete auf eine junge Frau.
»Würden Sie sagen, daß Moral nichts mit der literarischen Qualität zu tun hat?« lautete ihre Frage.
»Ach, lecken Sie mich doch«, sagte Alan. »Wir sind hier doch nicht bei der moralischen Aufrüstung, oder? Ich dachte, wir wollten über meine Bücher sprechen. Oder wollen wir uns doch lieber über Sex unterhalten? Lizzie, möchten Sie uns vielleicht erzählen, was Sie im Bett machen und mit wem – falls Sie überhaupt mit jemandem ins Bett gehen?«
Jetzt ertönten Zwischenrufe aus verschiedenen Ecken des Zuschauerraums. Lizzie Judd jedoch blieb gelassen und bat mit ruhiger Stimme um Ruhe, wie ein Schieds-richter beim Tennis.
»Mr.
Martello, möchten Sie mit der Diskussion fortfahren?«
Alan hob sein Glas, als wollte er gänzlich unpassender-weise einen Toast ausbringen.
» Ich hab nichts dagegen«, sagte er.
Wieder hoben mehrere Zuschauer die Hand. Ein blasser, schlanker junger Mann stand auf. Sein Schal war so oft um den Hals gewickelt, daß ich kaum etwas von seinem Gesicht erkennen konnte.
»Ich bin auch ein Mann, Mr. Martello«, verkündete er.
»Ach wirklich?« meinte Alan mit unüberhörbarem Zweifel.
»Aber ich gehöre nicht zu Ihrer Generation«, fuhr der junge Mann mit bebender Stimme fort. »Ich glaube, die Art von Zuneigung, die Sie dem weiblichen Geschlecht angeblich entgegenbringen, hat den Frauen in der Vergangenheit oft genug geschadet – diese ganze anima-lische Sexualität, die Sie so positiv darstellen. Wird sich die Welt jemals ändern, solange Menschen wie Sie, Menschen, auf die andere hören, stur Ihren Chauvinismus beibehalten, der sich als schriftstellerische Freiheit ausgibt?«
Zustimmendes Gemurmel wogte durch den Saal. Heiß brannten die Fernsehscheinwerfer auf die Bühne herab.
Alan schwitzte, während Elizabeth Judd weiterhin makellos kühl wirkte.
»Du aufgeblasener Lackaffe«, konterte Alan, inzwischen mit hörbar schwerer Zunge. »Wenn Frauen zu ihrer Verteidigung auf Typen wie dich angewiesen sind, sind sie echt verraten und verkauft. Du ermutigst sie doch bloß, sich in alle Ewigkeit als Opfer zu betrachten. Bei jedem Kinkerlitzchen gleich Belästigung und Vergewaltigung zu schreien. Verdammte Scheiße.«
»Arschloch!« rief eine weibliche Stimme aus den hinteren Reihen. Lizzie Judd ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Ist dies Ihre Einstellung zum Thema Vergewaltigung, Mr. Martello?«
Alan trank seinen Whisky aus und wollte das Glas wegstellen. Leider verpaßte er den Tisch um einige Millimeter, so daß das Glas klirrend zu Boden fiel.
»Ach, ist doch egal«, sagte er wegwerfend. »Alles Scheiße! Frauen mögen starke Männer und ein bißchen Gewalt. Erst hinterher beklagen sie sich, weil sie sich gut fühlen, wenn sie sich beklagen. Sie wollen nicht zugeben, daß sie es mögen, wenn man sie bespringt wie läufige Hündinnen. Bei mir hat sich übrigens noch nie eine beschwert. Aber das darf man ja auch nicht laut sagen, stimmt’s? Das ist politisch unkorrekt, hab ich recht?«
»So lautet also Ihre Einstellung, die Sie als angesehener Schriftsteller hier vertreten?« fragte Lizzie Judd, der angesichts dessen, was sie da heraufbeschwor, mittlerweile zumindest einen Anfang von Beunruhigung anzumerken war.
»Ich bin kein beschissener angesehener Schriftsteller!«
rief Alan mit heiserer Stimme. »Seit dreißig Jahren hab ich keinen einzigen beschissenen Roman mehr geschrieben.
Aber ja, wir Schriftsteller sind doch keine Sozialarbeiter.
Wir leben in einer Welt, in der ganz normale Männer zu Mördern werden, in der Frauen gefickt oder vergewaltigt werden wollen und nicht mal den Unterschied bemerken.
Es ist eine beschissene Phantasiewelt.«
»Manche Leute meinen, es gibt einen fließenden Übergang zwischen Mißbrauchphantasien, wie sie in Romanen wie Ihrem dargestellt werden, und der realen Gewalt, unter der Frauen zu leiden haben. Was meinen Sie dazu?«
Etwas wackelig erhob sich Alan.
»Sie möchten gern einen fließenden Übergang sehen?
Dann will ich Ihnen mal einen zeigen.«
Wie ein gefällter Baum stürzte er sich auf die verblüffte Lizzie Judd, preßte eine Hand auf ihre Brust und küßte sie schmatzend auf den Mund. Offenbar war das Mikrofon dicht an ihrem Gesicht, denn der Kuß hallte laut durch den Saal. Mehrere Eindrücke stürmten gleichzeitig auf mich ein. Die Kameras surrten, Schreie erklangen aus der Menge, mehrere Zuhörer sprangen auf und drängten nach vorn, jemand trennte Alan von Lizzie Judd. Er befreite sich und fing an herumzubrüllen:
»Ihr glaubt also, ich hätte keine Ahnung, was eine Vergewaltigung ist? Meine Tochter ist vergewaltigt und ermordet worden, und man hat den Mann, der es getan hat, auf freien Fuß gesetzt! Er hat sich auf sein beschissenes Schweigerecht berufen, hat keine einzige Frage beantwortet, und daraufhin hat die Polizei ihn freigelassen, einen Vergewaltiger und Mörder! Und jetzt könnt ihr mich meinetwegen kreuzigen!«
Noch eine Weile krakeelte er weiter, größtenteils unverständliches Zeug, und ruderte dabei wie ein Wilder mit den Armen. Schließlich gelang es ein paar Leuten aus dem Publikum, die inzwischen die Bühne gestürmt hatten, ihn zu bändigen. Theo bahnte sich durch die Menge einen Weg zu seinem Vater. Auch Lizzie Judd wurde wieder auf die Beine geholfen, allerdings war ihre Frisur zerzaust, ihr Lippenstift verschmiert, und sie hielt eine Hand schützend ans Auge gedrückt. Nur ich saß noch auf meinem Platz, unfähig, mich zu rühren.
»Herr des Himmels«, sagte ich laut. »Was für eine absolute Scheißkatastrophe.«
»Es war doch gar nicht so schlimm.«
Erschrocken sah ich mich um. Die Worte kamen von dem Mann neben mir.
»Moment mal. Ich habe gerade mit angesehen, wie mein Schwiegervater sich zum Verteidiger von Vergewaltigungen aufgeworfen und eine namhafte Feministin tätlich angegriffen hat, und das vor einem zahlenden Publikum.
Für mich ist das schlimm genug.«
»Ich wollte nur sagen …«
»Verschwinden Sie.«
Tatsächlich erhob sich der Mann und ging. Ich war allein.
14. KAPITEL
Die Neville Chamberlain School in Sparkhill war ein einziges Desaster aus grauem Beton. Wahrscheinlich höchstens zwanzig Jahre alt und schon von Feuchtigkeit durchsetzt wie von Achselschweiß.
Ich war noch in der Dunkelheit von zu Hause weggefahren, und als ich jetzt den Wagen vor der Schule parkte, war es noch nicht mal acht Uhr. Weit und breit keine Menschenseele. Die beschlagenen Scheiben und das rasch abkühlende Wageninnere waren nicht weniger depri-mierend. Da ich außer dem Stadtplan von London nichts zu lesen dabeihatte, stieg ich aus und ging über die Straße in ein winziges Café gegenüber vom Haupttor der Schule.
Dort bestellte ich einen großen Becher Tee und dazu Spiegeleier, Speck und gegrillte Tomaten. An fast allen Tischen saßen Männer in dicken Arbeitsjacken, die Luft war verraucht und dampfig. Unauffällig schielte ich auf die Titelseite der Sun, die der Mann mir gegenüber las. Ob heute etwas über Alans Fiasko in den Tageszeitungen stand?
Etwa zwanzig nach acht war ich wieder draußen und marschierte den Bürgersteig auf und ab, um mich einigermaßen warm zu halten. Zehn Minuten später entdeckte ich ihn, auf dem Fahrrad. Trotz des weiten Mantels, der dicken Handschuhe und des Helms war Lukes schmales Gesicht unverkennbar. Als er sich dem Tor näherte, schwang er das rechte Bein flott über den Sattel und legte die letzten Meter auf dem linken Pedal stehend zurück, schlängelte sich elegant zwischen den Schülergruppen hindurch, und als ich seinen Namen rief, drehte er sofort den Kopf nach mir um. Anscheinend war er nicht überrascht; er grinste nur spöttisch. Dann nahm er den Helm ab und fuhr sich mit der behandschuhten Hand durch die langen Haare, die, wie ich jetzt sehen konnte, von grauen Strähnen durchzogen waren.
»Hast du heute nichts zu tun?«
Während der Fahrt waren mir alle möglichen Dinge durch den Kopf geschwirrt, die ich unbedingt von Luke wissen wollte. Jetzt, da ich vor ihm stand, fiel mir plötzlich keine vernünftige Frage mehr ein.
»Können wir uns unterhalten?«
»Was machst du denn hier? Was willst du?«
»Ich meine, können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«
An Lukes Schläfe trat eine Ader hervor, die sichtbar pochte. Er wurde knallrot, und ich dachte schon, er würde mich anschreien. Doch dann sehr er sich um, und ich merkte, wie er sich mühsam zusammenriß.
»Komm mit«, sagte er. »Fünf Minuten genehmige ich dir.«
Damit kettete Luke sein Rad an den Fahrradständer, und wir betraten das Gebäude durch eine schwere Schwingtür.
Mit schnellen Schritten gingen wir einen Schulkorridor hinunter, dessen graue Trostlosigkeit durch die Zeichnungen an den Wänden etwas gemildert wurde.
»Hast du heute schon Zeitung gelesen?« fragte er, ohne mich anzusehen.
»Nein.«
»Ich sollte Alan vor Gericht bringen, ehrlich.«
»Dabei könntest du aber auch den kürzeren ziehen.«
Ein zynisches Lachen war die einzige Antwort. Luke führte mich in ein Zimmer, das so klein war, daß wir uns im Sitzen fast berührten. Um uns herum Regale voller neuer Schulbücher.
»Also?« sagte Luke.
»Hast du der Polizei gesagt, was du weißt?«
Wieder lachte Luke nur, anscheinend erleichtert.
»Mehr nicht?« fragte er. »Du hast überhaupt nichts in der Hand, stimmt’s?«
»Ist das ein Ja oder ein Nein?«
»Die Polizei hat mich verhört, mein Name war in den Zeitungen. Mir liegt nicht besonders viel daran, mich mit dir darüber zu unterhalten. Also, ich weiß wirklich nicht, was du gern rausfinden willst, aber falls du für etwas Beweise suchst, was lediglich deiner kindischen Phantasievorstellung von Nat entspringt, dann vergiß es lieber.«
»Wenn das Baby nicht von dir war, von wem könnte es sonst gewesen sein?«
Luke schien mir nicht mal richtig zuzuhören.
»Ich habe dich immer gemocht, Jane. Die anderen, Nats Brüder, haben mich immer von oben herab behandelt. In meiner Naivität habe ich geglaubt, du wärst anders.«
»Ich hatte Angst vor dir«, erwiderte ich. »Du hast so einen erfahrenen Eindruck gemacht.«
»Ich war ja auch ein Jahr älter.«
»Luke, kannst du mir irgend etwas sagen, was mich davon überzeugen könnte, daß du es nicht warst?«
»Warum sollte ich?« Er sah auf seine Armbanduhr. »Die fünf Minuten sind vorbei. Hoffentlich habe ich dir nicht geholfen. Du findest es bestimmt selbst raus.«
Ich blieb ein paar Minuten im Wagen sitzen, dann fuhr ich langsam in Richtung Autobahn. Als ich unterwegs eine Telefonzelle entdeckte, machte ich halt, rief Helen Auster in Kirklow an und fragte, ob ich mich mit ihr treffen könnte, wenn möglich sofort. Zwar klang sie etwas überrascht, aber sie sagte zu. Während ich von Birmingham nach Westen fuhr, hellte sich der Himmel auf, und als ich Shropshire erreichte und über die Hügel tuckerte, hob sich auch meine Stimmung ein wenig. Das Polizeirevier von Kirklow befand sich in einem großen modernen Gebäude am Marktplatz. Helen wartete bereits am Empfang; sie hatte schon den Mantel übergezogen und schlug mir vor, ein Stück spazierenzugehen. So schlenderten wir zwischen den wunderschönen Steinhäusern herum und unterhielten uns. Allerdings war es sehr kalt, und ich wußte auf einmal nicht mehr genau, warum ich eigentlich hergekommen war.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?« erkundigte sich Helen.
»Ich war gerade bei Luke McCann«, sagte ich statt einer direkten Antwort.
»Wo?«
»In seiner Schule in Sparkhill.«
»Warum sind Sie zu ihm gegangen?«
»Haben Sie die Zeitungen gesehen? Haben Sie gelesen, was Alan sich bei der Veranstaltung in der Kunstakademie geleistet hat?«
Helen lächelte dünn. Ihre blasse Haut war von der Kälte gerötet, ihre Wangen glühten. »Ja, ich hab es gelesen.«
»Es war grauenhaft, aber ich glaube, Alan hat recht, und das macht mich ganz verzweifelt.«
»Sie meinen, wegen Luke.«
»Ja«, antwortete ich. »Deshalb bin ich ja zu ihm gefahren. Ich wußte eigentlich gar nicht, was ich ihm sagen sollte, aber er machte einen ziemlich aufgewühlten Eindruck.«
»Ist das nicht verständlich?«
»Sehen Sie, Helen, ich weiß, es gibt keine wissenschaftliche Methode, mit der man nachweisen könnte, daß Luke der Vater von Natalies Baby war, und ich habe mir schon das Gehirn zermartert, was ich tun könnte, um diese Verbindung herzustellen. Ich hab mir überlegt, ob ich die Gästeliste der Party durchgehen und alle diejenigen raussuchen soll, die Luke gekannt haben. Vielleicht hat er ja gegenüber einem von ihnen irgendeine Bemerkung fallen lassen. Haben Sie eigentlich schon mit seinen Eltern gesprochen? Vielleicht wissen die ja etwas.«
Helen blickte sich um.
»Gehen wir hier rein«, schlug sie vor und führte mich in einen Tea Room, wo wir beide einen Kaffee bestellten.
Als er gebracht wurde, legten wir unsere kalten Hände um die heißen Tassen und tranken eine Weile schweigend.
Dann sah mich Helen fragend an.
»Wer hat Ihnen eigentlich erzählt, daß es nicht möglich ist, eine Verbindung zwischen Luke und dem Fötus nachzuweisen?«
»Ich weiß nicht, aber ich habe gehört, daß man keine DNS-Analyse machen kann, weil die DNS-Stränge schon zerfallen und verunreinigt sind.«
Wieder erschien das dünne Lächeln auf Helens Gesicht.
»Ja, da haben Sie recht. Einer der Grundstoffe der DNS
oxidiert, und die Stränge zerfallen. Und die DNS, die aus den Knochen gewonnen wurde, war zu neunundneunzig Prozent verunreinigt.«
»Ich verstehe nur Bahnhof.«
»Macht nichts. DNS-Analysen bringen uns in einem Fall wie diesem nicht weiter, aber es gibt noch eine andere Methode. Man nennt sie Polymerase-Kettenreaktion.«
»Und was ist das, wenn es fertig ist?«
»Eine Methode, mit der sich kleinste Mengen menschlicher Überreste vervielfachen lassen. Natürlich sind die DNS-Stränge immer noch zerstört, aber es gibt eine Menge Wiederholungen in der DNS-Sequenz. Und diese kleinen Wiederholungen sind charakteristisch und erblich.«
»Was bedeutet das?«
»Es bedeutet, daß Luke McCann nicht der Vater von Natalies Baby war.«
Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen stieg.
»Es tut mir furchtbar leid, Helen. Ich habe mich ziemlich blöd benommen.«
»Nein, Jane, das war mehr als verständlich. Mr. McCann ist nie verhaftet worden, man hat ihn nicht mal verhört.
Also hat man ihn auch nie offiziell freigesprochen, und deshalb wurden auch die Testergebnisse nie bekannt-gegeben. Angesichts der jüngsten Ereignisse haben wir jedoch beschlossen, heute nachmittag eine Erklärung zu veröffentlichen.«
»Ist dieser Test zuverlässig?«
»Ja.«
»Gott, Luke hätte es mir doch einfach sagen können.
Aber es war meine Schuld.«
Wir tranken unseren Kaffee aus. Helen bestand darauf, selbst zu bezahlen. Dann überquerten wir den Platz zum Polizeirevier. Vor der Tür wollte ich mich verabschieden.
Doch Helen druckste herum und fragte schließlich zögernd:
»Sie und Theodore Martello sind in jenem Sommer zusammen gegangen, richtig?«
»So könnte man es nennen.«
»Warum ist es … ich meine, wie hat es aufgehört?«
»Traurig.«
»Er spricht oft von Ihnen, Jane.«
»Woher wollen Sie das denn wissen?«
»Oh, ich habe Ihnen doch schon erzählt, daß ich mich mit ihm unterhalten habe. Ziemlich oft sogar.«
Man sah Helen an, daß ihr die Sache etwas peinlich, aber auch sehr wichtig war, und mir schoß ein äußerst unangenehmer Gedanke durch den Kopf. Unter meinem prüfenden Blick wurde sie puterrot. Aber sie sah nicht weg. Jetzt wußte ich Bescheid, und sie wußte, daß ich es wußte; ich wollte etwas sagen, wollte sie warnen, keine Dummheiten zu machen. Doch da wandte sie sich linkisch ab, verzog das Gesicht und verschwand durch die Tür ins Polizeirevier. Da ich noch eine halbe Stunde auf meinem Parkschein guthatte, spazierte ich eine Weile in Kirklow herum, allerdings ohne etwas von meiner Umgebung wahrzunehmen.
15. KAPITEL
Nach und nach kehrte in mein Leben eine gewisse Routine ein, die mir nicht einmal unangenehm war. Die Termine bei Alex Dermot-Brown bildeten einen festen Rahmen, um den sich meine sonstigen Termine und Verpflichtungen gruppierten. Inzwischen gehörten die Therapiestunden so selbstverständlich und regelmäßig zu meinem Leben wie Schlafen und Essen. Die morgendliche Fahrradfahrt am Kanal entlang, der kurvige Weg über den Markt zu Alex’ Haus waren vertraut und alltäglich geworden. In meinem Gedächtnis vermischten sich die einzelnen Therapiestunden, so daß ich sie irgendwann nicht mehr voneinander unterscheiden konnte – auch ein beruhigendes Gefühl.
Eine Sitzung nach der anderen verstrich, und ein Aspekt meines Lebens nach dem anderen kam zu Sprache. Ich erzählte über meine Kindheit, über Paul und über meine Eltern, aber natürlich landete ich immer wieder bei den Martellos, als wären sie der eigentliche Angelpunkt meiner Geschichte. Ich schilderte Alex, was wir als Kinder im Sommer gespielt hatten. Sicher gab es manche Menschen, die nostalgische, geschönte Kindheitserinnerungen hatten, aber unsere gemeinsame Vergangenheit war wirklich golden gewesen. Ich redete ausführlich über mein enges Verhältnis zu Natalie und Theo und auch viel über Claud, als wollte ich in Gedanken unsere Beziehung neu erschaffen, vielleicht als Rechtfertigung dafür, daß ich ihn verlassen hatte.
Mir fiel es schwer, über unsere Ehe zu erzählen, denn sie war eigentlich nicht zerbrochen, sondern hatte sich eher allmählich in nichts aufgelöst. Ich konnte keine handfesten Gründe für ihr Scheitern nennen. Keine Untreue, keine körperliche Gewalt, nicht einmal eine eindeutige Form von Vernachlässigung. Das alles wäre nicht Clauds Stil gewesen. In vielerlei Hinsicht bewunderte ich ihn jetzt noch mehr als früher. Während ich in Alex’ Zimmer versuchte, ihn mit Worten zu beschreiben, spürte ich immer wieder, daß ich Gefahr lief, ihn als absolut unwiderstehlich darzustellen. Und daß ich womöglich den Eindruck vermittelte, als wollte ich mir etwas ausreden, was ich bereits getan hatte.
Als Claud seine Zulassung im St. David’s Hospital bekam, war er Mitte Dreißig, und er meisterte seine neuen Aufgaben hervorragend, vor allem die ganze Arbeit in den Ausschüssen. Neben der Chirurgie ist die Gynäkologie die stärkste Männerdomäne, was ich stets anprangerte und ihn zum Handeln aufforderte. Das Argument, daß er als Assistenzarzt im Grunde nichts ausrichten konnte, benutzte er kein einziges Mal, obwohl darauf kaum etwas zu entgegnen gewesen wäre. Junge Ärzte, die Ärger machten, wurden auffallend selten befördert. Als Claud dann Facharzt wurde, änderte sich das alles. Doch wie immer bei ihm, war es ein mühseliger, unspektakulärer und zeitraubender Prozeß, und es dauerte lange, bis seine Gegner begriffen, was tatsächlich im Gange war. Claud bildete nämlich einen Ausschuß, der sich mit der Rolle der Ärztinnen in der Gynäkologie befaßte. Als die Kollegen schließlich begriffen, brach ein Sturm der Entrüstung los.
Es gab einen Prozeß, einen Leitartikel im Daily Telegraph oder einer vergleichbaren Tageszeitung, aber Claud ließ sich nicht einschüchtern.
Als wir klein waren, war Claud immer derjenige, der wußte, welches Kabel in der Steckdose wohin führte oder um welche Uhrzeit der letzte Zug fuhr – lauter Dinge, um die sich sonst keiner kümmerte. Die gleiche Begabung kam nun im Krankenhaus zum Tragen. Andere Leute plusterten sich auf, während Claud sich stets im Hintergrund hielt. Im entscheidenden Moment jedoch hatte er immer schon mit den entscheidenden Leuten im Ausschuß gesprochen oder bereits die Tagesordnung unveränderbar festgelegt – nach geheimnisvollen Regeln, von denen niemand gehört hatte. Und das führte dazu, daß in den letzten sieben Jahren jede einzelne Gynäkologenstelle im St. David’s Hospital mit einer Frau besetzt wurde. Claud war ein Held, und nicht nur das – mit seiner cleveren Idee hatte er eine Entwicklung vorweggenommen, die sich erst viel später durchsetzen sollte. Er war dem Zeitgeist voraus.
Bemerkenswerterweise kam Claud nie triumphierend zu mir, um zu sagen: »Siehst du wohl!« Er erwähnte nie, daß er die ganzen Jahre auf die passende Gelegenheit gewartet hatte, um wirkungsvoll handeln zu können. Ich wünschte mir, er hätte es getan, aber er argumentierte immer nur ganz sachlich und vernünftig: In der Gynäkologie habe man bisher die Ressourcen maßlos verschwendet, und er sorge lediglich für etwas mehr Effizienz. Dank des neuen Vertragssystems waren die neuen Ärztinnen außerdem wesentlich kooperativer und flexibler. Vielleicht gehört Claud zu den Leuten, die große Reformen durchsetzen –
ein Mensch mit grundsätzlich konservativer Gesinnung, der bestimmte notwendige Veränderungen akzeptiert, um von der althergebrachten Ordnung soviel wie möglich zu retten. Möglicherweise stimmt das. Aber ich empfand seine Fähigkeit, kühl und rational zu argumentieren, irgendwann nur noch abstoßend.
Clauds Triumphe trugen maßgeblich dazu bei, mir über meine Gefühle zu ihm klarzuwerden. Wenn ich trotz all dessen, was er erreicht hatte, nichts für ihn empfand, mußte unsere Ehe wirklich in einer Krise stecken. Aber wie geht eine Ehe eigentlich kaputt? Manchmal wünschte ich mir beinahe, ich hätte Claud mit seiner Sekretärin im Bett erwischt oder mit einer der Krankenschwestern, die ihn allesamt anbeteten. Doch er wäre nie auf die Idee gekommen, mich zu betrügen, ich wußte, er würde mir treu bleiben, bis einer von uns starb – wenn vielleicht auch nur aus dem einfachen Grund, daß es Zeugen gab, die gesehen hatten, wie er am 28. Mai 1973 auf dem Standesamt ein Dokument unterzeichnete, das ihn zur Treue verpflichtete. Es waren lauter Kleinigkeiten, die mich störten – und andere Kleinigkeiten, die ich vermißte.
Natürlich auch Sex. Gehört in die Kategorie »Kleinigkeiten, die ich vermißte«. Als wir frisch verheiratet waren, hatten wir ein leidenschaftliches Liebesleben, und Claud war auf eine elegantlässige Art im Bett ziemlich gut.
Damit meine ich nicht irgendwelche raffinierten Praktiken
– es funktionierte einfach. Für Claud war Sex nicht nur ein körperliches Bedürfnis, sondern Teil von Zuneigung, Freundschaft, Humor, Zärtlichkeit und Rücksicht, und das in einem viel größeren Ausmaß, als ich es je bei einem Mann erlebt habe. Natürlich ist meine Erfahrung auf diesem Gebiet nicht sehr umfassend, denn die Männer, mit denen ich geschlafen habe, kann man an den Fingern zweier Hände abzählen.
Den größten Teil meiner Teenagerzeit empfand ich Claud als einen Vertreter der Sorte Mensch, die Jerome und Robert in ihrer Teenagerzeit als Blödmann bezeichne-ten. Im Alter von ungefähr drei Jahren bekam Claud eine Brille, und er war immer furchtbar ernst, ihm fehlte das Charisma, das Theo und später auch die Zwillinge so selbstverständlich ausstrahlten. Er war hartnäckig, ausdau-ernd, aber nie der strahlende Mittelpunkt. In dem schrecklichen Jahr nach Natalies Verschwinden, als es fast so aussah, als würde die Familie Martello an ihrem Kummer zerbrechen, kamen wir uns näher. Auch das war ein Beispiel hartnäckiger Entschlossenheit. Claud hatte es offensichtlich darauf angelegt, mich zu betören, und er tat das so, daß jeder es merkte. Aber es funktionierte. Dem anderen seine Zuneigung unverhohlen zu zeigen ist durchaus eine Möglichkeit, in ihm ebenfalls Sympathie zu erwecken, es kann aber auch leicht das Gegenteil bewirken.
Claud jedoch hatte Erfolg. Sexuell lief lange Zeit gar nichts: Damals ging ich mit einer ganzen Reihe von Jungen aus, und Claud wurde einfach ein guter Freund.
Wenn er im Internat war, schrieben wir uns lange, interessante Briefe, und zu meiner Überraschung erwischte ich mich dabei, wie ich ihm Dinge anvertraute, über die ich mit keinem anderen Menschen sprach. Wir stellten keine Ansprüche aneinander, wir produzierten uns nicht, aber während meines ersten Studienjahrs merkte ich plötzlich zu meinem Schrecken, daß Claud mein bester Freund geworden war. Er hatte gerade angefangen, mit Carol Arnott auszugehen; sie war seine erste richtige Freundin, wie er mir unter vier Augen gestand, und ich staunte, daß ich tatsächlich eifersüchtig war.
Das war 1971, Jimi Hendrix war gerade gestorben (oder irre ich mich?). Am besten erinnere ich mich noch an die Klamotten, die man damals trug: Pannesamt, Schlaghosen, dünne Baumwollhemden mit weit herabwallenden Ärmeln
– wie mittelalterliche Minnesänger –, Lilatöne, die ich erst Anfang der Neunziger wieder zu tragen wagte. Ich war neunzehn und Claud einundzwanzig. Kaltblütig machte ich mich daran, ihn der armen Carol auszuspannen, was mir mühelos gelang. Unsere erste gemeinsame Nacht verbrachten wir auf einem furchtbar schmalen Bett in einer Wohnung am Finsbury Park, die Claud mit zwei anderen Medizinstudenten teilte. Von da an entwickelte sich unsere Beziehung so glatt weiter, daß der Entschluß zu heiraten irgendwie unvermeidlich schien. Am Ende meines zweiten Studienjahres setzten wir den Plan in die Tat um. Manchmal frage ich mich, ob wir damit den Zusammenhalt in der Familie festigen wollten. Bis 1975
hatte ich Jerome und Robert geboren, und obgleich wir selbst im Grunde noch Kinder waren, mußten wir so tun, als wären wir erwachsen, während wir verzweifelt versuchten, die Betreuung unseres Nachwuchses irgendwie mit unserer Ausbildung und unserer beruflichen Laufbahn unter einen Hut zu kriegen. Rückblickend waren es zwei Jahrzehnte voll quälender Hektik, die an jenem Herbst-nachmittag, als ich Robert zum erstenmal ins College fuhr, ihren Höhepunkt fanden. Plötzlich hatte ich einen Moment Zeit zum Nachdenken, und das, was mir in den Kopf kam, war die felsenfeste Überzeugung, daß ich Claud verlassen mußte. Keine Diskussion, keine Eheberatung, keine Trennung auf Probe, sondern ein endgültiger Schlußstrich unter diesen Lebensabschnitt.
Tja, und das alles breitete ich nun vor Alex aus. An diesem Punkt stand ich jetzt: vollkommen verwirrt, stets den Tränen nahe, ohne jeden Halt. Wie würde Alex damit umgehen? Obwohl ich mich heftig dagegen sträubte, merkte ich, daß es mir längst nicht mehr gleichgültig war, wie er mich beurteilte. Vielleicht versuchte ich ja sogar, ihn zu beeindrucken. Plötzlich begann ich mich für sein Leben zu interessieren. Ich registrierte, was er anhatte, die Veränderungen von einer Sitzung zur nächsten. Mir gefiel seine Nickelbrille, die er manchmal trug, und zwar immer so lässig, als hätte er sie ganz zufällig auf der Nase. Die langen Haare, die er sich dauernd aus der Stirn strich. Hin und wieder war er sehr streng mit mir. Zu meiner großen Überraschung billigte er beispielsweise meine Detektiv-arbeit überhaupt nicht.
»Ich dachte, ich sollte mich mit den Tatsachen auseinandersetzen«, protestierte ich ein bißchen beleidigt.
»Stimmt«, entgegnete Alex, »aber die Tatsachen, die uns momentan interessieren, sind diejenigen in Ihrem Kopf.
Da haben wir noch genug Arbeit vor uns, harte Arbeit. Bei dem, was Sie mir erzählen, müssen wir unterscheiden zwischen den Dingen, die wahr sind, und denen, die nicht wahr sind. Außerdem gibt es noch die Dinge – wahre und unwahre –, die sie mir nicht erzählen. Da wird die Sache sogar noch komplizierter.«
»Ich lüge Sie doch nicht an. Was genau meinen Sie denn damit?«
»Ich meine dieses ganze Zeug mit Ihrer wunderschönen, harmonischen Kindheit. Sehen Sie, Jane, ich habe Ihnen gleich zu Anfang versprochen, daß ich versuchen will, Ihnen ganz offen zu erzählen, was mir durch den Kopf geht, also sollte ich Ihnen jetzt vielleicht sagen, welchen Eindruck ich habe.« Nachdenklich hielt er inne. Er schien immer äußerst gründlich zu überlegen, ehe er etwas sagte
– ganz im Gegensatz zu mir, die immer gleich losplapperte. »Sie haben mir zwei widersprüchliche Dinge erzählt, Jane. Einerseits klammern Sie sich an diese glückliche Kindheit, als wäre sie ein Talisman, der Sie vor irgend etwas schützen soll. Gleichzeitig haben Sie aber von der Leiche berichtet, die irgendwo mitten in dieser angeblich so wunderbaren Zeit vergraben liegt. Also, ich könnte jetzt ja einfach behaupten, das sind zwei voneinander unabhängige Dinge. Warum sollte nicht jemand von außen ein Mitglied dieser glücklichen Familie ermorden? Solche grausamen Schicksalsschläge passieren ständig. Aber das ist nicht das, was Sie sagen. Sie beharren darauf, daß das ausgeschlossen ist.«
»Was wollen Sie damit sagen, Alex? Was soll ich denn Ihrer Meinung nach tun?«
»Sie versuchen, zwei fürchterlich schwere Lasten im Gleichgewicht zu halten, aber das wird Ihnen nicht gelingen. Irgendwann müssen Sie eine Seite loslassen, Jane, und sich den Konsequenzen stellen. Sie müssen über Ihre Familie nachdenken.«
Dies war einer jener Momente während der Therapie, in denen ich mich wie ein gehetztes Tier fühlte. Gerade wenn ich meinte, ein sicheres Plätzchen gefunden zu haben, an dem ich mich eine Weile ausruhen konnte, stöberte Alex mich auf und trieb mich wieder hinaus aufs offene Feld.
Als ich ihm von diesem Bild erzählte, schüttelte er sich vor Lachen.
»Ich weiß nicht, ob mir die Vorstellung behagt, daß Sie ein schöner Fuchs sind und ich der brutale rotgesichtige Gutsherr hoch zu Roß. Aber wenn es bedeutet, daß ich Sie so dazu bringen kann, nicht mehr in irgendeinem trügerischen Paradies den Drückeberger zu spielen, soll’s mir recht sein. Aber zurück zu Ihnen. Auch wenn es erst mal nur ein Experiment ist, Jane – ich möchte, daß Sie die Bilderbuchgeschichte über Ihre Familie nach und nach korrigieren. Stellen Sie sich dem Gedanken, daß es eine Familie ist, in der ein Mord passieren kann. Mal sehen, wohin uns das führt.«
»Was reden Sie denn da? Wie meinen Sie das, ›eine Familie, in der ein Mord passieren kann‹?«
Als Alex antwortete, klang seine Stimme scharf wie noch nie zuvor. »Ich habe Ihnen bloß zugehört, Jane. Sie müssen selbst die Verantwortung für das übernehmen, was Sie sagen.«
»Ich habe aber nie behauptet, daß es in unserer Familie einen Mörder gibt.«
In meinem Gaumen spürte ich einen sauren, ekligen Geschmack. Alex ließ nicht locker.
»Nicht ich, sondern Sie haben darauf hingewiesen, wie seltsam es ist, daß man Natalie ausgerechnet in der Nähe des Hauses gefunden hat.«
»Ja, aber das ist doch auch wirklich seltsam, oder etwa nicht?«
»Was haben Sie denn damit gemeint, wenn Sie nicht andeuten wollten, daß Ihre Familie irgendwas damit zu tun hat?«
»So etwas habe ich nie angedeutet.«
»Schon gut, beruhigen Sie sich.«
»Ich bin vollkommen ruhig.«
»Ich wollte eigentlich nur sagen, Sie sollten sich auf das Experiment einlassen, selbst wenn die Vorstellung an sich schon ein Schock ist.«
»Was für ein Experiment?«
»Ganz einfach, Jane. Manchmal können solche Ideen in der Therapie als eine Art Hypothese behandelt werden.
Stellen Sie sich vor – wenn Sie das können –, daß Sie nicht aus einer perfekten Familie stammen, die alle bewundern und zu der alle gehören wollen. Stellen Sie sich vor, es wäre eine bedrohliche Familie.«
Hatte ich mir gewünscht, daß Alan das zu mir sagen würde – daß er es für mich sagen würde? Ich unternahm einen halbherzigen Versuch zu protestieren, aber Alan unterbrach mich und fuhr fort: »Ich verlange nicht von Ihnen, daß Sie jemandem die Schuld geben oder sich unloyal verhalten. Es soll nur eine Chance für Sie sein, Ihre Sichtweise zu ändern, sich selbst einen freieren Zugang zu den Dingen zu ermöglichen.«
Das war einer jener Momente, in denen ich mich brennend nach einer Zigarette sehnte, um klar denken zu können. Statt dessen erzählte ich Alex von dem Abend in der Kunstakademie und davon, wie unmöglich, wie beschämend, wie entsetzlich Alan sich aufgeführt hatte.
Als Schwiegertochter von Alan Martello ist man in gewisser Weise schon abgestempelt. Mit dreißig war Alan bereits berühmt und galt – ganz unabhängig von seinen eigenen Bemühungen – immer als Symbolfigur für irgendeine Denkrichtung. Früher galt er als jugendlicher Radikaler, inzwischen ist er als anarchischer Konservativer verschrien, was ebenso seltsam ist. In verschiedenen Phasen wurden ihm die unterschiedlichsten Etiketten angehängt, oft sogar mehrere gleichzeitig: Gegner der imperialistischen Politik Englands, Satiriker, Klassenkämpfer, Freiheitskämpfer, Reaktionär, professioneller Bilderstürmer, Konformist, Rebell, Langweiler, Macho.
Manchmal überlege ich, was ich von ihm halten würde, wenn ich ihn jetzt kennenlernte, aber ich habe ihn immer bewundert, oft ohne selbst genau zu wissen, warum. Ich habe mit angesehen, wie er sich in die unmöglichsten Zwangslagen manövrierte, ich wurde Augenzeuge, wie er Dinge tat, die ich zutiefst verabscheue – gelegentlich wurden mir auch entsprechende Berichte zugetragen –, er hat andere Menschen skrupellos verletzt, vor allem Martha, die ich sehr gern habe, und dennoch stand ich stets auf seiner Seite. Schließlich war er das Oberhaupt der wundervollen Familie Martello, seine Vitalität hielt sie in Schwung, er war ihr Zentrum. Konnte ich ihm nur deshalb nichts übelnehmen? Sogar in der Kunstakademie, im Angesicht des Scherbenhaufens, den er hinterlassen hatte, empfand ich ihm gegenüber eine unerschütterliche Loyalität. Doch es war wirklich ein perverses Gefühl.
Ich hatte erwartet, daß Alex all diese Dinge höchst interessant finden würde, aber er ging kaum darauf ein.
Manchmal schien mir das eine Frage des Stolzes, so, als müßte er mir seine Unabhängigkeit demonstrieren. Zwar lauschte er meinen Ausführungen über meine zwiespältigen Gefühle gegenüber Alan durchaus konzentriert, kehrte dann aber sofort zurück zu meinen Erinnerungen –
beziehungsweise meinen fehlenden Erinnerungen – an jenen Nachmittag am Flußufer, als Natalie zum letztenmal gesehen worden war. Diesmal wurde ich tatsächlich ein bißchen ungeduldig. Doch er blieb hartnäckig.
»Ich höre Ihnen zu, egal, was Sie mir erzählen«, sagte er.
»Aber es wäre mir recht, wenn Sie meine Beharrlichkeit verstehen könnten. Ganz am Anfang haben Sie etwas gesagt, was ich sehr interessant finde. Sie haben nämlich gesagt: ›Ich war dort.‹«
»Ich erinnere mich nicht, ob ich genau diese Worte benutzt habe, aber das ist ja auch nicht so wichtig. Ich habe damit nur gemeint, daß ich am Flußufer war, in der Nähe der Stelle, an der Natalie zum letztenmal gesehen wurde. Sie dürfen nicht so viel hineininterpretieren.«
»Ich interpretiere nichts hinein, ich höre Ihnen nur zu.
Dafür bezahlen Sie mich schließlich. ›Ich war da. Ich war da.‹ Eine interessante Wortwahl, finden Sie nicht auch?«
»Eigentlich nicht.«
»Ich finde das sehr interessant.«
Alex stand auf und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen, wie immer, wenn er sich echauffierte. Hinter mir zu sitzen und für mich unsichtbar zu sein war in solchen Augenblicken nicht genug. Er wollte größer sein als ich, mich beherrschen.
»Nur weil es um Worte und Emotionen geht, wollen Sie sich nicht festlegen. Bei Ihrer Arbeit würden Sie das nicht tun, stimmt’s? Wenn Sie einen Plan für das Haus hätten, das zwanzig Meter breit werden soll, und einen Bauplatz von nur fünfzehn Metern, dann würden Sie das Gebäude sicher nicht einfach hochziehen und hoffen, daß sich das Problem irgendwie von selbst löst. Nein, Sie würden einen neuen Plan entwerfen, der den Gegebenheiten des Bauplatzes gerecht wird.
Vielleicht müssen wir die Ungereimtheiten in dem, was Sie mir gesagt haben, einfach ausbügeln. Sie haben gesagt, daß Sie aus einer perfekten Familie kommen, aber in dieser Familie ist ein Mord geschehen, und Sie behaupten, es kann keiner von außen gewesen sein. Wie können wir diese beiden Behauptungen unter einen Hut bringen? Sie sagen mir, daß Sie da waren, andererseits waren Sie aber nicht da. Wie soll das einen Sinn ergeben? Waren Sie tatsächlich nicht da, oder müssen wir Sie hinbringen?«
»Wie meinen Sie das – mich hinbringen?«
»Sie kommen zur mir und erzählen mir eine Geschichte voller schwarzer Löcher. Machen wir einen Handel, Jane.
Ich verspreche, daß ich aufhöre, Sie zu drängeln. Wir reden über die Dinge, über die Sie reden möchten, jedenfalls vorerst. Aber« – er hob den Zeigefinger – »es gibt eine Ausnahme. Ich möchte, daß wir bei der Szene am Fluß bleiben, ich möchte, daß Sie sich dorthin zurückversetzen, daß Sie in die Szene hineingehen und sie erforschen.«
»Alex, ich habe Ihnen alles über diesen Nachmittag erzählt, woran ich mich erinnere.«
»Ja, ich weiß. Und Sie machen Ihre Sache auch sehr gut, vielleicht besser, als Sie wissen. Aber ich möchte, daß Sie jetzt nicht mehr versuchen, sich zu erinnern. Machen Sie sich frei davon. Ich würde gern die Übung von neulich wiederholen.«
Also gingen wir erneut die einzelnen Schritte durch. Ich schloß die Augen, entspannte mich, und während Alex mit sanfter Stimme auf mich einredete, versuchte ich mich an den Fluß zurückzuversetzen, wie ich damals, an jenem Sommernachmittag dort gesessen hatte, den Rücken an den Felsen gelehnt. Inzwischen gelang es mir schon wesentlich besser. Beim erstenmal war ich mir vorgekommen wie auf einer von diesen angeblich dreidimen-sionalen Postkarten: Sie vermitteln einem den Eindruck von Tiefe, aber man kann nicht die Hand hineinstecken.
Diesmal war es anders. Ich konnte mich darauf einlassen, ich war in einem Raum, den ich durchqueren, in einer Welt, in der ich mich verlieren konnte. Alex’ Stimme schien von weither zu kommen. Ich beschrieb ihm, wo ich war, ich setzte mich und lehnte mich mit dem Rücken an die trockenen, bemoosten Felsen am Fuß von Cree’s Top; links von mir schlängelte sich der Fluß in die Ferne, die letzten zerknüllten Papierschnipsel trieben um die Biegung vor mir. Rechts von mir sah ich die Ulmen am Waldrand.
Von ferne fragte mich Alex’ Stimme, ob ich aufstehen könne, und es gelang mir mühelos. Konnte ich mich umdrehen? Ja, auch das war nicht schwer. Ich erklärte Alex, daß der Fluß jetzt rechts von mir war, also auf mich zuströmte und hinter mir um die Biegung weiterfloß; die Ulmen am Waldrand standen nun zu meiner Linken. Ich blickte den Abhang von Cree’s Top empor. Alex Stimme bat mich, ich solle mich nicht bewegen und erst einmal warten. Konnte ich den Weg sehen? Selbstverständlich.
Der Pfad schlängelte sich den Hügel empor, gesäumt von dichtem Buschwerk; an einigen Stellen verschwand er aus meiner Sicht, doch den größten Teil konnte ich bequem überblicken. Sehr gut, lobte mich Alex. Alles, was er nun von mir wollte, war, daß ich mich noch einmal umdrehte und mich wieder in meine ursprüngliche Position hinsetz-te. Kein Problem. Sehr gut, sagte er. Sehr gut.
16. KAPITEL
Es gab gute und schlechte Tage, aber zu meiner eigenen Überraschung ging es mir recht gut. Beispielsweise an jenem sonnigen Montagmorgen Anfang Dezember. Es war einer jener von der Schule organisierten Tage, an denen berufstätige Frauen ein Schulkind zu ihrer Arbeitsstelle mitnehmen sollen, angeblich, um dem jungen Mädchen die Angst vor der Arbeitswelt zu nehmen. Zwar wurde ich das Gefühl nicht los, daß jede Frau, die meine Arbeit in Augenschein nahm, sich sofort unwiderstehlich zu Küche und Kinderzimmer hingezogen fühlen würde, aber ich entschied, daß ich wenigstens guten Willen zeigen mußte.
Deshalb rief ich Peggy an, da ich ohnehin immer das Gefühl hatte, ich würde mich zu selten bei ihr melden.
Offenbar fiel Emily, der mittleren, knapp sechzehnjährigen Tochter von Pauls erster Frau, als letzter eine plausible Ausrede ein, und so wurde sie mir als Opfer angeboten.
Kurz nach neun kam sie den Gartenweg entlangge-schlurft, ohne die zum Abschied winkende Peggy hinter sich zu beachten. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, wie eine griechische Witwe, obwohl man sie dank ihrer Nasenringe nicht mit einer solchen hätte verwechseln können.
Nachdem sie es sich auf dem Beifahrersitz bequem gemacht hatte, stellte sie erst mal Start the Week ab, und wir verließen Kentish Town in östlicher Richtung. Ich erkundigte mich nach Peggy, und Emily brummte etwas und erkundigte sich nach Robert. Ich murmelte eine unverbindlich freundliche Floskel und setzte hinzu, daß er sich mit seiner neuen Freundin allem Anschein nach gut verstand. Ich habe meinen Nichten gegenüber einen starken Beschützerinstinkt, wenn es um meinen jüngsten Sohn geht, und ich habe mit Robert ebenso wie mit Jerome schon mehrmals darüber gesprochen, daß sie die Pflicht haben, sich um ihre jüngeren Kusinen zu kümmern.
Ich war reichlich nervös, hauptsächlich weil ich normalerweise eine Zigarette geraucht hätte. Weil Emily dann auch eine gewollt hätte, hatte ich mich schon im voraus zu dem Entschluß durchgerungen, für diesen einen Morgen auf das Rauchen zu verzichten.
Ich liebe meine Söhne, aber in ihrer Teenagerzeit hatte man in unserem Haus manchmal das Gefühl, man befände sich in einem Umkleideraum für Sportler. Vielleicht habe ich deshalb eine besondere Zuneigung für die drei aufsässigen Crane-Mädchen. Hin und wieder machte ich mir Sorgen, daß ich mich womöglich zu sehr um sie bemühte und dadurch erst recht vergraulte, aber als wir anhielten und den York Way entlangspazierten, plauderte Emily mit einer für sie bemerkenswerten Offenherzigkeit.
Ich fragte sie, ob sie etwas von Pauls Dokumentarfilm gehört hatte. Wie bei fast allem, was mit ihrem Vater zu tun hat, verdrehte Emily entnervt die Augen.
»Er ist echt so albern«, stöhnte sie.
Sofort fühlte ich mich verpflichtet, ihn in Schutz zu nehmen.
»Aber nein, Emily, es wird bestimmt hochinteressant.«
»Du willst also auch ins Fernsehen, genau wie alle, die etwas über deine Familie wissen?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Wir weigern uns alle mitzumachen. Dad ist stocksauer geworden. Cath hat ihn einen Voyeur genannt.«
»Na ja, bestimmt hat sich Paul zumindest darüber gefreut, daß sie ein französisches Wort benutzt. Jetzt braucht sie ihn nur noch einen auteur zu nennen!«
Wir kicherten beide. Wie immer kamen wir zu spät zum Wohnheim, wo bereits zwei Angestellte der Stadtverwaltung auf uns warteten, die ich allerdings beide nicht kannte. Pandora Webb, zuständig für den Bereich psychologische Nachsorge, und Carolyn Salkin, Fachkraft für Behindertenarbeit – im Rollstuhl. Am Fuß der steilen Betontreppe, die zur Eingangstür führte. Carolyn hatte extrem kurzgeschnittene Haare, was ihr das Aussehen eines wütenden Kobolds verlieh. Wenn ich sie unter anderen Umständen kennengelernt hätte als ausgerechnet hier, vor meinem kostbaren Projekt, wäre sie mir sicher auf Anhieb sympathisch gewesen. Ohne Umschweife kam sie zur Sache.
»Hier gibt es offensichtlich keinen Zugang für Rollstuhlfahrer, Ms. Martello.«
»Bitte nennen Sie mich doch Jane«, keuchte ich, noch ganz atemlos, weil wir uns so beeilt hatten. »Und das ist meine Nichte Emily.«
»Wie ich feststellen muß, gibt es hier keinen Zugang für Rollstuhlfahrer, Jane.«
»Das Thema ist nie richtig angesprochen worden«, antwortete ich schwach, denn es war Montagmorgen, und ich fühlte mich etwas gehemmt durch die Anwesenheit meiner Nichte.
»Ich spreche es jetzt an.«
Am liebsten hätte ich mich so schnell wie möglich in ein stilles Eckchen zurückgezogen und über das Problem nachgedacht. Leider war das nicht möglich.
»Ich wurde lediglich informiert, daß dies ein Wohnheim für selbständige, als geheilt entlassene Patienten ist, die hier für eine gewisse Zeit unter lockerer Supervision unterkommen können. Natürlich gebe ich Ihnen recht, Carolyn – es wäre wünschenswert, daß jedes Gebäude behindertengerecht konzipiert wird, aber trotz meiner baulichen Veränderungen bleibt das Gebäude hier ein schmales, vierstöckiges Haus. Sicher wäre es besser, wenn Patienten und auch Angestellte, die im Rollstuhl sitzen, an besser ausgerüstete Häuser verwiesen werden.«
Die beiden Frauen wechselten vielsagende Blicke, ironisch, ein wenig verächtlich. Ganz offensichtlich stand auch Pandora nicht auf meiner Seite, aber sie überließ das Reden anscheinend gern Carolyn.
»Jane«, meinte Carolyn, »ich bin nicht hergekommen, um auf dem Gehweg über Behindertenpolitik zu diskutieren. Und ich will auch nicht feilschen. Ich bin einfach nur gekommen, um sicherzustellen, daß Sie sich über Vorstellungen der Stadtverwaltung zum Thema Gebäude-zugang im klaren sind. Eigentlich hätte man Sie darüber längst in Kenntnis setzen müssen.«
»Und was sollen wir nun machen?« fragte ich matt. »Ich meine, in diesem spezifischen Fall.«
»Ich würde es Ihnen gern selbst zeigen, wenn ich in das Haus hineinkäme«, antwortete Carolyn eisig. »Aber Sie müssen wohl einen Termin mit einem anderen Kollegen aus meiner Abteilung vereinbaren.«
»Wer finanziert die zusätzlichen Baumaßnahmen?«
»Wer finanziert den Notausgang, Jane?« fragte Carolyn sarkastisch. »Wer finanziert die Doppelglasfenster?«
Ich spürte, wie die Wut in mir hochstieg, ganz egal, wie ungerecht das auch sein mochte.
»Wenn ich Mies van der Rohe wäre, würden Sie mich nicht zwingen, an jeder Ecke Rampen anzubringen.«
»Das würde ich sehr wohl, wenn Mies van der Rohe Gebäude in diesem Bezirk entwerfen würde«, entgegnete Carolyn ungerührt.
»Wer ist denn dieser Mies Dingsbums?« fragte Emily, als wir wieder im Wagen saßen.
»Wahrscheinlich einer der Hauptgründe, weshalb ich Architektin werden wollte. Seine Bauwerke basieren auf absoluter mathematischer Klarheit, auf geraden Linien, Metall und Glas. Sein tollster Bau war ein Ausstellungs-gebäude in Barcelona, in den zwanziger Jahren. Er war in der Form so rein, daß Mies nicht einmal eine Wand zum Aufhängen von Bildern freigeben wollte, weil das die Ausgewogenheit zerstört hätte.«
»Nicht gerade das Richtige für eine Ausstellung«, meinte Emily.
»Nein«, räumte ich ein. »Und mit diesem Wohnheim hätte er vermutlich auch nicht viel mehr Erfolg als ich. Als ich anfing mit der Architektur, haben wir noch daran geglaubt, daß man durch sie das Leben der Menschen verändern könnte. Im Augenblick scheint diese Idee aber nicht sehr viele Anhänger zu finden.«
»Was willst du jetzt machen?«
»Ich glaube, ich bin zu alt, um noch auf Anwältin mit Spezialgebiet Bürgerrecht umzuschulen.«
»Nein, ich meine mit dem Wohnheim?«
»Ach, das übliche. Ein paar Sachen kommen rein, ein paar andere raus. Ein bißchen von meiner ursprünglichen Inspiration geht verloren. Aber ich hab die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben. Solange sie mein Budget kürzen, kann ich fest davon ausgehen, daß man das Wohnheim unbedingt bauen will.«
Wir fuhren zurück zu meinem Büro. Dort machte ich Emily mit Duncan bekannt, und er zeigte ihr, wie sich sein Zeichenbrett verstellen ließ. Ich diktierte ein paar Briefe, die ich schneller selbst getippt hätte. Dann kochten wir Kaffee, und ich erzählte Emily ein bißchen über meinen Beruf und über die Ausbildung, soweit ich mich an sie überhaupt noch erinnerte. Nachdem wir eine Weile über alle möglichen anderen Themen geplaudert und etwas gegessen hatten, brachte ich sie nach Kentish Town zurück. Ich kam mit ins Haus und trank eine Tasse Kaffee mit Peggy. Wie üblich machte sie sich Sorgen – diesmal in erster Linie wegen Pauls Film, mit dem sie nichts zu tun haben wollte. Außerdem machte sie sich Sorgen um Martha, wozu mir leider nicht viel einfiel. Und sie machte sich Sorgen, daß Alan womöglich durchdrehte. Ich sagte ihr, meiner Meinung nach brauchte man sich darüber bestimmt nicht den Kopf zu zerbrechen. Aber sie sorgte sich sogar ein wenig um mich. Paul hatte ihr von meiner Therapie berichtet, und darüber wollte sie jetzt unbedingt mit mir sprechen.
»Du weißt ja, daß ich auch jahrelang zur Therapie gegangen bin, nachdem Paul mich verlassen hatte«, begann sie. »Aber nach ungefähr zwei Jahren habe ich endlich all meinen Mut zusammengenommen, mich auf der Couch aufgerichtet und mich umgesehen. Mein Analytiker hat fest geschlafen.«
»Ja, das hast du mir schon erzählt, Peggy«, entgegnete ich. »Ich glaube, das passiert ziemlich häufig.«
»Trotzdem, die ganze Sache war eine fürchterliche Geldverschwendung. Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß Pillen billiger sind und auch wesentlich bequemer.
Mein Arzt hat mir was verschrieben, ich hab meine Krise überwunden, und weißt du noch, als ich letzten Sommer mit den Mädchen nach Kos gefahren bin? Ich hab rausgefunden, daß der Urlaub billiger war als drei Monate Therapie. Zugegeben, dort hatte ich das Gefühl, ich brauche mindestens drei Jahre Therapie, um mich zu erholen. Wie sich die Mädchen benommen haben! Und diese Kellner, sind ständig um sie herumgeschwirrt, wie Bienen um den Honigtopf!«
»Was willst du damit sagen, Peggy? Meinst du, ich verschwende meine Zeit?«
»Nein, vermutlich bin ich einfach nur überrascht. Du warst immer so stark. Außerdem – sei jetzt bitte nicht beleidigt –, außerdem verstehe ich einfach nicht recht, was du vorhast. Du warst doch diejenige, die sich plötzlich von Claud trennen wollte. Für ihn war es ein schrecklicher Schlag, er ist verzweifelt. Und jetzt kriegst du ein schlechtes Gewissen und suchst Hilfe. Und nicht nur das: Paul hat mir erzählt, daß du immer wieder mit der Geschichte von Natalie anfängst. Ich verstehe nicht, was das alles soll, ehrlich, Jane.«
Auf einmal spürte ich eine entsetzliche Wut im Bauch.
Am liebsten hätte ich Peggy angeschrien oder ihr eine Ohrfeige verpaßt, aber sosehr ich südländische Emotions-ausbrüche immer bewundert habe, ich selbst war leider nie dazu fähig. Außerdem spürte ich, daß Peggy in gewisser Hinsicht gar nicht so unrecht hatte. Also antwortete ich möglichst kühl und gelassen:
»Vielleicht verstehe ich selbst nicht, was mich dazu treibt, Peggy. Vielleicht möchte ich ja genau das herausfinden.«
Am Abend dieses anstrengenden Tages zupfte ich die Plastikfolie von einem frischen Zigarettenpäckchen, wusch den Aschenbecher im Spülbecken aus, öffnete eine Dose schwarze Oliven und leerte sie in eine kleine Schüssel. Zum Glück waren sie entkernt, denn ich wollte mich auf nichts konzentrieren müssen. Zusammen mit einem trockenen Martini, der so kalt war, daß er wie ein Hexengebräu dampfte, trug ich alles ins Wohnzimmer und ließ mich vor dem Fernseher nieder. Nach dem Zufalls-prinzip wählte ich einen Kanal und glotzte auf den Bildschirm, ohne etwas zu sehen.
Fast vom ersten Schluck an tat der Drink seine Wirkung, und eine angenehme Benommenheit breitete sich in mir aus. Ich kann am besten nachdenken, wenn ich bei einem Orchesterkonzert im Publikum sitze oder wenn ich in einer Galerie umherwandere und so tue, als würde ich mir die Gemälde anschauen, oder wenn ich – wie heute – halb betrunken fernsehe. Was Peggy gesagt hatte, brachte mich ziemlich durcheinander. Ich gehöre zu den Leuten, die sich gern unanfechtbar im Recht wähnen, ich halte mir zugute, daß ich immer das Richtige tun will. Und jetzt begriff ich plötzlich, daß es – für Peggy und bestimmt für viele andere auch – so aussah, als ließe ich mich einfach gehen und täte genau das Falsche. Ich verließ mich auf Duncans Gutmütigkeit, wenn ich gerade mal keine Lust hatte zu arbeiten. Ich verließ mich auf meine Therapiesitzungen bei Alex, um nicht die Verantwortung für meine Entscheidungen tragen zu müssen. Ich führte irgendwelche halbgaren Ermittlungen über die Familie Martello durch … und warum? Aus Rache? Nein, ich mußte etwas Unerledigtes zu Ende bringen, ich suchte etwas. Aber ich wußte nicht, was. War es vielleicht besser, wenn ich das alles sausen ließ und mich der Gegenwart widmete, meinem jetztigen Leben – mit dem Gleichmut, auf den ich immer so stolz gewesen bin?
Ich ging zum Kühlschrank und goß den Rest Martini in mein Glas. Ich hörte auf nachzudenken, und auf einmal nahm die Fernsehsendung vor mir Gestalt an, wie ein Bild, das allmählich scharf gestellt wurde. Eine Frau – sehr attraktiv, abgesehen davon, daß ihre Augenbrauen zu dünn waren – sprach über die Familie als Keimzelle der Gesellschaft.
»Ebenso wie ein Haus, in das es reinregnet, immer noch besser ist als gar kein Haus«, sagte sie, »so ist eine unvollkommene Ehe besser als gar keine. Der schlimmste soziale Notstand unserer Zeit ist das rücksichtslose und egoistische Verhalten mancher Eltern, denen ihre eigene Bequemlichkeit wichtiger ist als die Zukunft ihrer Kinder.«
Lauter Beifall ertönte.
»Halt’s Maul!« schrie ich den Bildschirm an.
»Sir Giles«, sagte der Moderator der Sendung.
Sir Giles war ein Mann im grauen Anzug.
»Jill Cavendish hat vollkommen recht«, meinte er, »und wir alle sollten uns nicht schämen, ganz kategorisch festzustellen, daß es hier um eine Frage der Moral geht.
Und wenn die Oberhäupter unserer Kirchen nicht gewillt sind, zu diesem Thema klar Stellung zu beziehen, dann ist es an der Zeit, daß wir, die Politiker, endlich aktiv werden.
Wie wir alle wissen, gibt es junge Mädchen, die absichtlich schwanger werden, weil sie dadurch schnell und leicht an eine Sozialwohnung kommen. Ganz bewußt wählen sie die Arbeitslosigkeit, auf Kosten der übrigen Gesellschaft.
Mit dem Ergebnis, daß ganze Generationen von Kindern ohne moralische Führung aufwachsen, ohne einen Vater, der ihnen ein Vorbild ist. Kein Wunder, daß diese Kinder kriminell werden.
Ich glaube, meine Damen und Herren, daß die Zeit gekommen ist, in der die Durchschnittsbürger sich erheben und den Sozialisten zurufen sollten: ›Dorthin habt ihr uns gebracht. Das ist die logische Folge eurer Politik, eurer Mißachtung von Moral und Familie, wie wir sie alle in den sechziger Jahren erlebt haben.‹ Diese Leute meinen, wir sollen Verständnis zeigen für die Zwangslage dieser armen hilflosen Frauen. Wenn Sie mich fragen, sollten wir ein bißchen weniger verstehen und ein bißchen mehr bestrafen. Als ich jung war, landete ein Mädchen, das schwanger wurde, auf der Straße, als Ausgestoßene.
Vielleicht haben wir aus jener Zeit etwas zu lernen. Ich sage Ihnen: Wenn junge Mädchen wissen, daß es für sie keine Wohnungen und kein Arbeitslosengeld gibt, dann wird es bald auch wesentlich weniger alleinstehende Mütter geben.«
»Wichser«, knurrte ich und warf die Zigarettenschachtel auf den Bildschirm. Sie landete ziemlich weit daneben.
Jetzt ertönte noch heftigerer Applaus als vorhin, und der Gesprächsleiter hatte größte Mühe, sich wieder Gehör zu verschaffen.
»Außerdem ist heute Dr. Caspar Holt bei uns, der nicht nur Philosoph, sondern zufällig auch alleinerziehender Vater einer kleinen Tochter ist. Dr. Holt, wie lautet Ihre Meinung zu den Ausführungen von Sir Giles?«
Die Kamera schwenkte auf das nervöse Gesicht eines Mannes mittleren Alters, der mir irgendwie bekannt vorkam.
»Ich bin nicht sicher, ob ich darauf eine Antwort parat habe«, sagte er. »Doch ich mißtraue zutiefst allen simplen Lösungen für soziale Probleme. Aber ich kann mir nicht helfen – ich glaube, wenn Sir Giles Whittell wirklich meint, daß junge Mädchen aus finanziellen Erwägungen heraus schwanger werden, sollte er sich einmal fragen, wer denn diese individualistische Kultur geschaffen hat, in der nichts zählt außer dem eigennützigen Kampf um größtmöglichen finanziellen Vorteil. Daß sich politisch nur etwas verbessern läßt, indem man den Reichen immer mehr Geld gibt, während man den Armen das wenige, was sie besitzen, auch noch wegnimmt – diese Meinung finde ich – na ja, irgendwie amüsant.«
Ich klatschte in die Hände. »Hört, hört!«
Außer mir klatschte diesmal allerdings niemand Beifall, im Gegenteil: Der Sprecher wurde von allen Seiten ausge-buht. Plötzlich fiel mir ein, wer dieser Mann war – er hatte bei Alans denkwürdigem Auftritt in der Kunstakademie neben mir gesessen! Soweit ich mich erinnerte, hatte ich mich ihm gegenüber ziemlich schlecht benommen, und jetzt bereute ich es. Schnell ging ich zu meinem Schreibtisch in der Ecke und wühlte in einem Stapel Postkarten. Ein grotesker Akt von George Grosz. Zu freizügig. Eine Verkündigung von Fra Angelico. Zu streng. Aquarelle der British Mice. Zu affektiert. Die Schindung des Marsyas von Tizian. Meinen eigenen Empfindungen zu nah verwandt. Reverend Rober Walker beim Schlittschuhfahren auf Duddingston Loch. Das war vielleicht nicht schlecht. Ich drehte die Karte um und entfernte ein angetrocknetes Klebepad, eine Erinnerung daran, daß das Bild einmal an der Wand über meinem Schreibtisch gehangen hatte. »Lieber Caspar Holt.« Schon kam ich nicht mehr weiter und sah wieder zum Bildschirm, wo Caspar Holt jetzt etwas über Kinderer-ziehung murmelte und niedergebrüllt wurde. »Ich bin die Frau, die in der Kunstakademie so unhöflich zu Ihnen war.
Ich sitze vor dem Fernseher, während ich dies schreibe, und sehe mir an, wie vernünftig und mutig Sie auftreten.
Es tut mir leid, daß ich mich so danebenbenommen habe.
Zwar ist das alles etwas unzusammenhängend, aber Sie sagen Dinge, die ich gern selbst sagen möchte, die mir aber im richtigen Moment nie einfallen. Mit freundlichen Grüßen, Jane Martello.« In meiner Handtasche fand ich eine Briefmarke. Kurz entschlossen ging ich zum nächsten Briefkasten und warf die Karte ein. Ich brauchte ein bißchen frische Luft. Soweit ich es noch beurteilen konnte, fühlte sich die Abendkühle sehr wohltuend an.
17. KAPITEL
»Weißt du noch, wie ihr hier immer gespielt habt?«
Obgleich es bitterkalt war, hatte Martha darauf bestanden, daß wir zusammen eine Runde durch den Garten machten. Jetzt standen wir neben der riesigen Eiche, in deren dickem hohlem Stamm wir uns als Kinder so oft versteckt hatten. Ich strich mit der Hand über die moosbewachsene Rinde.
»Hier haben Claud und Theo und Paul ihre Initialen eingeritzt. Wir dachten, die Initialen würden mitwachsen, und jetzt sind sie schon fast verschwunden.«
Schweigend gingen wir weiter. Ich spürte, daß ich den Wegen meiner Kindheit folgte. Die Scheunen, die umgestürzten Baumstämme, der Kräutergarten, die flache Stelle, wo die Schaukel gehangen hatte, die kahlen Zweige und ausgedörrten Büsche. Der Wind drückte Marthas Jacke eng an ihren Körper, und mir fiel auf, wie dünn sie geworden war.
»Alles in Ordnung, Martha?«
Sie bückte sich, um ein Unkraut auszurupfen. »Ich habe Krebs, Jane.« Ich wollte etwas sagen, doch sie hob die Hand.
»Ich weiß es schon lange. Anfangs war es nur Brust-krebs, aber jetzt hat er sich ausgebreitet.«
Vorsichtig nahm ich ihre kalte Hand und streichelte sie.
Vom Hügel her blies der Wind über uns hinweg.
»Was meinen die Ärzte? Was unternehmen sie dagegen?«
»Nicht viel. Ich meine, sie sagen nicht viel, sie überlassen es mir, meine eigenen Schlüsse zu ziehen. Und ich werde keine Chemotherapie machen, ich werde mich nicht bestrahlen lassen oder sonstwas. Na ja, Schmerzmittel nehme ich natürlich schon.
Aber ich bin siebenundsechzig, Jane, kein schlechtes Alter, um Krebs zu kriegen: Er wächst sehr langsam.« Sie lachte leise.
»Wahrscheinlich sterbe ich mit dreiundneunzig an einem Herzinfarkt.« Etwas ernster fügte sie hinzu: »Jedenfalls hoffe ich das. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Alan allein zurechtkommt.«
»Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid, Martha. Ich wollte, ich könnte etwas tun.« Hand in Hand gingen wir zum Haus zurück.
»Martha, wünscht du dir manchmal, man hätte Natalie nicht gefunden?« fragte ich plötzlich.
Martha warf mir einen seltsamen Blick zu. »Es ist sinnlos, diese Frage zu stellen«, antwortete sie schließlich.
»Wir haben Natalie gefunden, und damit basta. Wenn du wissen willst, ob ich früher glücklicher war, dann lautet die Antwort ja. Selbstverständlich war ich glücklicher.
Manchmal war ich sogar richtig glücklich. Als Natalie gefunden wurde, mußte ich noch einmal zu trauern beginnen. Der ganze Kummer war plötzlich wieder wie neu.«
Sie öffnete die Hintertür. »Komm, ich koche dir einen Tee.«
»Nein, laß mich ihn machen«, widersprach ich.
»Ich bin noch nicht todkrank, Jane. Setz dich.«
Also nahm ich am Küchentisch Platz. Überall lagen Stapel von Kinderbüchern, die Martha im Lauf der Jahre illustriert hatte. Natürlich kannte ich die Bilder, schließlich waren meine Kinder mit ihnen aufgewachsen, aber sie beeindruckten mich wieder von neuem: lustige, vielfältige und farbenfrohe Zeichnungen. Martha zeichnete gern große Familien: energische Omas, gehetzt wirkende Eltern und Horden kleiner Kinder mit aufgeschürften Knien und zersausten Haaren. Auf ihren Illustrationen gab es eine Menge zu essen – Sachen, die Kinder mögen, wie klebrige Schokoladenkuchen, purpurroter Wackelpudding mit knallgelber Vanillesoße, Teller mit Spaghettibergen. Und sie malte ausgelassene Kinder: eine ganze Doppelseite mit pummeligen Kleinkindern, die in roten Gummistiefeln hintereinander hermarschierten, eine andere, auf der fröhliche Kindergesichter durch die Äste eines Baumes spähten. Bei dem Bild eines kleinen Mädchens mit einem Gänseblümchenkranz vor einem leuchtendorangenen Sonnenuntergang hielt ich inne. Selten hat Martha ein einzelnes Kind gezeichnet – meist waren sie immer in großen Gruppen dargestellt, eine Übermacht gegen die Erwachsenen.
»Bevor wir Natalie gefunden haben, Martha, gab es da je einen Tag, an dem du nicht an sie gedacht hast?«
Mir war klar, daß ich die falsche Frage gestellt hatte, und ich kannte auch die Antwort. Dennoch wußte ich, daß wir über Natalie reden mußten. Martha goß kochendes Wasser über die Teeblätter und holte eine große Kuchendose vom Regal.
»Was glaubst du?«
Sie stellte einen Ingwerkuchen auf den Tisch.
»Lange Zeit hatte ich Schuldgefühle. Nicht nur weil sie weggelaufen oder umgekommen war – oder was auch immer. Natürlich auch deswegen, aber hauptsächlich wegen unserer Beziehung.«
Ich wartete. Martha goß zwei Tassen Tee ein und setzte sich dann zu mir an den Tisch.
»Meine letzte Erinnerung an Nathalie ist, daß sie mich anschreit.«
Nachdenklich starrte sie eine Weile in ihre Teetasse, dann fuhr sie fort: »Nein, das ist nicht das, was ich sagen wollte. Meine letzte Erinnerung ist, daß ich sie anschreie.
Natürlich hatten wir eine Menge belangloser Krache, zum Beispiel, wenn ich merkte, daß sie geraucht hatte oder so was. Dann lächelte sie mich mit diesem etwas distan-zierten Lächeln an, ihre typische Miene, wenn man ihr die Meinung sagte, und das machte mich immer schrecklich wütend. Mit solchen Streitereien muß man wohl als Eltern leben, aber nach dieser letzten Auseinandersetzung haben wir uns nicht mehr versöhnt. Manchmal frage ich mich, ob sie mich gehaßt hat, als sie gestorben ist.« Sie lächelte traurig. »Als Alan und ich nach dieser schrecklichen Kreuzfahrt zur Party kamen, wollte ich mit Natalie sprechen, aber es waren zu viele Leute da, so daß ich es wieder verschob. Und dann war es zu spät.«
»Natürlich machst du dir Vorwürfe und hast Schuldgefühle, Martha«, meinte ich, »und natürlich solltest du genau das nicht tun.«
Ich weiß noch, daß ich beim Tod meiner Mutter ganz ähnlich empfunden hatte. In den Wochen nach dem Begräbnis hatte ich entsetzlich unter dem Verlust gelitten, und mir waren lauter Situationen eingefallen, in denen ich meine Mutter kritisiert oder von oben herab behandelt hatte, in denen ich ihre Qualitäten nicht zu schätzen wußte, mich nicht genug bei ihr bedankt hatte. Auch das letzte klärende Gespräch, in dem wir uns mit all den Ecken und Kanten unserer Beziehung hätten versöhnen können, hatte ich nie geführt.
»Du mußt das ganze Leben betrachten, Martha, nicht nur die letzten Wochen oder Tage«, sagte ich lahm.
»Das tue ich auch. Aber dieser letzte Streit hat irgendwie alles auf den Punkt gebracht, was bei uns nicht stimmte.«
Martha blickte mir fest in die Augen. »Ich habe das noch nie jemanden erzählt, Jane.«
»Was hast du noch nie jemanden erzählt?«
»Von diesem Streit mit Natalie.«
Martha nahm das Messer und schnitt zwei Stück Kuchen ab. Bestimmt hatte sie ihn eigens für mich gebacken, als sie erfuhr, daß ich kommen würde.
»Trink deinen Tee, er wird sonst kalt.«
Gehorsam nippte ich an meiner Tasse.
»Es ging um deinen Vater und mich, Jane. Um unsere Beziehung.«
Ich nippte weiter, aber meine Hände fühlten sich plötzlich riesig und unbeholfen an. Vorsichtig stellte ich die Tasse auf den Tisch zurück, ganz langsam, damit ich nichts verschüttete.
»Ach du meine Güte.«
»Im Sommer vor Natalies Tod hatte ich eine kurze Affäre mit deinem Vater. Er und deine Mutter kamen nicht besonders gut miteinander aus, und du kennst ja Alan. Den ganzen Sommer über war er weg, in Amerika. Ich war einsam, die Kinder waren groß, und ich hatte das Gefühl, daß mir mein Leben durch die Finger glitt.«
Sie hielt inne und machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Aber genug davon, ich will mich gar nicht dafür rechtfertigen. Ich bin alles andere als stolz darauf, und es hat auch nicht lang gedauert. Wir haben niemandem etwas davon erzählt. Christopher hat es deiner Mutter verschwie-gen, und Alan hat auch nichts erfahren. Wir waren sehr vorsichtig. Schließlich wollten wir niemanden verletzen.«
Wieder hielt sie inne und nahm einen kleinen Bissen von ihrem Kuchen.
»Aber Natalie fand einen Brief, den Christopher mir geschrieben hatte. Allem Anschein nach hatte sie meine Schubladen durchwühlt, jedenfalls hielt sie ihn mir eines Tages unter die Nase. Komischerweise wirkte sie eigentlich nicht wütend, sondern eher triumphierend. Sie warf mir vor, ich würde immer so tun, als wäre ich etwas Besseres als Alan, und dabei sei ich doch genauso. Sie wollte deiner Mutter und Alan Bescheid sagen. Sie meinte«, Marthas Stimme klang belegt, »sie meinte, das sei ihre Pflicht.«
Martha schwieg. Es war ganz still in der Küche, während sie darauf wartete, daß ich etwas sagte.
»Hat sie es jemanden erzählt?«
»Ich glaube nicht. Nicht daß ich wüßte.«
»Vielleicht hat sie es Alan gesagt.«
»Das weiß ich nicht.«
»Warum erzählst du mir das jetzt, nach all den Jahren?«
Müde zuckte Martha die Achseln. »Vielleicht weil jetzt ein guter Zeitpunkt ist, um alte Familiengeheimnisse zu lüften. Vielleicht weil ich bald sterbe und beichten will.
Und weil ich dachte, du verstehst mich. Vielleicht weil du diejenige bist, die nach der Wahrheit sucht.«
Ich sagte nichts. Ich hätte auch nicht gewußt, was ich erwidern sollte. Ich wußte nicht mal, was ich dachte. Ohne Erfolg versuchte ich mir meinen Vater mit Martha vorzustellen; es gelang mir lediglich, sie zu sehen, wie sie jetzt waren: alt, mit papierdünner Haut und starren Angewohn-heiten. Martha blätterte zurück bis zur Seite mit dem Mädchen und dem Sonnenuntergang.
»Das ist Natalie«, erklärte sie. »Ich weiß, das Mädchen sieht ihr nicht ähnlich, außer der Mund vielleicht. Aber so stelle ich mir sie immer vor, wenn ich an sie denke. Sie war eine Einzelgängerin, weißt du. Sie hat sich zwar für das Leben anderer Menschen interessiert, sie hatte Freunde und ging auf Partys, aber sie war immer allein. Ich war ihre Mutter, und trotzdem habe ich manchmal das Gefühl, sie war eine Fremde. Meine Söhne taten immer furchtbar erwachsen und unabhängig, sie haben mich mit einem Achselzucken links liegenlassen, wenn ihre Freunde in der Nähe waren, aber sie haben mich gebraucht, und sie waren immer so leicht zu durchschauen. Aber von Natalie fühlte ich mich oft zurückgestoßen. Dabei habe ich immer gedacht, wir würden ein besonders enges Verhältnis haben
– zwei Frauen in einem Männerhaushalt.«
Sie stand auf und räumte die Teller ab. »Jetzt mußt du aber die Telefonate erledigen, die du vorhin erwähnt hast, und ich hole dir die Ableger für deinen Garten.« Damit schlüpfte sie in ihre Jacke, nahm eine Gartenschere und verschwand durch die Hintertür.
Mechanisch folgte ich ihrer Anweisung und blätterte in meinem Adreßbuch, bis ich den Namen Judith Parsons gefunden hatte (geborene Gill, eine meiner besten Freundinnen in der High-School). Sie war überrascht und erfreut, daß ich mich bei ihr meldete: Wie ging es mir in London, was machten meine Söhne, war es nicht schrecklich, wie die Zeit verflog, ja es wäre wunderbar, wenn wir uns mal treffen könnten – Brendon und sie fuhren gelegentlich nach London, da würde sie mich mal anrufen. Als wir uns verabschiedeten, fragte ich sie, ganz nebenbei und mit schlechtem Gewissen, ob sie zufällig Chrissie Pilkingtons Nummer hätte. Ich erklärte ihr, daß ich einen Auftrag in der Gegend von Chrissies Haus hätte und dächte, es wäre nett, auch mit ihr wieder Kontakt aufzunehmen. Judiths Begeisterung flaute etwas ab. Ja, sie habe die Nummer, aber Chrissie heiße jetzt Colvin; dankbar notierte ich die Nummer in mein Buch und wählte erneut.
Christine Pilkington, verheiratete Colvin, freute sich allerdings nicht sonderlich, von mir zu hören, was ich gut verstehen konnte. Fünfundzwanzig Jahre waren seit unserer letzten Begegnung verstrichen, und mein Anruf weckte Erinnerungen, die sie sicher lieber verdrängt hätte.
Schließlich erklärte sie sich zögernd bereit, am Spätnachmittag eine Tasse Tee mit mir zu trinken. Ich notierte mir die Wegbeschreibung. Kurz bevor ich auflegte, sagte Chrissie plötzlich: »Mein Mann wird auch da sein, Jane.«
Martha packte die Ableger in meinen Kofferraum, dann deutete sie auf die Stapel mit Kinderbücher auf dem Tisch.
»Die sind für deine Enkelkinder, Jane. Irgendwann mal.«
Und dann umarmten wir uns endlich.
Die Colvins wohnten am Stadtrand von Oxford in einem protzigen Haus mit Swimmingpool und einem Meer von Rhododendron. Ich habe diese Pflanzen schon immer gehaßt: leuchtende Blüten und glänzende Blätter und darunter keine Spur von Leben. Chrissie hätte ich nicht wiedererkannt. Als ich sie das letztemal gesehen hatte, war sie schlank und groß gewesen, mit auffallenden blonden Haaren, die sie stets zu einer Hochfrisur auftürmte. Jetzt schien sie irgendwie kleiner – vielleicht nur deshalb, weil sie soviel breiter geworden war. Ihr rundlicher Körper war in eine enge weiße Hose und eine grüne Bluse gezwängt, dazu trug sie hohe Absätze. Keine Spur mehr von der wilden Schönheit des mageren Mädchens. Ihr dick aufgetragenes Make-up konnte ihre Nervosität nicht verbergen.
Wir schüttelten einander die Hände, und während wir noch zögerten, ob wir uns auf die Wange küssen sollten oder nicht, trat ein untersetzter Mann in einem grauen Anzug aus dem Haus, schloß mich freundlich in die Arme und übertönte Chrissies halbherziges Bemühen, uns bekanntzumachen, mit den Worten: »Wie schön für Chrissie, nach so langer Zeit eine alte Schulfreundin wiederzusehen. Ich habe schon so viel von Ihnen gehört, Jane.« Was ich bezweifelte. »Tee? Oder hätten Sie lieber etwas Hochprozentiges?«
»Tee wäre wunderbar, danke.«
»Gut. Dann lasse ich euch zwei Hübschen jetzt allein, damit ihr euch in Ruhe unterhalten könnt. Ihr habt euch bestimmt viel zu erzählen.«
»Ian ist Geschäftsführer in einer Firma«, sagte Chrissie, als würde das irgend etwas erklären. Wir gingen ins Haus.
Von oben hörte man brave Klavierübungen. »Meine Tochter, Chloe. Leonore ist bei einer Freundin.«
Wir ließen uns im Wohnzimmer nieder, zwischen prall aufgeschüttelten Kissen und Kunstdrucken mit Blumen und Landschaften. Allerdings bot mir Chrissie nicht den versprochenen Tee an.
»Warum bist du wirklich hier?«
»Hast du von der Sache mit Natalie gehört?«
Sie nickte.
»Deshalb.«
Chrissie sah sich nervös um, als erwartete sie, daß ihr Ehemann unter der Tür erschien und lauschte.
»Ich hab dazu nichts zu sagen, Jane. Das ist mehr als zwanzig Jahre her, und ich will nicht mehr daran denken, geschweige denn, darüber reden.«
»Fünfundzwanzig Jahre.«
»Dann eben fünfundzwanzig. Bitte, Jane.«
»Wann hast du Alan zum letztenmal gesehen?«
»Ich hab doch gesagt, ich will nicht darüber reden. Ich will nicht mehr daran denken.«
»Weiß dein Mann, daß du eine sexuelle Beziehung mit Alan Martello hattest, als du fünfzehn warst? Hat er Verständnis für so was?«
Chrissie zuckte sichtbar zusammen und starrte mich an.
Ein bißchen tat sie mir leid, aber innerlich triumphierte ich, weil ich sah, daß sie trotz aller Proteste mit mir sprechen würde. Sie zuckte die Achseln.
»Ich habe Alan seit Natalies Verschwinden nicht mehr gesehen. Ich erwarte ja nicht, daß du es verstehst, aber er war damals für mich so … so faszinierend, wenn du das begreifen kannst. Ich war bloß ein Kind, und er war berühmt, er hat mir Geschenke gemacht und mir gesagt, ich wäre schön.« Sie lachte bitter: »Das kommt einem jetzt komisch vor, was? Als er mit mir ins Bett wollte, hatte ich keine Chance, nein zu sagen.« Sie blickte auf ihre makellosen, rotlackierten Fingernägel und fügte, fast ein wenig selbstgefällig, hinzu: »Beinahe hätte er mein Leben ruiniert. Warum machst du nicht Alan Vorwürfe?«
»Komm schon, Chrissie, übertreib nicht. Es ging nur um Sex. Hast du es nicht auch genossen?«
»Ich weiß nicht. Ich denke nicht darüber nach.«
»Wie hat Martha es erfahren? Alan gibt sonst nicht mit seinen Seitensprüngen an.«
Chrissie musterte mich erstaunt. »Von Natalie natürlich.
Hast du das nicht gewußt? Sie ist uns einmal in den Wald gefolgt. Und hat uns tatsächlich erwischt.«
Auf ihrem Gesicht lag ein selbstzufriedener Triumph.
»Und was ist dann passiert? Habt ihr gesehen, daß sie euch beobachtet?«
»Ja.«
»Und?«
»Was erwartest du? Alan fing an zu jammern, ist zu Natalie gekrochen, hat an ihrem Rock rumgezupft und ihr gesagt, sie sei doch sein liebes kleines Mädchen, sie solle ihrem alten Vater seine kleinen Eskapaden nachsehen, sie wisse doch, wie die Männer sind und wie furchtbar weh es Martha tun würde. Es war ganz schön peinlich.«
»Was hat Natalie gemacht?«
»Sie ist einfach weggegangen.«
»Und Alan?«
Sie sah mir direkt ins Gesicht. Zum erstenmal erkannte ich den herausfordernden, furchtlosen Blick der heran-wachsenden Chrissie. »Er hat mich wieder auf den Boden geschubst und mich gefickt. Ich glaube, die ganze Sache hat ihn erregt. Aber es war das letztemal.« Eine eisige Stille folgte. »Jetzt kannst du alles meinem Mann erzählen.«
»Danach bist du mit Theo gegangen, stimmt’s?«
»Frag ihn doch.«
»Und was ist mit Natalie? Du weißt, daß sie schwanger war, oder?«
»Ich hab die Zeitung gelesen.«
»Wer, glaubst du, war der Vater?«
»Das weiß ich nicht. Dieser Dingsbums, Luke McCann vermutlich.«
Als ich wegfuhr, winkte mir Chrissies erfolgreicher Ehemann fröhlich nach.
»Kommen Sie bald wieder, Jane. Es freut mich immer, Chrissies alte Freundinnen bei uns zu begrüßen.«
Aus dem Auto sah ich Chrissie, eine Frau mittleren Alters mit zu dick aufgetragenem Lippenstift, und am oberen Fenster ein Mädchen, vermutlich Chloe, die klavierspielende Tochter. Sie sah genauso aus wie Chrissie vor fünfundzwanzig Jahren. Bestimmt schwer zu verkraf-ten für ihre Mutter.
18. KAPITEL
Entgegen aller Erwartungen merkte ich, daß durch die Therapie mein Bedürfnis, andere zu verurteilen, abnahm.
Statt mir über Martha und Chrissie stundenlang das Hirn zu zermartern oder in Gedanken eine fruchtlose Debatte über sie zu führen, konnte ich jetzt mit Alex darüber sprechen. Weder schockierte ihn, was ich erzählte, noch machte es ihn an, und obgleich er mich manchmal kritisierte – gelegentlich sogar ziemlich heftig –, mußte ich mich nie bei ihm entschuldigen. Wenn es darauf ankäme, wäre er auf meiner Seite, davon war ich fest überzeugt. Ich vertraute ihm. Na ja, wem sollte ich sonst vertrauen?
Am Tag nach meiner Rückkehr nach London erschien ich mit einer Menge Weihnachtspäckchen bei ihm, als wäre ich auf der Durchreise. Ich lehnte meine Taschen und Beutel gegen die Couch. Während ich redete, ließ ich die Finger hin und wieder über das zerknitterte Plastik gleiten
– das gab mir das beruhigende Gefühl, daß es noch normale Dinge gab. Als ich von Martha und meinem Vater erzählte, befürchtete ich schon, Alex würde lachen, weil sich die Geschichte so ungeheuer banal und jämmerlich anhörte. Aber er lachte nicht und äußerte auch kein albernes Mitgefühl. Dann beschrieb ich meine Begegnung mit Chrissie, etwas besorgt, er würde sich vielleicht ärgern über meinen neuerlichen Versuch, die Amateurdetektivin zu spielen. Etwas kleinlaut wiederholte ich das, was Chrissie mir über Alan und Natalie offenbart hatte, und zu meiner Überraschung nickte Alex interessiert.
»Ich kann Sie nicht von Ihrer Schnüffelei abbringen, was?«
Er klang ein bißchen verzweifelt, mehr nicht.
»Ich schnüffle nicht, Alex. Ich stöbere nur ein bißchen herum. Ich habe ständig das Gefühl, ich müßte etwas suchen. Ich weiß nur nicht genau, was.«
»Ja.« Alex klang sehr nachdenklich. »Ich frage mich nur, ob Sie vielleicht am falschen Ort suchen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie sind wirklich faszinierend, Jane. Sie beherrschen irgendeinen ganz raffinierten Zaubertrick. Wenn Sie in die eine Richtung deuten, habe ich sofort das Gefühl, das Wichtige passiert irgendwo ganz anders.«
»Das ist mir zu hoch.«
»Natürlich führen Sie sich selbst auch an der Nase herum. Etwas Bedrohliches liegt vor Ihnen, und Sie wollen es finden und ihm gleichzeitig um jeden Preis aus dem Weg gehen.«
»Was wollen Sie denn damit sagen, Alex? Glauben Sie, ich bin auf der richtigen Spur?«
Wieder kehrte eine von Alex’ langen Pausen ein. Ich spürte meinen Atem und mein Herz, das wie ein Gummiball in meiner Brust hüpfte. Gleich würde etwas passieren, etwas Wichtiges.
»Mir scheint, Jane, Sie sind auf dem richtigen Weg –
insofern, als ich glaube, daß es mit Sicherheit etwas zu finden gibt. Aber Sie suchen an der falschen Stelle. Sie unterhalten sich mit Leuten, die Ihre Probleme unmöglich lösen können. Wo Sie wirklich suchen sollten, ist hier drin.«
Als ich Alex’ kühle Hand auf meiner Stirn spürte, wäre ich fast von der Couch gesprungen. Es war nicht das erste Mal, daß er mich berührte, aber es fühlte sich erschreckend vertraut an. Ganz bestimmt hatte er mich irgendwie mißverstanden.
»Alex, ich bestreite nicht, daß Ihre Therapie wichtig ist und mir hilft. Aber wenn ich mit anderen Leuten spreche, dann habe ich das Gefühl, daß ich auf meine verwirrte und übertriebene Art etwas Bestimmtes suche. Ich suche etwas da draußen, die Wahrheit über etwas, das wirklich passiert ist.«
»Glauben Sie, ich rede von etwas anderem?«
»Was meinen Sie damit? Wollen Sie behaupten, daß ich die Antwort bereits kenne? Daß ich weiß, wer Natalie getötet hat?«
» Wissen ist ein sehr kompliziertes Wort.«
Plötzlich kribbelte etwas auf meiner Haut.
»Sagen Sie, Jane, Sie haben sich doch an die Stelle zurückversetzt, an der Natalie zum letztenmal gesehen wurde. Ihr Engagement dabei hat mich sehr beeindruckt.
Aber ich würde ganz gern noch von Ihnen wissen, welche Gefühle dieser Ort in Ihnen weckt? Macht er Ihnen Angst?
Meinen Sie, dort erwartet Sie irgend etwas? Ein Geheimnis?«
Auf einmal wurde mir eiskalt, was mir allerdings immer passierte, wenn ich längere Zeit auf der Couch lag, obwohl Alex’ Haus gut geheizt war.
»Ja, er macht mir Angst. Warum interessiert Sie das, Alex?«
»Ich habe immer versucht, Ihnen zu folgen, Jane. Ich habe Sie gefragt, wo der Kernpunkt von Natalies Verschwinden liegt, und Sie haben mir eine Landschafts-beschreibung gegeben. Ich möchte Sie dorthin schicken und sehen, was Sie vorfinden. Meinen Sie, das wäre einen Versuch wert?«
»Ja, in Ordnung.«
Also spielten wir unser inzwischen vertrautes Ritual durch. Alex’ Lob freute mich, ich kam mir beinahe vor, als wäre ich seine Musterschülerin. Er sprach leise auf mich ein. Mein Körper entspannte sich, ich schloß die Augen und versetzte mich wieder an den Col. Mit jeder Sitzung fiel mir das leichter. Ich saß wieder am Fuß von Cree’s Top, den Rücken an den trockenen bemoosten Felsen gelehnt, links von mir strömte der Fluß, die letzten zusammengeknüllten Papierfetzen verschwanden um die Biegung. Rechts lag der Waldrand mit den großen Ulmen.
Es gelang mir, ohne weitere Anweisung aufzustehen und mich umzusehen. Jetzt war der Fluß rechts; er strömte auf mich zu und verschwand hinter mir. Die Ulmen und der Wald lagen zu meiner Linken. Ich blickte zu dem Pfad, der sich Cree’s Top hinaufschlängelte, gesäumt von dichten Büschen, hin und wieder zwischen ihnen verborgen. Dennoch konnte ich ihn fast vollständig überblicken. Heute wirkte alles viel lebendiger. Das Grün der Blätter war satter; sie hoben sich im Sonnenlicht deutlicher voneinander ab. Wenn ich den Kopf drehte, konnte ich mich auf jeden beliebigen Teil meiner Umgebung konzentrieren und ihn näher betrachten, sogar die kleinen Kiesel auf dem Weg, welche von vorüberge-henden Füßen zur Seite gestoßen worden waren, von Füßen, die den Weg ausgetreten hatten, so daß auch größere Steine und Baumwurzeln zum Vorschein kamen.
Fast ohne eigenes Zutun schickte ich mich an, den Pfad entlangzugehen. Als ich zu Boden blickte, sah ich, daß ich weiße Tennisschuhe anhatte, die Sorte, die ich seit dem Ende der Schulzeit nicht mehr getragen hatte. Jetzt war ich schon ein ganzes Stück den Hügel hinaufgestiegen und hatte mich ziemlich weit von der Stelle entfernt, an der ich zuvor gesessen hatte. Wandte ich mich nach rechts, blickte ich den Abhang hinab zum Fluß, schaute ich nach links, sah ich den Wald, wo er sich Richtung Stead hinzog. Doch plötzlich verdunkelte sich alles. Ich blickte auf – eine dicke schwarze Wolke zog am Himmel über mich hinweg.
Die Luft wurde kalt, ich schauderte. Blitzschnell drehte ich mich um und lief den Hügel hinunter. Sorgfältig nahm ich meine vorige Position wieder ein und spürte wieder den harten Felsen an meinem Rücken.
Wenig später beschrieb ich Alex, was geschehen war.
»Warum sind Sie nicht weitergegangen?«
»Ich hatte Angst.«
»Große Mädchen brauchen keine Angst zu haben.«
19. KAPITAL
»Hallo?«
»Kann ich bitte mit Jane Martello sprechen?«
»Ja, was ist denn los?«
Ich war schlecht gelaunt. Zum vierten Mal an diesem Vormittag rief mich jemand von der Stadtverwaltung an, um über neue Veränderungen am Wohnheim zu sprechen.
Morgen sollte der Ausschuß zusammentreten und die Genehmigung für das neue Budget geben – oder auch nicht. Die Gelder waren schon jetzt so zusammenge-strichen und an so viele Bedingungen geknüpft, daß ich meinen Namen dafür eigentlich gar nicht mehr hergeben wollte.
»Jane, hier spricht Caspar. Caspar Holt.«
»Wie bitte?«
»Es war nicht notwendig, aber trotzdem vielen Dank für Ihre Postkarte.«
Der Philosoph! Ich setzte mich hin und mußte erst einmal tief Luft holen.
»Oh, ja klar. Ich wollte mich nur für mein Benehmen neulich abends entschuldigen.«
»Unter den gegebenen Umständen haben Sie sich sehr selbstbewußt verhalten. Ich würde zu gerne wissen, ob Sie vielleicht Lust hätten, sich mit mir zu treffen?«
O Gott, eine Verabredung.
»Hm, gern. Ich meine, wann hatten Sie denn gedacht?«
»Wie wäre es mit sofort?«
»Jetzt gleich?«
»Na ja, vielleicht in einer halben Stunde.«
Ich hatte noch die letzten Einzelheiten für das Ausschuß-
treffen zu klären und mußte mir unbedingt die Haare waschen. Kein guter Tag, eher einer, an dem Hektik und schlechte Laune vorprogrammiert waren.
»Geben Sie mir eine Stunde. Wo wollen wir uns treffen?«
»Lincoln’s Inn Fields Nummer dreizehn. Ich warte draußen auf Sie.«
Die Details für den Ausschuß herauszusuchen schaffte ich nicht mehr. Aber immerhin wusch ich mir die Haare.
Er stand vor dem Gebäude und trug den selben unförmigen Tweedmantel, den er in der Kunstakademie angehabt hatte. Da er in die Lektüre eines Taschenbuchs vertieft war, konnte ich ihn mir genauer ansehen, ehe er mich entdeckte. Er hatte die langen aschblonden Locken aus der Stirn gekämmt und trug eine runde Nickelbrille.
»Das Museum von Sir John Sloane«, sagte ich.
»Kommen Sie immer hierher, wenn Sie sich zum erstenmal mit einer Frau verabreden?«
Überrascht blickte er auf. »Ja, das erklärt wahrscheinlich meinen Erfolg bei Frauen. Aber es kostet nichts, und irgendwie fühle ich mich da drin, als würde ich im Gehirn eines Mannes herumwandern.«
»Ist das ein angenehmes Gefühl?«
Als wir durch die Tür ins Innere des seltsamen Hauses gingen, berührte er mit der Hand ganz leicht meine Schulter. Eine Treppe führte zu den oberen Etagen, eine andere ins Untergeschoß. Caspar dirigierte mich zuerst in ein dunkel rostrot gestrichenes Zimmer. Überall standen merkwürdige Gegenstände, architektonische Fragmente, archaische Werkzeuge, exzentrische Kunstwerke.
»Sehen Sie sich das an«, sagte Casper und deutete auf eine formlose Masse. »Das ist ein Pilz aus Sumatra.«
»Ein was?«
»Na ja, eigentlich ist es eine Art Schwamm.«
Wir durchquerten unvorstellbar schmale Korridore, die sich zu noch unvorstellbareren Ausblicken öffneten, hinauf und hinunter, überall gesäumt von einem Sammel-surium sonderbarer Objekte.
»Jedes Zimmer ist wie ein separater Teil des Gehirns, das alles hier entworfen hat«, meinte er. Ich bemerkte, daß seine Fingerknöchel rote Farbflecke hatten und sein Hemdkragen verschlissen war.
»Wie ein männliches Gehirn vielleicht«, entgegnete ich etwas süffisant.
Er grinste. »Ordentlich eingeteilt, meinen Sie. Mit irgendwelchem Zeug vollgestopft. Vielleicht. Vielleicht haben Sie recht. Man merkt, daß es nicht einer Frau gehört hat, oder? Manchmal komme ich in der Mittagspause hierher und staune, wie ein ganzes Menschenleben in ein Haus gepackt sein kann. Es ist so nach innen gerichtet, finden Sie nicht? Aber gleichzeitig auch nach außen.«
»Ist das Ihr Standardvortrag?« fragte ich.
»Tut mir leid, gehe ich Ihnen auf die Nerven?«
»Ich hab nur Spaß gemacht.«
Wir gingen ins obere Stockwerk, in den großen Gemäldesaal, der in einem tiefen Safrangelb gehalten war.
Der Schein der Wintersonne, die durch die Bogenfenster hereinschien, ließ die gedeckten, vielfältigen Farben aufleuchten; der Raum war kühl und ernst wie eine Kirche. Zusammen gingen wir an Hogarths Rake’s Progress entlang – ein wildes, zorniges Werk. Vor The Madhouse blieb Caspar stehen.
»Sehen Sie«, sagte er. »Zelle fünfundfünfzig, der Mann da mit dem Zepter und dem Topf auf dem Kopf, er uriniert gerade. Schauen Sie sich den Gesichtsausdruck der beiden eleganten Damen an.«
Ich betrachtete die groteske Szene mit ihren dunklen Figuren in verzerrten Haltungen und schauderte.
»Das ist Bethlehem’s Hospital, das berüchtigte Bedlam.
Es stand in Moorfields, direkt vor der Stadtmauer.
Hogarths Vater war wegen seiner Schulden im Gefängnis, und das hat ihn stark beschäftigt. Sehen Sie sich das Gesicht dieser knienden alten Frau an, Jane, sie wirkt kaum noch wie ein Mensch.«
Ich sah ihn an. Seltsam, wie er meinen Namen sagte.
Plötzlich merkte ich, daß es lange her war, seit ich mich das letztemal glücklich gefühlt hatte. Neben Caspar, in einem Haus, das dem Gehirn eines Mannes glich, war es, als lichte sich der dunkle Nebel, in dem ich so lange gelebt hatte, als öffne sich ein Fenster in eine neue, eine hellere Zukunft. Ich sah die Welt, ich sah den Himmel. Eine Weile stand ich ganz still, fühlte Hoffnung in mir aufsteigen. Unsere Blicke trafen sich.
»Kommen Sie«, sagte Caspar. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Wir stiegen die Treppe wieder hinunter und durchquerten zwei Räume.
»Sehen Sie mal hier durch.«
Es war eine Art Totempfahl, der aus Einzelteilen verschiedener Säulen zusammengesetzt war. In ihn war der Name »Fanny« eingeritzt. Ich wandte mich zu Caspar um.
»Und?« fragte ich.
»Das ist das Grab des Hundes, der John Sloanes Frau gehört hat. Aber seine Tochter hieß auch so.«
»Ich dachte, Fanny wäre ein Name, den man wegen seiner anrüchigen Nebenbedeutungen nicht mehr benutzen darf.«
»Ich habe versucht, ihn wiederzubeleben.«
»Sind Sie verheiratet?«
»Nein. Ich lebe allein.«
»Tut mir leid.«
»Das muß es nicht.«
Draußen blinzelten wir im kühlen Winterlicht und grinsten uns etwas dümmlich an. Dann warf Caspar einen Blick auf seine Armbanduhr.
»Mittagessen?«
»Geht eigentlich nicht.«
»Bitte.«
»Na gut.«
Wir spazierten nach Soho, an den Delis und Sexshops vorbei, zu einem italienischen Café-Restaurant. Dort bestellten wir Toast mit Ziegenkäse, halb geschmolzen, und grünen Salat. Obwohl ich tagsüber eigentlich keinen Alkohol trinke, genehmigten wir uns beide ein Glas Weißwein. Nach einem Blick auf meine unberingte Hand erkundigte sich Caspar, ob ich verheiratet sei. Früher mal, antwortete ich. Und ich fragte ihn, wie alt seine Tochter war. Fünf. Viele Leute meinten, er wäre eine Art Superman, weil er das tat, was Hunderttausende Frauen tun, ohne daß jemand davon Notiz nimmt.
»Bevor es Fanny gab, wußte ich nicht, was Liebe ist – so albern dieses Mädchen manchmal auch sein kann«, sagte er.
Ich erzählte ihm von Robert und Jerome, wie groß und erwachsen sie waren, wie sie mich beschützten, mir stets hilfreich zur Seite standen, und er erwiderte, er würde sie gern irgendwann mal kennenlernen. Eine Hoffnung erwachte in mir – möglicherweise gab es ja eine Zukunft, ein »irgendwann mal«. Mir wurde schwindlig, ich bekam Angst. Also zündete ich mir eine Zigarette an und sagte dann, ich müsse gehen. Er versuchte nicht, mich aufzu-halten, brachte mich nur zu meinem Fahrrad, sah mir zu, wie ich fahrig mit meinem Schloß und dem Helm herum-hantierte und schließlich unsicher davonradelte.
Ich kam mir vor wie ein Teenager, schwindlig vor Aufregung, und gleichzeitig fühlte ich mich wie eine alte Frau, die mit Hunderten kleiner, einschneidener Fesseln in ihr Gefängnis zurückgezerrt wird. Ich konnte eine Affäre mit Caspar anfangen – nein, als ich daran dachte, wie er mir die Hand so sanft auf die Schulter gelegt und mich mit seinen grauen Augen angesehen hatte, wußte ich, daß eine Beziehung mit Caspar möglich war. Wir konnten nicht einfach eines Abends nach einer Flasche Wein miteinander ins Bett steigen, nein, wir würden uns in der Vergangenheit des anderen vertiefen, alte Wunden auf-decken, dem berauschenden Schmerz der Liebe verfallen.
Das Problem lag nicht darin, daß ich für so etwas nicht bereit gewesen wäre – das sagen einem die Therapeuten immer: Man soll warten, bis man wieder stark ist, bis man gelernt hat, mit der Einsamkeit zu leben. Ha, ich war mehr als bereit. Ich hatte mich vor langer Zeit zum letztenmal der Liebe geöffnet. Es konnte losgehen, aber ich hatte Angst. Ich war müde. In meinen Schläfen pochten leichte Kopfschmerzen. Das hatte ich nun davon – Weißwein zum Mittagessen.
Ich radelte die mit Weihnachtslichtern geschmückte Oxford Street entlang. Gott, wie ich die penetranten Disney-Figuren hasse, die heutzutage alles andere verdrängen. Ich hatte meine Weihnachtseinkäufe noch nicht ganz erledigt, nur für Dad hatte ich ein Fernglas erstanden und ansonsten eine Menge lächerlicher Kleinigkeiten für den Nikolausstrumpf. Diese Sitte hatten wir beibehalten, nachdem die Kinder längst entdeckt hatten, daß ich der Weihnachtsmann war. Den frühen Weihnachtsmorgen hatte ich schon immer am liebsten gemocht.
Dann drängelten sich alle in meinem Schlafzimmer, setzten sich aufs Bett und zogen Unterhosen, Seife oder Korkenzieher aus den zweckentfremdeten Kissenbezügen.
Auf einmal fiel mir ein, daß ich dieses Jahr an Weihnachten vielleicht allein sein würde; natürlich kamen die Jungs zum Essen, und auch mein Vater. Ich spielte sogar mit dem Gedanken, Claud einzuladen, weil ich die Vorstellung nicht ertragen konnte, wie er ein ordentlich abgepacktes TV-Dinner zu sich nahm. Andererseits besuchte er wahrscheinlich Martha und Alan. Es konnte aber genausogut sein, daß ich am Weihnachtsmorgen in einem leeren Haus aufwachte.
Einen Augenblick lang zog ich in Erwägung, mich in den heißen, parfümduftenden Rachen eines der Warenhäuser zu stürzen und wahllos ein paar Hemden, Krawatten und Unterhosen für meine Söhne zu ergattern. Aber sie haßten Hemden und Krawatten aus Warenhäusern, und es war auch lange her, daß ich zum letztenmal etwas zum Anziehen für sie ausgesucht hatte. Einem plötzlichen Impuls folgend, radelte ich zu einem meiner Lieblingsläden in London – dem Hutladen in der Jermyn Street –
und erstand dort drei wunderschöne und furchtbar teure Filzhüte: einen braunen für Jerome, einen schwarzen für Robert und einen flaschengrünen für Kim. Ich hängte die Tüte an den Lenker und fuhr nach Camden, wo ich kleine Förmchen für die Schokoladentrüffel kaufte, die ich für alle machen wollte, und dazu noch ein paar hübsche grüne Glasbehälter. In einem Laden entdeckte ich Ohrringe in Form von zwei kleinen silbernen Schachteln. Obwohl sie viel zu teuer waren, kaufte ich sie für Hana und bekam dazu eine süße, bänderverzierte Verpackung.
Abends legte ich meine drei Neil-Young-Platten auf, während ich Tomaten-Chutney kochte, in die grünen Gläser füllte und mich danach den Schokoladentrüffeln aus dunkler Bitterschokolade zuwandte. Zum Schluß wälzte ich die Kugeln in Kakao und legte sie in die kleinen Förmchen. Morgen würde ich sie in Schachteln verpacken. Die ganze Küche roch nach einem Gemisch von Essig und bitterer Schokolade. Da ich nach getaner Arbeit immer noch aufgeputscht und energiegeladen war, goß ich mir ein großes Glas Rotwein ein und zündete mir eine Zigarette an.
Ausgerüstet mit einem gerade richtig angespitzten Bleistift und meinem Lieblingslineal machte ich mich daran, einen Grundriß meines Hauses zu zeichnen; auf die klaren Linien des Daches setzte ich ein fettes kitschiges Engelchen. Später wollte ich die Zeichnung im Büro auf weißen Karton kopieren und als Weihnachtskarte verschicken.
Ich schenkte mir noch ein Glas Wein ein – die Kopfschmerzen hatten sich glücklicherweise gelegt – und rauchte eine weitere Zigarette. Vielleicht würde ich im neuen Jahr das Rauchen aufgeben. Durchs Fenster sah ich, daß der Mond beinahe voll war, und ohne lange nachzudenken, schlüpfte ich in einen dicken Mantel, der Robert gehörte, und ging hinaus in den Garten. Die Nacht war wunderschön, klar und eiskalt. Die Sterne wirkten groß und nah, die Zweige der Birn- und Kirschbäume hoben sich dunkel vom Nachthimmel ab.
An einem Ende des Gartens, unter dem verwilderten Lorbeerbaum, lag der Friedhof der zahlreichen Haustiere meiner Söhne: Hamster, Meerschweinchen, zwei Kaninchen, ein Wellensittich. Auf dem Rasen hatten die Jungs Fußball gespielt und sich im Schlamm gewälzt. Im Frühling und im Herbst verbrachten wir ganze Wochenenden im Garten, und in deren Verlauf setzten wir alle möglichen Samen. Leider buddelten die Katzen aus der Nachbarschaft die meisten wieder aus. Im April blühten die Obstbäume, die zarten Blüten der Birnen und Kirschen, die wachsigen Kerzen der Magnolie, und für ein paar Wochen verwandelte sich der Garten in einen Ort erstaunlicher Schönheit und Anmut.
Bei sonnigem Wetter saßen Claud und ich hier draußen und schlürften unsere Drinks. Wir gaben Sommerpartys mit Keksen und Erdbeeren; und die Jungs verteilten Unmengen von Chips. Es gab Grillfeste ohne Ende, manche mit Hotdogs und Limonade, manche mit Makrelen nach einem alten Südstaatenrezept und Pilzen in einer würzigen Marinade. Hier setzte mein Gedächtnis wieder aus: Da war etwas, woran ich mich nicht erinnern konnte. Was hatte Alex mir geraten? Ich sollte meine Erinnerungen kommen lassen.
Mein Weinglas in der einen, die Zigarette in der anderen Hand, faßte ich einen frühzeitigen Neujahrsvorsatz: Ich wollte die Landschaft meiner Erinnerung erforschen, bis ich zu ihrem Herzstück vorgedrungen war. Danach würde ich mir gestatten, glücklich zu sein.
Mir kam nicht einmal in den Sinn, daß ich das zweite Vorhaben schon vor dem ersten in die Tat umsetzen konnte.
20. KAPITEL
»Was will er?«
»Er möchte ein Fernsehteam zum Weihnachtsessen mitbringen.«
»Aber das ist doch lächerlich. Zuerst mal – welches Fernsehteam würde sich schon bereit erklären, an Weihnachten zu arbeiten?«
»Ich glaube, das ließe sich einrichten. Es wäre so was ähnliches wie die alljährliche Commonwealth-Botschaft der Queen.«
»Jane, du hast doch nicht etwa zugesagt?« Eigentlich kreischte Kim nie, aber jetzt hörte es sich eindeutig so an.
»Na ja, es war alles so kompliziert. Ich meine, Paul bedeutet es offensichtlich sehr viel, und er hat schon eine Menge Arbeit reingesteckt. Vermutlich spielt auch die Überlegung mit, daß ich jetzt schon so weit gegangen bin und den Rest auch noch überstehen werde.«
»Du schlägst also allen Ernstes vor, daß Paul und Erica und natürlich auch Rosie am ersten Weihnachtstag hier mit laufenden Kameras antanzen und dich beim Truthahn-braten filmen? Himmel, Jane, dein Vater wird hier sein.
Und Robert und Jerome. Und ich mit Andreas.«
»Sie werden ja nicht den ganzen Tag bleiben. Sie wollen bloß einen kurzen Eindruck von der Familie an Weihnachten Bekommen. Bis zum Essen sind sie längst wieder weg.«
Am anderen Ende der Leitung erklang ein Gurgeln, und ich erkannte zu meiner großen Erleichterung und Freude, daß Kim kicherte.
»Hilfst du mir dabei, Kim? Das durchzustehen, meine ich.«
»Keine Sorge, aber was soll ich anziehen? Ich war noch nie im Fernsehen. Waren es Streifen oder Punkte, die verboten sind?«
»Bitte schön, einen trockenen Sherry und dazu einen Mince Pie.«
Der Sherry war blaßgelb, der Mince Pie heiß und würzig. Vorsichtig ließ ich mich auf dem Sofa nieder, das aussah, als wäre es soeben mit aufgeschüttelten Kissen vom Kaufhaus angeliefert worden. Ich kam mir vor wie eine Fremde, wie ein höflicher Gast.
»Es ist sehr schön hier.«
Das Zimmer sah tadellos aus, fast als sollte es für einen farbigen Werbeprospekt fotografiert werden. An den elfenbeinfarbenen Wänden hingen sechs kleine Drucke.
Ein quadratischer Teppich lag genau in der Mitte des Parkettfußbodens. Zu beiden Seiten des Sofas standen neue Sessel, ein Buch über normannische Kirchen und ein zusammengefaltetes Exemplar des Guardian zierten den kleinen Couchtisch. Auf dem alten, frisch polierten Klavier blühte ein hübscher Kaktus, und auf einem Ständer in der Ecke prangte ein kleiner Weihnachtsbaum mit einer weißen Lichterkette. Von meinem Platz aus –
noch immer hielt ich anmutig meinen Sherry und meinen Mince Pie – konnte ich eine Küche sehen, die so blitzsauber war, daß ich mich fragte, ob Claud überhaupt jemals dort kochte.
»Ja, mir gefällt es auch. Ich hab es genau so eingerichtet, wie ich es mir immer gewünscht habe.«
Über den akkurat aufgeräumten Raum hinweg lächelten wir uns nervös an. Ich dachte unwillkürlich an das Chaos in meiner Küche: riesige Schalen mit Saftorangen, stapelweise Rechnungen und unbeantwortete Briefe, Listen, die ich geschrieben und danach nie wieder angeschaut hatte, zerbrochene Teller, die ich schon ewig hatte kleben wollen, Weihnachtskarten, die ich an einer Schnur aufhängen wollte, wozu ich aber leider noch nicht gekommen war, zwischen den Tassen auf dem Geschirrschrank ein Mistelzweig, an den sich traurige Erinnerungen knüpften, den ich aber trotzdem nicht weggeworfen hatte, Vasen mit Narzissen, überall im Zimmer verteilt, in unordentlichen gelben Bündeln, Zettel mit Architekturzeichnungen, die ich angefangen, aber nicht vollendet hatte, Fotos, die noch nicht ins Album eingeklebt worden waren, Dutzende von Büchern, aus Zeitschriften ausgeschnittene und nicht eingeordnete Rezepte, eine halbvolle Flasche Wein. Und natürlich eine nadelnde Fichte, deren chaotische Dekoration das Werk der Jungs war; Weihnachtsbäume, so behaupteten sie, müssen farbenfroh und frech aussehen. Also hatten sie die herrlichen rosaroten und türkisfarbenen Kugeln ausgegraben, die Glitzersterne, die ganzen Klunker, die sich im Lauf der Jahre angesammelt hatten, und hatten den Baum damit behängt. Ich schlug Claud vor, wir könnten doch ein wenig Musik hören.
»Ich habe keine«, antwortete Claud.
»Wo sind denn alle deine CDs?«
»Die gehörten zu einem anderen Leben.«
»Wenn du sie nicht wolltest, warum hast du sie dann mitgenommen?«
»Weil sie nicht dir gehörten.«
Ich war entsetzt. »Willst du mir allen Ernstes erzählen, daß du alles an Musik, was du im Lauf der Zeit gesammelt hattest, einfach mir nichts, dir nichts in den Müll hast wandern lassen?«
»Ja.«
Ich blickte mich im Zimmer um. Jetzt erst begriff ich, daß Claud mit chirurgischer Präzision jeden Hinweis auf unser gemeinsames Leben, auf unsere Familie entfernt hatte. Hier herrschte keine Ordnung. Hier herrschte gähnende Leere.
»Claud«, platzte ich heraus, »wie erinnerst du dich an Natalie?« Im selben Augenblick, als ich die Frage stellte, wußte ich, daß sie sonderbar und mysteriös klang.
» Wie ich mich an sie erinnere?«
»Ich meine, ich habe mit vielen Leuten über Natalie gesprochen, und es erschien mir seltsam, daß ausgerechnet wir beide uns nie über sie unterhalten haben.«
Claud ließ sich in einem Sessel nieder und musterte mich mit jener professionellen Miene, die mich an ihm schon immer geärgert hatte.
»Findest du nicht, daß dein Engagement allmählich ein wenig zu weit geht, Jane? Ich meine, wir alle – Natalies richtige Familie, um es mal ganz deutlich zu sagen –, wir alle versuchen, unser Leben weiterzuleben. Ich weiß nicht recht, ob es da sonderlich hilfreich ist, daß du, aus welchen privaten psychischen Beweggründen auch immer, in unserer Vergangenheit herumwühlst. Ermutigt dich dein Analytiker dazu?«
Sein Benehmen war freundlich und korrekt, und ich kam mir vor wie ein Schulkind, zerzaust und zappelig auf Clauds makellosem Sofa.
»Okay, Claud, das war die Moralpredigt – also, wie erinnerst du dich an sie?«
»Sie war süß, klug und liebevoll.«