Nicci French
Der Glaspavillon
scanned by unknown
corrected by Ch
Als an einem trüben Herbsttag im Park des Landhauses der Familie Martello ein Skelett gefunden wird, stürzt mit einem Schlag eine scheinbar wohlgeordnete Welt zusammen. Denn bei der Toten handelt es sich um Natalie, die seit fünfundzwanzig Jahren spurlos verschwundene Tochter des Hauses. Nach den ersten Analysen steht fest, daß sie ermordet wurde. Aber noch etwas kommt ans Tageslicht: Die damals 16jährige Natalie war schwanger. Die Familie ist schockiert – und flüchtet sich in Schweigen. Nur Jane Martello ist bereit, sich mit der lange verdrängten Vergangenheit zu beschäftigen.
Auf eigene Faust macht sie sich auf die Suche nach der Lösung des dunklen Geheimnisses. Doch diese Suche wird für sie zur beängstigenden Begegnung mit dem eigenen Ich …
ISBN: 3-570-00058-3
Original: Memory Game
Deutsch von Petra Hrabak, Barbara Reitz und Christine Strüh Verlag: C. Bertelsmann
Erscheinungsjahr: 1997
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch
Immer an einem Wochenende im Spätherbst treffen sich die Mitglieder der Martello-Familie auf ihrem feudalen Landsitz zur Pilzsuche. Es ist jedes Jahr ein fröhliches Zusammenkommen, der Auftakt zur kommenden Saison.
Doch diesmal wird im Park des Anwesens ein Skelett gefunden, und mit einem Schlag stürzt eine scheinbar wohlgeordnete Welt zusammen. Denn bei der Toten handelt es sich um Natalie, die seit einem Vierteljahrhundert verschwundene Tochter des Hauses – ein wunderschönes junges Mädchen, in dem sich die Hoffnungen und Träume der Familie verkörperten. Und noch eines kommt ans Tageslicht: Die damals 16jährige Natalie war schwanger. Die Familie ist schockiert.
Welches düstere Geheimnis lag all die Jahre über Glück und Wohlstand? Vor allem Jane, Ehefrau des ältesten Sohnes Claud und Natalie wie eine Schwester verbunden, spürt tiefe Unruhe. Als lägen schwere Schatten auf ihr, die sie nicht erklären kann. Auf eigene Faust macht sie sich auf die Suche nach der Lösung des dunklen Geheimnisses.
Doch diese Suche wird für sie zur beängstigenden Begegnung mit dem eigenen Ich …
Mit großem psychologischen Gespür legt Nicci French Schicht für Schicht den Blick in eine entsetzliche Vergangenheit frei, und der Leser folgt ihr gebannt bis zur letzten Seite. Diese Autorin ist eine wahre Entdeckung!
Autor
Nicci French ist Journalistin und lebt in London. »Der Glaspavillon« ist ihr erster Roman, der bereits im Vorfeld seines Erscheinens international für Furore gesorgt hat.
FÜR EDGAR, ANNA, HADLEY UND MOLLY
1. KAPITEL
Ich schließe die Augen. In meinem Kopf ist alles noch da.
Der morgendliche Dunst, der sich den Konturen des Bodens anschmiegt. Die beißende Kälte, die mir in der Nase schmerzt. Ich muß alle Kraft aufbieten, wenn ich mir ins Gedächtnis zurückrufen will, was sich an jenem Tag, an dem wir die Knochen – ihre Knochen – entdeckten, sonst noch zugetragen hatte.
Als ich den rutschigen, grasbewachsenen Abhang vor dem Haus hinabging, sah ich, daß die Arbeiter bereits warteten. Sie hielten Becher mit Tee in den Händen und rauchten. Ihr warmer, feuchter Atem stieg in Dampf-wolken vor ihren Gesichtern auf. Zwar war erst Oktober, doch so früh am Morgen konnte man die Sonne hinter den Nebelschwaden nur erahnen. Ich hatte meinen Overall eine Spur zu ordentlich in die Gummistiefel gesteckt, während die Männer natürlich die übliche Kluft der Landbewohner trugen: Jeans, Acrylpullover und schmutzige Lederstiefel. Um sich warm zu halten, traten sie von einem Bein aufs andere, und sie lachten über etwas, das ich nicht hören konnte.
Als sie mich erblickten, verstummten sie sofort. Da wir uns alle seit Jahren kannten, wußten sie nicht so recht, wie sie sich mir gegenüber verhalten sollten – jetzt, da ich ihr Boß war. Mir hingegen bereitete das keine Schwierigkeiten, weil ich auf Baustellen stets von Männern umgeben war, selbst auf ganz kleinen wie dem sumpfigen Fleckchen Land meines Schwiegervaters in Shropshire.
Absurderweise wurde das Anwesen »Stead – Stammsitz«
genannt, eine Bezeichnung, die zunächst die ironische Distanz der Familie zu ihrem Gutsherrentum verriet, die aber mit der Zeit immer ernster gemeint wurde.
»Hallo, Jim«, sagte ich und streckte ihm die Hand entgegen.
»Sie konnten also der Versuchung nicht widerstehen, selbst herzukommen. Freut mich.«
Jim Weston gehörte zu Stead wie das Gewächshaus oder der Keller, in dem selbst an Ostern noch der süße Duft der Äpfel hing. Es gab keinen Gegenstand auf dem Anwesen, mit dem er nicht auf irgendeine Weise verbunden war. Er hatte die Fensterrahmen ausgewechselt und gestrichen und an glühendheißen Augusttagen mit nacktem Oberkörper das Dach gedeckt. Bei jedem Malheur – egal, ob es sich um den Schimmelbefall der Mauer, einen Stromausfall oder eine Überschwemmung handelte – rief Alan Jim aus Westbury zu Hilfe. Und stets weigerte sich Jim zu kommen. Zu viel zu tun, war die übliche Antwort. Doch eine Stunde später rumpelte sein klappriger Lieferwagen die Einfahrt hinauf. Dann besah Jim sich nachdenklich den Schaden, klopfte mit traurigem Kopfschütteln seine Pfeife aus und murmelte etwas von modernem unbrauchbarem Zeug. »Mal seh’n, was ich da tun kann«, sagte er schließlich. »Irgendwie werde ich es schon zusammen-flicken.«
Es gehörte zu Jim Westons Eigenart, daß er nie etwas zum Listenpreis oder überhaupt für Geld kaufte, wenn es sich durch Gefälligkeit, im Tausch oder sogar über die verschlungeneren Pfade des Schwarzmarktes von Shropshire besorgen ließ. Als er meinen Plan für den Pavillon sah, wurde sein Gesicht lang und länger. Das Gästehaus –
gedacht für Kinder, Kindeskinder, Ex-Frauen und sonstige Verwandte, die sich zu den Familienfeiern der Martellos zusammenfanden –, war mein Abschiedsgeschenk an die Familie; ein Traumhaus, wie ich es für mich selbst bauen würde. Ich hatte mir die relativ geschützte Lage des Grundstücks zunutze gemacht und einen Pavillon von absoluter Transparenz entworfen. Nur Streben, Decken-träger und Glas. Es war ein Wunder an Funktionalität. Als ich Claud, meinem zukünftigen Ex-Ehemann, die Pläne zeigte, fuhr er sich zerstreut mit den Fingern durch sein schütteres braunes Haar und murmelte etwas von wirklich interessant und gut gelöst, was seine übliche Reaktion auf alles und jedes war; selbst meine Ankündigung, ich hätte mich zur Scheidung entschlossen, hatte er in diesem Stil aufgenommen. Ich hoffte, daß wenigstens sein Bruder Theo meine Absicht erkannte. Ihn erinnerte der Entwurf an seine alten Metallbaukästen, woraufhin ich erwiderte:
»Ja, genau. Hübsch, nicht wahr?« Dabei war seine Bemerkung als Beleidigung gemeint. Schließlich unter-breitete ich den Plan dem Patriarchen selbst, Alan Martello, meinem Schwiegervater.
»Was ist das?« fragte er. »Ein Metallrahmen? Und wo ist das, was drumherum gebaut wird? Kannst du davon nicht auch eine Zeichnung anfertigen?«
»Das ist das Haus, Alan.«
Er schnaubte verächtlich in seinen grauen Bart. »Ich will nichts, was uns schwedische Architekturkritiker auf den Hals hetzt. Ich möchte etwas, in dem es sich wohnen läßt.
Nimm das Stück Papier wieder mit und bau das Haus in Helsinki oder sonstwo weit weg von hier. Sicher wird dir irgendein durch Steuergelder finanziertes Komitee dafür einen Preis verleihen. Wenn wir schon so ein verdammtes Haus in unseren Garten stellen müssen – weshalb, will mir sowieso nicht ganz in den Kopf-, dann eins im englischen Landhausstil, aus Ziegeln und Sandstein oder einem anderen anständigen Material aus der Gegend.«
»Das klingt aber nicht nach dem zornigen jungen Alan Martello«, flötete ich. »Neue Wege in der Architektur, Innovation – hattest du dich nicht immer für so was begeistert?«
»Ich bin nicht mehr jung und auch nicht mehr zornig, außer über dich. Mach aus dieser strukturalistischen Scheußlichkeit etwas, das ich als Haus erkennen kann.«
So war Alan: umwerfend barsch und charmant. Ich war dankbar, daß er mich immer noch so liebevoll ausschelten konnte, obwohl ich gerade noch im Begriff war, mich von seinem Sohn scheiden zu lassen. Trotzdem hielt ich hartnäckig an meinem Entwurf fest. Schließlich gab Alan nach, wohl auch vom Rest der Familie sanft dazu gedrängt.
»Was ist das hier, Mrs. Martello?« hatte Jim Weston beim Anblick des Bauplans gefragt und mit seiner Pfeife auf die Metallkonstruktion gedeutet.
»Jim, bitte nennen Sie mich Jane. Das sind Metallträger.«
»Hmm.« Er schob die Pfeife wieder zwischen die Lippen.
»Geht das nicht auch mit Stein?«
»Jim, darüber können wir jetzt nicht diskutieren. Es gibt kein Zurück mehr. Alles ist bereits in Auftrag gegeben und bezahlt.«
»Hmm«, brummte er.
»Hier heben wir aus, nur einige Meter tief …«
»Nur«, murmelte Jim.
»Dann die Betonsockel, hier und hier; der Unterbau, die Isolierschicht und die Membrane, darüber der Estrich, anschließend das geflieste Erdgeschoß. Die Metallträger verankern, der Rest ist ein Kinderspiel.«
»Isolierschicht?« wiederholte Jim mißtrauisch.
»Ja. Unglücklicherweise gab es 1875 ein Gesundheits-gesetz, an das wir uns bis heute zu halten haben.«
Jetzt, zu Beginn des ersten Arbeitstages, ähnelte Jim mehr einem knorrigen Baum als einem Mann, der hergekommen war, um die Arbeiten zu überwachen. Sein Gesicht, das zeitlebens jedem Wetter ausgesetzt gewesen war, erinnerte an die Haut einer Kröte. Haarbüschel sprossen ihm aus Nase und Ohren. Weil er so alt war, bestand seine Rolle darin, seinen Sohn und seinen Neffen herumzukommandieren; ihre Rolle wiederum schrieb ihnen vor, seine Anweisungen nicht zu befolgen. Ich begrüßte die beiden jüngeren Männer ebenfalls.
»Was habe ich da gehört? Sie wollen auch graben?«
fragte Jim mißtrauisch.
»Nur den ersten Spatenstich. Ich habe gerade gesagt, ich möchte einen Spatenstich tun, wenn’s recht ist. Es ist wichtig für mich.«
Während meiner zwanzigjährigen Tätigkeit als Architektin habe ich mir etwas angewöhnt, das schon fast einem Aberglauben gleichkommt: Ich muß beim ersten Spatenstich dabeisein. Dies ist tatsächlich ein Moment rein sinnlichen Vergnügens, in dem ich mir oft wünsche, ich könnte mit eigenen Händen graben. Nachdem man Monate, manchmal sogar Jahre an der Erstellung von Plänen gearbeitet, nervöse Auftraggeber besänftigt und mit sturen Beamten im Baureferat verhandelt hat, nach all den Kompromissen und dem Papierkrieg tut es gut, nach draußen zu gehen und sich daran zu erinnern, daß es eigentlich nur um Erde und Ziegel und das richtige Anbringen der Rohre geht, damit sie im Winter nicht platzen.
Das Schönste daran sind die zehn bis fünfzehn Meter tiefen Aushebungen, die den eigentlichen Bauarbeiten vorausgehen. Man steht am Rand eines Baulochs im Herzen von London und blickt auf Jahrtausende vergangener Menschenleben. Zuweilen ahnt man noch die Überreste eines alten Hauses, und mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen, wonach Bauunternehmer heimlich Beton über einen alten Fußboden aus der Römerzeit gegossen haben, um einer Auseinandersetzung mit den Archäologen aus dem Weg zu gehen. Denn oft muß man endlos warten, bis sie ihre Untersuchungen abgeschlossen haben und die Genehmigung zum Weiterbau erteilen. Wir errichten unsere Gebäude auf den Ruinen, die längst vergessene Vorfahren hinterlassen haben, und in einigen hundert oder tausend Jahren werden unsere Nachkommen ebenso vorgehen und auf unseren verrosteten Decken-trägern und dem bröckeligen Beton etwas Neues hochziehen. Auf unseren Toten.
Das hier würde nur ein winziges Loch werden, ein Kratzer an der Oberfläche. John reichte mir einen Spaten.
Ich trat in die Mitte des rechteckigen Bauareals, das ich tags zuvor ausgemessen und mit einem Seil abgegrenzt hatte, und stieß den Spaten in den Boden.
»Paß auf deine Nägel auf, Mädchen«, hörte ich Jim hinter mir sagen.
Ich drückte den Spatengriff entschlossen nach unten und dann zu mir. Das Rasenstück wurde angehoben und legte ein keilförmiges Stückchen Erde und Lehm frei.
»Schön weich«, bemerkte ich.
»Die Jungs machen den Rest«, meinte Jim. »Wenn es Ihnen recht ist.«
Eine Hand auf meiner Schulter ließ mich zusammen-zucken. Es war Theo. In meiner Erinnerung ist Theo Martello siebzehn Jahre alt; er trägt das schulterlange Haar in der Mitte gescheitelt, seine Haut ist blaß, und die vollen, geschwungenen Lippen schmecken leicht nach Tabak. Er ist groß und dünn und trägt einen überlangen Militärmantel. Schwierig, zwischen ihm und meinem jetzigen Gegenüber eine Verbindung herzustellen, diesem
– o Gott! – über vierzigjährigen Mann mit den scharf geschnittenen Gesichtszügen, dem Dreitagebart, dem kurzgeschnittenen, graumelierten Haar. Was war er älter geworden! Aber wir waren alle älter geworden!
»Wir sind gestern erst spät angekommen und haben dich nicht mehr gesehen«, sagte er.
»Ich bin früh schlafen gegangen. Aber warum bist du in dieser Herrgottsfrühe schon auf den Beinen?«
»Ich wollte dich unbedingt sehen.«
Er zog mich an sich und umarmte mich. Ich drückte mich fest an meinen Lieblingsschwager.
»Ach, Theo«, sagte ich, als er mich losließ. »Es tut mir leid. Es tut mir so leid wegen Claud.«
Er lächelte. »Mach dir keine Gedanken. Tu, was du tun mußt. Es war mutig von dir, hier aufzutauchen und der ganzen Familie die Stirn zu bieten. Übrigens, wer kommt denn eigentlich?«
»Alle natürlich. Sämtliche Martellos. Und die Cranes auch, koste es, was es wolle. Dad und mein Bruder samt Familie sind noch nicht hier, aber mit ihnen sind wir vierundzwanzig. Das Königshaus mag untergehen, und möglicherweise ist uns die Bedeutung des Christfests abhanden gekommen – aber die jährliche gemeinsame Pilzsuche der Martellos findet trotzdem statt.«
Theo zog die Brauen hoch. Beim Lächeln bildeten sich um seine Augen und um seinen Mund kleine Fältchen.
»Wie immer die alte Spötterin!«
»Ach, ich glaube, ich bin einfach nervös. Mein Gott, Theo, erinnerst du dich an die Fähre, die vor Jahren gesunken ist? Ein Rettungsboot wurde zu Hilfe geschickt, aber die Frauen und Kinder konnten nicht hinüberklettern.
Da hat sich ein Mann zwischen die beiden Schiffe gelegt, und sie sind über ihn hinweggestiegen.«
Theo lachte. »Und du warst die erschöpfte menschliche Brücke, stimmt’s?«
»Manchmal habe ich mich so gefühlt. Oder besser, wir, Claud und ich, haben uns so gefühlt. Das schwache Verbindungsglied zwischen den Martellos und den Cranes.«
Theos Gesicht verhärtete sich. »Du überschätzt dich, Jane. Wir gehören alle zusammen. Wir sind doch eine Familie. Und wenn es eine besondere Verbindung gibt, dann ist es die Freundschaft zwischen unseren Vätern, die schon lange vor uns existierte. Das sollten wir nicht vergessen.« Er lächelte wieder. »Du warst höchstens ein zweitrangiges Bindeglied. So was wie eine sekundäre Nut.«
Ich mußte kichern. »Höre ich da einen technischen Fachausdruck? Was, zum Teufel, ist eine sekundäre Nut?«
»Schon gut, vergiß es – du bist die Expertin. Ich habe nie mit Holz gearbeitet. Und ich freue mich, daß du gekommen bist, auch wenn es für dich ein Spießrutenlaufen war.«
»Ich mußte das hier beaufsichtigen, oder etwa nicht?
Jetzt fürchte ich, daß ich über meinen Zeichnungen in Tränen ausbrechen und sie verschmieren werde.«
Wir traten durch die Flügeltüren in die Küche und nahmen uns jeder einen Becher Kaffee. Als wir wieder hinausgingen, hörten wir aus dem oberen Stockwerk Geräusche, Tassengeklapper und rauschende Klospü-
lungen.
»Mach die Tür hinter dir zu, verdammt noch mal. Es ist kalt«, schrie jemand von drinnen.
»Reg dich nicht auf, ich bin gerade auf dem Weg nach draußen.« Es war Jonah, Theos Bruder.
»Hallo, Fred«, begrüßte ihn Theo.
Jonah nickte über den abgedroschenen Martello-Witz. Er und Alfred waren Zwillingsbrüder, die einander zumindest als Kinder und Jugendliche zum Verwechseln ähnlich gesehen hatten. Theo hatte mir einmal verraten, die beiden hätten tatsächlich ohne Wissen der betreffenden jungen Damen mit der Freundin des jeweils anderen geschlafen.
»Man kann uns Zwillinge an der Nase unterscheiden, Theo«, belehrte ihn Jonah. »Fred ist der mit der roten Nase und ohne Sonnenbräune.«
»Ach ja, darauf wollte ich dich gerade ansprechen, Jonah. Woher stammt die Bräune diesmal?«
»Tucson, Arizona. Ein Kosmetikkongreß.«
»Gut?«
»Ein paar interessante Möglichkeiten lagen in der Luft.«
Jonah bemerkte Theos Lächeln. »Jetzt, da jeder so gesunde Zähne hat, müssen wir uns was Neues einfallen lassen.«
Theo beugte sich vor und sog den Dampf ein, der aus Jonahs Becher aufstieg.
»Anscheinend gehört dazu auch die Zahnpasta in Form eines heißen Getränks«, sagte er.
»Pfefferminztee«, antwortete Jonah. »Ich möchte den Tag nicht mit einem unnatürlichen Stimulans beginnen.«
Damit drehte er sich zu mir um, und seine tugendhafte Miene wich einem traurigen Lächeln. Mein Gott, würden mich an diesem Wochenende alle so anlächeln?
»Jane, Jane«, sagte er und umarmte mich mit einer Herzlichkeit, die nur dadurch beeinträchtigt wurde, daß er sich gleichzeitig bemühte, den Becher mit Kräutertee in einer Hand zu balancieren. »Wenn ich dir irgendwie helfen kann, laß es mich wissen.« Dann deutete er hinunter auf die Aktivität im Gras. »Toll, was du da für unsere Familie tust. Wenn es doch nur schon fertig wäre, dann müßten Meredith und ich nicht noch eine Nacht mit den Kindern in einem Zimmer verbringen. Sie haben höchstens drei Minuten am Stück geschlafen. Und Fred samt den Mitgliedern seiner Familie, die nicht im Internat sind, schliefen nebenan. Soweit ich informiert bin, sind die einzigen Paare, die ein Zimmer für sich haben, Alan und Martha und außerdem dein Sohn und seine Mieze.«
Letzteres war eindeutig ein Seitenhieb.
»Alan wollte unbedingt, daß Jerry und Hana ein Zimmer für sich bekommen«, protestierte ich. »Vielleicht bedeutet es für ihn ein voyeuristisches Vergnügen. Ich weiß nicht einmal, wo mein jüngerer Sohn abgeblieben ist.«
»Geschweige denn mit wem«, fügte Jonah hinzu. »Aber ich würde es nie wagen, die unantastbare Tradition in Frage zu stellen, die dir das Recht einräumt, Natalies Zimmer zu bewohnen. Klingt wie eine Schlafzimmer-posse.«
Ich folgte Jonah und Theo in die Küche zurück, aber mir war weder nach Essen zumute, noch wollte ich mich in die Menge derer einreihen, die Eisschrank und Herd umkämpften. Nirgends eine Spur von meinen Söhnen.
Außer Alan und Martha, die das Vorrecht der Gastgeber genossen und sich erst später zu uns gesellten, fehlte so gut wie keiner. Claud, der nach seiner Nacht auf der Couch zerzaust und ein bißchen jämmerlich aussah, stand am Gasherd und rührte in einer großen Pfanne mit Eiern.
Er nickte mir freundlich zu.
Vor genau einem Jahr hatte ich die vier Brüder zum letztenmal zusammen in diesem Raum gesehen. In ihrer Freizeitkleidung wirkten sie wieder wie Studenten oder sogar Schuljungen, die lachten und einander neckten. Nur Claud bildete die Ausnahme – bei ihm wirkte legere Kleidung immer etwas deplaziert. Er brauchte eine Uniform und strikte Regeln. Die Zwillinge mit ihrer dunklen Haut und den hohen Wangenknochen hätten nach einer unbequemen Nacht auf einer Couch bestimmt umwerfend ausgesehen. Aber Claud benötigte acht Stunden Schlaf und einen gutgeschnittenen Anzug, um am besten zur Geltung zu kommen. Aber dann kam er tatsächlich sehr gut zur Geltung.
Ich schnappte mir eine Banane aus der Obstschale und verschwand mit meinem Kaffee wieder nach draußen. Die Dunstschleier lösten sich allmählich auf und wichen einem blauen Himmel. Es war fast acht Uhr. Ein schöner, wenn auch kalter Tag kündigte sich an. Vermutlich haben die meisten von uns eine Landschaft im Kopf, die auftaucht, sobald man die Augen schließt. Meine bestand aus den hügeligen, im Patchworkmuster aneinandergereihten Feldern und Wäldern rings um Stead. Jeder Baum, jeder Weg und jeder Zaun riefen Erinnerungen in mir wach, Erinnerungen an lange Sommertage und Wochenenden im Schnee, mit kahlen Bäumen oder Frühlingsblumen – und alles verschmolz ineinander, all die Jahre und Jahrzehnte.
Das Herrenhaus selbst war alles andere als alt – der Stein über der Eingangstür trug die Inschrift »1909 – P. R. F. de Beer«, den Namen des unbekannten Mannes, der das Haus hatte bauen lassen. Aber auf uns hatte es immer alt gewirkt. Die Eingangstür, die von uns jedoch nie als solche genutzt wurde, befand sich auf der anderen Seite.
Die Auffahrt, die von dort wegführte, mündete in die B
8372. Bog man links ab, gelangte man nach Wales, rechts ging es nach Birmingham. Doch dort, wo ich jetzt stand, vor Pullam Wood, sah ich über eine kleine Senke hinweg auf die Vorderfront des Hauses mit den Türen, durch die man das Wohnzimmer und die Küche betrat. Darüber waren die Fenster von Alan und Marthas Schlafzimmer und von den Gästezimmern. Noch ein Stockwerk höher befand sich Alans Büro, sein Allerheiligstes, das die gesamte Etage einnahm und von einem lächerlichen Holztürmchen gekrönt wurde. Obwohl das Haus groß war, wirkte es gemütlich, und obwohl es solide gebaut war, waren die Böden uneben und die Wände dünn wie Papier.
Ich erreichte den Rand des Waldes – in den ich mich nie vorwagte –, wandte mich nach rechts, streifte ein wenig umher und ging den Abhang hinab, bis ich bei den Männern angelangt war, die mit dem Bagger die Erde aushoben. Ich hörte das Geräusch eines Autos, Pauls unverwechselbarer Saab, ein erstklassiger Wagen, aber nicht so übertrieben, daß er gewisse politische Überzeugungen Lügen strafte. Dad stieg vorsichtig auf der Beifahrerseite aus und schlurfte hinüber zum Haus. Dann tauchte auf der gleichen Seite Erica auf und eilte Vater nach. Offenbar hatte sie auf dem Rücksitz gesessen, denn sie trug Rosie im Arm, die in nahezu theatralischer Haltung schlief. Paul sah sich um und entdeckte mich, und wir winkten uns zu. Jetzt waren alle da.
Kurz nach zehn hatten sich alle auf dem Rasen zur großen Pilzsuche versammelt. Die Familie nebst Anhang war so zahlreich, daß man sie für eine Jagdgesellschaft hätte halten können, wenn sich eine Meute Hunde in ihrer Mitte befunden hätte. Alle Brüder waren mit ihren Familien gekommen, mein Bruder Paul hatte sogar seine ehemalige und auch die derzeitige mitgebracht. Mir fiel eines dieser unlesbaren Kapitel des Alten Testaments ein: Alan zeugte Theo und Claud, Jonah und Fred. Robert zeugte Alan und Jane. Ohne mich waren es zwanzig Personen, die herumstanden und plauderten. Man war noch nicht abmarschbereit, weil ein Teil der jüngeren Generation auf sich warten ließ, unter ihnen bemerkens-werterweise Pauls drei Töchter mit seiner ersten Frau Peggy. Ungefähr zehn nach zehn tauchten sie auf, klobige Stiefel an den Füßen, langhaarig, ganz in schwarz, die gleiche gelangweilte Miene auf allen drei hübschen Gesichtern. Da ich an dem Ausflug nicht teilnahm, hielt ich mich etwas abseits und konnte die Szene gut überblicken. Himmel, was für eine Familie! Alle trugen abgewetzte Jeans und alte Pullover, nur Martha und Alan waren ordentlich gekleidet. Dies war ihr großer Tag! Alan trug ein grotesk korrektes langes Jackett, in dem ihm nicht mal die Niagarafälle etwas anhaben konnten. Sein Auftreten erinnerte immer etwas an einen Theater-Workshop, als sei der Darsteller in die Requisite geschickt worden, um sich dort als alternder Schriftsteller ausstaf-fieren zu lassen, der das Leben eines Gutsbesitzers führte.
Er verfügte sogar über einen Stock, wie ihn Errol Flynn gern für seine Fechtkämpfe benutzte, die er auf umgestürzten Baumstämmen über rauschenden Flüssen ausfocht. Martha hingegen sah mit ihrem schneeweißen Haar bezaubernd aus, so schlank wie ihre Enkelinnen und wie diese ganz in Schwarz. Nur die Doc Martens fehlten.
Ihrer Jacke sah man an, daß sie ausgedehnte Wanderungen erlebt hatte, und am Arm trug sie einen Weidenkorb in der genau richtigen Größe. So konnten die Pilze nicht durcheinanderpurzeln oder verderben. Die anderen hatten fast ausnahmslos Plastiktüten dabei. Ich hatte Martha einmal zu erklären versucht, Plastiktüten seien entgegen herkömmlicher Meinung gut für die Aufbewahrung von Pilzen geeignet, wenn man sie noch am gleichen Tag verzehren wollte – was wir stets taten –, aber Martha hatte mir gar nicht zugehört.
Alan klopfte mit seinem Stock auf den Boden. Ich erwartete beinahe einen Donnerschlag.
»Vorwärts!« rief er.
Bei jedem anderen hätte so ein Befehl lächerlich geklungen.
Dann überschlugen sich die Ereignisse. Ich ging ins Haus, setzte mich an den Küchentisch und wartete, bis man mich wieder brauchte. Nachdem ich die Zeitung zur Hälfte gelesen und ein paar Fragen im Kreuzworträtsel gelöst hatte, hörte ich ein Klopfen und blickte auf. Hinter der Glastür erkannte ich Jims Gesicht. Er sah blaß und erschrocken aus und bedeutete mir, ihm zu folgen. Einen Moment lang sträubte sich etwas in mir, der Aufforderung nachzukommen.
Als ich aus der Tür trat, ging Jim bereits wieder auf den Bauplatz zu. Die Aushubarbeiten schienen fast beendet zu sein, und ich fragte mich, ob er mir das auf eine umständliche Art mitteilen wollte. Die Männer standen um den Bagger herum und machten Platz, als ich näher kam.
»Wir haben etwas gefunden«, sagte Jims Neffe. Er sah aus, als wäre er am liebsten davongelaufen.
Ich blickte zu Boden. Zunächst war nicht viel zu sehen.
Karamelbraune Lehmerde, ein paar zerbrochene Ziegel.
Woher stammen sie? Ach ja, hier mußte der alte Grillplatz gewesen sein. Wie lange das schon zurücklag! Und dann waren da ein paar Knochen, schrecklich weiße Knochen, die aus der Erde herausragten. Ich sah die Männer an.
Wollten sie, daß ich irgend etwas unternahm?
»Stammen die von einem Tier?« fragte ich. Absurd.
»Vielleicht von einem Haustier, das man hier beerdigt hat?«
Jim schüttelte langsam den Kopf und kniete nieder. Ich wollte nicht hinsehen müssen.
»Hier sind ein paar Stoffetzen«, sagte er. »Kleine Stücke. Und eine Gürtelschnalle. Es muß sie sein. Natalie, ihr kleines Mädchen.«
Ich mußte endlich hinschauen. Bisher hatte ich in meinem Leben nur eine Leiche gesehen. In den letzten Minuten ihres langen Leidens hatte ich die Hand meiner Mutter gehalten, hatte gesehen, wie der Tod jeden Ausdruck von ihrem Gesicht wischte und ihr gepeinigter Körper entspannt in die Kissen sank. Ich hatte meine Lippen auf ihr warmes Gesicht gedrückt. Tags darauf hatte ich es in der Aussegnungshalle noch einmal berührt –
wächsern, kalt und hart. Und hier lagen nun die Überreste von Natalie, meiner geliebten Freundin, seit fünfundzwanzig Jahren für immer sechzehn Jahre alt. Ich kniete nieder und zwang mich, die Knochen genauer zu betrachten. Es mußten die von den Beinen sein, lang und dick. Ich erkannte Stoffreste, schwarz und schmutzig.
Plötzlich fühlte ich mich seltsam unbeteiligt, nur neugierig. Kein Fleisch, natürlich nicht. Keine Sehnen.
Die Knochen, die bereits freigelegt waren, lagen einzeln da. Die Erde um sie herum war dunkler als die übrige. Ob sich ihre Haare zersetzt hauen? Der Schädel war noch nicht freigelegt. Ich sah ihren schlanken Körper vor mir.
In jenem Sommer braungebrannt. Ihren Leberfleck auf der rechten Schulter und ihre langen Zehen. Wie hatte ich das so lange vergessen können?
»Jemand sollte die Polizei rufen.«
»Ja, Jim, ja. Ich kümmere mich darum. Ich denke, wir sollten jetzt nicht weitergraben. Gibt es in Westbury eine Polizeistation?«
Es gab keine. Ich mußte mir im Telefonbuch die Nummer der Polizei in Kirklow heraussuchen. Ich kam mir ziemlich albern vor, als ich jemandem am anderen Ende der Leitung mitteilte, wir hätten Knochen gefunden, wahrscheinlich die von Natalie Martello, die seit dem Sommer 1969 vermißt wurde. Doch sie nahmen mich ernst, und bereits nach kurzer Zeit trafen zwei Polizeiwagen ein, dann ein Zivilauto und ein Krankenwagen, der eher wie ein Lieferwagen aussah. Eigenartig, daß ein Krankenwagen Knochen einlud, die man ohne weiteres in einem kleinen Karton hätte abtransportieren können. Einer der Polizisten stellte mir seltsame Fragen, aber ich war so verwirrt, daß ich sie kaum beantworten konnte. Der Fundort wurde notdürftig mit einer zeltartigen Plane abgedeckt. Leichter Regen fiel.
Ich wollte ihnen bei ihrer Arbeit nicht zusehen, konnte mich aber auch nicht losreißen. Ich setzte mich auf die Bank neben der Küchentür und sah hinunter auf die Plane und den darunterliegenden Wald. Ob die Pilzsammler wohl bald zurückkehrten? Zwar trug ich eine Uhr, aber ich erinnerte mich weder daran, wann sie aufgebrochen waren, noch wie lange die Pilzsuche normalerweise dauerte, obwohl ich so oft dabeigewesen war. Ich saß einfach da, bis ich schließlich zwischen den Bäumen auf der anderen Seite des Waldes eine kleine Gruppe Menschen auftauchen sah. Ich stand auf, um ihnen entgegenzugehen, doch plötzlich stiegen mir Tränen in die Augen, und ich konnte nicht mehr sehen, wer da überhaupt kam. Es hätten genausogut Fremde sein können.
2. KAPITEL
Das Messer schnitt durch die schwammigen Schichten bis in das cremefarbene Fleisch. Ich zog die schleimige Haut ab und warf ein genießbares Stück Hut in eine große Schüssel. Peggy trug einen weiteren, bis oben hin mit Pilzen gefüllten Eimer herein. Sie duftete nach Wald und Erde, und ihre khakifarbene Hose war ganz verdreckt. Ihre Stiefel hatte sie im Flur ausgezogen.
»Hier sind noch ein paar«, sagte sie und griff sich ein Messer.
Behutsam nahm ich die gelben Pfifferlinge, die zuoberst lagen und an Wachsblumen erinnerten, und schnupperte an den Rändern ihres trichterförmigen Hutes. Ein Geruch wie Aprikosen.
»Wer hat die gefunden?« fragte ich.
»Theo, wer sonst? Alles in Ordnung, Jane?«
»Du meinst, was Claud angeht?«
»Nein, den heutigen Tag.«
»Ich weiß nicht.«
Im Eimer fand ich außerdem warzige Knollenboviste, nach Anis duftende Schafchampignons und schmackhafte Austernpilze. Feuchter Pilzgeruch durchzog die Küche; wurmige Schirmlinge verstopften das Spülbecken, Stielreste bedeckten die Arbeitsflächen. Ich wischte mir die zitternden Hände an der Schürze ab und strich mir die Haare aus der Stirn. Obwohl die Küche hell erleuchtet war, kam mir alles unwirklich vor – sowohl die schauerliche Entdeckung im Garten als auch die Parodie der Alltäglichkeit hier in der chaotischen Küche, dem Mittelpunkt des großen Hauses. Waren wir alle verrückt geworden? Ein Haus voller Menschen, die unter Schock standen, Gefangene eines seltsamen Rituals? Ich stürzte mich in Geschäftigkeit.
»Ihr wart wirklich tüchtig«, sagte ich zu Paul, der soeben durch die Küche ging, ein paar verstaubte Rotwein-flaschen an die Brust gedrückt.
»Du hättest dabeisein sollen! Doppelt so viele hätten wir mitbringen können! Manche sind allerdings ungenießbar.«
Bevor er wieder hinausging, warf er einen verstohlenen Blick auf Peggy. Er wirkte abgekämpft. Jeder von uns mußte mit seinen Gedanken und Problemen selbst fertig werden. Aber Paul hatte die zusätzliche Belastung, dieses Wochenende in Gesellschaft seiner Ex-Frau, seiner jetzigen Frau und seiner Schwester verbringen zu müssen, die im Begriff war, sich von seinem besten Freund scheiden zu lassen. Man durfte einfach nicht zuviel nachdenken.
Ich begann, die Pilze zu zerkleinern. In den Töpfen siedete das Wasser. Es beruhigte mich, Dinge koordi-nieren zu können. Ich öffnete die Backofentür und stach mit einer Gabel in die roten Paprikaschoten, deren Haut Blasen warf.
»Jane? Claud hat mich gebeten, dir diese hier zu bringen.«
Mein Vater streckte mir drei pralle Knoblauchzehen entgegen. Bereits im Hinausgehen – vermutlich wollte er rasch zurück zu seinem Kreuzworträtsel neben dem Kaminfeuer –, fügte er plötzlich hinzu: »Es wird schon alles wieder in Ordnung kommen, meinst du nicht auch?«
Seine Augen waren verquollen, als hätte er geweint. Ich tätschelte seinen Rücken.
»Bestimmt«, sagte ich mechanisch.
Ich schälte sechs Knoblauchzehen und zerdrückte sie in einer großen Pfanne auf dem Herd. Peggy stand über das Spülbecken gebeugt und putzte die restlichen Pilze. Dabei summte sie leise vor sich hin. Plötzlich sagte sie: »Es tut mir wirklich leid, es muß schrecklich für dich gewesen sein, als du es … sie … gefunden hast.«
»Ja«, bestätigte ich, »aber nicht schlimmer als für die anderen.«
Ich mochte nicht reden. Ich behielt meine Gefühle für mich und wollte sie nicht hier ausbreiten, während ich das Abendessen kochte. Nicht vor Peggy. Doch sie war nicht zu bremsen.
»Ihr wart alle sehr tapfer. Es ist komisch, aber zum erstenmal habe ich mich von der Familie ausgeschlossen gefühlt. Ihr wißt, wie ihr miteinander umgehen müßt.«
Ich wandte mich zu ihr um und nahm ihre Hand.
»Peggy«, sagte ich matt, »das stimmt nicht, das weißt du genau. Wir alle gehören zu dieser Familie, die bei Alan und Martha beginnt und nirgendwo endet.«
»Ich weiß. Vielleicht liegt es daran, daß ich Natalie nicht gekannt habe.«
»Es liegt lange zurück.«
»Ja«, sagte Peggy, »die sagenhafte und idyllische Kindheit in der Familie Martello. Da seid ihr euch alle einig, nicht wahr? Das erinnert mich immer …« Sie brach ab, weil sie etwas vor dem Fenster bemerkte. »Sieh dir das an! Ich bringe sie um! Weshalb kann Paul ihnen nicht die Leviten lesen? Angeblich ist er doch der Vater!«
Und schon stürmte sie aus der Küche. Durchs Fenster sah ich, daß ihre Töchter wie Verschwörer hinter einem Busch beisammenstanden und rauchten. Sie hielten sich offenbar für unsichtbar. Noch immer ohne Schuhe pirschte Peggy sich lautlos an sie heran. Jerry und Robert hatten früher in ihrem Zimmer bei weit geöffnetem Fenster geraucht und waren anschließend nach Zahnpasta riechend nach unten gekommen. Ich hatte nie ein Wort darüber verloren. Auch ich hatte damals heimlich geraucht.
Spätabends im Garten, wenn ich keinen Schlaf finden konnte, weil ich über mein Leben nachsann. Später rauchten Jerry und Robert auch in meiner Gegenwart und boten mir sogar Zigaretten an, obwohl ich das Rauchen zu jener Zeit bereits aufgegeben hatte. Heute hätte ich allerdings alles für einen tiefen Zug gegeben.
Ich verrührte den blaßgelben Knoblauch in der Pfanne.
Endlich allein. Endlich eine kurze Verschnaufpause, um nachzudenken und mich auf den bevorstehenden Abend vorzubereiten.
»Wie steht’s, Mum? Böse, daß du die ganze Kocherei allein machen mußt?«
Robert beugte sich zu mir herunter. Mein großer, hübscher Sohn. Sein glattes, blondgefärbtes Haar hing ihm schräg ins eine Auge. Er trug zerrissene Jeans, ein altes verwaschenes Sweatshirt und darüber ein kariertes Hemd, nicht zugeknöpft. Er war barfuß und sah gut aus.
»Geht schon. Es ist mir sogar ganz recht. Könntest du den Salat waschen?«
»Eigentlich nicht«, antwortete Robert, öffnete den Kühlschrank und spähte hinein. »Gibt’s da drin was für mich zu essen?«
»Nein. Was machen die anderen?« wollte ich wissen.
»Guter Gott, bei wem soll ich anfangen?« Mit spöttischer Geste zählte er sie an den Fingern ab. »Theo spielt Schach mit Opa Chris. Dad bastelt eigentlich nur an der Sitzordnung rum und delegiert die Plazierung der Teller. Jonah, Alfred und Meredith machen einen Spaziergang; wahrscheinlich wollen sie klammheimlich einen Blick in dieses Zelt da draußen werfen. Hana und Jerry liegen miteinander in der Badewanne. Und so weiter und so fort. Großvater und Großmutter habe ich nicht gesehen.
Sie sind bestimmt oben in ihrem Zimmer.«
Es entstand eine Pause. Robert blickte mich gespannt an.
Ich kippte die Pilze in das heiße Öl. Er wartete auf etwas.
»Was gibt’s?« fragte ich so neutral wie möglich.
Plötzlich bekam ich weiche Knie, und mir wurde flau im Magen. Robert schloß die Hände um den Mund und begann wie durch ein Megaphon zu sprechen. Seine Stimme klang zornig.
»Hallo, hallo, ist jemand dort draußen? Hier spricht Rob Martello, ein Besucher aus der realen Welt. Ich möchte Sie davon in Kenntnis setzen, daß auf dem Grundstück Knochen gefunden worden sind. Die einzige Tochter von Mr. und Mrs. Martello lag fünfundzwanzig Jahre lang zirka einen Meter von der Haustür entfernt und fünf Zentimeter unter der Erdoberfläche begraben. Die Veranstalter bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, daß aufgrund dieses Funds das Abendessen erst ein wenig später serviert werden kann. Wir hoffen, Ihnen damit keine Unannehmlichkeiten zu bereiten.«
Unwillkürlich mußte ich lachen, aber es klang matt.
»Robert!«
Es war Claud, der hinter Robert hereingekommen war.
»Ich weiß, das ist alles sehr unangenehm …«, begann er, wurde jedoch sofort von Robert unterbrochen.
»Was? Unangenehm? Man hat die Leiche deiner Schwester im Garten ausgebuddelt! Was soll daran unangenehm sein? Außerdem liegt es doch bereits mehrere Stunden zurück, oder etwa nicht? Und die Polizei hat die Knochen beseitigt. Vielleicht hätte Alan die Beamten bitten sollen, vor ihrem Wegfahren das Loch wieder zuzuschütten. Im jetzigen Zustand besteht die Gefahr, daß jemand morgen früh auf dem Weg zur nächsten gottverdammten Pilzsuche reinfällt und sich an die Sache erinnert.«
Claud bemühte sich vergebens, ein strenges Gesicht zu machen. Er lächelte resigniert.
»Du hast recht, Rob, wir werden nicht besonders gut damit fertig, aber …«
»Aber der Schein muß gewahrt werden. Ein paar Knochen dürfen den Martellos schließlich nicht ein tolles Wochenende vermasseln. Sonst geht womöglich noch was Wichtiges schief. Zum Beispiel könnte der falsche Wein zum falschen Pilz serviert werden.«
Claud wurde ernst. »Robert, hör auf damit. Natalie war bereits vor deiner Geburt verschwunden. Daher ist es für dich schwierig, das zu verstehen. Wir haben uns mit der Zeit an den Gedanken gewöhnt, daß Natalie wohl tot ist.
Aber deine Großmutter, meine Mutter, wollte es sich nie eingestehen. Sie hat immer versucht, sich einzureden, daß Natalie nur weggelaufen ist und eines Tages wieder auftaucht.« Claud legte den Arm um Robert, was ihm dank seiner Körpergröße auch gelang. »Der heutige Tag ist schrecklich für sie. Er ist für uns alle furchtbar, aber ganz besonders für sie. Wir müssen stark sein und sie unterstützen. Glück im Unglück, daß es passiert ist, während wir alle hier versammelt sind. So können wir uns gegenseitig trösten. Aber vor allem müssen wir Martha zur Seite stehen. Es gibt viel zu bereden, Robert, nicht nur in bezug auf Natalie. Und das werden wir auch tun, ich verspreche es. Aber heute sollten wir vielleicht einfach nur Zusammensein. Vergiß nicht, daß die Überreste offiziell noch nicht identifiziert worden sind.«
»Und ist es da nicht das beste, einfach nur gemeinsam zu essen?« fügte ich hinzu. »Komm her, mein Liebling.« Ich zog Robert an mich. »Ich komme mir albern vor, weil ich dir nur bis ans Kinn reiche.«
»Also, hilfst du mir, Rob?« fragte Claud.
»Ja, ja, Dad, in Ordnung«, sagte Robert. »Wir können uns alle wie erwachsene Menschen benehmen. Vielleicht ließe sich aus dem Loch da draußen eine Attraktion machen. Mum, könntest du nicht vielleicht einen neuen Entwurf von deinem Pavillon machen, so daß er das Loch umschließt?«
»Wirst du uns nun helfen oder nicht?« fragte Claud mit einer für ihn typischen plötzlichen Schärfe.
Robert hob übertrieben unterwürfig die Hände. »Ja. Ich werde mich benehmen«, versicherte er und verließ die Küche.
Hilflos zuckten Claud und ich die Achseln. Seitdem wir über die Trennung gesprochen hatten, kamen wir besser miteinander zurecht, und ich spürte, daß ich mich vor gefährlicher Nostalgie hüten mußte.
»Danke«, sagte ich. »Gut gemacht.«
Claud beugte sich über eine Kasserolle. »Das duftet herrlich«, sagte er. »Wie du gesagt hast: Wir sind immer noch gute Freunde, nicht wahr?«
»Hör auf.«
»Ich meine ja nur.« Er machte eine Pause. »Ich denke, wir essen um neun. In Ordnung?«
Er musterte mich. Ich trug eine Trainingshose und ein Herrenhemd, das früher einmal Jerome gehört hatte. Ich hatte das erstbeste übergezogen, das mir nach der heißen Dusche in die Hände gefallen war. Alles hatte ich wegwaschen wollen: den Schweiß, von der harten körperlichen Arbeit, die Tränen, die schlammige Erde, in der das Skelett gelegen hatte.
»Gut. Dann muß ich mich allerdings sofort um das Fleisch kümmern.«
Ich zerrieb Rosmarin über den halbfertigen Lammbraten und schob ihn in den Ofen. Zu meiner Verwunderung leistete Claud mir weiterhin Gesellschaft, obwohl er doch sicher alle Hände voll zu tun hatte. Er lehnte sich gegen die Arbeitsplatte und drehte einen Pilz in seinen Fingern hin und her.
»Sie halten uns für verrückt.«
»Wer?«
»Die Leute aus der Gegend. Sie essen nur die Pilze in den Schachteln, die man in den Supermärkten bekommt.
Aber es ist doch klar, was sie abstößt. Die Pilze sehen ein bißchen aus wie Fleisch, findest du nicht auch? Alles andere als bekömmlich.«
Claud strich mit dem Finger über den Pilz.
»Pilze haben kein Chlorophyll. Sie können den Kohlenstoff nicht selbst erzeugen und müssen sich von anderen organischen Stoffen ernähren.«
»Ist das nicht bei allen Pflanzen so?«
»Es macht mir manchmal Sorgen, dich so reden zu hören«, bemerkte er mit traurigem Unterton in der Stimme, und schlagartig wurde mir klar, daß ich mich ab jetzt nicht mehr darüber zu ärgern brauchte.
»Wie geht es Martha? Hast du mit ihr gesprochen?«
»Mutter geht es wunderbar«, entgegnete Claud.
Der Ton seiner Stimme ließ keinerlei Zweifel daran, daß ich mich heraushalten sollte. Gerade wollte ich ebenso kühl antworten, als Peggy mit roten Wangen und verdreckten Wollsocken in die Küche stürmte. Sie schnappte sich ein Glas und eine Flasche Whisky und lief wieder hinaus.
»Peggy«, rief Claud ihr nach, »vergiß nicht, wir essen in ungefähr einer Stunde, und dann gibt es jede Menge Wein!«
»Claude!« zischte ich vorwurfsvoll, doch Peggy besaß ein großes Selbstbewußtsein. Ich hörte sie nur verächtlich schnauben, während sie die Treppe hochstapfte. Claud wandte sich wieder mir zu und erkundigte sich ausnehmend freundlich: »Alles in Ordnung, Jane?«
In diesem Moment stürzte Erica herein – eine Wolke von Parfüm, purpurrote Fingernägel und kupferfarbene Locken.
»Claud, endlich hab ich dich gefunden. Theo braucht dringend deine Hilfe. Im oberen Stockwerk müssen unbedingt Betten umgestellt werden. Jane, mein Engel, kann ich dir was helfen?«
Sie hatte sich bereits zum Abendessen umgezogen. Ihr langer, geschlitzter Rock schleifte über den Boden, die auberginefarbene Seidenbluse bauschte sich über ihrem üppigen Busen, Armreifen klimperten an ihren Handgelenken, lange Ohrringe baumelten ihr fast auf die Schultern. Verglichen mit der armen Peggy und ihrer trägen, demonstrativen Nachlässigkeit wirkte sie wie eine exotische Pflanze.
»Peggys kleine Mädchen haben sich gerade in den Schuppen verdrückt«, kicherte sie nun. »Ach, noch mal fünfzehn sein und in einem Schuppen rauchen. Himmel, was für ein seltsamer, schrecklicher Tag. Arme Natalie.
Ich meine, man kann doch sicher davon ausgehen, daß es Natalie ist und nicht irgendein archäologisches Überbleibsel. Sie ist es bestimmt, und ihr habt allen Grund, euch mies zu fühlen. Ich empfinde den Tod von Kindern ganz anders seit der Sache mit Rosie, weißt du. Natürlich hätte es mir vorher auch was ausgemacht, aber jetzt würde ich mich wahrscheinlich umbringen. Frances und Theo meinen, daß es für Martha und Alan eine Erleichterung ist.
Aber ich frage mich, ob das stimmt.«
Sie tauchte ihre Krallen in eine Schüssel mit Oliven und schob gedankenverloren ein paar in ihren großen roten Mund.
Claud begann systematisch die Flaschen zu entkorken, bis acht aufgereiht nebeneinander standen. Ich rieb Parmesankäse in die dampfende Pfanne mit Pilzrisotto und fügte ein Stück ungesalzener Butter hinzu – nicht aus dem Kühlschrank, sondern aus der Speisekammer, wie sich das für Butter gehört. Ich hatte mir immer eine Speisekammer gewünscht. Vor dem Fenster sah ich Theo und seine Frau Frances groß und elegant vorbeigehen. Frances redete lebhaft auf ihn ein; ihre Augen wirkten hart, aber ich konnte weder ihre Worte hören noch Theos Gesicht sehen.
Plötzlich drehte mein Schwager den Kopf zu mir und sah mir geradewegs in die Augen.
Wenn ich auf Stead bin, bewohne ich dasselbe Zimmer wie damals in meiner Kindheit. Natalie und ich stritten uns früher eher wie Schwestern denn als Freundinnen darum, wer in dem Bett am Fenster schlafen durfte, wobei Natalie sich gewöhnlich durchsetzte. Sie war hier zu Hause, es war ihr Zimmer, ihr Bett. Nach ihrem Verschwinden war es mir unmöglich, dort zu schlafen, wo sie gelegen hatte.
Ich nahm das Bett gegenüber, unter der Dachschräge, hörte die Schläge der Standuhr aus dem Flur im Erdgeschoß und zuweilen die Rufe der Eulen aus dem nahen Wald. Wenn ich mitten in der Nacht aufwachte, sah ich manchmal für einen Moment die Umrisse von Natalies Körper unter den Laken, bevor mir wieder alles einfiel.
Martha hatte nichts von Natalies Sachen weggeräumt, weil sie stets mit ihrer Rückkehr rechnete. Jedes Jahr, wenn wir in den Ferien zu Besuch kamen, mußte ich meine Kleider zwischen die von Natalie legen, die in Folie verpackt waren. Sie wurden mir zusehends fremder, bis ich bemerkte, daß es die Anziehsachen eines jungen Mädchens waren, aus denen ich herausgewachsen war, hinein in das Erwachsenendasein. Eines Tages waren sie nicht mehr da.
Ich zog die Vorhänge zurück und blickte aus dem Fenster auf den Garten, der allmählich in der Dunkelheit verschwand. Wie Rauch schwebte der Abendnebel über dem Gras. Der Himmel war tiefblau, nur der Horizont schimmerte noch rosa. Morgen werden wir schönes Wetter haben, schoß es mir durch den Kopf. Seltsam geformte Laubhaufen lagen auf dem Rasen und warteten darauf, verbrannt zu werden. Weiter rechts sah ich noch eine Erhebung, etwas niedriger – das Zeltdach der Polizei. Ob es irgendwo eine Firma zur Herstellung von Zelten gab, die man über Leichenfundorten aufstellte? Offensichtlich.
Alles war ganz still. Unten am Waldrand saßen Pauls drei Töchter, ihre Körper verschmolzen zu einem einzigen dunklen Schatten. Vom Erdgeschoß drangen Stimmen zu mir herauf, doch ich konnte keine Worte verstehen. In einem Rohr gurgelte es, ein Abfluß vor dem Haus rauschte. Ich hörte Schritte vor meinem Zimmer.
Wahrscheinlich waren es Jerome und die schöne Hana, die vorbeischlichen, rosig vom Duschen und in Handtücher eingehüllt. Ich meinte, ein unterdrücktes Schluchzen zu vernehmen.
Ich öffnete meinen Koffer und zog eine Jacke hervor, streng, schlicht und doch sexy, hochgeschlossen und an den Handgelenken enganliegend. Nachdem ich sie angezogen hatte, war auch meine Fassung halbwegs zurückgekehrt. Ich tupfte mir etwas Parfüm hinter die Ohren und wählte passende Ohrringe. Ich dachte an Natalie in jenem letzten Sommer, wie sie purpurfarbenen Lippenstift ausprobierte und mit ihren katzenähnlichen Augen, die meinen so sehr glichen, unverwandt in den Spiegel starrte. Dann wanderten meine Gedanken zu den Knochen, die ich am Morgen in der Lehmerde gesehen hatte. Was tat ich eigentlich in diesem Haus? Mit Claud, vom dem ich mich trennen wollte, mit seinen Eltern, die meine Gegenwart schmerzen mußte, mit Clauds Bruder Theo, mit dem ich wie ein Teenager vielsagende Blicke durchs Küchenfenster wechselte?
»Jane, Hana, Martha, Alan!« rief Claud die Treppe herauf.
»Kommt herunter. Ich öffne den Champagner.«
3. KAPITEL
Martha und Alans Auftritt wirkte wie einstudiert. Mein Schwiegervater, der bei seinem Eintritt gerade etwas zu seiner Frau sagte, unterstrich seine Worte mit einer Geste seiner großen Hände. Sein Bauch wölbte sich üppig über den Gürtel, der Bart sah eher ungepflegt aus, und das graue Haar fiel ihm bis auf den Kragen. Der grellfarbene Schlips hingegen entsprach der neuesten Mode, und sein Tweedjackett war untadelig. Immer ganz der Bohemien, der auf seine Kleidung keinen Wert legte – allerdings ein Bohemien von der reichen Sorte. Er umarmte Frances, die zufällig an der Tür stand, und bedachte Jerome mit einem herzhaften Klaps auf den Rücken. Jerome, mit kurzgeschnittenem Haar, in Jeans und schwarzem T-Shirt, wirkte traurig und befangen. Er widmete sich ausschließlich Hana, die von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet war, was ihre slawischen Züge betonte.
»Jetzt sind wir ja alle versammelt!« rief Alan. »Ich brauche unbedingt etwas zu trinken.«
Martha neben ihm wirkte blaß und schmaler, als ich sie in Erinnerung hatte. Ihre glänzenden Augen verrieten, daß sie in den letzten Stunden geweint hatte. Jonah ging zu ihr und küßte sie auf die Wange. Er war ein gutaussehender Mann mit dunklen Haaren und blauen Augen. Weshalb hatte ich weder ihn noch Fred je attraktiv gefunden – wie Theo in jenem langen heißen Sommer? Unserem Sommer.
Vermutlich, weil jeder der beiden wie ein halber Mann wirkte. Selbst ihre Ehefrauen, ihr Beruf, ihr Heim hatten keine eigenständigen Persönlichkeiten aus ihnen gemacht.
Für mich waren sie immer noch Jonah-Fred, die Zwillinge, und ich fand ihre Ähnlichkeit nach wie vor ein bißchen komisch, wenn nicht sogar absurd. Ob sie die Leute noch immer zum Narren hielten?
Als Claud die erste Champagnerflasche entkorkte, hielten ihm alle erwartungsvoll die Gläser entgegen.
Jemand flüsterte mir etwas ins Ohr. Es war Peggy.
»Ich bin mir nicht sicher, ob Champagner den Umständen wirklich angemessen ist!«
Ich zuckte unverbindlich die Achseln. Alan klopfte mit dem Feuerzeug gegen sein Champagnerglas, und als er sich sicher war, daß ihm alle ihre Aufmerksamkeit schenkten, trat er in die Mitte des Zimmers. Eine ganze Weile herrschte völlige Stille. Alan blickte gedankenvoll in die Runde. Als er endlich zu sprechen begann, war seine Stimme so leise, daß wir alle die Ohren spitzen mußten.
»Ihr wißt, wie gerne ich euch mit einem Scherz begrüße, aber unser Treffen hat eine andere Wendung genommen als geplant. Gewiß möchte jeder von euch wissen, was ich gerade mit Clive Wilks, dem Chef der Kriminalpolizei in Kirklow, am Telefon besprochen habe. Er hat sich verständlicherweise sehr vorsichtig geäußert, aber auf meine Frage, ob es die sterblichen Überreste eines sechzehnjährigen Mädchens sein könnten, meinte er, das sei durchaus möglich. Was natürlich keine große Überraschung ist.« Er lächelte dünn. »Ich fürchte, der Bau von Janes wunderschönem Pavillon muß erst einmal verschoben werden.
Das Pilzessen ist uns zur Tradition geworden, und die Zusammenkunft unserer beiden Familien mit allen Kindern und nächsten Angehörigen bedeutet mir sehr viel.« Die Zuhörer wurden unruhig. Worauf wollte er hinaus? »Aber an heute werde ich mich bis ans Ende meiner Tage erinnern. Vor fünfundzwanzig Jahren ist unsere Tochter Natalie verschwunden. Eine Zeitlang glaubten wir, oder zumindest versuchten wir zu glauben«, er blickte zu Martha, die mit den Tränen kämpfte, »daß sie davongelaufen war und wieder zu uns zurückkommen würde. Diese Hoffnung verblaßte zwar mit der Zeit, schwand jedoch nie vollständig. Auf jemanden vergeblich zu warten, ist schrecklich, wirklich ganz schrecklich.
Heute haben wir sie nun gefunden und können endlich angemessen ihren Tod beweinen. Sie kann nun zur letzten Ruhe gebettet werden. Ich denke, ich sollte etwas über sie sagen, ich sollte sie, meine einzige Tochter, beschreiben.
Aber mir fehlen die Worte.«
Auf einmal war Alan ein verlorener, trauriger alter Mann. Ich hörte ein deutlich alkoholisiertes Flüstern an meinem Ohr.
»Dieser elende Schauspieler. Er liebt so was, stimmt’s?«
Fred. Er war bereits betrunken. Ich bedeutete ihm, still zu sein.
»Sie war klug, schön und jung; das Leben lag noch vor ihr.«
Ich hörte ein unterdrücktes Schluchzen, wußte aber nicht, aus welcher Ecke es kam. »Sie war aufsässig, und sie war stur.« Jetzt rannen Tränen über Alans Wangen.
»Sie mochte keine Abschiede. Schon als kleines Mädchen schob sie mich weg, wenn ich sie vor der Schule umarmen wollte. Nie winkte sie aus einem Bus, immer hielt sie den Blick nach vorn gerichtet. So war sie, mein kleines Mädchen, nie sah sie zurück. Doch jetzt können wir uns von ihr verabschieden.« Alan blickte auf das Glas in seiner Hand. Etwas gefaßter fügte er hinzu: »Damit beginnt für uns ein neuer Lebensabschnitt.« Er legte einen Arm um Marthas schmale Schultern; sie hielt sie gestrafft, um nicht von ihrem Kummer überwältigt zu werden. »Vielleicht kann ich jetzt sogar wieder ein ordentliches Buch schreiben«, fügte er mit einem kurzen Auflachen hinzu.
»Wie auch immer, ihr sollt wissen, wie ich mich freue, daß wir alle hier versammelt sind. Ihr alle habt Natalie geliebt und sie euch.« Er hielt sein Glas in die Höhe, und der Champagner funkelte im Schein des Feuers. »Ich erhebe mein Glas auf Natalie.«
Wir sahen einander an. Entsprach das den Regeln des guten Geschmacks?
»Auf Natalie.«
Ehe ich auch nur einen Schluck trinken konnte, hatte ich bereits die Hälfte verschüttet, denn Fred hatte mich überschwenglich an sich gedrückt.
»Es tut mir leid wegen deiner Ehe, Jane«, erklärte er mit schwerer Zunge. »Und wegen des Pavillons. Ich habe mich schon so darauf gefreut, dort übernachten zu können.
Aber jetzt wird für immer ein Geist darin umherwandern, stimmt’s?«
»Das würde ich nicht sagen.«
»Doch, doch«, bekräftigte Fred. »Aber die eigentliche Frage ist …« Hier legte er eine so lange Pause ein, daß ich schon dachte, er hätte endgültig den Faden verloren, »…
ob es ein glücklicher oder ein unglücklicher Geist ist.«
»Keine Ahnung«, antwortete ich und suchte nach einem Fluchtweg.
»Und welche Geheimnisse er lüften wird.«
»Ja, aber jetzt essen wir erst mal«, sagte ich und fügte mit lauter Stimme hinzu: »Bitte zu Tisch!«
Es war vorbei. Auf der zu Beginn so stilvoll gedeckten Tafel herrschte ein wüstes Durcheinander. Das Kerzen-licht machte die Gesichter weicher, die Stimmen wirkten gedämpft. Bei den jungen Leuten, die vor dem Feuer Karten spielten, kam keine Spur von Ausgelassenheit auf.
Sogar Alan sprach leise, als er einen Vortrag über den Zustand des zeitgenössischen Romans hielt und dabei den Stiel seines Glases zwischen den Fingern drehte. Ich war erneut in Freds Fänge geraten, der mir doch tatsächlich vorschlug, Claud und ich sollten seine Frau Lynn mit der Abwicklung unserer Scheidung beauftragen. Bevor er mir jedoch die Vorzüge dieser Lösung genauer erklären konnte, wurde Lynn auf ihn aufmerksam und schickte ihn zu Bett.
»Ich falle nur, wenn ich gestoßen werde«, erklärte er, als Lynn ihn unerbittlich nach oben geleitete.
»Alles in Ordnung mit ihm?« fragte ich Lynn, als sie wieder nach unten kam.
Lynn war eine gutaussehende, selbstsichere Frau, wie immer sehr elegant in ihrem dunklen Samtrock.
»Er ist mit der Umstrukturierung des Trustfonds beschäftigt«, erklärte sie. »Ganz schön nervenaufreibend.«
»Kündigungen?«
»Stellenabbau«, sagte sie.
Ich hoffte, sie würde mir mehr darüber erzählen, aber als sie anfing, mir ihr Mitgefühl wegen der bevorstehenden Scheidung kundzutun, verlor ich das Interesse. Ich suchte nach einem Vorwand, das Gespräch beenden zu können und trat zu Hana und Jerome, der immer noch schmollte.
Aber auf meine Fragen erhielt ich nur einsilbige Antworten. Daraufhin ging ich zu Theo, der ins Feuer starrte und zusammenzuckte, als ich seine Schulter berührte. »Verzeihung«, bat ich ihn.
Er drehte sich um, schien mich aber kaum wahrzunehmen.
»Mir gehen die albernsten Dinge durch den Kopf«, erklärte er.
»Als Natalie noch klein war, elf oder zwölf, übten wir im Sommer radschlagen. Ich schaffte es immer nur, wenn ich es ganz schnell machte. Natalie lachte mich dann aus und meinte, ich würde die Beine nicht weit genug in die Höhe strecken. Sie machte es mir vor, wobei ihr das Kleid oder der Rock manchmal bis über den Kopf rutschte. Wir Jungen lachten sie dann aus. Allerdings schaffte sie es langsam, wie es sich gehörte. Runter auf die Hände, dann ein Bein langsam in die Höhe, dann das andere, wie zwei Speichen eines Rads. Und wieder runter. Perfekt. Aber wir waren zu stolz, um ihr das zu sagen.«
»Das hat sie bestimmt nicht gestört«, sagte ich. »Sie wußte immer, was sie konnte.«
»Ich erinnere mich, wie sie drüben am Fenster im Sessel saß und las – dabei hatte sie immer diesen verärgerten Gesichtsausdruck, wenn sie sich konzentrierte. Komisch.«
Ich nickte, brachte aber keinen Ton heraus. Ich war noch nicht soweit.
»Kennst du das alte Klischee: Man kommt von der Schule und muß feststellen, daß sich die kleine Schwester zur Frau gemausert hat? So habe ich es ein bißchen empfunden, als sie zwischen vierzehn und sechzehn war.
Ich kam in den Ferien nach Hause, und sie ging mit den Jungs aus, mit denen sie früher gespielt hatte. Dann tauchte Luke auf, erinnerst du dich?« Ich nickte.
»Ich fühlte mich ganz komisch. Nicht besonders gut.
Zum erstenmal in meinem Leben spürte ich, daß wir alle erwachsen wurden, auch Natalie, die irgendwann Kinder kriegen würde. Aber dazu ist es nie gekommen.«
Er drehte sich zu mir. Seine Augen standen voller Tränen. Ich griff nach seiner Hand.
»An diesen ernsten Blick erinnere ich mich gut«, sagte ich leise. »In diesem furchtbaren, völlig verregneten Sommer, als sie mir erklärte, sie würde jetzt jonglieren lernen, und dann tagaus, tagein mit den drei blöden Bohnensäckchen übte. Auf ihrem Gesicht erschien dieser grimmige Ausdruck, und man sah immer ihre Zungen-spitze in einem Mundwinkel. Jeden Tag trainierte sie, und irgendwann klappte es tatsächlich!« Wir saßen ganz nahe beieinander und tuschelten wie zwei Verliebte. »Ich sehe sie noch hier vor dem Feuer liegen. Die Flammen spiegelten sich in ihren Augen. Ich lag direkt neben ihr.
Wenn uns jemand ansprach, kicherten wir nur. Lieber Himmel, bestimmt waren wir ziemlich nervig.«
Endlich lächelte Theo.
»Das kann man wohl sagen.«
Der Bann war gebrochen. Im Hintergrund öffnete Claud gerade eine Flasche Portwein. Der dickflüssige, purpurfarbene Wein gluckerte leise in die Gläser auf dem Tablett.
Claud hob die Hände, und das Gemurmel verstummte.
»Auf die Köchin!« sagte er und lächelte mich wehmütig über die Reste des Mahls hinweg an. Auf einmal wirkte dieses Festessen fast wie ein Abschied. Ich fragte mich, wie es wohl weitergehen mochte, und spürte, daß ich Angst hatte vor der Zukunft. »Auf Jane!« fielen alle ein.
»Auf Alan und Martha!« ergänzte mein Vater. An dem ungewohnt scheppernden Tonfall in seiner sonst so klaren Stimme hörte ich, daß auch er ein wenig beschwipst war.
»Und auf Claud, der alles organisiert hat!« übertönte Jonah das Stimmengewirr. »Auf Theo, der die Parasol-pilze gefunden hat!« rief jemand von hinten. Damit war die süße wehmütige Stimmung dahin. »Auf uns alle!«
sagte Alan.
»Auf uns alle.«
4. KAPITEL
In der morgendlichen Kälte wollte mein Auto zunächst nicht anspringen. Der Motor stotterte und starb etliche Male ab, bis er sich schließlich freigehustet hatte. Ich kurbelte das Fenster herunter und blickte in das finstere Gesicht meines jüngeren Sohnes.
»Tschüs, Jerome, tschüs, Hana. Ruft mich an, wenn ihr wieder in London seid. Und fahrt vorsichtig.«
Hana gab mir einen Kuß durchs Fenster. Rosie warf ich eine Kußhand zu, worauf sie mit dem Finger auf mich zeigte und ihn anschließend in die Nase steckte. Paul lud eine Unmenge Gepäck in sein Auto. Als ich ihn rief, winkte er mir zu. Alan und Martha standen nebeneinander, um mich zu verabschieden. Ich lehnte mich aus dem Fenster, ergriff Alans Hand und drückte sie.
»Alan« sagte ich, »sollen wir uns treffen, wenn du das nächste Mal in London bist?«
Mir war unbehaglich zumute, als würde ich ihn bitten, mit mir in Kontakt zu bleiben. Er strich mir mit der Hand übers Haar.
»Jane«, meinte er, »du wirst immer unsere Schwiegertochter bleiben. Nicht wahr, Martha?«
»Natürlich«, sagte sie und umarmte mich.
Sie duftete so vertraut nach Puder und Holzfeuer. Sie hatte es immer verstanden, umwerfend sexy und gleichzeitig beruhigend schlicht zu sein. In ihren Augen standen Tränen, als sie mich zum Abschied küßte, und für einen Augenblick überfiel mich der brennende Wunsch, das, was ich in die Wege geleitet hatte, ungeschehen zu machen: die Trennung von ihrem Sohn und die elenden Pläne für den Glaspavillon, die zur Entdeckung ihrer toten Tochter geführt hatten. Sie drückte meine Hand.
»Eigentlich bist du für uns sogar noch mehr eine Tochter als eine Schwiegertochter.« Zögernd fügte sie hinzu: »Laß mich nicht im Stich, Liebes.«
Was meinte sie damit? Wie sollte ich sie im Stich lassen? Claud trat mit einem eleganten Koffer aus dem Haus. Er kam ein paar Schritte auf uns zu, blieb dann aber stehen. Er würde das Ganze mit Würde tragen, aber weiterhin für mich da sein, dachte ich, während ich ihn betrachtete. Wie vertraut dieser Mann mir war. Ich wußte, wo er seine Jeans gekauft und in welcher Reihenfolge er seine Sachen in den Koffer gelegt hatte. Wußte, welche Musik er im Auto hörte und daß er die Tachonadel nicht höher als auf hundertzehn klettern ließ. Bestimmt rief er mich sofort von seiner neuen kleinen Wohnung in Primrose an, um sich zu vergewissern, daß ich gut daheim angekommen war. Anschließend würde er sich einen Whisky einschenken und sich ein Omelett backen.
Robert, den ich in meinem Wagen nach London mit-nahm, saß still und angespannt neben mir. Sein blasses, glattes Gesicht war unbewegt. Ich legte für einen Moment meine Hand auf seine, dann hob ich sie, um Claud zu winken. Er nickte uns zu.
»Auf Wiedersehen, Jane!« rief er und stieg in sein kleines Auto.
Wir verließen Stead gleichzeitig. Während der langen Fahrt durch Shropshire sah ich Clauds blaues Auto und sein dunkles Haar im Rückspiegel. Als wir die Autobahn erreicht hatten, schaltete Robert laute Musik ein. Ich drückte aufs Gaspedal, und bald hatten wir Claud weit hinter uns gelassen.
Zigaretten sind etwas Wundervolles. Jeden Morgen ging ich erst einmal unter die Dusche und anschließend im Bademantel einen Stock tiefer. Ich mahlte mir ein wenig Kaffee, goß frisch gepreßten Orangensaft in ein Glas und zündete mir die erste Zigarette an. Während ich rauchte, überdachte ich Pläne für neue Projekte.
Ich rauchte, sooft ich den Telefonhörer zur Hand nahm.
Ich rauchte im Auto – mein Gott, wie sehr hätte Claud das verabscheut. Oft rauchte ich auch im Dunkeln, abends. Ich sah zu, wie die glühende Spitze Leuchtspuren in der Luft hinterließ. Meine Tage waren eingeteilt in kleine Nikotinportionen. Und ich rauchte jeden Morgen beim Durchblättern der Zeitung, wenn ich nach Neuigkeiten über Natalies Überreste suchte, die man inzwischen mit Hilfe gerichtsmedizinischer Untersuchungen zweifelsfrei identifiziert hatte. Der Guardian schrieb über die
»unglückliche Tochter des angry young man« . »Marello-Tragödie« hieß es in der Mail. Alan gab Interviews.
Meistens waren Archivbilder dabei, die ihn als jungen Mann zeigten, zu Zeiten größeren Erfolgs.
Gegen Ende der Woche rief mich ein Kriminalbeamter aus Kirklow an. Man wollte sich rein routinemäßig mit mir unterhalten. Nein, ich brauchte nicht extra nach Kirklow zu kommen, zwei Beamte hätten nächste Woche ohnehin in London zu tun. Wir vereinbarten einen Termin, und am Dienstag der folgenden Woche saßen Punkt elf Uhr dreißig zwei Kriminalbeamte im vorderen Zimmer: Detective Sergeant Helen Auster, die das Gespräch führte, und Detective Constable Turnbull, ein kräftiger Mann mit straff nach hinten gekämmtem Haar. Ich kochte Kaffee, und Turnbull und ich zündeten uns eine Zigarette an.
Auster trug ein nüchternes graues Flanellkostüm. Sie hatte hellbraunes Haar und durchdringende gelbliche Augen, die offenbar auf einen Punkt hinter meinem Kopf gerichtet waren. Sie trug einen Ehering und war jung, schätzungsweise zehn Jahre jünger als ich. Während wir an unserem Kaffee nippten, tauschten wir Belanglosig-keiten über London aus. Sie hatten es offensichtlich nicht eilig, zur Sache zu kommen. Schließlich schnitt ich das Thema an.
»Treffen Sie sich hier in London mit allen Verwandten von Natalie?«
Helen Auster lächelte und warf einen Blick in ihr Notizbuch.
»Wir kommen gerade von Ihrem Vater, von Mr. Crane«, sagte sie mit einem leichten Birmingham-Akzent. »Nach dem Mittagessen sind wir mit Theodore Martello in seinem Büro auf der Isle of Dogs verabredet. Anschlie-
ßend fahren wir zur BBC-Zentrale und führen dort ein Gespräch mit ihrem Bruder Paul.«
»Sie werden den größten Teil des Tages im Verkehr festsitzen«, stellte ich mitleidig fest. »Glauben Sie denn, daß sich jemand nach so langer Zeit überhaupt noch an etwas erinnert?«
»Wir müssen ein paar Dinge klären.«
»Glauben Sie, daß Natalie ermordet wurde?«
»Nicht auszuschließen.«
»Weil sie vergraben wurde?«
»Nein, weil es Hinweise gibt, daß sie erwürgt wurde.«
»Reichen die Knochenfunde aus, um das feststellen zu können?«
Auster und Turnbull wechselten einen Blick.
»Ein kleines Detail hat uns darauf gebracht«, erklärte Auster.
»Bei einer Strangulation bricht meistens das Zungen-bein, das zwischen Unterkiefer und Kehlkopf liegt. Dieser Knochen ist bei der Toten gebrochen. Allerdings befand sich die Leiche lange Zeit in der Erde.«
»Jemand muß die Leiche vergraben haben«, sagte ich.
»Richtig«, bestätigte Auster.
»Hat diese Person sie auch umgebracht?«
»Vielleicht. Im Augenblick versuchen wir Einzelheiten in Erfahrung zu bringen. Wie Sie sicherlich wissen, war man lange Zeit davon ausgegangen, daß Natalie Martello von zu Hause weggelaufen war. Offenbar ist sie am Morgen des 27. Juli 1969 zum letzenmal gesehen worden.«
»Am Tag nach der Party, richtig«, warf ich ein.
»Erst Monate später wurden Aussagen aufgenommen, aber die Nachforschungen brachten nicht viel.«
Es entstand eine Pause, die ich so schnell wie möglich zu überbrücken versuchte.
»Alle Spuren dürften mittlerweile verwischt sein. Wie wollen Sie da noch etwas herausfinden?«
»Wir bitten die Leute eindringlich, uns jedes kleinste Detail mitzuteilen, an das sie sich erinnern können.«
»Aha. Natürlich.«
Auster sah noch einmal in ihr Notizbuch.
»Gerald Francis Docherty, ein Nachbar, hat Natalie zum letztenmal gesehen, und zwar beim Fluß am nördlichen Rand des Grundstücks Ihrer Schwiegereltern. Natürlich möchten wir wissen, ob jemand sie danach noch einmal zu Gesicht bekommen hat.«
»Ich glaube, das hat man uns damals schon gefragt. Ich habe Natalie nach der Party nicht mehr gesehen.«
»Erzählen Sie uns von der Party.«
»Bestimmt hat Ihnen mein Vater eine Menge davon berichtet. Es war Alan und Marthas zwanzigster Hochzeitstag. Sie kamen an diesem Tag von einer Kreuzfahrt zurück. Mein Vater hat sie in Southampton abgeholt und direkt nach Shropshire gebracht. Die Familie hatte ein großes Fest für sie vorbereitet. Eine Menge Gäste waren gekommen, von denen viele über Nacht blieben, entweder im Stead selbst oder in der Nachbarschaft. Ich glaube, viele schliefen einfach in Schlafsäcken auf dem Fußboden.
Ich erinnere mich hauptsächlich an die Vorbereitungen.
Soweit ich weiß, hat Natalie auch mitgeholfen. Die Party fand an einem dieser wunderbar warmen Sommerabende nach einem richtig heißen Tag statt. Wir wollten grillen.
Claud und Paul hatten alles dafür vorbereitet. Weshalb ist es immer Aufgabe der Männer, sich um das Fleisch zu kümmern? Ich glaube, Natalie hatte ein ärmelloses schwarzes Kleid an. In jenem Sommer trug sie immer Schwarz, genau wie Luke. Und ich machte es ihr nach.
Luke war ihr Freund, das wissen Sie sicher. Beide machten jeden Modetrend mit; sie waren mager und wirkten immer etwas mürrisch. Neben ihnen fühlte ich mich ausgesprochen linkisch, obwohl ich doch diejenige war, die in London wohnte. Aber jetzt schweife ich ab.
Was möchten Sie von mir wissen?«
Helen Auster wirkte ein wenig ratlos und verlegen.
Anscheinend wußte sie selbst nicht so recht, was sie von mir erfahren wollte.
»Wie war Natalie an jenem Abend?«
»Wie meinen Sie das?«
»War sie deprimiert? Verärgert? Ausgelassen?«
Ich spürte, wir mir das Blut in die Wangen stieg. Wenn ich an das Fest dachte, tauchte immer wieder Theo vor mir auf und nicht Natalie.
»Ich habe sie an jenem Abend nicht viel gesehen.
Wissen Sie, es war eine sehr große Party mit ungefähr hundert Gästen.«
»Ich dachte, Sie waren ihre beste Freundin.«
»Ja, schon, aber man erinnert sich doch meistens hinterher nicht mehr daran, was auf einer Party im einzelnen passiert ist, oder?«
»Stimmt«, bestätigte Helen Auster. »Und am nächsten Tag?«
»Da feierten wir sozusagen weiter. Viele Gäste waren ohnehin schon auf Stead oder schauten noch mal vorbei.
Man ging spazieren und machte alles mögliche, und ab Mittag wurde Champagner getrunken.«
»War die ganze Familie da?«
»Bei der Party, ja. Claud, der die Organisation der ganzen Vorbereitungen übernommen hatte, ist am nächsten Morgen noch vor Sonnenaufgang mit seinem besten Freund Alec nach London gefahren, um von dort nach Bombay zu fliegen. Typisch für ihn! Er ist drei Monate lang durch Indien gereist mit ungefähr zwanzig Pfund in der Tasche. Wir hatten immer vorgehabt, zusammen hinzufahren. Das scheint jetzt eher unwahrscheinlich. Ich sollte vielleicht dazu sagen, daß wir in Scheidung leben.«
»Das tut mir leid.«
»Ist schon in Ordnung, ich wollte es selbst so. Im Laufe des Tages zerstreuten sich die Gäste. Wie soll man denn heute noch rekonstruieren können, wer sich an jenem Tag wo aufgehalten hat?«
»Abgesehen von Natalie. Sie war kurz vor eins am Fluß.
Gab es einen besonderen Grund dafür?«
»Mir fällt keiner ein. Jedenfalls kein besonderer. Aber es scheint mir auch nicht so verwunderlich, daß sie sich gerade dort aufgehalten hat. Ich fürchte, ich bin keine große Hilfe.«
»Macht nichts. Soweit ich weiß, hat man die Entdeckung der Leiche in gewissem Sinne Ihnen zu verdanken.
Weshalb wollten Sie das Gästehaus gerade an dieser Stelle bauen?«
Ich erklärte, daß ich den Pavillon ursprünglich weiter unten am Hang geplant hatte, aber meine Absicht änderte, als ich entdeckte, daß unter der Stelle ein kleiner Flußarm verlief. Die Dränage wäre sehr schwierig und kostspielig geworden. Ich erzählte von den Aushubarbeiten und wie wir auf Natalies Knochen gestoßen waren.
»Wieso haben Sie gleich angenommen, daß es Natalies Knochen sind?« fragte sie.
»Ich weiß nicht«, antwortete ich etwas verblüfft.
»Wahrscheinlich nur deshalb, weil Natalie verschwunden war und ich immer geglaubt habe, daß sie tot ist, obwohl Martha das nie wahrhaben wollte. Und als man in der Nähe des Hauses Knochen fand, na ja …« Verwirrt brach ich ab und begann erneut.
»Ich war immer überzeugt, daß wir eines Tages Natalies Leiche finden würden. Also habe ich irgendwie darauf gewartet. Vielleicht wie wir alle. Aber mir ist nie der Gedanke gekommen, daß sie … na ja, daß sie ermordet worden sein könnte. Ich dachte eher an einen Unfall oder so. Die Entdeckung der Knochen war schrecklich, nicht nur weil es Natalie war, sondern weil jemand sie dort vergraben haben muß. Ach ja, das wollte ich Sie eigentlich fragen: Finden Sie nicht auch, daß das ein sonderbarer Ort ist, um Natalie zu begraben … im Garten, genau dort, wo sie gewohnt hat?«
Auster lächelte. »Eigentlich ist es ein besonders schlaues Versteck! Die meisten Mörder vergraben ihre Leichen nicht sehr geschickt. Abgelegenes Gebüsch oder sumpfiges Gelände scheint auf den ersten Blick zwar geeignet, aber meist ist an derartigen Orten wenig los, und es fällt sofort auf, daß jemand dort gebuddelt hat. In einem Garten dagegen wird ständig umgegraben.«
»Aber in einem Garten sind doch dauernd Menschen in der Nähe«, wandte ich ein.
»Das ist richtig«, sagte sie, schien aber mit mir nicht über Theorien diskutieren zu wollen. »Also, falls Ihnen irgend etwas einfällt, das wichtig sein könnte, melden Sie sich bitte bei uns.«
Sie blickte auf ihre Uhr und fragte nach dem nächsten Pub. Gleich am Ende der Straße, erklärte ich ihr, und sie lud mich ein, sie zum Essen zu begleiten. Obwohl ich Pubs hasse und auch nicht hungrig war, willigte ich ein, auf einen Drink mitzukommen. Turnbull wollte vor dem Termin auf der Isle of Dogs noch in die Oxford Street.
Also gingen Helen und ich allein die Straße hinunter zum
›Globe Arms‹. Sie bestellte sich ein Bier und eine Lasagne, während ich mich mit einem Tomatensaft und einer Zigarette begnügte. Helen – wie ich sie nun nannte –
gefiel mir zusehends besser. Sie erzählte von sich, ihrem Leben als Kriminalbeamtin, den Sitten in der Kantine und von ihrem Mann, der als Filialleiter beim Supermarkt Sainsbury in Shropshire arbeitete. Als sie nach meiner Scheidung fragte, antwortete ich ausweichend. Kurz bevor wir gehen mußten, kam ich noch einmal auf den Fall zu sprechen: »Es ist doch bestimmt zu spät. Sie werden sicher nichts herausfinden können.«
»Wir haben ein paar Anhaltspunkte, aber es wird nicht einfach sein.«
»Sieht so aus, als hätten Sie schlechte Karten.«
»Das Gefühl habe ich auch. Andererseits scheinen die Martellos eine recht interessante Familie zu sein.«
Helen gab mir ihre Visitenkarte und schrieb ihre Durch-wahl noch dazu. Als wir uns auf der Highgate Road voneinander verabschiedeten, bat ich sie, sich bei ihrem nächsten Besuch in London bei mir zu melden. Sie versprach es. Ist es möglich, daß ich mich mit einer Polizistin anfreunde?
»Findest du nicht, es ist an der Zeit, das Rauchen wieder aufzugeben?«
Kim saß mir gegenüber. Eine flackernde Kerze warf Schatten auf ihr blasses, schmales Gesicht. Sie spießte einen Bissen Schwertfisch auf die Gabel und spülte ihn mit einem Schluck Wein hinunter.
»Auf wieviel bringst du es mittlerweile? Dreißig pro Tag?«
Ich hatte fertig gegessen, oder besser gesagt, mein Essen annähernd unberührt beiseite geschoben und blies nun zufrieden den blauen Rauch über den Tisch mit den Essensresten. Ich winkte dem italienischen Ober und deutete auf die leere Weinflasche.
»Noch mal das gleiche, bitte.«
Ich klopfte die Asche in den Aschenbecher.
»Hoffentlich mehr als dreißig. Ich höre bald wieder damit auf. Ehrlich. Das Problem ist nur, daß ich so gerne rauche. Mir wird nicht schlecht oder sonstwas.«
Der Ober brachte eine neue Flasche und entkorkte sie.
»Ich habe schon mehrmals aufgehört. Ohne Schwierigkeiten. Ich schaffe es wieder.«
»Gestern habe ich mir die Untersuchungsergebnisse einer Frau angesehen, die ich vor kurzem zum Röntgen des Thorax geschickt hatte. Sie leidet an chronischem Husten und Schmerzen in der Brust. In einem Jahr wird sie tot sein. Vierundvierzig, drei Kinder im Teenager-alter.«
»Hör auf.«
»Und geht es mit deinem Wohnheim voran?«
»Hör auf.«
Es ging nicht voran. Bisher gab es weiter nichts als ein Baugrundstück auf einem Blatt Papier, eine Besprechung im Büro, ein paar Gespräche in den verschiedenen Abteilungen und einen Tagesordnungspunkt bei der Planungsabteilung. Auf Dutzenden großformatiger Blätter Millimeterpapier hatte ich meine Vorschläge festgehalten und mit spitzem Stift geometrische Zeichnungen angefertigt, Kästchen für Kästchen. Ich wartete nur auf das Startzeichen. Mittlerweile hieß es, man müsse die Sache noch mit Leuten aus der Region besprechen. Das Ganze gefiel mir gar nicht.
»Gut, vergiß das Wohnheim«, sagte Kim. »Reden wir von dir. Was treibst du so, jetzt, wo du allein bist?«
Ich genehmigte mir eine weitere Zigarette und schenkte mir noch ein Glas Wein ein.
»Ich bin eine faule, alleinstehende Frau geworden«, erklärte ich. »Bei Abendeinladungen werde ich immer öfter neben irgendeinen frisch geschiedenen Gast gesetzt.
Passiert dir das auch manchmal?«
Kim zuckte die Achseln. »Inzwischen nicht mehr.«
»Normalerweise fällt mir nichts ein, worüber ich mich mit diesen Herren unterhalten könnte«, fuhr ich fort.
»Ansonsten melden sich plötzlich wieder alte Freunde, die ich seit Ewigkeiten nicht gesehen habe, um mir zu sagen, wie leid es ihnen tut, daß Claud und ich uns getrennt haben. Ich werde den Eindruck nicht los, daß mich manche ganz gern bemitleiden. Alles in allem genieße ich es aber, allein zu leben.« Ich war selbst überrascht, wie fest meine Stimme klang. »Mitten am Tag sehe ich mir Filme im Fernsehen an, ich besuche Ausstellungen und wärme alte Bekanntschaften auf. Ich kann so unordentlich sein, wie ich will. Nur das Haus kommt mir schrecklich groß vor. Jahrelang haben wir zu viert darin gewohnt, und jetzt bin ich auf einmal die einzige. Manche Zimmer betrete ich gar nicht mehr. Irgendwann muß ich das Haus wohl verkaufen.«
Nicht nur, daß das Haus groß war – ich fühlte mich darin auch einsam. Also hielt ich mich dort so wenig wie möglich auf. Dabei hatte ich es früher sehr genossen, wenn Claud und die Jungen nicht da waren und ich ganz für mich sein konnte. Fast zwei Jahrzehnte lang war ich täglich außer Sonntag ins Büro gegangen und abgehetzt in ein chaotisches Haus zurückgekehrt, in dem die Jungen lautstark meine Aufmerksamkeit einforderten. Ich staubsaugte und bügelte, wusch die Wäsche, kochte und chauffierte die Kinder, als sie älter waren, zu immer bedenklicheren gesellschaftlichen Veranstaltungen. Ich gab Abendeinladungen für meine oder Clauds Kollegen, besuchte Weihnachtsaufführungen und ging im Sommer mit zu den Sportfesten. Ich zauberte aus einem leeren Kühlschrank Proviantpakete, spielte Monopoly, was ich haßte, und Schach, bei dem ich immer verlor – und träumte dabei stets von einem Buch am Kamin. Ich buk Kuchen für den Flohmarkt der Schule und werkelte noch spätabends in der Küche, um vor mir selbst als gute Mutter dazustehen, besonders nachdem meine eigene gestorben war. Ich ertrug den Krach der neuesten Hits, die mir das Gefühl gaben, alt zu werden, obwohl ich doch erst Mitte Dreißig war. Ich setzte mich mit Akne, schmollenden Gesichtern und Hausaufgaben auseinander und blieb im Schlafzimmer, während die Jungen ihre Partys feierten.
Abend für Abend tranken Claud und ich einen Gin Tonic vor dem Essen. Nacht für Nacht schreckte ich hoch, den Kopf voller Termine und Dinge, die ich erledigen mußte.
Morgens wachte ich müde und mit Kopfschmerzen auf, abends legte ich mich in dem Bewußtsein schlafen, daß mir vor lauter Verpflichtungen keine Zeit für mich blieb.
Jetzt ertönte keine dröhnende Musik mehr, es gab keine schmollenden Gesichter und keine Anrufe mehr um ein Uhr nachts aus Telefonzellen: »Mama, ich habe meine Mitfahrgelegenheit verpaßt. Kannst du mich abholen?« Es war niemand mehr da, ich konnte tun, wonach mir der Sinn stand. Nun besaß ich, was ich immer vermißt hatte: Zeit für mich. Aber da ich nicht wußte, was ich mit ihr anfangen sollte, füllte ich sie, so gut ich konnte. In diesem November arbeitete ich viel und blieb oft bis acht Uhr abends im Büro. Ich ging häufig aus. Es stimmt, daß ich unzählige Einladungen erhielt von Leuten, die meinten, mich aufheitern zu müssen, oder die einen zusätzlichen weiblichen Gast bei Tisch brauchten. Außerdem ging ich ins Kino, manchmal am hellichten Tag.
Wenn ich nach Hause kam, trank ich ein Glas Wein, rauchte ein paar Zigaretten und nahm mir einen Thriller mit ins Bett. Die dicken viktorianischen Schmöker, die zu lesen ich mir fest vorgenommen hatte, mußten warten. An Wochenenden besuchte ich Filmmatinees und ging spazieren. War es im Herbst immer so feucht? Eines Sonntags besuchte ich meinen Vater und kochte für ihn Mittagessen. Nachdem wir gegessen hatten, fragte ich ihn, ob ich mir seine Fotoalben ansehen könne. Ich suchte Fotos von Natalie, denn ich besaß selbst kein einziges von ihr. Claud und ich hatten Natalie nach und nach aus unserem Leben verdrängt. Jetzt wollte ich sie zurückhaben. Ich blätterte die alten Alben durch; häufig war sie nur verschwommen am Rand eines Fotos zu sehen oder kaum erkennbar auf den Gruppenbildern, die wir jeden Sommer machten: elf Gesichter blickten gebannt in die Linse. Da waren Alan und Martha – jung, schön und bester Stimmung; und dort meine Mutter – immer nur von der Seite, mit abgewandtem Kopf. Wie sehr sie es gehaßt hatte, fotografiert zu werden! Nachdem sie gestorben war, suchte Dad nach einem Erinnerungsfoto, auf dem sie gut getroffen war. Doch sie war immer nur im Profil zu sehen.
Von Paul und mir gab es unzählige Bilder: als Babys mit rundem Bäuchlein und nackten Beinen, feierlich ernst im Alter von sechs oder sieben, linkisch mit dreizehn, eingefangen von der Kamera, eingeklebt in Dads Fotoalbum und von ihm in schnörkeliger Handschrift kommentiert. Auf einem Bild standen Natalie und ich als Achtjährige Hand in Hand vor Stead und starrten in die Linse. Wir sahen uns damals recht ähnlich, obwohl ich ängstlich lächelte und Natalie finster dreinblickte. Natalie lächelte selten, und schon gar nicht, um jemandem einen Gefallen zu tun. Ich nahm dieses Foto mit und dazu noch eines, das ungefähr eine Woche vor Natalies Tod aufgenommen worden war. Darauf trug sie ein ärmelloses TShirt und abgeschnittene Jeans, saß auf dem Rasen des Hauses und las ein Buch. Sie hatte die schlaksigen Beine angezogen, eine Locke fiel ihr in das blasse Gesicht. Sie war vollkommen in das Buch vertieft. Waren die letzten Worte, die wir gewechselt hatten, freundlich gewesen, oder hatten wir gestritten? Ich wußte es nicht mehr. Woran erinnerte ich mich überhaupt? Beispielsweise hatte ich nicht vergessen, wie ich mit ihr in Forston – in der Nähe von Kirklow – auf eine Party ging. Wir waren damals ungefähr vierzehn. Ich erzählte ihr von einem Jungen und wie ich mich darauf freute, ihn wiederzusehen. Wie hieß er gleich? Er hatte blondes, in der Mitte gescheiteltes Haar. Nach einer Weile verschwand Natalie. Als ich später durchs Haus schlenderte, stolperte ich nahezu über sie und den blonden Jungen, die engumschlungen auf dem Boden lagen. Sie waren die ganze Zeit zusammen, und der Abend schien kein Ende zu nehmen. Um elf Uhr holte Alan uns in seinem Rover ab. Ich saß hinten, am Boden zerstört. Da rutschte Natalie zu mir herüber, schlang wortlos die Arme um mich und drückte mich an sich. Ich roch das Patschuli-Parfüm des Jungen in ihrem Haar. Vergab ich ihr oder sie mir?
Einen Monat nachdem wir Natalie gefunden hatten, war ich zu einer Vernissage eingeladen, wo ich William wiedersah, einen Anwalt, der früher mit einer Frau verheiratet gewesen war, zu der ich schon seit langem keinen Kontakt mehr hatte.
William war groß, blond und gutaussehend, aber nicht auf Wirkung bedacht. Ich hatte ihn als schlanken Mann in Erinnerung, mittlerweile hatte er jedoch einen unüber-sehbaren Bauchansatz. Wir schlenderten durch die Galerie, langstielige Gläser mit Sekt in den Händen, und sahen uns die großen, eklektizistischen Gemälde an. Der Sekt wirkte entspannend auf mich. Ich erzählte William vom Ende meiner Ehe, worauf er wissen wollte, weshalb ich Claud verlassen hatte.
»Ich glaube«, antwortete ich zögernd, »der Gedanke, daß dies mein Leben sein sollte, war für mich unerträglich.
Aber das ist alles schwer in Worte zu fassen.«
Er erzählte mir, daß er sich vor sieben Jahren von Lucy getrennt hatte und seine Tochter jedes zweite Wochenende besuchte. Sie waren auseinandergegangen, weil er eine Affäre mit einer Frau aus seinem Büro gehabt hatte.
»Ich weiß gar nicht, weshalb ich mich darauf einließ«, erklärte er. »Es war wie eine Besessenheit, wie ein Erdrutsch, der mich mitgerissen hat.«
Als ich sagte, diese Entschuldigung hätte ich schon einmal gehört, lächelte er traurig.
»Himmel, Jane, das weiß ich«, antwortete er. »Als Lucy wegging, habe ich mir die andere Frau angesehen und sie nicht mal das kleinste bißchen begehrt, überhaupt nicht.
Aber ich habe meine Ehe zerstört und mein einziges Kind verloren.«
Er starrte auf ein Bild, das nur aus einem riesigen, orangefarbenen Farbklecks bestand.
»Ich hasse mich dafür«, bekannte er.
Aber das war wohl ein wenig übertrieben. Er führte mich in eine Kellerbar und bestellte eine Flasche trockenen Weißwein und etwas zum Knabbern. Dann erzählte er mir, er hätte mich auf Anhieb wiedererkannt und mich schon immer attraktiv gefunden. Mittlerweile war ich zwar etwas beschwipst, aber gleichzeitig fast unheimlich klar im Kopf. Ich konnte es wagen, dachte ich. William war kein Mann, der tiefe Spuren hinterlassen würde. Trotzdem war ich nervös. Ich rauchte, spielte mit meinem Haar, aß ein paar Erdnüsse und trank ein weiteres Glas. Als wir die Flasche geleert hatten und William mich fragte, ob ich noch eine wollte, hörte ich mich sagen: »Weshalb kommst du nicht mit zu mir und trinkst dort noch was? Mit dem Taxi sind es keine zehn Minuten von hier.«
Zu Hause zog ich alle Vorhänge zu, legte Musik auf und drehte sogar den Dimmer herunter. Ich füllte zwei Gläser mit Wein und setzte mich neben William aufs Sofa. Mein Mund war trocken, und das Blut pochte in meinen Schläfen. William legte eine Hand auf mein Knie. Ich blickte auf die ungewohnten, dicken Finger. Aus den Augenwinkeln sah ich den Anrufbeantworter, der mir zublinkte, daß Nachrichten eingegangen waren. Ich hatte vergessen, meinen Vater anzurufen. Ich drehte mich zu William, und wir küßten uns. Sein Atem roch sauer. Ich spürte, wie seine Hand unter meinen Rock glitt und sich an meinem bestrumpften Bein hochschob. Wie oft er so was wohl tat? Ich wich zurück und sagte: »Ich bin aus der Übung. Ich weiß nicht mehr, wie es geht«, woraufhin er nur den Kopf schüttelte und mich erneut küßte.
»Wo ist das Schlafzimmer?« flüsterte er.
Er zog die Schuhe aus und stopfte die Socken ordentlich hinein. Ich schlüpfte aus der Jacke und begann meine Bluse aufzuknöpfen. Inzwischen öffnete er die Gürtelschnalle, stieg aus der Hose und legte sie sorgsam zusammengefaltet auf einen Stuhl. Plötzlich durchzuckte mich ein heftiger Widerwille ihm gegenüber, aber gleichzeitig verspürte ich ein gedämpftes Verlangen. Mir war eiskalt, als ich die Bluse auszog, ich fühlte mich schrecklich unbeholfen. Während ich den Büstenhalter öffnete, fiel mein Blick in den Spiegel: Auf meinen Brüsten waren leichte Dehnungsstreifen zu sehen, und über meinen Bauch zog sich die Kaiserschnittnarbe von Jeromes Geburt. Seit Oktober hatte ich abgenommen; meine Arme waren dünn, meine Handgelenke knochig.
Ich wandte mich zu William um, der in Unterhosen dastand.
»Was soll ich jetzt tun?«
»Leg dich aufs Bett. Ich will dich anschauen. Du bist wunderschön, weißt du das?«
Ich zog meinen Slip aus und legte mich ausgestreckt mit geschlossenen Augen auf das breite Bett. Eine Mischung aus Erregung und Verlegenheit ergriff mich, während Williams Hände langsam über meinen Körper wanderten.
Ich hörte das Telefon klingeln und das Klicken des Anrufbeantworters, und dann drang die Stimme unüberhörbar aus dem Erdgeschoß ins Schlafzimmer: »Mama, hallo, ich bin’s, Robert. Es ist Donnerstag abend. Ich wollte nur wissen, ob bei dir alles okay ist. Laß mal hören, was du so machst.« Was ich so machte? Das hätte ich selbst nur zu gerne gewußt.
Ich erzählte Kim an jenem Abend nicht viel von William, außer daß ich nach zwanzig Jahren das erste Mal mit jemand anderem als Claud Sex gehabt habe und es ganz in Ordnung war, wenn auch etwas nervenaufreibend.
»Die ganze Zeit habe ich mir vorgestellt, daß die Haustür aufgeht und Claud reinkommt.«
»Hast du wenigstens Spaß gehabt?« Kim sah mich seltsam an.
»Ja, irgendwie schon. Ich meine, er war ganz nett, ich hab’s genossen. Aber am nächsten Tag kam es mir etwas seltsam vor. Dieses Gefühl habe ich immer noch. Es ist so, als wäre es gar nicht mir passiert, sondern jemand anderem.«
»Komm, Jane.« Kim stand auf. »Ich bring dich nach Hause.«
Ich kochte Kaffee, und Kim zündete ein Feuer im Kamin an. Das machte sie schon immer gerne, sogar in unserer Studentenzeit. In meinem letzten Jahr an der Universität wohnten wir zusammen in einem Haus, und Kim saß stundenlang vor dem Feuer, starrte hinein und legte Holz nach. Als hätte sie meine Gedanken geahnt, meinte sie:
»Ist dir eigentlich klar, Jane, daß wir uns länger als die Hälfte unseres Lebens kennen?«
Ich wollte etwas erwidern, schwieg dann aber doch. Kim ging neben meinem Stuhl in die Hocke, nahm meine Hände und blickte mich lange an.
»Sieh mich an, Jane«, sagte sie.
Ich starrte in ihre klugen Augen. Sie zog ein Taschentuch hervor und wischte die Tränen weg, die mir die Wangen hinunterrannen.
»Deine Wimperntusche zerläuft«, stellte sie trocken fest.
»So wirst du bei keinem Mann Eindruck schinden, es sei denn, du willst mit einem Zebra ausgehen.«
»Ich weiß gar nicht, weshalb ich weine«, schluchzte ich.
Der Schmerz lag in meiner Brust wie ein dicker Klumpen.
»Ich bin nur so müde. Ehrlich, ich bin einfach müde. Die vergangenen Wochen haben eine Menge in mir aufgewühlt.«
»Jane«, sagte sie, »jetzt hör mir mal zu. Du ißt nicht mehr. Du rauchst wie ein Schlot. Du trinkst viel mehr als sonst. Du arbeitest zehn, zwölf Stunden am Tag. Du kannst nicht richtig schlafen. Du gehst Abend für Abend aus, als würdest du vor etwas davonlaufen. Sieh dich mal im Spiegel an: Du bist nicht bloß müde, sondern vollkommen erschöpft. Du hast Claud verlassen, und deine Söhne haben dich verlassen, du hast Natalies Überreste gefunden. Innerhalb weniger Wochen hat sich alles in deinem Leben verändert, und das ist mehr, als du ertragen kannst. Verlang nicht so viel von dir. Wenn du meine Patientin wärst, würde ich dir raten, professionelle Hilfe zu suchen.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich glaube, du solltest zu einem Therapeuten gehen«, erklärte Kim. »Du stehst unter Schock. Vielleicht hilft dir ein Gespräch.«
Ich putzte mir die Nase und wischte mir das Gesicht ab.
Dann zündete ich mir noch eine Zigarette an. Wir tranken Tee, aßen Kekse und spielten eine Partie Schach, die ich wie üblich verlor.
Wieder fing ich an zu weinen. Ich schluchzte mein ganzes Elend heraus, jammerte, wie sehr ich Claud und meine Jungen vermißte, und daß ich nicht wüßte, was ich mit meinem Leben anfangen sollte, bis Kim mich schließlich wie ein Kind ins Bett brachte und neben mir sitzen blieb, bis ich eingeschlafen war.
5. KAPITEL
Sie war jünger, als ich erwartet hatte. Und sie war eine Frau. Meine Überraschung spiegelte sich offensichtlich in meinem Gesicht wider.
»Alles in Ordnung?« fragte sie.
»Entschuldigung«, sagte ich. »Ich habe wahrscheinlich einen alten Mann mit weißem Bart und Wiener Dialekt erwartet.«
»Fühlen Sie sich bei einer Frau unwohl?«
»Na ja, ich hatte noch nicht einmal Gelegenheit, mich zu setzen, Dr. Prescott.«
Dr.
Prescotts ohnehin beeindruckende Erscheinung wurde durch ihre Körpergröße von mindestens einsachtzig noch unterstrichen. Sie hatte eine blasse, fast schon durchsichtige Haut und eine lange, spitze Nase. Ihr welliges braunes Haar war sicher lang, aber so geschickt frisiert, daß sich nur im Nacken ein paar Strähnen kräuselten, was ihr eine gewisse Ähnlichkeit mit den Brontë-Schwestern verlieh. Eine ziemlich kräftige, gesunde, elegant gekleidete Brontë-Schwester. Ich hatte auf meiner Fahrt von Waitrose zum geplanten Bauplatz des Wohnheims bei ihr haltgemacht und war ein wenig eingeschüchtert von ihrem schicken Kostüm. Und ziemlich beschämt, weil ich mich einschüchtern ließ.
Hatte ich erwartet, daß Therapeutinnen sich in lange, wallende Gewänder hüllen und Räucherstäbchen anzünden?
»Muß ich ein Formular oder so was ausfüllen?«
»Jane – erlauben Sie, daß ich Sie so nenne?«
Dr. Prescott schüttelte mir die Hand und hielt sie lange fest, als prüfe sie ihr Gewicht. »Ist ein offizieller Rahmen für Sie wichtig?«
»Gehört das zur Therapie?«
»Wie meinen Sie das?«
Ich sagte lange nichts und atmete tief ein und aus. Ich stand immer noch, und meine Psychoanalytikerin hielt immer noch meine Hand.
»Entschuldigen Sie, Dr. Prescott«, begann ich langsam.
»Mein Leben ist im Augenblick ziemlich verworren. Eine Freundin, die Ärztin ist und der ich mehr als jedem anderen auf der Welt vertraue, meinte, ich befinde mich in einer Krise. Außerdem habe ich heute einen ziemlich hektischen Tag. Ich war schon in aller Herrgottsfrühe bei Waitrose und habe meine Einkäufe erledigt. Dann bin ich nach Hause gehetzt, habe alles abgeladen – da fällt mir ein, ich habe die Eiskrem nicht in den Gefrierschrank gelegt –, und bin anschließend sofort hierhergerast. Sobald ich hier fertig bin, muß ich zu einer Baustelle, wo ich mich mit einer Beamtin aus dem Planungsreferat treffe, die mir erklären wird, daß an dem Entwurf verschiedene Änderungen vorgenommen werden müssen, weil er sonst nicht genehmigt werden würde. Und das ist nur der Anfang eines Projekts, das mir sehr am Herzen liegt und an dem ich nun wahrscheinlich verzweifeln werde.
Jetzt bin ich in Ihrer Praxis, und ich hatte gehofft, hier so etwas wie einen Zufluchtsort zu finden, an dem ich meine Probleme loswerden kann. Ich hatte die vage Vorstellung, daß wir erst mal darüber reden, was mir eine Therapie bringen kann, über grundsätzliche Regeln sprechen und festlegen, worüber wir uns unterhalten sollten. So oder ähnlich. Aber im Augenblick möchte ich mich eigentlich nur hinsetzen und irgendwie vernünftig anfangen.«
»Dann setzen Sie sich doch, Jane.«
Dr. Prescott deutete auf die ramponierte Couch, über die eine orientalisch aussehende Decke gebreitet war. Rasch blickte ich mich im Zimmer um. Zweifellos war jedes Detail bewußt angeordnet. Am Kopfende der Couch stand ein Lehnstuhl. Ein Mark-Rothko-Poster hing an der Wand, die man als Patient auf der Couch nicht sehen konnte. Auf dem Fensterbrett hinter dem Lehnstuhl stand eine kleine abstrakte Skulptur mit einem Loch; vermutlich war sie aus Speckstein. Die Wände und die Decke waren in Weiß gehalten, was wohl neutral wirken sollte. Das war alles.
»Soll ich mich hinsetzen oder hinlegen?«
»Wie Sie möchten.«
»Es ist ein Sofa.«
»Wie es Ihnen lieber ist.«
Verärgert legte ich mich auf die Couch und starrte auf die Rauhfasertapete – typisch für eine Renovierung in den achtziger Jahren. Weiß der Himmel, was sich darunter verbarg. Wenn Dr. Prescott die Praxis später als 1987
gekauft hatte, war der absolute Wert wahrscheinlich gesunken. Sie setzte sich links hinter mich.
»Können wir nicht einfach mit dem Geschäftlichen beginnen?«
»Warum verwenden Sie diesen Ausdruck?«
»Nein, nein, nein, ich will nicht darüber sprechen, weshalb ich den Ausdruck ›Geschäftliches‹ verwende.
Dr. Prescott, ich fürchte, wir hatten einen Fehlstart. Wenn wir so weitermachen, haben wir es in einer Stunde noch nicht bis zum ›Guten Morgen‹ geschafft.«
»Was möchten Sie machen?«
Ich fühlte ein Brennen in den Augenwinkeln, als müßte ich jeden Moment weinen.
»Ich möchte eine Zigarette rauchen. Darf ich?«
»Tut mir leid, das geht nicht.«
»Weshalb tut Ihnen das leid?«
»Das ist nur eine Redewendung.«
Ich verrenkte meinen Kopf, damit ich ihr in die Augen blicken konnte.
»Nur eine Redewendung?«
Sie fand das nicht komisch.
»Jane, was wollen Sie?«
»Ich glaube, ich habe eigentlich erwartet, daß Sie mich fragen, was mich bedrückt, und ich Ihnen erzähle, was mir durch den Kopf geht, welche Strapazen hinter mir liegen und daß wir von diesem Punkt aus zu arbeiten beginnen.«
»Also reden Sie.«
»Dr. Prescott, darf ich Sie etwas fragen?«
»Sie können alles sagen oder fragen, was Sie möchten.«
»Haben Sie mit so was Erfahrung? Ich bin in einem zermürbten, geschwächten Zustand. Wir sollten vielleicht darüber sprechen, wie es mir gelingt, genug Vertrauen aufzubauen, um mich Ihnen zu überlassen.«
»Warum brauchen Sie das Gefühl von Vertrauen?«
»Wenn ich mein Auto zur Reparatur in eine Werkstatt bringe, möchte ich wissen, ob die Mechaniker kompetent sind. Ich erkundige mich, ob die Werkstatt etwas taugt.
Bevor ich mich auf die Therapie einlasse, brauche ich eine Vorstellung davon, was sie mir bringt.«
»Jane, das ist die Therapie. Alles, was sich in diesem Zimmer abspielt, ist Teil der Therapie. Um Vertrauen zu gewinnen, muß man sich darauf einlassen.«
Alle am Tisch lachten. In der Situation selbst war es ein Alptraum gewesen, aber als ich dann am späteren Abend davon erzählte, unter dem Einfluß von Wein und Karamel-creme und jetzt auch noch Käse, bekam er komische Züge.
»Ich spürte, daß ich der Sache nicht gewachsen war«, fuhr ich fort. »Ich wollte mich unbedingt rückversichern und stolperte in die Förderklasse für Destruktive. Es war nicht möglich, sie auf etwas festzunageln. Jedesmal, wenn ich sie etwas fragte, verhielt sie sich wie die Katze Macavity. Plötzlich war sie verschwunden oder hatte sich zur Seite gedreht und meinte, wir sollten überlegen, weshalb ich das Bedürfnis hatte, gerade diese Frage zu stellen. Ich hätte eine.45er Magnum gebraucht, um diese Frau dazu zu bringen, daß sie mir die Uhrzeit sagt.«
Was ich brauchte, war diese Therapie hier. Ich war in Paul und Ericas luxuriösem Haus in Westbourne Grove, dem exotischen Teil Londons, in dem ich mir etwas deplaziert vorkam. Unter anderem saß Crispin mit am Tisch, einer der Regisseure von Pauls Gameshow Surplus Value, und seine Freundin Claire. Außerdem GUS, der unvermeidliche, passable Single. Er war nicht übel, aber ich fühlte mich weit mehr angezogen von den beiden anderen Männern, Philip und Colin, zwei Bauunter-nehmern aus Australien. Beide schienen mir als Seelen-tröster für eine Nacht eine weitaus bessere Alternative zu sein als dieses männliche Wesen, dessen Namen ich bereits wieder vergessen hatte. Doch leider waren sie nicht nur schwul, sondern lebten auch zusammen. Ihre Fachkenntnis war nicht berauschend, aber in anderer Hinsicht hatten sie durchaus von der körperlichen Arbeit im Freien profitiert.
»Du konntest dich also überhaupt nicht verständlich machen?« fragte Paul.
»Doch. Aber am Ende blieb mir nur übrig aufzustehen und zu sagen: ›Ich gehe. Und damit meine ich, daß ich jetzt aus dem Zimmer gehe und es nie wieder betreten werde.‹ Worauf sie doch sage und schreibe antwortete:
›Wogegen wehren Sie sich?‹ Plötzlich sah ich mich für den Rest meines Lebens in diese Unterhaltung verstrickt, wie jemand, der unbarmherzig in einen Strudel gezogen wird. Also mußte ich leider zu ihr sagen, sie solle mir den Buckel runterrutschen. Dann stürmte ich – im wahrsten Sinne des Wortes – aus der Tür.« Ich nahm einen Schluck Wein und zog genüßlich an meiner Zigarette. »Und als ich zum erstenmal wieder klar denken konnte, saß ich hier und erzählte euch die Geschichte.«
»Du hättest einen Eimer Wasser über sie schütten sollen«, sagte Paul. »Wahrscheinlich hätte sie sich in nichts aufgelöst. Trotzdem, alle Achtung!«
»Aber weshalb haben Sie sich dagegen gesträubt?«
Alle schwiegen. Die Frage kam von Gus, dem Lehrer, der bis dahin geschwiegen hatte.
»Wie bitte?«
»Sie haben der Sache keine Chance gegeben«, meinte er.
»Ihre junge Therapeutin lag gar nicht so falsch. Wenn einer meiner Schüler mich fragt, warum wir Geschichte lernen müssen, sage ich ihm, er soll still sein. Allein die Tatsache, daß er noch so jung ist und von Geschichte keine Ahnung hat, bedeutet, daß er nichts von dem verstünde, was ich ihm erklären würde. Er kann diese Frage nur beantworten, indem er sich mit Geschichte befaßt.«
»Rutschen Sie mir doch auch den Buckel runter!«
Es entstand eine schreckliche Pause, bis Gus grinste und dann in schallendes Gelächter ausbrach, als wäre ich nicht hysterisch und unhöflich gewesen, sondern hätte einen geistreichen Witz gemacht. Es folgte eine freundlich-sachliche Diskussion über Psychotherapie; Erica und Gus äußerten sich eher positiv, während Paul behauptete,
»man« hätte doch herausgefunden, daß Leute, die keine Therapie machten, rascher von ihren Neurosen geheilt würden als Leute, die sich in Behandlung begaben.
Auf der anderen Seite des Tisches unterhielten sich Crispin und seine Freundin über etwas, was nur sie betraf.
Ich fing an, die Teller abzuräumen, aber Paul, der rechts neben mir saß, gab mir zu verstehen, ich solle sitzen bleiben, und fragte mich leise:
»Alles in Ordnung?«
»Klar«, entgegnete ich vorsichtig. »Hast du Claud gesehen?«
»Ja«, erwiderte er. »Ich habe heute morgen Squash mit ihm gespielt.«
»Und?«
»Er hat mich drei zu eins geschlagen.«
»Das meine ich nicht.«
»Was willst du hören? Es ist schwer für ihn.« Er überlegte eine Weile und faßte sich dann ein Herz: »Jane, mein Schatz, ich sage dir nur das eine – nein, eigentlich sind es eher zwei, drei Dinge, aber bitte antworte nicht.
Erstens bist du meine Schwester, ich habe dich sehr gern und vertraue dir in allem. Claud ist mein bester Freund.
War es immer und wird es immer sein. Daher ist es für mich ein bißchen kompliziert, aber das ist ein kleineres Problem. Zweitens behaupte ich nicht, daß Claud ein gebrochener Mann ist, doch Tatsache ist, daß er bis jetzt nicht sehr gut damit zurechtkommt, was in seinem Leben passiert ist. Er versteht wirklich nicht, weshalb du nach einundzwanzig Jahren diese Traumehe plötzlich gelöst hast.«
Ich wollte etwas sagen, aber Paul hob die Hand. »Bitte sag nichts. Ich klage dich nicht an und kritisiere dich auch in keinster Weise. Du brauchst dich nicht vor mir zu rechtfertigen. Drittens …«
Er hielt inne und nahm meine Hand. Ich dachte schon, er würde anfangen zu weinen, aber seine Stimme blieb fest.
»Die Familie – unsere beiden Familien –, Natalie, unsere gemeinsamen Sommer, das alles hat mir so viel bedeutet, daß ich es kaum in Worte fassen kann. Wie heißt das Gesicht, das Dennis Potter für den Film Blue Remembered Hills verwendet hat, in dem die Erwachsenen in die Rolle der Kinder schlüpfen? Wie lautet noch mal der Text?
Warte einen Moment.«
Paul stand auf und polterte die Treppe hinunter, daß der Boden unter unseren Füßen bebte.
Bewegung kam in die Tischordnung. Gus erhob sich, um sich zu verabschieden. Ich war ein bißchen traurig, weil wir nicht zusammen aufbrachen. Wir würden nicht einmal Telefonnummern austauschen. Er beugte sich über den Tisch und streckte mir die Hand hin: »Ich freue mich, Sie kennengelernt zu haben, Jane«, sagte er.
»Ganz meinerseits«, erwiderte ich. »Und verzeihen Sie bitte, daß ich das zu Ihnen gesagt habe. Normalerweise sage ich so etwas bei Abendeinladungen nicht.«
»Das macht es um so schlimmer«, sagte er, allerdings in ziemlich scherzhaftem Ton. Wahrscheinlich war er ein ganz netter Kerl. Inzwischen kam Paul die Treppe wieder herauf, nickte GUS zu, der auf dem Weg nach unten war, und fing an, endlos in einem Buch zu blättern.
»Hier, ich hab’s!« rief er schließlich. ›» Verlor’nes Land der Zuversicht, Erinn’rung, strahlend klar. Der Weg des Glücks, wie es einst war – Doch Rückkehr gibt es nicht. ‹
Das ist genau das, was ich empfinde.«
»Aber du kannst doch zurückgehen. Du bist doch ohnehin fast jeden Sommer dort. Und wir sind gerade erst dagewesen.«
»Schon, aber ich meine die Kindheit und all so was.
Daran erinnert man sich doch, wenn man zurückkehrt.
Und dann haben wir auch noch Natalie gefunden.«
Er ergriff meine Hand. Ich schwieg. Paul nahm das Gespräch als erster wieder auf.
»Ach, und noch etwas wollte ich sagen.«
Plötzlich wirkte er unsicher, als wäre seine Unbeküm-mertheit nur vorgetäuscht. »Das Wochenende hat mich sehr berührt. Es war einer dieser Augenblicke, die das eigene Leben verändern. Vielleicht drehe ich einen Film über unsere Familie.«
»Paul, meinst du das ernst?«
»Ja. Die Idee kam mir, als Alan seine Rede hielt. Jetzt ist die richtige Zeit dafür. Ich glaube, ich muß mich dem allem stellen.«
»Du vielleicht – aber müssen wir mitmachen?«
»Nein, nicht nötig. Es wird auch so ein guter Film werden. Ich möchte wieder hinter der Kamera stehen und Dokumentarfilme drehen. Ich spüre, das ist das Richtige für mich.«
»Hast du es satt, Geld zu verdienen?« neckte ich ihn.
Aber Paul konnte noch nie über dieses Thema lachen.
» Surplus Value läuft mittlerweile von selbst. Frag Crispin. Es ist eine todsichere Formel. Hin und wieder mal ein neuer Gag, das genügt. Ich brauche eine Heraus-forderung.«
Er füllte sein Glas nach, obwohl er an diesem Abend schon viel zuviel getrunken hatte. Dann senkte er die Stimme, er flüsterte fast: »Ich bin auf die Idee gekommen, weil man Natalie gefunden hat. Sie hat mir so viel bedeutet, tut es noch heute. Für mich ist sie das Sinnbild der verlorenen Unschuld, all der Dinge, die einem durch die Finger gleiten, während man erwachsen wird.«
»Ganz schön viel«, stellte ich müde fest.
Das letzte, was ich jetzt wollte, war ein Streit darüber, wem Natalie am meisten bedeutet hatte. Aber Paul blickte nur ernst in sein Glas. Plötzlich saß Crispins Freundin Claire neben mir. Sie hatte eine dunkle Haarmähne, halb Louise Brooks, halb Beatle, und ein rundes Gesicht wie ein Teddybär, was durch die Oma-Brille noch betont wurde.
»Wann ist es denn soweit?« fragte ich.
»Himmel, sieht man es so sehr?«
»Nein, ich habe mich bisher nur nicht getraut, etwas zu sagen. Eines meiner schlimmsten Erlebnisse war, als ich einer Frau zu ihrer Schwangerschaft gratuliert habe und sich dann herausstellte, daß sie nur fett war. Aber wenn eine Frau, die ein bißchen schwanger aussieht, weite Baumwollhemden trägt, den ganzen Abend nichts trinkt, nicht raucht und auch den Käse nicht anrührt, kann ich riskieren, ihr zu gratulieren.«
»Verflixt noch mal, ich wußte gar nicht, daß ich den ganzen Abend Sherlock Holmes gegenübergesessen habe.
Was wissen Sie sonst noch über mich?«
»Nichts. Außer daß Sie gut aussehen.«
»Da muß ich Ihnen leider einen Punkt abziehen. Ich muß mich jeden Tag übergeben. Ich dachte immer, das hört nach den ersten drei Monaten auf.«
»Dafür gibt es keine Garantie«, grinste ich. »Einer Freundin von mir war noch schlecht, als sie in den Wehen lag.«
»Toll«, sagte Claire. »Bei dieser Vorstellung wird mir ja erst richtig übel.« Sie rückte etwas näher. »Die Sache mit Ihrer Freundin tut mir sehr leid, und dann all das, was Sie sonst noch durchmachen müssen. Es muß schrecklich sein.«
»Es geht schon. Aber trotzdem vielen Dank.«
»Und es war wirklich sehr lustig, was Sie von dieser Psychologin erzählt haben – obwohl die ja grauenhaft gewesen sein muß.«
»Ich kann es nicht beurteilen, aber sie ist im Augenblick jedenfalls nicht die passende Therapeutin für mich. Ich glaube, man muß psychisch in hervorragender Verfassung sein, um mit Dr. Prescott zurechtzukommen.«
»Sie scheinen ziemlich viel auszuhalten, Jane. Sie brauchen nur jemanden, bei dem Sie sich aussprechen können. Hören Sie, Sie kennen mich kaum, und ich bitte Sie, meinen Vorschlag zu ignorieren, falls er Sie ärgert.
Aber wir kennen einen wirklich wundervollen Therapeuten. Vielleicht wäre er der Richtige für Sie.«
Offenbar sah man mir meine Zweifel an, denn Claire sprach schnell weiter: »Alex ist kein Guru oder so etwas in der Art, Jane. Er arbeitet nicht mit Kristallen. Er ist Arzt mit den entsprechenden Qualifikationen. Und außerdem ein toller Typ, wirklich nett. Ich gebe Ihnen seine Nummer. Ach je, ich habe sie natürlich nicht bei mir.
Crisp, mein Schatz, hast du Alex Dermot-Browns Nummer da?«
Da Crispin sich gerade mit Paul unterhielt, hörte er die Frage erst, als Claire sie wiederholte.
»Wofür brauchst du sie?«
»Meinst du nicht, er ist vielleicht der Richtige, mit dem Jane mal reden könnte?«
Crispin überlegte eine Weile, dann lächelte er.
»O ja, gut möglich. Aber seien Sie nett zu ihm. Er ist ein alter Freund.« Sein Filofax lag offen vor ihm auf dem Tisch, und er blätterte, bis er die Nummer fand.
»Hier.« Er schob mir einen Zettel zu. »Falls es schiefgeht, Jane, werden wir natürlich leugnen, daß wir Sie kennen.«
6. KAPITEL
Am folgenden Morgen schrieb ich einen Brief an Rebecca Prescott. Ich legte einen Scheck für die Sitzung bei und erklärte ihr, daß ich mich entschlossen hätte, nicht weiterzumachen. Ich kam mir idiotisch vor, als ich anschließend die Nummer wählte, die Crispin mir gegeben hatte. Am anderen Ende der Leitung ertönte unverständliches Geplapper.
»Hallo, kann ich bitte Dr. Alexander Dermot-Brown sprechen?«
Noch mehr Gebrabbel.
»Hallo, ist deine Mama oder dein Dad da?«
Daraufhin verwandelte sich das Gebrabbel immerhin zu einem verständlichen »Dad, Dad«. Dann wurde meinem Gesprächspartner offenbar der Hörer entwunden, denn er brach in ein schrilles Geschrei aus.
»Sei still, Jack. Ja, wer ist dort bitte?«
»Ich möchte Dr. Alexander Dermot-Brown sprechen.«
»Am Apparat.«
»Sie sind Therapeut?«
»Ja, ich weiß.« Im Hintergrund klapperte es, und Dermot-Brown rief etwas. »Entschuldigung, Sie haben uns mitten im Frühstück erwischt.«
»Tut mir leid. Ich versuch’s kurz zu machen. Ich habe ihre Nummer von Crispin Pitt und Claire … äh …«
»Claire Swenson.«
»Kann ich mit Ihnen reden?«
»Ja.« Er machte eine Pause. »Wie wär’s gegen zwölf?«
»Sie meinen heute?«
»Ja. Einer meiner Patienten ist in Urlaub gefahren. Aber wenn Ihnen das nicht paßt, geht’s auch nächste Woche oder die Woche danach.«
»Nein, zwölf ist gut.«
Er gab mir seine Adresse in Camden Town, in der Nähe des Marktes.
Lieber Himmel, eine weitere Unterbrechung im Büro!
Obwohl, so schlimm war es auch nicht. »Arbeit«
bedeutete für mich das CFM-Büro im obersten Stockwerk eines alten Lagerhauses mit Blick auf das Hafenbecken von Islington. Das C, nämlich Lewis Carew, war 1989 an Aids gestorben. Übriggeblieben waren ich und das F, Duncan Fowler. Nach Jahren der Rezession waren allmählich wieder bessere Zeiten in Sicht, in denen es genug Arbeit für uns beide gab. Solange ich zu allen Besprechungen ging, die »mein« Wohnheim betrafen, mit dem Papierkram auf dem laufenden blieb und mich regelmäßig im Büro blicken ließ, konnte nicht viel schiefgehen.
Ich fuhr mit dem Fahrrad ins Büro. Dort sah ich die Post durch und wechselte ein paar Worte mit Gina, unserer Assistentin (eigentlich ist sie unsere Sekretärin, aber sie trägt die Bezeichnung Assistentin als Entschädigung für ihr niedriges Gehalt). Um elf tauchte Duncan im Büro auf, gutgelaunt wie immer. Duncan ist rundlich, ziemlich klein und bis auf einen rötlichen Lockenkranz völlig kahl. Dafür hat er einen überaus dichten Bart. Ich erzählte ihm von ein paar neuen Schwierigkeiten mit dem Wohnheim, er mir von einem Auftrag für einen Mehrfamilienblock, der uns aber auch nicht viel Geld einbringen würde.
Als ich Duncan sagte, daß ich innerhalb von zwei Tagen bereits den zweiten Therapeuten aufsuchte, lachte er schallend und nahm mich in den Arm. Dann schwang ich mich auf mein Fahrrad. Alexander Dermot-Brown hatte bei mir bereits einen Stein im Brett, weil ich nahezu den ganzen Weg vom Büro bis zu seinem Haus mit dem Fahrrad am Kanal entlangfahren konnte.
Ich brauchte nur die Upper Street zu überqueren und die Gasometerwüste und die Schienenidylle hinter dem Lagerhaus des Postamts zu durchqueren, bis zum Camden Lock, wo ich den Treidelpfad verlassen mußte. Von dort waren es nur noch ein paar hundert Meter. Ich kettete mein Fahrrad an eines der Geländer, die es an den Häusern im Norden Londons überall gibt.
Alexander Dermot-Brown trug Turnschuhe, Jeans und einen dünnen, verschlissenen Pullover, der an den Ellbogen Löcher hatte, durch die ein kariertes Hemd lugte. Er hatte ein schroffes Kinn, fast wie Superman in dem alten Comic, braune, wellige Haare mit grauen Strähnen und sehr dunkle Augen.
»Sie sind Dr. Dermot-Brown?«
Er lächelte und streckte mir die Hand entgegen.
»Jane Martello?«
Er bat mich herein, und wir gingen eine Treppe hinunter zur Küche im Untergeschoß.
»Möchten Sie einen Kaffee?«
»Gern, aber sollte ich nicht eigentlich in Ihr Sprechzim-mer gehen und mich auf eine Couch legen?«
»Tja, wir finden bestimmt irgendwo im Haus eine Couch, wenn Sie das unbedingt möchten. Aber ich dachte, wir sollten uns erst mal ein bißchen unterhalten und uns kennenlernen.«
Die Küche mit dem gefliesten Boden hätte durchaus elegant gewirkt, wenn sie leer gewesen wäre. Aber überall lagen Spielsachen herum, die Wände waren tapeziert mit Plakaten, Postkarten und Kinderzeichnungen, befestigt mit Stecknadeln, Klebestreifen und blauen Reißzwecken. Die Korktafel über den Arbeitsflächen stand den Wänden in nichts nach und quoll über von übereinandergehefteten Handzetteln mit Heimserviceangeboten verschiedener Restaurants, Einladungen, Schulinformationen und Schnappschüssen. Dermot-Brown sah meinen verblüfften Blick.
»Entschuldigung, ich hätte aufräumen sollen.«
»Macht doch nichts. Aber ich dachte immer, Psychoanalytiker müßten in neutraler Umgebung arbeiten.«
»Verglichen mit meinem Büro ist das hier eine neutrale Umgebung.«
Er nahm Kaffeebohnen aus dem Kühlschrank, mahlte sie, schüttelte sie in eine Kaffeekanne und goß kochendes Wasser drüber. Dann kramte er in einem Schrank.
»Ich müßte Ihnen eigentlich ein paar Kekse anbieten, aber ich sehe hier bloß Dauerbrezen. Ein Stück pro Kind, bleibt noch eine übrig. Möchten Sie sie?«
»Nein, danke. Ich nehme nur Kaffee. Schwarz, bitte.«
Er goß Kaffee in zwei Becher, und wir setzten uns an den Küchentisch aus Kiefernholz. Ein Lächeln lag auf Dermot-Browns Gesicht, als amüsierte ihn die ganze Situation und als gäbe er nur vor, erwachsen zu sein.
»Also, Jane – darf ich Sie Jane nennen? Ich bin Alex –, weshalb glauben Sie, daß Sie eine Therapie brauchen?«
Mit dem ersten Schluck Kaffee stellte sich prompt das übliche überwältigende Verlangen nach einer Zigarette ein.
»Darf ich rauchen?«
Alex lächelte wieder.
»Tja, Jane, ich betrachte die Therapie als eine Art Spiel, das nur funktioniert, wenn wir uns auf ein paar Grund-regeln einigen. Eine davon ist, daß Sie nicht rauchen. Hier im Haus wohnen Kinder. Außerdem haben die Sitzungen dann wenigstens in dieser Hinsicht einen Nutzen, sollten sie ansonsten uneffektiv bleiben. Und es hat noch einen Vorteil: Ich kann ohne weiteres an dieser Regel festhalten, weil ich selbst nicht rauche. Damit besteht eine reelle Chance, daß ich entspannt bin, während Sie nervös unter dem Nikotinentzug leiden – und das ist mindestens ebensogut. Wenigstens für mich.«
»In Ordnung, dann also keine Zigarette.«
»Gut, dann erzählen Sie doch mal was von sich.«
Ich holte tief Luft und legte ihm meine Situation in groben Zügen dar; dabei trank ich eine zweite Tasse Kaffee, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Ich erzählte ihm von meiner Trennung und wie ich Natalies Überreste entdeckt hatte. Dann sprach ich kurz über die Familie Martello, diese wunderbaren, großherzigen Menschen, die einem den Eindruck vermittelten, es sei ein Privileg, wenn man in ihren Kreis aufgenommen wurde. Ich beschrieb mein Singledasein hier in London und seine Nachteile, ohne allerdings mein sexuelles Abenteuer zu erwähnen.
Ich redete ziemlich lange. Alex wartete eine Weile, bevor er antwortete, und bot mir dann noch eine Tasse Kaffee an. Ich war ein wenig enttäuscht.
»Nein danke. Wenn ich zuviel trinke, fange ich an zu zittern.«
Nervös ließ er den Finger am Becherrand entlang-wandern.
»Jane, Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
»Doch. Ich habe gesagt, ich möchte keinen Kaffee mehr.«
Alex lachte. »Nein, ich meine, weshalb haben Sie das Gefühl, eine Therapie zu brauchen?«
»Liegt das nicht auf der Hand?«
»Nicht für mich. Sie müssen nach – wie vielen? –
fünfundzwanzig Jahren Ehe plötzlich allein mit Ihrem Leben fertig werden. Haben Sie früher jemals allein gelebt?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Willkommen in der Welt der Singles«, sagte Alex mit einem ironischen Unterton. »Wissen Sie, manchmal gebe ich mich Phantasien hin, wie es wohl wäre, nicht verheiratet zu sein und keine Kinder zu haben. Dann könnte ich mich ganz spontan entschließen, ins Kino oder auf ein Bier in die Kneipe zu gehen. Wenn ich gelegentlich auf einer Party eine Frau kennenlerne, dann stelle ich mir vor, daß ich mit ihr eine aufregende Affäre haben könnte, wenn ich frei wäre. Aber wäre ich tatsächlich ungebunden, sähen die Dinge garantiert anders aus. Anfangs wäre ich vielleicht euphorisch und hätte möglicherweise sogar das eine oder andere sexuelle Abenteuer. Aber ich bezweifle, daß es so viel Spaß machen würde wie ursprünglich angenommen. Außerdem wäre Schluß mit all dem, woran ich mich gewöhnt habe.
Und auch die Gewohnheit, nach Hause zu kommen und jemanden anzutreffen, der mir vertraut ist, wäre dahin.
Das käme mich hart an.«
»Ich dachte, ich sollte reden.«
Alex lachte wieder.
»Wer sagt das? Sie haben wahrscheinlich zuviel Freud gelesen. Ich an Ihrer Stelle würde nicht zuviel auf einen Mann geben, der sich selbst und seine Tochter analysiert hat. Erstens haben Sie sowieso schon genug um die Ohren, und zweitens haben Sie eine nicht unerhebliche Familien-tragödie zu verarbeiten. Sie haben unbestreitbar das Recht, eine Zeitlang unglücklich zu sein. Soll ich einen Zauberstab nehmen und sie von allen Problemen erlösen?«
»Das klingt verlockend.«
»Ich möchte Ihnen eine oberflächliche Diagnose anbieten, Jane, und zwar auf meine Kosten. Ich glaube, Sie sind eine starke Frau, die nicht das Gefühl haben möchte, sie könnte etwas nicht bewältigen, und die es auch nicht mag, wenn Leute sie bemitleiden. Darin liegt ihr Problem. Mein Kommentar dazu lautet: Das Leben ist schmerzhaft.
Akzeptieren Sie das. Sie können natürlich mit mir reden, aber Sie können Ihr Geld ebensogut anders ausgeben. Zum Beispiel für eine Massage pro Woche oder für ein schönes Abendessen in einem Restaurant. Oder für eine Ferienreise in wärmere Gefilde.«
Jetzt mußte ich lachen.
»Das klingt noch verlockender.«
Wir lächelten beide, und es folgte ein recht peinliches Schweigen, das ich unter anderen Umständen vielleicht gebrochen hätte, indem ich Alex geküßt hätte.
»Alex, ich sage höchst ungern ›im Ernst‹, … aber im Ernst, ich habe mich gestern abend mit meinem Bruder unterhalten, der zufällig die verrückte Idee hat, einen Film über die Familie zu drehen. Also werden Sie auf BBC 2
wahrscheinlich bald alles über meine Probleme erfahren können. Paul – so heißt mein Bruder – hat von unserer goldenen Kindheit gesprochen. Bisher hatte ich stets dieses Bild der unbeschwerten Jahre vor Augen, aber als er so nostalgisch davon schwärmte, wehrte sich etwas in mir und schrie ›nein, nein, nein‹. Die ganzen letzten Tage ließ mich eine Sache nicht los. Sicher hat das alles mit der Entdeckung von Natalie zu tun. Aber ich habe mir meine himmlische Kindheit vorgestellt, und sie hatte in der Mitte ein schwarzes Loch. Aber ich kann’s nicht richtig sehen und weiß nicht, was es ist. Es liegt immer am Rand meines Blickfelds, und sobald ich mich umdrehe, um es direkt anzusehen, ist es wieder an den Rand gerutscht. Es tut mir leid, das klingt wahrscheinlich alles unsinnig. Ich verstehe es selbst nicht recht. Vielleicht können Sie sich das vorstellen: Ich höre mich sprechen und versuche gleichzeitig, mich zu verstehen. Ich bitte Sie, meinem Gefühl zu trauen, daß sich hinter all dem etwas verbirgt, was man sich unbedingt ansehen sollte.«
Während dieser ganzen langen, zusammenhanglosen Rede starrte ich auf den Tisch und blickte erst auf, als ich fertig war. Fast fürchtete ich Alex’ Blick. Er runzelte die Stirn und sah so konzentriert aus, wie ich es wohl noch nie bei einem Menschen erlebt hatte.
»Vielleicht haben Sie recht«, murmelte er.
Dann nahm er unsere beiden Becher und stellte sie ins Spülbecken, doch anstatt sich wieder hinzusetzen, begann er auf und ab zu gehen. Da ich nicht wußte, ob ich etwas sagen sollte, schwieg ich. Schließlich setzte er sich wieder.
»Wahrscheinlich haben Sie die falschen Vorstellungen von einer Therapie. Vielleicht haben Sie Filme gesehen, in denen die Probleme eines Menschen auf dramatische Weise gelöst wurden.
Oder Sie haben Freunde, die von der Analyse abhängig sind und Ihnen erzählen, wie herrlich es ist, die eigenen Schwierigkeiten besser zu verstehen, und um wieviel glücklicher sie dadurch sind. Nicht auszuschließen, aber wenn man fünf Jahre lang drei Stunden pro Woche auf der Couch verbringt und zwanzig Riesen dafür hinblättert, hat man ein verständliches Interesse daran, Erfolge zu sehen.«
»Aber warum …«
Alex hob die Hand.
»Ich interessiere mich für Sie, Jane. Ich denke, wir können etwas erreichen. Aber zunächst müssen wir uns über ein paar Dinge klar werden. Eine Therapie ist etwas ganz anderes als ein Besuch beim Arzt, den man konsul-tiert, wenn man eine Infektion oder ein gebrochenes Bein hat. Sie könnten mich fragen, ob ich Ihren Zustand verbessern werde, und wir könnten dann eine langweilige philosophische Diskussion darüber beginnen, ob ich überhaupt etwas für Sie tun kann und was jeder von uns beiden mit ›den Zustand verbessern‹ meint.«
»Ich suche keine einfache Lösung.«
»So schätze ich Sie auch nicht ein. Deshalb möchte ich Ihnen klipp und klar sagen, was passieren kann oder auch nicht. Zunächst ein paar Warnungen: Vielleicht meinen Sie wie viele andere Menschen, es gäbe nichts Ange-nehmeres, als zwei, drei Stunden in der Woche mit einem Plausch über die eigenen Probleme zu verbringen und sich alles von der Seele zu reden. Meiner Erfahrung nach ist das die Ausnahme. Manchmal ist der therapeutische Prozeß an sich schon unangenehm. Wie kann ich das am besten beschreiben?« Alex sah sich in der Küche um und grinste. »Sie sind wahrscheinlich über das Chaos hier entsetzt. Mich macht es jedenfalls trübsinnig und meine Frau wütend. Also, warum räumen wir nicht einfach auf.
Na ja, es sieht zwar scheußlich aus, aber wir haben uns daran gewöhnt und finden das, was wir brauchen, ziemlich rasch. Wenn ich anfinge aufzuräumen, wäre es zunächst einmal noch chaotischer, da ich auch noch alle Schränke ausräumen müßte. Es gäbe eine Phase, in der alles noch schlimmer wäre als zuvor. Gleichzeitig würden wir Gefahr laufen, die Nerven zu verlieren und schließlich alles in diesem katastrophalen Zustand zu belassen. Die verschlimmerte Situation würde andauern, bis wir das Aufräumen beendet haben. Und selbst dann wäre es bei weitem nicht so gemütlich wie zuvor. Und obwohl die neue Ordnung sinnvoller wäre, weil sie mit Verstand geschaffen worden ist, würden wir im täglichen Leben wahrscheinlich unsere Sachen gar nicht schneller finden, denn wir sind immer noch an das ehemalige Irrationale gewöhnt. Sie sehen, ich mache Werbung dafür, die Dinge so zu belassen, wie sie sind.
Möglicherweise erreichen Sie auch gar nichts. Ich behaupte keinesfalls, daß Sie nach – sagen wir mal – sechs Monaten oder einem Jahr glücklicher sind oder mit Ihren Alltagsproblemen besser fertig werden. Sie leben ja nach wie vor in einer Welt, in der Menschen sterben und unversöhnliche Konflikte mit sich herumschleppen. Aber eines kann ich Ihnen zumindest in die Hand versprechen: Im Augenblick erscheint Ihnen Ihr Leben wie eine Sammlung bruchstückhafter Notizen und Eindrücke.
Vielleicht kann ich Ihnen dazu verhelfen, diese zu einer fortlaufenden Erzählung zu formen, die für Sie einen Sinn macht. Dann gelingt es Ihnen vielleicht, Verantwortung für Ihr Leben zu übernehmen, womöglich sogar, es besser zu bewältigen.
Das ist doch schon etwas, und das zumindest sollten wir anstreben. Aber es gibt auch andere Möglichkeiten.
Lassen Sie mich spekulieren. Ihre Wortwahl in bezug auf Ihre Freundin, die man mitten in der Landschaft Ihrer Kindheit vergraben hat, hat mein Interesse geweckt. Das ist ein eindrucksvolles Bild. Vielleicht trägt manch einer von uns sozusagen in Gedanken eine Leiche mit sich herum, die darauf wartet, entdeckt zu werden.«
»Was meinen Sie damit?«
»Machen Sie sich darüber keine Gedanken, es ist nur eine Idee, ein Bild.«
»Und wie soll das nun praktisch aussehen? Wie sollen wir vorgehen?«
»Gut, machen wir Nägel mit Köpfen: Ich möchte Sie zweimal die Woche sehen, jeweils eine Stunde, die allerdings nur fünfzig Minuten dauert. Ich nehme achtund-dreißig Pfund pro Sitzung, zahlbar im voraus zu Wochen-beginn. Wie gesagt, es wäre absolut verständlich, wenn Sie sich gegen eine Therapie entscheiden. Ich kann Ihnen fast hundertprozentig versichern, daß Sie sich mit oder ohne Behandlung in ungefähr einem Jahr erheblich besser fühlen. Der Schmerz über den Tod Ihrer Freundin wird bis dahin deutlich nachlassen, und Sie werden sich an Ihr neues Leben gewöhnt haben. Wenn Sie sich aber entscheiden, eine Therapie zu machen – was ich hoffe –, müssen Sie eine Verpflichtung eingehen. Das heißt, die Sitzungen sind heilig und dürfen nicht aufgrund beruflicher Verpflichtungen, Krankheit, Sex, Enttäuschung, Müdigkeit oder sonst etwas versäumt werden.
Natürlich dürfen Sie die Therapie jederzeit abbrechen, ich meine aber, Sie sollten sich selbst dazu verpflichten, mindestens vier oder fünf Monate dabeizubleiben. Und sich außerdem einschärfen, der Sache wirklich eine Chance zu geben. Ich meine, emotional und rational. Ich weiß, daß Sie klug sind und wahrscheinlich im Gegensatz zu mir erst vor kurzem Freud gelesen haben. Wenn Sie hier aber über den Vorgang der Übertragung diskutieren wollen, woran ich ohnehin nicht glaube, verschwenden wir beide unsere Zeit und Sie darüber hinaus Ihr Geld. So.
Noch Fragen?«
»Wird es so sein wie heute?« fragte ich. »In der Küche sitzen und plaudern, bei einer Tasse Kaffee?«
»Nein. Das hier ist, wie Sie gerade gesagt haben, nur eine Plauderei, bei der wir die Regeln festlegen. Wenn wir einsteigen, müssen wir raus aufs Spielfeld und richtig loslegen. Meiner Ansicht nach geht das nur, indem wir den ganzen Vorgang ritualisieren, mit anderen Worten, er muß sich von Ihrem normalen Leben abheben. Also, wenn Sie wirklich einsteigen wollen, dann ist es das nächste Mal ganz anders. Die nächste Sitzung wird in einem Therapie-raum stattfinden.« Er gebrauchte das Wort »Therapie«, als wäre es etwas unhandlich und er würde es gerne vermeiden. »Es hat nichts mit einem gesellschaftlichen Ereignis zu tun. Wir werden keinen Kaffee trinken und auch nicht plaudern. Sie liegen auf einer Couch, nicht weil das ein psychoanalytisches Requisit ist, sondern weil es eben nicht so sein soll wie heute – gemütlich, anregend, von Angesicht zu Angesicht. So, und jetzt möchte ich, daß Sie nachdenken, was Sie wollen, und mich dann anrufen.«
»Ich weiß es bereits. Ich möchte beginnen. Und wenn ich mit dem Verlauf nicht zufrieden bin, höre ich auf, garantiert.«
Alex lächelte und streckte mir die Hand hin.
»Ich gehe sicher recht in der Annahme, daß ich von Ihnen keine noch deutlichere Verpflichtungserklärung bekomme. In Ordnung, abgemacht.«
7. KAPITEL
Nachdem ich das Scheidungsgesuch unterschrieben und eine Eheberatung abgelehnt hatte, radelte ich an jenem klaren, kalten Tag Richtung Londoner Norden zur Baustelle meines Wohnheimprojekts, das mir, wenn ich nur daran dachte, schon Bauchschmerzen verursachte.
Ursprünglich hatte ein neues Gebäude errichtet werden sollen mit fünfzehn Wohneinheiten für aus dem Krankenhaus entlassene geistesgestörte Patienten. Diese bedurften jedoch der Aufsicht, auch wenn es nur darum ging sicherzustellen, daß sie regelmäßig ihre Medikamente einnahmen. Ich legte einen ansprechenden, funktionalen und kostengünstigen Entwurf vor, der auf der Stelle abgelehnt wurde, was mich nicht sonderlich erstaunte.
Plan B sah den Umbau eines besetzten Hauses vor, das seit zwei Jahren ohne Dach war.
An der Baustelle wurde ich bereits von zwei Männern und einer Frau erwartet. Meine Freundin Jenny vom Sozialdienst sah – wie immer – erschöpft aus. Sie stellte mich Mr. Whittaker vom Gesundheitsamt und Mr. Brady vom Wohnungsamt vor.
»Wieviel Zeit haben Sie?« fragte ich.
»Ungefähr minus zehn Minuten«, erwiderte Jenny.
»In Ordnung, dann also der kurze Rundgang. Übrigens wäre alles etwas einfacher, wenn ich nicht bei jeder Besprechung mit neuen Gesichtern konfrontiert würde.«
Ich führte sie bis unters Dach – hätte es denn eins gegeben. Nun arbeiteten wir uns von oben nach unten vor, umrissen die wichtigsten Renovierungsarbeiten, die wesentlichen Reparaturen, sprachen über den Notausgang an der Gebäuderückseite und die raffinierten Angleichun-gen, die ich in den Gemeinschaftsbereichen und Korri-doren vorgenommen und durch die das Haus zusätzlich an Raum gewonnen hatte.
»So, das ist es«, sagte ich, als wir wieder an der Eingangstür angekommen waren. »Es ist nicht nur eine geniale und praktische Lösung, sondern auch eine, die sich finanziell rentiert.«
Mr. Brady lächelte beklommen.
»Da mag etwas dran sein, und ich kann nur hoffen, daß die Rechnungsprüfer bei der Kalkulation Ihre Argumente berücksichtigt haben.«
»Keine Sorge, Mr. Brady«, sagte ich. »Am Tag des Jüngsten Gerichts bekommen wir alle die Rechnung präsentiert.«
Mr. Brady und Mr. Whittaker wechselten einen Blick.
Ich fand es etwas irritierend, daß immer mehr Verwal-tungsbeamte jünger waren als ich.
»Jane, ein genialer Entwurf, wirklich. Wir sind sehr zufrieden. Die Sache hat nur einen Haken: Wir müssen mit einer fünfzehnprozentigen Kürzung des Gesamtetats unserer Behörde rechnen, und davon sind natürlich alle Projekte gleichermaßen betroffen. Wir hoffen, daß Sie das einarbeiten können. Abgesehen davon entspricht alles unseren Vorstellungen.«
»Was soll das heißen, ›abgesehen davon‹? Ihnen liegt bereits ein Mindestkostenvoranschlag vor, und Sie haben unser Angebot angenommen.«
»Änderungen vorbehalten … und so weiter und so fort, Sie kennen das ja.«
Ich schlug meinen offiziellen Ton an.
»Mr. Whittaker, Sie stimmen mir gewiß zu, daß dieses Wohnheim von dem Moment an eine Reinersparnis darstellt, an dem fünfzehn Patienten nicht mehr gleichzeitig in Frühstückspensionen unterzubringen sind beziehungsweise langfristig Betten belegen.«
»Sie wissen so gut wie ich, Jane, daß das theoretisch stimmt, aber für unsere Berechnung irrelevant ist.«
»Oh, ich könnte für die Dauer des nächsten Finanzjahres ja das Dach weglassen! Schließlich steht der Frühling schon vor der Tür. Andererseits, weshalb sich überhaupt mit einem Haus abmühen? Vielleicht gelingt es mir, einen Container zu besorgen, den man draußen auf die Straße stellt. Sollte irgendwo noch Geld übrig sein, ließe sich seitlich das neue Logo Ihres Amtes anbringen. Die Verrückten könnten darin untergebracht werden und ihre Medikamente per Post erhalten. Jenny, was sagst du dazu?«
Jenny sah mich besorgt an. Ich merkte, daß ich anfing, mich wie einer ihrer Pflegefälle zu benehmen.
»Jane, das bringt uns nicht weiter«, meinte Mr. Brady.
»Es ist sinnlos, uns anzugreifen. Wir sitzen in einem Boot.
Tatsache ist, daß wir nicht zwischen einem geänderten Entwurf und der ursprünglichen Idee entscheiden müssen, sondern zwischen Ihrem Kompromißentwurf und der Nullösung, und selbst das wird ein harter Kampf werden.
Sie sollten mal sehen, was sich in anderen Abteilungen abspielt. Die Tressell-Grundschule am Ende der Straße wird nächstes Quartal möglicherweise nur noch an vier Tagen in der Woche geöffnet sein.«
»In Ordnung, ich nehme Änderungen vor und stelle außerdem sicher, daß ich – sollte ich in der Zwischenzeit einen Zusammenbruch erleiden – außerhalb des Stadtteils in Gewahrsam genommen werde. Also, wann sollen wir vier, oder eventuelle Vertreter, wieder zusammenkom-men?«
»Ich rufe Ihre Sekretärin an, Jane«, erklärte Mr. Brady.
»Vielen Dank, daß Sie vergleichsweise einsichtig sind.«
Ich stieg auf mein Fahrrad und trat in die Pedale, was das Zeug hielt, bis meine Beinmuskeln schmerzten. Im Geiste nahm ich Abschied von den ausgeklügelten Einzelheiten und kleinen Raffinessen meines Entwurfs. Die nächste unangenehme Pflicht an diesem Tag war der Besuch bei meinem Vater, der mir Pläne zeigen wollte.
Ich würde nicht allein zu ihm fahren. Als ich meinen Bruder von dem Besuch erzählt hatte, hatte er darauf bestanden mitzukommen. Angeblich um zu sehen, wie es Vater ging. Ich vermutete, daß es eher mit seinem Film zu tun hatte, aber so kam ich wenigstens zu einer Mitfahrgelegenheit. Ich stellte mein Fahrrad ab und wartete auf Paul – eine gute Entschuldigung, um zwei Zigaretten zu rauchen. Auf unserer Fahrt nach Stockwell lamentierte mein Bruder ununterbrochen, daß dies mit Abstand die ungünstigste Tageszeit sei, um Richtung Süden zu fahren, und daß wir auf der Nordumfahrung sicherlich schneller vorangekommen wären. Als ich erwiderte, daß das nicht stimme, redeten wir bis Blackfriars Bridge kein Wort mehr miteinader.
Mein Vater, Jahrgang 1925, ist neunundsechzig. Ein alter Mann. Natürlich ist mir das klar, aber ich empfinde es normalerweise nicht so. Doch als er Paul und mir die Tür öffnete, wirkte er sehr grau und eingefallen. Die Altersflecken auf seinen Händen traten plötzlich erschreckend deutlich hervor. Aber als ich ihn umarmte und eingehender betrachtete, bemerkte ich, daß er immer noch recht gut aussah. So hatte er zum Beispiel dichteres Haar als sein Sohn. Ich glättete es mit der Hand, was er, so hoffte ich, als Zärtlichkeit verstand.
»Tee für euch beide?« fragte er.
»Du setzt dich jetzt hin, und ich kümmere mich darum«, antwortete ich. »Ich habe Zitronengelee mitgebracht. Falls du Toast hast, könnten wir etwas davon essen.«
Dad und Paul gingen ins Wohnzimmer, einen mit Büchern und Papier vollgestopftem Raum, dessen Wände dunkelrot gestrichen waren. Dagegen erinnerte die Küche mit den weißgetünchten Wänden und den unbequemen Holzbänken eher an einen Gemeinderaum der Quäker. Die Deckenstrahler, die man normalerweise nur für Verkaufs-flächen verwendet, tauchten den Raum zudem in ein unangenehm grelles Licht. Solange ich denken konnte, hatte Dad die elektrischen Leitungen neu verlegen lassen wollen, sich aber immer vor dem Umbau gefürchtet. Statt dessen vergrößerte er das Chaos noch. Wohin man blickte, überall Verlängerungskabel. Als ich das Tablett mit Tee und Toast ins Wohnzimmer trug, hatte Dad es sich im Lehnstuhl bequem gemacht, und Paul hockte auf einem Schemel und beugte sich verschwörerisch zu ihm hin. Die Düsternis, die sie umgab, war ein weiteres Ergebnis der Beleuchtungsstrategie meines Vaters und stammte aus der Mitte der siebziger Jahre, als es Mode war, nicht Räume, sondern »Bereiche« auszuleuchten. Folglich wurden in jedem Zimmer die Kabel von den Deckenrosetten entfernt und schauerliche Chromlampen in den Ecken installiert.
Das Haus teilte sich nun in helle und dunkle Bereiche.
Dad und Paul saßen im letzteren. Als ich nahe genug an sie herangetreten war, um etwas erkennen zu können, bemerkte ich in Pauls Augen wilde Entschlossenheit. Kein Zweifel, er recherchierte. Sogar ein Notizbuch lugte aus seiner Jackentasche.
»Hat Paul dir erzählt, daß er eine Fernsehdokumentation über unsere Familie drehen will, Dad?« fragte ich betont heiter und stellte das Tablett lauter als gewohnt auf den Tisch.
Paul fuhr auf und blickte mich finster an. »Ich wollte es ihm gerade erzählen«, sagte er.
Etwas Gelbes lief an Vaters Kinn herunter. »Weshalb?«
wollte er wissen. »Was ist denn so interessant an uns?«
Paul holte tief Luft und legte seinen Toast zurück.
»Das ist eine sehr gute Frage«, meinte er, woraufhin Dad ihn verwundert ansah. »Wenn ich über meine Familie berichte – die mich natürlich interessiert –, ermuntere ich damit auch die Zuschauer, sich aus einer neuen Perspektive mit ihrer Familie und ihrer Kindheit auseinander-zusetzen. Jede Familie ist anders und doch gleich.«
»Ist das ein Zitat?« murmelte ich. Paul ignorierte meine Bemerkung.
»Wenn ich über unsere Familie erzähle – über dich, über Mum, Jane und mich, und über die Martellos, die ich natürlich nicht übergehen kann –, was greife ich auf?« Da seine Frage rein rhetorisch war, nahm ich mir eine Scheibe Toast und biß hungrig hinein. Ich hatte kein Mittagessen gehabt. »Nostalgie. Nähe und Entfremdung. Besitzgier und Eifersucht. Kindheitsidylle. Schmerzliches Erwachsenwerden. Die Hoffnungen der Eltern für ihre Kinder, der Groll der Kinder auf ihre Eltern. Dies und noch mehr anhand der Erlebnisse einer Familie. Ich hoffe, du hilfst mir dabei.«
»Schluß mit diesem Unsinn«, sagte Dad. »Trink deinen Tee, Paul, ich möchte Jane etwas zeigen.«
Er führte mich zum Schreibtisch in der Ecke, auf dem Zeichnungen und alte Bücher lagen.
»Wie kommt dein Projekt voran?« fragte er.
»Welches?«
»Ich spreche nicht von dem auf Stead. Ich meine das Wohnheim.«
»Es wir allmählich zur Qual.«
»Das tut mir leid, Jane. Kann ich dir irgendwie helfen?«
»Ja, jeden im Wohnungsamt umbringen.«
»Gut, gut«, sagte Dad geistesabwesend. Was führte er im Schilde? Er war in Gedanken mit etwas anderem beschäftigt.
»Ich habe dich nicht ohne Grund hergebeten. Ich dachte, vielleicht magst du einen Blick auf das hier werfen.«
»Was ist das?«
»Das wird mein Altersprojekt. Ich möchte das Innere des Hauses renovieren.«
»Weshalb?«
»Ich möchte die ursprüngliche Form und Ausstattung wiederherstellen. Das Haus soll wieder so aussehen, wie es in der Mitte der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts gewesen war. Ich habe bereits Skizzen angefertigt. Die Grundsubstanz bleibt unangetastet. Die Hauptarbeit wird sein, in diesem Zimmer und im oberen Stockwerk Trennwände einzuziehen.«
Paul hatte sich hinter uns gestellt und sah mir über die Schulter.
»Das heißt, du mauerst das wieder zu, was du in den sechziger Jahren eingerissen hast?« meinte er höhnisch.
Ich trat Paul gegen das Schienbein, doch mein Vater fuhr fort, als hätte er die Bemerkung nicht gehört.
»Die Gesimse und die Rosetten müssen natürlich instand gesetzt werden. Glücklicherweise können wir Abdrücke aus den noch vorhandenen erstellen.«
»Ich bin sprachlos«, sagte ich. »Aber wird das nicht ziemlich teuer werden.«
»Ich werde selbst Hand anlegen.«
»Das wirst du nicht.«
»Doch. Pat Wheeler hat mir seine Hilfe zugesagt.«
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Das machte aber nichts, denn mein Vater fuhr lebhaft mit seinen Erläuterungen fort. Er blätterte seine Entwürfe und Beschreibungen durch, sprach von Schiebefenstern, Einlaßmitteln und Kaminschutz, Dekorationen am Fensterrahmen und Türbeschlägen. Paul fragte ihn scherzhaft, ob er auch die Gasbeleuchtung wieder einführen wolle.
Meine Gefühle waren gemischt, nicht nur wegen der Undurchführbarkeit seines Plans, sondern weil ich das Gefühl hatte, mein Vater manövriere sich durch den Umbau systematisch aus seinem eigenen Haus. Wenn die Renovierungsarbeiten abgeschlossen wären – sollte es je dazu kommen –, wären sämtliche Neuerungen und Ideale, die meinem Vater Kraft zum Leben gegeben hatten, zerstört. Als ich etwas über Achtung vor der Vergangenheit murmelte, erntete ich ein sarkastisches Lachen.
»Jeder geht anders mit seiner Vergangenheit um. Ich hoffe, ich kann sie wiedererstehen lassen und erhalten. Ist das nicht besser, als eine Fernsehdokumentation darüber zu drehen?«
Sein scharfer Blick trieb Paul die Röte ins Gesicht.
»Ich bin erstaunt, daß du so naiv bist, was die Renovierung betrifft«, wehrte sich Paul. »Stets hast du über Gebäude im Rahmen ihres sozialen Umfelds geschrieben. Was hat es für einen Sinn, Ende des zwanzigsten Jahrhunderts ein viktorianisches Wohnhaus zu rekonstruieren? Wirst du dann auch auf einem Pferd durch die Gegend reiten? Ich meine, daß man die Vergangenheit unter heutigen Gesichtspunkten überdenken muß.«
»Natalie«, sagte mein Vater ohne Umschweife.
»Was?« fragte Paul.
»Jetzt sag ich dir mal war«, erklärte Dad. »Man hat Natalie ausgegraben, und du willst das in einem Fernsehfilm verarbeiten und möchtest, daß wir über unsere Gefühle reden, richtig? Vermutlich bittest du mich auch, über Mutters Tod zu sprechen. Wer wird sonst noch was dazu beitragen? Deine beiden Frauen? Der arme verlassene Claud?« Jetzt war ich derjenige, der das Blut in den Kopf stieg. »Und was ist mit Alan und Martha?
Martha wird nicht viel dazu sagen. Sie hat ihre Kümmernisse nie preisgegeben, im Gegensatz zu Alan.
Ich sehe ihn schon vor mir. Der zornige alte Mann läßt sein Leben Revue passieren. Er wird sein Geld wert sein.
Ist es das, was dir vorschwebt, Paul, eine Familie von Fernsehberühmtheiten?«
Paul sah ebenso erschrocken wie erregt aus. Ihm war gerade eine vage Idee gekommen, wie sein Film aussehen könnte, und er antwortete in typischer Manier eines Regisseurs: »Der Film wird unter dem größten Fingerspit-zengefühl und ohne jede Sensationsmache gedreht.«
Vater wandte sich von Paul ab und fing an, von einem stuckverzierten Ziegelkamin zu sprechen. Ich warf die Frage auf, ob ein Kamin aus Ton nicht besser sei, aber er wischte diesen Einwand sofort vom Tisch.
»Ich gebe nicht auf, bloß weil ein alter Mann sich in Positur wirft. Ist dir jemals so was Albernes unterge-kommen wie diese dämliche Renovierung? Leidet Dad an Altersschwachsinn?«
Wir waren im Pub. Paul spielte mit seinem Glas und gab sich recht kämpferisch, aber ich wußte, daß ihn Schuldgefühle plagten.
»Blas mir doch nicht dauernd Rauchschwaden ins Gesicht, Jane. Meiner Ansicht nach ist es absolut legitim, daß ich für meine Arbeit auf eigene Erfahrungen zurückgreife, und die besteht nun mal aus zwei Familien.
Nur weil Surplus Value ein Hit ist, heißt das nichts, daß ich nichts anderes zuwege bringe als Spielshows.«
Ich schwieg.
»Oder?«
Ich zuckte die Achseln.
»Es ist doch völlig egal, was ich davon halte. Ich muß ja nicht das Geld für den Film aufbringen.«
»Es ist wichtig für mich. Seit jenem Wochenende geht Natalie mir nicht aus dem Kopf. Einen Film über sie und über uns zu drehen wäre für uns alle gut. Es wäre eine Möglichkeit, das Geschehene zu bewältigen.«
»Therapie via Fernsehen.«
»Na ja, bestimmt nicht schlechter als das, was du gerade machst. Wir versuchen doch beide nur, uns selbst zu helfen. Was ist denn daran so falsch?«
Ich legte die Hand auf seinen Arm. Er schüttelte sie gereizt ab.
»Paul«, sagte ich. »Du möchtest, daß Menschen mit dir über ihr Leben sprechen, aber die meisten von uns kennen ihr eigenes Leben gar nicht. Was du vorhast, ist riskant.
Du brichst zu einem Zeitpunkt in die Erinnerungen und Träume der Menschen ein, in dem sie äußerst verletzlich sind. Und es sind die Menschen, mit denen du weiterleben mußt. Ich will nicht, daß Claud in die Welt hinausposaunt, wie er über mich denkt. Fernsehen ist verführerisch. Die Menschen erzählen Dinge vor der Kamera, die sie niemals im Leben ihren besten Freunden anvertrauen würden.«
Ich drückte meine Zigarette aus und nahm meinen Mantel.
»Mir geht es um ein ehrliches Filmdokument. Ich verspreche dir, ich werde nichts tun, was das Andenken Natalies beschädigen könnte.«
»Spar dir das für Radio Times auf, Paul«, zischte ich und bereute es sogleich. Aber dann stand ich dazu. Wir trennten uns, ohne uns voneinander zu verabschieden.
8. KAPITEL
Meine erste Sitzung – die erste richtige – bei Alex löste bei mir die gleichen Gefühle aus wie der erste Tag an einer neuen Schule. Ich war aufgeregt. Ich hatte meine Kleidung mit ungewöhnlicher Sorgfalt ausgewählt und fühlte mich dann nicht wohl darin. Selbst Alex’ Haus wirkte auf mich verändert. Er führte mich diesmal nicht in die dunkle, warme, beruhigend unordentliche Küche, sondern in ein kleines Hinterzimmer im Obergeschoß.
Während Alex eine Treppe höher stieg, um ein Notizbuch zu holen, ging ich hinein, trat ans Fenster und legte die Hände an die kalte Scheibe. Von dort blickte man auf einen langen schmalen Garten, der an einen entsprechenden Garten des gegenüberliegenden Hauses angrenzte – eine spiegelverkehrte Situation. Die Pflanzen waren für den Frühling alle stark zurückgeschnitten, was ich als tadelnden Hinweis auf mein eigenes vernachlässigtes Stückchen Grund empfand. Als sich die Tür hinter mir schloß, zuckte ich zusammen. Ich drehte mich um und sah Alex vor mir stehen.
»Bitte«, sagte er, »legen Sie sich hin.«
Ich hatte mir das Zimmer nicht genau angesehen, weder die Einrichtung noch den Teppich. Für mich gab es nur den Lehnsessel und daneben die Couch. Ich legte mich hin. Als Alex sich hinter mich setzte, außerhalb meines Blickfeldes, hörte ich die Sprungfedern quietschen.
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, sagte ich ängstlich.
»Weshalb sind Sie hier? Nehmen Sie das als Ausgangs-punkt und erzählen Sie dazu einfach weiter«, sagte Alex.
»Gut. Anfang September eröffnete ich Claud, meinem Mann, ich wäre der Meinung, wir sollten uns scheiden lassen. Meine Ankündigung kam aus heiterem Himmel, und die ganze Familie war furchtbar entsetzt.«
»Wen meinen Sie mit ›ganze Familie‹?«
»Die Familie mitsamt Anhang. Wenn ich von ›meiner‹
Familie spreche, dann meine ich nicht die kleine Familie Crane, sondern die wunderbaren, beneidenswerten Martellos.«
»Das klingt ein wenig ironisch.«
»Aber wirklich nur ein bißchen. Ich habe möglicherweise ein paar Vorbehalte, aber diese Familie ist wirklich einmalig! Wir haben allesamt großes Glück. So hat mein Vater es immer ausgedrückt. Als der Krieg zu Ende war und er aus der Armee ausschied, ist er sofort nach Oxford gegangen. Dort lernte er gleich am ersten Tag Alan kennen. Klar, mittlerweile kennen wir alle The Town Drain, deshalb kann man sich heute kaum noch vorstellen, was mein Vater – ein gescheiter und schüchterner Stipen-diat – empfunden haben muß, als er völlig beklommen und ehrfurchtsvoll in Oxford ankam und sofort dem Prototyp eines Billy Beiton in die Arme lief. Und wenn man bedenkt, wie Billy Beiton als Held des Buches den Leser in seinen Bann zieht, dann stelle man ihn sich leibhaftig vor: ein unerhört geistreicher Mensch, der sich allem gegenüber geringschätzig verhielt, vor dem man eigentlich Respekt haben sollte. Ich glaube, die beiden waren damals nahezu ineinander verliebt.
Einige Jahre später heirateten Alan und mein Vater und beide Familien wurden fast so etwas wie eine große Familie. Als The Town Drain zum Bestseller und später auch noch verfilmt wurde, kam Alan zu Geld, kaufte das Haus und das Stück Land in Shropshire, wo wir unsere Ferien verbrachten. Es war einfach phantastisch dort, und die Leute, die wir mitbrachten, waren fasziniert von dieser unglaublichen Familie mit den vier gutaussehenden Söhnen – und natürlich von der schönen Tochter. Sie waren der Mittelpunkt meines Lebens. Natalie war sowohl meine Schwester als auch meine beste Freundin. Und Theo war meine erste Liebe. Und es schien nur natürlich, sozusagen unumgänglich, daß ich Claud heiratete.«
»War Theo der ältere Bruder?«
»Claud ist der Älteste, dann kommt Theo, dann Natalie.
Jonah und Alfred sind die jüngsten, sie sind Zwillinge.«
»Wie haben sie reagiert, als Sie mit Claud brachen?«
»Schwer zu sagen. Eines wollten sie mir an dem Wochenende, als Natalie gefunden wurde, zeigen: Ich gehöre immer noch zur Familie.«
»War es wichtig für Sie, daß die anderen Ihre Entscheidung billigten?«
»Nicht unbedingt, daß sie sie billigten, aber ich wollte nicht als jemand dastehen, der einen Keil in die Familie treibt.«
»Hat man Sie nach Ihren Gründen gefragt?«
»Eigentlich nicht.«
»Und weshalb haben Sie sich zu diesem Schritt entschlossen?«
»Genau darüber habe ich mir auf dem Weg hierher Gedanken gemacht. Ich wußte, daß ich irgendeine Antwort parat haben muß, aber ich habe keine. Ist das nicht seltsam? Da sitze ich nun hier, bin zweiundvierzig Jahre alt und habe Claud als Zwanzigjährige, als ich noch zur Universität ging, geheiratet. Und das alles habe ich über Bord geworfen. Natürlich hat man mich nach dem Grund gefragt. Claud war am Boden zerstört, und meine Söhne waren schrecklich verwirrt und zornig. Sie verlangten eine Erklärung, vermutlich um einen Halt zu haben, aber ich konnte ihnen keine geben. Nicht etwa, weil ich ihnen etwas verschweigen wollte. Ich konnte ihnen lediglich sagen, daß ich damals blindlings in diese Heirat hineingeschlittert war und nun das Gefühl hatte, aus einem langen Schlaf erwacht zu sein. Als ich mich umsah, waren Jerome und Robert erwachsen und lebten nicht mehr zu Hause. Da entschloß ich mich zu gehen. Es tut mir leid, das war jetzt sehr ausführlich und wahrscheinlich wenig plausibel.«
Eine Zeitlang herrschte Stille, bis ich zu weinen anfing.
Ich war wütend über mich, konnte aber die Tränen nicht zurückhalten, die mir über die Wangen strömten.
Verwundert spürte ich Alex’ Hand auf meiner Schulter.
»Entschuldigung«, schniefte ich. »Ich schäme mich nur so für das, was ich angerichtet habe. Und jetzt benehme ich mich auch noch albern und lasse mich gehen. Tut mir leid.«
Alex durchquerte das Zimmer und kam mit einer Handvoll Papiertaschentücher zurück.
»Hier«, sagte er.
Ich putzte mir die Nase und wischte mir das Gesicht ab.
Anstatt sich auf seinen Stuhl zu setzen, hockte sich Alex zu meinem Erstaunen vor mich hin. Als meine Tränen versiegt waren, bemerkte ich seinen prüfenden Blick auf mir.
»Ich werde Ihnen jetzt ein paar Dinge sagen«, erklärte er. »Sie wissen bereits, daß es nichts macht, wenn Sie in diesem Zimmer weinen. Sie können hier tun, wonach Ihnen der Sinn steht, solange das Sofa keine Flecken bekommt. Aber etwas ist noch viel wichtiger. Während dieser Zeit, in der Sie zu mir kommen und wir miteinander reden, bemühe ich mich, Ihnen gegenüber so offen und geradeheraus wie möglich zu sein. Ich möchte gleich damit anfangen und Ihnen sagen, daß ich Sie nicht für schwach halte und Sie nicht zerknirscht darüber sein sollten, weil Sie kein griffiges Motiv dafür finden, weshalb Sie Ihren Mann verlassen haben. Ein solcher Schritt erfordert Mut. Im Gegenteil, wenn Sie mir einen oberflächlichen Grund dafür nennen würden, müßten wir uns erst mal darum bemühen, ihn beiseite zu schieben, und nachschauen, was sich eigentlich dahinter verbirgt. Sie fordern sich, das ist schon mal gut! Und, fühlen Sie sich jetzt besser?«
Ich setzte mich auf, schneuzte mir die Nase und knüllte unsicher das Papiertaschentuch zusammen, bevor ich es in die Tasche steckte. Ich nickte. Alex klopfte mir beruhigend auf die Schulter und ging dann im Zimmer auf und ab. Das machte er anscheinend immer, wenn er intensiv nachdachte. Nachdem er offensichtlich zu einem Entschluß gekommen war, setzte er sich wieder in den Sessel.
»Ich werde Ihnen natürlich keine Antworten liefern. Das ist Ihre Aufgabe. Meine ist es, die Richtung nicht aus den Augen zu verlieren, die wir verfolgen sollten. Wenn Sie sich dort nicht wohl fühlen, wo ich Sie hindirigiere, müssen Sie es sagen, aber ich bitte Sie, mir zu vertrauen.
Zu dem, was Sie mir gerade erzählt haben, fällt mir sofort ein, daß Sie nicht nur Ihre Ehe beendet haben, sondern auch Abschied genommen haben von einem wichtigen Teil Ihrer Vergangenheit und Kindheit. Viele Menschen in einer Situation wie der Ihren wären vor der Familie geflüchtet. Daher würde ich gerne wissen, weshalb Sie intuitiv in die Familie zurückgekehrt sind, um sich zu vergewissern, ob Sie noch akzeptiert werden. Mir scheint, wir sollten uns weniger mit den Beweggründen für Ihre Scheidung befassen, sondern uns mit dieser Familie beschäftigen. Sind Sie damit einverstanden?«
Ich schniefte. Ich hatte meine Fassung zurückgewonnen und konnte reden.
»Wenn Sie meinen.«
»Und zwar deshalb, Jane, weil es eine meiner Aufgaben ist, dafür zu sorgen, daß Sie die verschiedenen Ereignisse, von denen sie überwältigt sind, wieder unter Kontrolle bekommen. Wir könnten uns zu diesem Zweck verborgene Muster ansehen und prüfen, ob wir sie wiedererkennen.
Sie sind zu mir gekommen, Jane, um über Ihre Scheidung zu sprechen. Das ist wichtig, und wir werden uns auch damit befassen. Doch eine ganz wesentliche Aufgabe ist es herauszufinden, was Sie tatsächlich möchten, und dazu möchte ich Ihnen etwas zu überlegen geben. Ich glaube, es ist kein Zufall, daß Ihre beste Freundin, fast schon Ihr Zwilling, im Erdreich verscharrt gefunden wurde und Sie zur selben Zeit zum erstenmal in Ihrem Leben um Hilfe nachsuchen, um Ihre eigene Vergangenheit auszugraben, um Ihrem eigenen Geheimnis nachzuspüren. Leuchtet Ihnen das ein, Jane?«
Ich war verblüfft und zunächst etwas beunruhigt.
»Ich weiß nicht. Es war für uns alle natürlich ein maßloser Schock. Aber es ist und bleibt ein tragischer Unglücksfall. Ich verstehe nicht, was es darüber zu reden gibt.«
Alex ließ sich nicht abbringen.
»Mich macht Ihre Wortwahl stutzig. Ein Schock für uns alle. Dabei war es ein tragischer Unglücksfall. War er das wirklich? Wissen Sie, zuweilen denke ich, daß die Bereiche, über die Menschen nicht sprechen wollen, oftmals genau die sind, mit denen man sich näher befassen sollte. Ihre Scheidung hat etwas mit Überzeugung, Gefühl, Ihrer Einstellung zu tun. Natalies Tod dagegen ist ein Faktum, ebenso wie die Entdeckung der Knochen Fakten sind. Ich denke, hier sollten wir ansetzen.«
Ich hatte dem therapeutischen Gerede von Gefühlen und dem Argwohn gegenüber tatsächlichen Ereignissen immer ablehnend gegenübergestanden, so daß mich Alex’ Worte tief beeindruckten.
»Ja, einverstanden. Ich glaube, Sie haben recht.«
»Gut, Jane. Erzählen Sie mir, wie es war, als Natalie verschwand.«
Ich legte mich wieder auf die Couch und überlegte, womit ich beginnen sollte.
»Ich finde es schrecklich, aber vieles bleibt für mich schemenhaft wie etwas längst Vergangenes, obwohl es so tragisch war und jede Einzelheit in der Erinnerung lebendig sein sollte. Andererseits ist es bereits ein Vierteljahrhundert her, es war im Sommer 1969. Natalie verschwand unmittelbar nach einer großen Party auf Stead, die anläßlich Alans und Marthas zwanzigstem Hochzeitstag gefeiert wurde. Es geschah nichts, was besonders erwähnenswert wäre und sich in mein Gedächtnis eingegraben hätte. Nur an eines erinnere ich mich noch ganz genau: Natalie wurde nach der Party von einem Mann aus dem Dorf zum letztenmal gesehen.« Ich hielt inne. »Das Seltsame daran ist, daß ich mich in der Nähe aufhielt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Na ja, ich war natürlich nicht genau dort, aber nicht weit entfernt. Offenbar befand ich mich in ihrer unmittel-baren Nähe – abgesehen von dem Mann, der sie gesehen hat, und vielleicht der Person, die … na ja, Sie wissen schon.«
»Die Person, die Natalie umgebracht hat.«
»Ja. Vielleicht sollte ich Ihnen den Platz beschreiben.
Möchten Sie?«
»Okay, gut.«
»Natalie wurde zum letztenmal am Col gesehen. Der Col ist das Flüßchen oder der breite Bach, der an der Grenze des Grundstücks der Martellos vorbeifließt. Von Westbury, dem nächsten Dorf, führt ein schmaler Pfad über den Col und durch Alans und Marthas Grundstück hindurch und am Haus vorbei. Der Mann war auf dem Weg dorthin, um etwas zu liefern oder abzuholen, das weiß ich nicht mehr. Er sah Natalie auf dem Pfad, der am Wasser entlangführt, am Fuß des Cree’s Top. Er hat ihr sogar zugewinkt, aber sie hat ihn nicht bemerkt. Danach hat niemand mehr sie lebend gesehen.«
»Wo waren Sie? «
»Auf der anderen Seite vom Cree’s Top. Der Name klingt, als handle es sich um einen hohen Berggipfel, aber eigentlich ist es nur eine Erhebung, die durch den Bach zerschnitten wird.«
Ich schloß die Augen.
»Ich bin seit damals nicht mehr dort gewesen und habe auch jeden Gedanken daran verbannt. Ich bin nicht mal mehr in dem Teil des Grundstücks spazierengegangen, aber ich kann mich an jede Einzelheit erinnern. Wenn Natalie die Brücke hinter sich gelassen hätte und den Pfad entlanggegangen wäre, der auf der südlichen Seite des Col vorbeiführt, also auf Alans und Marthas Grundstück, hätte sie auf dem Kiesweg nach ein paar Bäumen die Anhöhe erreicht. Von dort hätte sie auf mich herabblicken können.
Wir waren nur zwei, drei Gehminuten voneinander entfernt.«
»Was haben Sie dort gemacht?«
»Das weiß ich noch wie heute. Ich war eine launische Sechzehnjährige. Ich glaube nicht, daß ich Ihnen gefallen hätte. Ich war ein bißchen verliebt, ein bißchen verzweifelt und in jenem Sommer entweder mit Natalie zusammen, allerdings – aus verschiedenen Gründen – nicht so oft wie sonst, oder mit Theo. Oder ich war allein. An diesem Spätnachmittag war ich richtig in Weltuntergangsstim-mung. Ich schnappte mir das einzige Exemplar der Liebesgedichte, die ich den Sommer über geschrieben hatte, und legte mich ans Ufer des Col, am Fuß des Cree’s Top. Dort saß ich mehrere Stunden und las immer wieder in meinen Gedichten. Einem Impuls folgend riß ich eine Seite nach der anderen aus dem Heft, zerknüllte sie so, daß sie wie kleine weiße Nelken aussahen, und warf sie in den Bach. Ich schaute zu, wie die Strömung sie von mir wegtrieb, bis alle verschwunden waren. Ich glaube, es ist sinnlos, wenn ich weitererzähle.«
»Doch, Jane, tun Sie mir den Gefallen.«
»Wenn Sie wollen. Ich habe ein Problem mit der Vorgehensweise. Ich mißtraue ihr, denn mir scheint, ich werde dadurch ermutigt, in nicht besonders wichtigen oder eindeutigen Gefühlen zu wühlen und sie vielleicht dadurch noch zu verstärken.«
»Welche Gefühle?«
»Ich meine keine bestimmten Gefühle. Aber ich will noch bei der Situation bleiben, die ich gerade beschrieben habe. Jahrelang habe ich unter diesem starken Schuldgefühl gelitten, ich hätte etwas tun können, um das Unglück zu verhindern. Ich war doch ganz in ihrer Nähe, und wenn die Umstände nur ein kleines bißchen anders gewesen wären, wenn ich mich entschlossen hätte, über den Cree’s Top zu gehen, hätte sich all das womöglich nie ereignet und ich hätte Natalie retten können. Mir ist natürlich auch klar, daß die Überlegung lächerlich ist und man sich über vieles und jedes den Kopf zerbrechen kann.«
»Ihr Schuldgefühl war enorm groß.«
»Ja.«
»Gut, ich denke, wir sollten hier abbrechen.«
Alex half mir von der Couch herunter.
»Ich finde, Sie haben das sehr gut gemacht.«
Ich spürte, wie ich errötete, so wie damals, als ich in der Schule vortreten mußte, um eine Auszeichnung entgegen-zunehmen. Ich war regelrecht ein bißchen verärgert über mich und mein zartbesaitetes Gemüt.
9. KAPITEL
Zwischen den Knochen fanden sich noch andere Knochen.
Natalie war schwanger gewesen, als sie erwürgt wurde.
Die Polizei teilte es Alan und Martha mit, Alan rief seine Söhne an und Claud mich – einen Tag vor dem Begräbnis.
Anfangs konnte ich nichts von dem glauben, was er mir mit seiner sanften Stimme erzählte. Wie immer, wenn Claud seine berufsmäßige Gelassenheit an den Tag legte, begann ich unsinniges Zeug zu plappern. Ein Wust von Fragen schwirrte mir durch den Kopf.
»Wie ist es möglich, daß sie schwanger war?«
»Es ist für uns alle unbegreiflich, Jane.«
»Wer könnte denn der Vater gewesen sein?«
Claud klang müde und ungeduldig. »Jane, ich habe es eben erst erfahren. Mehr weiß ich auch nicht.«
»Dann wird die Beerdigung wohl gar nicht stattfinden, oder?«
»Doch. Die Polizei hat die Überreste freigegeben.«
»Aber werden sie denn keine Untersuchungen machen?
Können sie nicht mit DNS-Tests oder so herausfinden, wer der Vater ist? Du bist Arzt, du mußt das doch wissen.«
Das war für Claud ein Signal, seinen schulmeisterlichen Ton anzuschlagen. »Sicher haben die Gerichtsmediziner Proben entnommen, Jane. Aber soviel ich weiß, braucht man für den Nachweis von DNS Blut oder andere Körper-flüssigkeiten.«
»Und was ist mit den Knochen?«
»Ist das wirklich der richtige Zeitpunkt für solche Fragen, Jane? Knochenzellen haben Zellkerne, die natürlich DNS enthalten. Aber sie nimmt in Skeletten ab, soviel ich weiß. Wenn die Knochen in der Erde gelegen haben, zerfallen die DNS-Spiralen nicht nur, sondern werden auch verunreinigt. Aber das gehört nicht zu meinem Fachgebiet. Da mußt du die Sachverständigen fragen.«
»Scheint ziemlich hoffnungslos«, sagte ich.
»Ja, es sieht nicht gut aus.«
Schwanger. Mir wurde übel, und eine Vorahnung, die nach und nach von mir Besitz ergriffen hatte, legte sich jetzt wie eine Klammer um mein pochendes Herz.
»Lieber Gott, Claud, Claud … was sollen wir denn nur tun?«
Ich ließ mich in den alten grünen Sessel neben dem Telefon fallen und schaukelte vor und zurück.
»Tun?« fragte er. »Wir werden wie immer als Familie zusammenhalten und die Situation gemeinsam meistern.
Es ist für uns alle nicht leicht, aber wir müssen uns einfach gegenseitig helfen. Alan und Martha trifft es am schwersten. Es ist ihnen sehr wichtig, daß du morgen dabei bist.«
Seine Stimme wurde weich.
»Laß uns nicht im Stich, Jane. Es betrifft uns alle. Du kommst doch, nicht wahr?«
»Ja.«
Ich wählte Helen Austers Nummer, aber sie war zu beschäftigt, um viel zu sagen. Sie meinte nur, sie sei in ein paar Tagen wieder in London, dann könnten wir uns treffen. Was hätte ich sie überhaupt fragen sollen?
Der Himmel über dem schmalen Sarg war grau. Die Bäume trugen kein Laub mehr, dafür lagen bunte Blumen auf den schimmernden neuen Grabsteinen, die von Kunst-rasen umsäumt waren und kitschige Inschriften trugen.
Die schönen verwitterten Steine hingegen waren nicht geschmückt. Ich blickte an der Kirchenfassade hoch.
Romanisch, flüsterte mir jemand ins Ohr. Natürlich Claud.
Falls ich anschließend noch Zeit hätte, müßte ich mir das normannische Taufbecken ansehen. Seine Stimme ging gottlob im Glockengeläut unter. Ihr Grab erinnerte an eine offene Wunde im Erdboden. Gleich würde man das Bündel Knochen hinabsenken und Erde darüber werfen. In einem Jahr wäre Gras über die Narbe gewachsen. Man würde dem Ort gelegentlich einen Besuch abstatten und Blumen hinlegen. An Weihnachten Stechpalmenzweige, im Frühjahr Narzissen. Irgendwann wäre das Grab nicht mehr neu und grauschwarz. Es würde mit der düsteren Umgebung verschmelzen. Die kleine Schar der sonntäglichen Kirchgänger würde achtlos daran vorbeispazieren.
Und dann käme der Tag, an dem niemand mehr den Ort besuchen würde, an dem Natalie begraben lag. Fremde würden neben dem Grabstein stehenbleiben, mit den Fingern die gemeißelten Lettern nachziehen und sagen: Sie ist aber jung gestorben.
Marthas Anblick brach mir fast das Herz. Binnen weniger Wochen schien sie um Jahre gealtert zu sein. Ihr Gesicht war von Kummer gezeichnet, ihr Haar schlohweiß. Trotz des eisigen Winds hielt sie sich kerzen-gerade und weinte nicht. Ob sie überhaupt noch Tränen hatte? Ich wußte, daß sie jede Woche am Grab ihrer Tochter sitzen würde, obwohl sie nicht an Gott glaubte.
Zum erstenmal fragte ich mich, wie viele Jahre ihr noch bleiben mochten. Sie hatte immer unsterblich auf mich gewirkt, doch nun schien sie gebrechlich und todmüde.
Auch bei Alan hatten die Ereignisse Spuren hinterlassen.
Sein weiter Mantel und der Stock, den er umklammert hielt, ließen ihn plötzlich kleiner und gebeugter wirken.
Neben ihm die vier Söhne, groß und nach wie vor attraktiv in ihren dunklen Anzügen. Wir anderen – Ehefrauen, Ex-Ehefrauen, Enkel und Freunde – standen hinter ihnen.
Jerome (»ich hab Unterricht«) und Robert (»nee, ich mag keine Beerdigungen«) waren nicht erschienen, dafür war unerwartet Hana morgens um sieben bei mir aufgetaucht –
in einem mauvefarbenen langen Rock, mit einem Schinkensandwich, einer Thermoskanne und einem Strauß Anemonen, die an Edelsteine erinnerten.
»Sag mir einfach, wenn du mich nicht dabeihaben möchtest«, hatte sie gemeint. Aber ich wollte. Ich war froh, daß sie neben mir stand und meine Hand hielt, während die Luft ihre Nase rot färbte und ihre albernen Kleider im Wind flatterten. Einige Meter von uns entfernt schneuzte sich ein Mann mittleren Alters laut in sein großes Taschentuch. Sein feines, konzentriertes Gesicht kam mir irgendwie bekannt vor. Das war das einzige Geräusch. Selbst die Vögel sangen nicht.
Unbeholfen sprach der Vikar seine Worte über Tod und Auferstehung in die kalte Luft. Der Sarg wurde in die Gruft hinabgelassen. Martha trat langsam vor und warf eine einzelne gelbe Rose auf den Sarg. Hinter mir hörte ich unterdrücktes Schluchzen. Niemand sonst gab einen Laut von sich. Martha trat wieder zurück und ergriff Alans Hand. Sie sahen einander nicht an, sondern blickten starr auf das ausgehobene Loch im Erdreich, das sogleich zugeschüttet wurde. Claud trat mit einem Blumenstrauß an das Grab. Wir folgten ihm, einer nach dem anderen.
Wenig später war die bloße Erde über und über mit Blumen bedeckt.
Meine müden, verweinten Augen sahen Stead jetzt in einem anderen Licht. In meinen Kindertagen war es der verlockendste Ort der Welt gewesen, an den man nach langen Spaziergängen in der Dämmerung zurückkehrte, wenn das Abendlicht auf dem Mauerwerk schimmerte, die Fenster golden leuchteten und kleine Rauchwolken aus dem Kamin aufstiegen, Zeichen verheißungsvoller Wärme im Inneren des Hauses. Jetzt wirkte es auf mich verödet.
Alle Fenster waren dunkel. Unkraut wucherte rund um die Eingangstür. Die Trauerweide, die sich über die Einfahrt neigte, sah ungepflegt aus.
Jane Martellos fliegender Imbißservice hatte Baisers, Scones mit ungesalzener Butter, selbstgemachte Marmelade aus dem Vorjahr und einen Kuchen geliefert. In der Nacht vor der Beerdigung hatte ich bis in die frühen Morgenstunden gebacken. Die Küche hatte nach Vanille und Zitronenschale geduftet. Als der Kuchen im Ofen gewesen war, habe ich Claud noch einmal angerufen.
»Wer kommt?« hatte ich gefragt.
»Ich weiß nicht genau«, hatte er geantwortet und dann ein paar Namen genannt.
»Luke! Luke kommt?«
»Warum denn nicht, Jane?« hatte Claud etwas gereizt geantwortet. Ein Blick auf die Küchenuhr zeigte mir, daß es bereits weit nach Mitternacht war. Wahrscheinlich hatte ich ihn geweckt.
»Aber Luke war doch ihr Freund. Natalie erwartete ein Kind, und Luke war ihr Freund.«
»Gute Nacht, Sherlock, bis morgen.«
Während ich eine Decke über den langen Eichentisch in der Küche von Stead breitete, wurde mir klar, daß Luke der Mann gewesen war, der sich die Nase geputzt hatte. In wenigen Minuten würde er mit den anderen hier erscheinen, und wir würden uns höflich miteinander unterhalten.
Der tiefe Schmerz am Grab würde sich in stumpfsinnigen Gesprächen bei belegten Brötchen verflüchtigen. Jeder hätte nach der Beerdigung besser seiner Wege gehen sollen, um eine Weile mit dem Verlust und der Trauer allein zu sein. Ich schob gerade die Brötchen in den Ofen, um sie aufzubacken, als Hana mit den Baisers in die Küche kam. Wir sprachen nicht. Sie hatte stets zu schweigen verstanden.
»Jane, meine Liebe. Hana.« Es war Alan, aber nicht der bombastische Alan. »Martha ist nach oben gegangen, wird aber in einer Minute hier sein. Kann ich euch helfen?«
»Nein, Alan, das ist nicht nötig.«
»Wenn das so ist, werde ich …« Er machte eine vage Handbewegung und schlurfte hinaus.
Ich überließ Hana das Aufdecken und ging in den Garten.
Noch bevor ich mir eine Zigarette angezündet hatte, sah ich Menschen grüppchenweise die Einfahrt heraufkommen. Da ich noch niemanden sehen wollte, machte ich mich in entgegengesetzter Richtung davon. Mein Essen konnte mich eine Weile ersetzen.
»Und was machst du?«
Genau das hatte ich befürchtet. Vor mir stand ein Mann in einem schlecht gebügelten und nicht sonderlich sauberen dunklen Anzug. Aber dahinter sah ich einen schlanken, langhaarigen Jungen mit rundlicher Nickelbrille, der Natalie küßte, sie nahezu verschlingen wollte und ihren Nacken sanft streichelte. Natalies Hauch von Wildheit. Die Frage schien ihn merkwürdigerweise völlig aus der Fassung zu bringen.
»Ich bin Lehrer«, sagte er. »In Sparkhill, an einer höheren Schule.«
Luke, groß und dünn, beugte sich über mich, als er sprach; er erinnerte mich, dank seiner langen Nase, an einen traurigen Vogel, aber sein Blick war stechend.
Mechanisch sagte ich, was ich immer zu Lehrern sagte, daß das der wertvollste Beruf überhaupt sei und so weiter und so fort. Blablabla.