»Brendan klang recht sympathisch.«

»Ach ja?«

»Ja, wirklich. Ich glaube, er hat sich große Mühe gegeben, nett zu mir zu sein.«

»Vielleicht wäre es doch besser, du würdest meine Familie ein anderes Mal kennen lernen.«

»Was genau bereitet dir Sorgen?«

»Gar nichts.«

»Es ist wegen Brendan, stimmt’s? Du möchtest nicht, dass ich ihn kennen lerne.«

»Ich habe dabei nur an dich gedacht.«

»Ich habe gesagt, dass ich komme, also komme ich auch.«

Nach einer kurzen Pause fügte er steif hinzu: »Es sei denn, du hast etwas dagegen.«

»Warum sollte ich?«

»Gut. Dann also bis sieben?«

»Ja. Bis dann.«

Troy und ich zogen los, um fürs Abendessen einzukaufen. Mum hatte versprochen, einen Nachtisch mitzubringen. Wir brauchten also nur die Zutaten für den Hauptgang zu besorgen. Troy konnte sich nicht entscheiden, was er kochen wollte. Wir fuhren mit unserem Wagen immer wieder die Gänge auf und ab. Er griff nach Tüten mit Linsen und Bohnen und exotischen Reissorten, starrte sie unschlüssig an und legte sie dann zurück ins Regal. Sein Gehirn schien durch die große Auswahl, die vielen Farben und das grelle Licht überfordert zu sein.

»Pasta«, sagte ich. »Lass uns doch was mit Pasta kochen.«

»Ja, vielleicht.«

»Oder was mit Reis.«

»Reis?«

»Ja, Reis. Eine gute Idee?«

»Ich weiß nicht.«

»Wir könnten auch schummeln. Wir kaufen ein Fertiggericht und tun so, als hätten wir es selbst gekocht.«

Ich nahm aufs Geratewohl eine Packung Kabeljau-in-Käsesauce aus der Tiefkühltruhe und hielt sie ihm hin.

»Ein paar von denen hier«, schlug ich vor. »Wir können sie in einen großen Topf umfüllen, dann merkt es keiner. Und wenn sie es doch merken, spielt es auch keine Rolle. Da ist doch nichts dabei.«

»Das Zeug sieht widerlich aus.«

Ich warf die Packung zurück in die Gefriertruhe. »Dann entscheide du.«

Er sah sich um, ließ den Blick über all die Regale schweifen, die voll gepackten Einkaufswagen der anderen Kunden. »Mir ist eigentlich gar nicht nach Kochen zumute. Ich bin nicht in der Stimmung.«

»Wir hängen hier nun schon eine halbe Stunde herum«, sagte ich und versetzte unserem Einkaufswagen einen entnervten Stoß. »Und das Einzige, was wir bisher haben, sind Kaffeebohnen und ein paar Bananen. Ich nehme jetzt einfach irgendwas, okay?«

»Okay.« Er starrte mich so hilflos an, dass meine ganze Wut sofort verpuffte.

Ich legte einen Arm um seine schmalen Schultern und drückte ihn an mich. »Ist schon gut, Troy. Das ist überhaupt kein Problem. Überlass es einfach mir.«

Kerry und Brendan waren in der Wohnung geblieben, um aufzuräumen, aber als Troy und ich am Spätnachmittag zurückkehrten – draußen begann es langsam zu dämmern, und am Horizont hing bereits eine schmale Mondsichel –, hatte sich an dem Chaos kaum etwas geändert. Einen hoffnungsvollen Moment lang dachte ich, sie wären nicht da, aber dann hörte ich hinter der geschlossenen Badtür Stimmen und Wasserrauschen.

Die beiden nahmen ein gemeinsames Bad. Troy und ich begannen mit den Vorbereitungen für das Essen. Ich half ihm, den Knoblauch zu zerkleinern und das Gemüse aufzuschneiden.

Während wir in einvernehmlichem Schweigen arbeiteten, hörten wir die beiden hin und wieder Wasser einlassen oder wohlige Laute ausstoßen. Ich warf einen Blick zu Troy. Dem gelegentlichen Geplantsche nach zu urteilen, war dort drinnen Sex im Gang. Ich legte eine CD ein und drehte die Anlage ziemlich laut. Als ich zum Spülbecken zurückkehrte, wurde mir bewusst, wie sehr meine Schultern schmerzten und dass ich mich insgesamt ziemlich verschwitzt und verspannt fühlte. Ich würde auch noch rasch baden und mir die Haare waschen.

Vielleicht schaffte ich es sogar, ein wenig Make-up aufzulegen, ehe Nick kam. Nach einem Blick auf die Uhr überlegte ich einen Moment, ob ich an die Tür klopfen sollte, ließ es dann aber sein.

Als sie schließlich in Handtücher gehüllt herauskamen und dabei eine duftende Dampfwolke in die Wohnung entließen, wirkten sie beide rosig und erhitzt.

»Ich nehme auch noch schnell ein Bad«, erklärte ich und legte das scharfe Messer beiseite. Sie fingen gerade an, in ihren Taschen nach Klamotten zu wühlen.

Das heiße Wasser war aus. Eine unbändige Wut stieg in mir auf. Ich wusch mir am Waschbecken das Gesicht und putzte mir die Zähne, aber als ich in mein Schlafzimmer gehen wollte, um mich wenigstens noch umzuziehen, klingelte es. Mist. Brendan riss die Tür auf. Draußen lächelten sich Nick und meine Eltern gerade verlegen an.

»Nick.« Brendan streckte ihm die Hand entgegen. »Kommen Sie herein. Wir warten schon alle darauf, Sie kennen zu lernen.«

»Hallo«, begrüßte ich ihn. Ich überlegte einen Moment, ob ich auf ihn zugehen und ihn küssen sollte, blieb dann aber neben dem Herd stehen. »Du hast es dir wahrscheinlich schon gedacht, aber der Chefkoch hier ist mein Bruder, Troy.« Troy drehte sich um und schwenkte einen Holzlöffel.

»Meine Eltern, Marcia und Derek. Meine Schwester Kerry.«

Die, wie ich gerade feststellte, phantastisch aussah. Sie trug ein rotes Samtkleid und eine eng anliegende Kette, die ihren Hals sehr lang und schlank wirken ließ. »Und Brendan.«

Während sich alle per Handschlag begrüßten, zog ich die Steppdecke und die Mäntel vom Sofa, aber niemand setzte sich.

Ich räusperte mich.

»Wie war dein Tag?«, fragte ich Nick quer durch den Raum.

Ich bemühte mich um einen munteren Ton.

»Ganz in Ordnung.«

»Wundervolles Wetter, nicht?«

Wir starrten uns verlegen an.

»Drinks!«, rief Brendan. Er holte die zwei Flaschen Wein, die ich gekauft hatte, aus dem Kühlschrank und öffnete sie gleich beide. »Kümmerst du dich um die Chips, Kerry? Es ist immer eine nervenaufreibende Sache, die Eltern kennen zu lernen, stimmt’s? Als ich Marcia und Derek zum ersten Mal gegenüberstand, war ich wie gelähmt vor Angst.« Er stieß ein fröhliches Lachen aus.

»Wirklich?«, fragte mein Vater. »Davon haben wir aber nichts bemerkt.« Er wandte sich an Nick. »Miranda hat mir erzählt, Sie arbeiten im Bereich Werbung.«

»Ja«, bestätigte Nick. »Und Sie in der Verpackungsbranche.«

»Ja.«

»Ich habe mir auch mal überlegt, in die Werbung zu gehen«, füllte Brendan die Pause. »Aber dann kamen mir Bedenken. Ich wollte nicht für Dinge werben müssen, hinter denen ich nicht wirklich stand.«

»Nun ja …«, begann Nick.

Brendan ließ ihn nicht ausreden. »Zum Beispiel für eine dieser multinationalen Ölgesellschaften.« Nick sah mich scharf an. Er glaubte offenbar, dass ich Brendan von seinem neuen Auftrag erzählt hatte. »Das wäre für mich undenkbar«, fuhr Brendan fort. »Hmm? Ich möchte mit Menschen arbeiten. Das hat für mich oberste Priorität. Bitte schön, hier kommt Ihr Wein.«

»Was das betrifft, geht es uns Werbeleuten ein bisschen wie den Anwälten«, erklärte Nick. »Man kann sich nicht immer nur das herauspicken, was den eigenen Überzeugungen entspricht.«

»Sie meinen, auch schlechte Firmen verdienen eine gute Werbung?« Brendan nahm einen großen Schluck aus seinem Glas. »Ein interessanter Standpunkt.«

Das Geschirr passte nicht zusammen, der Tisch war zu klein, jeder saß zwischen seine Nachbarn eingezwängt. Inzwischen wurde bereits die dritte Flasche Wein geöffnet und ausgeschenkt. Nick aß langsam und wirkte ziemlich still.

Brendan hingegen schlang seine Portion schnell hinunter und bat um eine zweite.

»Du wirst mir beibringen müssen, wie man das zubereitet«, sagte er zu Troy. Dann wandte er sich in liebenswürdigem Ton an Nick. »Hat Mirrie schon mal für Sie gekocht, Nick?«

»Ja, einmal.«

»Lassen Sie mich raten. Hühnerbrust mit Knoblauch und Olivenöl?«

»Ich glaube, ich habe es Kerry gegenüber erwähnt«, erklärte ich.

»Stimmt«, sagte Nick. Er lächelte mich liebevoll an.

Und als ich es ihm servierte, sagte ich …

»Und als sie es Ihnen hinstellte, lief das ungefähr folgendermaßen ab.« Brendans Stimme kletterte höher. Er zog die Augenbrauen hoch. »Da-daaa! Lassen Sie es sich schmecken, Mister!« Sogar ich konnte hören, dass es ein bisschen nach mir klang.

Er lachte. Ich sah zu Nick. Er lächelte ein wenig verkrampft.

Kerry auch. Alle lächelten. Verlegen starrte ich auf meinen Teller. Ich fand Brendans Benehmen abstoßend, fragte mich aber, ob er mit dieser widerlichen Art womöglich auch mich –

zumindest für Nick – in einem schlechten Licht erscheinen ließ.

»Alles in Ordnung?« Kerry, die neben mir saß, legte ihre kühle Hand auf meine verschwitzte. Der Duft ihrer Seife und ihres Parfüms stieg mir in die Nase.

»Natürlich. Alles in Ordnung.« Ich zog meine Hand weg.

»Mirrie?«

Plötzlich starrten mich alle an.

»Alles in Ordnung«, wiederholte ich.

»Wir sind doch eine Familie«, sagte Brendan in sanftem Tonfall. »Eine Familie. Da muss einem doch nichts peinlich sein.«

Ich wandte mich ihm zu. »Ich habe mit dir Schluss gemacht«, hörte ich mich sagen. »Ich war diejenige, die Schluss gemacht hat.«

Das einzige Geräusch, das man im Raum noch hören konnte, war das Kratzen von Nicks Gabel auf seinem Teller.

»Was war denn eben mit dir los?«

Wir hatten uns rasch verabschiedet und gingen Richtung U-Bahn.

»Ich weiß auch nicht. Egal. Auf jeden Fall war es albern von mir.«

»Ist das alles?«

»Ich fühlte mich bloß so – oh, ich weiß auch nicht. So erdrückt.«

»Niemand wollte dir etwas Böses. Du bist einfach ausgerastet.«

»Das verstehst du nicht, Nick. Es geht um die Dinge zwischen den Zeilen. Dinge, die nicht ausgesprochen werden, von denen ich aber weiß, dass sie da sind.«

»Für mich klingt das ein wenig paranoid.«

»Ja? Das liegt wahrscheinlich daran, dass du nicht zu meiner Familie gehörst.«

»Brendan hat doch bloß versucht, nett zu sein.«

»Zumindest wollte er bei dir diesen Eindruck erwecken. Er möchte dich auf seine Seite ziehen.«

»Lieber Himmel, Miranda, du solltest dich mal reden hören.«

»Ach, vergiss es.« Ich rieb mir die Augen. »Ich habe mich zum Narren gemacht, das ist mir durchaus bewusst. Ich komme mir sowieso schon so blöd und lächerlich vor. Da muss ich nicht noch stundenlang darüber reden.«

»Ganz wie du willst.« Seine Stimme klang kühl.

Wir hatten die U-Bahn erreicht. Ein warmer, staubiger Wind blies von unten herauf. Ich hatte das Gefühl, kaum Luft zu bekommen. Verlegen griff ich nach Nicks Hand.

»Es tut mir Leid. Können wir das Ganze nicht einfach vergessen?«

»Ich schon«, antwortete er. »Aber kannst du es auch?«

12. KAPITEL

»Nun komm schon, Miranda«, sagte Kerry. »Ich könnte das völlig problemlos für dich organisieren. Du könntest schon morgen Abend in einem Flugzeug sitzen! Nun komm schon!«

Nach einer kurzen Pause fügte sie in fast herrischem Ton hinzu:

»Ich glaube, du brauchst mal eine Auszeit.«

»Nicht nötig, es geht mir gut«, gab ich gereizt zurück.

»Ich versuche doch bloß, dir zu helfen. Wir machen uns alle ein bisschen Sorgen um dich.« Zornig ballte ich die Fäuste. Es fiel mir schwer, ruhig zu bleiben.

Ich hatte bereits den Mund geöffnet, um nein zu sagen, als ich mir plötzlich dachte, warum eigentlich nicht? Warum nicht für ein paar Tage entfliehen? Lange Nächte, heiße Bäder, Straßencafés, Zimmerservice, neue Eindrücke, neue Gesichter, die fremden Laute einer anderen Sprache im Ohr, Sonne auf der Haut, Austern, Karaffen voller Wein. Und wenn ich wieder zurückkam, vielleicht kein Brendan mehr. Kein Brendan, der mit offenem Bademantel am Tisch saß, wenn ich morgens schlaftrunken in die Küche stolperte, und gerade genüsslich auf meiner letzten Scheibe Brot herumkaute. Kein Brendan, der mich »Mirrie« nannte oder mir widerliches Zeug ins Ohr flüsterte. Obwohl er sich erst seit etwa vierundzwanzig Stunden in meiner Wohnung aufhielt, hatte ich bereits das Gefühl, kaum noch Luft zu bekommen. Gerade hatte ich ihn losgeschickt, Toilettenpapier zu besorgen, und während der paar Minuten, die er weg war, kam es mir vor, als wäre ein Felsbrocken von meiner Brust gewälzt worden.

»Also gut«, sagte ich. »Nur für zwei oder drei Tage.

Schließlich muss ich es ja wirklich mal ausnutzen, dass ich eine Reisebürokauffrau als Schwester habe.«

»Gut. Das ist genau das, was du jetzt brauchst, und ich bin sicher, dass du dich hinterher viel besser fühlen wirst.«

»Ich könnte wirklich ein paar Tage Urlaub vertragen«, stellte ich fest. Damit hatte das Kind auch schon einen Namen: Miranda hat sich überarbeitet. Ich begann rasch zu rechnen: Wenn ich morgen Abend oder übermorgen abreiste und den Rest der Woche blieb, würden sie vielleicht wirklich schon weg sein, wenn ich zurückkam. Kerry zufolge schien mit ihrem Hauskauf alles glatt zu laufen.

»Wo möchtest du denn hin? Wenn es nur für ein paar Tage ist, sollte es natürlich nicht zu weit sein.« Sie stand auf und holte ihre Aktentasche hinter dem Sofa hervor.

»Schau, die hier habe ich einfach mal mitgebracht, nur für den Fall … Wir bieten so genannte Miniurlaube an, und um diese Jahreszeit lässt sich da immer etwas finden – du bekommst es über mich zu einem Viertel des Preises.« Sie breitete eine ganze Reihe von Prospekten auf dem Tisch aus. »Wie wär’s mit Prag?

Oder Madrid? Hier hätten wir ein paar Tage in der Normandie, direkt am Meer. Wobei das um diese Jahreszeit schon ein bisschen kalt sein könnte. Wenn ich du wäre, würde ich lieber Richtung Süden reisen.«

»Italien.« Ich griff nach einem Prospekt und schlug ihn auf.

»Rom?«

»Rom kenne ich schon. Ich möchte irgendwohin, wo ich noch nie war.«

»Da hätten wir Florenz, Venedig, Siena oder Neapel. Jeweils vier Tage. Oder sieh dir das hier an, ein wirklich schönes Hotel auf Sizilien, auf einem Felsen mit Blick aufs Meer.«

Ich sah mir die schönen Hochglanzbilder an. Kirchen in Grau und Rosa, Kanäle mit Gondeln, Hotelzimmer mit großen Betten.

»Moment«, sagte ich. Ich griff nach dem Telefon und wählte.

»Nick, hier ist Miranda … ja … ja, ich fühle mich schon viel besser, danke. Tut mir wirklich Leid, ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist, wahrscheinlich bin ich einfach überarbeitet …

Hör zu …«

Es regnete. Es regnete bereits, als wir am Flughafen auf das Vaporetto warteten, das uns in die Stadt bringen sollte. Der Himmel war stahlgrau. Der Regen fiel so heftig, dass es aussah, als würden sich Pfeile in die Straße bohren und das Wasser hochspritzen lassen. Innerhalb kürzester Zeit waren wir völlig durchnässt. Es regnete während der ganzen Überfahrt, und als wir die Stadt erblickten, erschien sie uns grau und verschwommen – wie eine Geisterstadt erhob sie sich aus dem Wasser. Von unserer Haltestelle bis zum Hotel waren es fünf Minuten zu gehen. Wir schleppten unsere Taschen, in denen sich statt wasserdichter Kleidung nur leichte Sachen befanden, einen schmalen Kanal entlang, an dem die Boote alle auf der Seite vertäut und mit Planen abgedeckt waren.

Es regnete jeden Tag. Wir trieben uns hauptsächlich in Kirchen und Kunstgalerien herum, und dazwischen suchten wir Zuflucht in kleinen Cafés, wo wir Espresso oder heiße Schokolade tranken. Ich hatte von langen, gemächlichen Spaziergängen durch das Labyrinth der Kanäle geträumt, von romantischem Verweilen auf Brücken, von denen aus man eng umschlungen den Booten zusehen konnte, von Sex unter dünnen Laken, während draußen die Sonne auf die heruntergelassenen Jalousien brannte. Stattdessen gingen wir ständig zum Essen und gaben deshalb viel zu viel Geld aus. Eigentlich hatten wir vorgehabt, uns hauptsächlich von Brot, Käse und Pizza zu ernähren, aber unsere Picknickpläne waren im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser gefallen. Bei diesem Wetter war es einfach besser, sich in ein Lokal zu setzen und zwei angenehme Stunden mit dem Drei-Gänge-Touristenmenü und einer Karaffe Hauswein zu verbringen. Nick kaufte mir eine Ledergeldbörse und einen Ring aus venezianischem Glas. Ich machte ein Foto von ihm, wie er ziemlich durchnässt auf der Rialtobrücke stand.

Abends aßen wir in winzigen Restaurants, und wenn wir ins Bett gingen, hörten wir den Regen gegen die kleinen Fenster unseres Zimmers trommeln. Nick schnarchte ziemlich laut, reinigte seine Zähne morgens und abends jeweils fünf Minuten mit Zahnseide und liebte Schokolade und Eis.

Hin und wieder hörte der Regen für kurze Zeit auf, und durch einen Schleier aus Wolken und Dunst tauchte zögernd die Sonne auf. Dann schimmerten die Pfützen, die vollen Kanäle glitzerten im Licht, die Steine begannen zu dampfen. Es war die stillste, schönste Stadt, in der ich je gewesen war, und ein- oder zweimal ertappte ich mich dabei, dass ich mir wünschte, ich wäre allein hergekommen und brauchte mir keine Gedanken über unsere Beziehung zu machen, mich auf keinen anderen Menschen einzustellen. Ich wäre stundenlang die verlassenen Wege entlangspaziert, hätte alle Eindrücke in mich aufgesogen. Der Regen hätte mich überhaupt nicht gestört.

Als ich am Sonntagnachmittag zurückkam, waren sie immer noch da. Sie schienen sich sogar noch häuslicher eingerichtet zu haben als zuvor. Ihre Habseligkeiten begannen meine Regale zu füllen, ihre Wäsche drehte sich in meiner Waschmaschine, ihre Zahnbürsten lehnten in meiner London-Underground-Tasse. Auf dem Tisch türmten sich zwei dicke Stapel Hochzeitseinladungen: Samstag, 13. Dezember, vier Uhr nachmittags. Gemeinsam listeten sie auf, wen sie einladen wollten und was bis wann entschieden und erledigt werden musste. Sie machten beide einen aufgekratzten, geschäftigen Eindruck.

Ich packte meine Taschen aus und fuhr dann zu Laura. Aber es waren ein paar von Tonys Freunden da, sodass ich mich nach einer halben Stunde wieder verabschiedete. Zu Brendan und Kerry sagte ich, ich hätte Kopfschmerzen. Ich zog mich mit einem Teller Rührei und einer Tasse Tee in mein Schlafzimmer zurück, wo ich mich aufs Bett setzte und den Geräuschen in der Wohnung lauschte. Nebenan wurde ferngesehen, telefoniert und gelacht. Ich hörte Wasser rauschen und die Federn der Ausziehcouch quietschen. Während ich in meinem Essen herumstocherte, bis es kalt und unappetitlich geworden war, starrte ich auf meine Bücherregale und die sich stapelnden Papiere auf meinem Schreibtisch. Bildete ich mir das nur ein, oder sah tatsächlich alles ein wenig anders aus – als hätte sich jemand an meinen Sachen zu schaffen gemacht? Ich legte mich hin und schaltete das Licht aus. Draußen lachte Brendan laut auf, fast als wäre ihm daran gelegen, gehört zu werden. Als wollte er, dass ich ihn hörte.

Am nächsten Morgen jedoch brachen sie früh auf, um in dem Haus, das sie kaufen wollten, die Räume zu vermessen. Sie sagten, sie brauchten die Maße für Vorhänge und Bücherregale.

Anschließend würde Kerry gleich ins Reisebüro weiterfahren.

Ich beschloss, später als sonst zur Arbeit zu gehen, um vorher noch ein wenig Zeit allein in meiner Wohnung verbringen zu können.

Später ging ich alles, was ich in dieser wundervoll ruhigen Stunde tat, immer wieder im Geist durch. Als Erstes räumte ich den Küchen- und Wohnbereich auf, verstaute die Steppdecke und die Bettlaken im großen Eckschrank, schob die Ausziehcouch zusammen, stopfte herumliegende Klamotten in Tüten, spülte die Teller und Gläser vom Vorabend. Dann öffnete ich die Fenster, so weit es ging, um den Raum zu lüften und von seinem ungewohnten Geruch zu befreien, wischte über die Fliesen, saugte den Teppich. Als ich fertig war, nahm ich ein ausgiebiges Bad und wusch mir die Haare. Hinterher zog ich den Stöpsel heraus und putzte die Wanne, ehe ich mich im Bademantel zum Frühstück niederließ, ein Handtuch wie einen Turban um mein feuchtes Haar geschlungen. Ich aß Müsli mit Joghurt und trank dazu eine große Tasse Kaffee. Ich machte mir sogar die Mühe, die Milch für den Kaffee vorher zu wärmen.

Dann zog ich mich an, putzte mir die Zähne, griff nach meinem Overall, verließ die Wohnung und sperrte die Tür hinter mir ab.

Ich weiß, dass ich all das getan habe. Ich kann mich genau erinnern.

Ich arbeitete nach wie vor in dem großen Haus in Hampstead.

Gegen Mittag schaute Bill vorbei und lud mich auf einen Salat ein. Um halb sechs hörte ich auf, wusch meine Pinsel aus und fuhr nach Hause. Ich war an diesem Abend nicht mit Nick verabredet, und Kerry hatte etwas von Kino gesagt, sodass ich hoffte, noch ein wenig Ruhe zu haben. Ich lechzte regelrecht danach, allein zu sein. Vielleicht würde ich mir irgendwo was zu essen mitnehmen und ein wenig Musik hören. Ein Buch lesen.

Faulenzen.

Als ich vor meiner Wohnung parkte, war es fast halb sieben.

Es brannte kein Licht. Mein Herz tat vor Freude einen kleinen Sprung. Beschwingt lief ich die Treppe hinauf. Ich hörte es schon, während ich die Tür öffnete. Ein tröpfelndes, plätscherndes Geräusch. Als hätte jemand einen Wasserhahn nicht ganz zugedreht. Aber gleichzeitig irgendwie anders.

Gewaltiger, komplizierter. Dann ging ich hinein.

Überall war Wasser. Auf dem Küchenboden stand es drei Zentimeter hoch, der Wohnzimmerteppich war ebenfalls klatschnass. Unter der Badezimmertür quoll Wasser hervor. Ich öffnete sie und stieg in die Flut. Die Überreste des Buches, das ich am Morgen in der Badewanne gelesen hatte, trieben zusammen mit einer matschigen Rolle Klopapier neben der Toilettenschüssel. Über den Rand der Wanne ergoss sich ein ständiger Wasserfall. Das heiße Wasser war halb aufgedreht. Ich watete quer durch den Raum und drehte den Hahn zu. Obwohl ich meine Jacke noch anhatte, tauchte ich den Arm in die Wanne und tastete nach dem Stöpsel. Mir war vor Schreck und Sorge richtig übel. Ich musste an die Wohnung unter mir denken, und mir wurde gleich noch viel übler. Nachdem ich den Stöpsel herausgezogen hatte, schnappte ich mir die Kehrichtschaufel und begann das Wasser vom Boden in die sich langsam leerende Wanne zu schöpfen. Ich brauchte fünfundvierzig Minuten, um das Bad einigermaßen vom Wasser zu befreien. Dann verteilte ich überall Zeitungen, die den Rest aufsaugen sollten, und begann mit der Küche. Kurz darauf klingelte es an der Tür.

Er schrie schon, bevor ich richtig aufgemacht hatte. Wütend stürmte er herein, stapfte über den klatschnassen Teppich, schrie mich weiter an. Sein Gesicht war violett angelaufen. Ich hatte Angst, dass er eine Herzattacke oder einen Schlaganfall erleiden könnte oder sein Kopf einfach explodieren würde.

»Es tut mir so Leid!«, sagte ich immer wieder. Ich konnte mich nicht mal an seinen Namen erinnern. »Ich weiß gar nicht, wie …«

»Sie bringen das alles wieder in Ordnung, haben Sie mich verstanden? Jeden noch so kleinen Schaden!«

»Natürlich. Wenn Sie mir die genauen Daten Ihrer Versi …«

In dem Moment kamen Brendan und Kerry Arm in Arm die Treppe herauf. Beide hatten von der frischen Abendluft rote Wangen.

»Was um alles in der Welt …?«, begann Kerry.

»Dreimal darfst du raten!« Wütend wandte ich mich an Brendan. »Sieh dir an, was du angerichtet hast! Nicht genug, dass du dich hier einnistest, meinen Kühlschrank leer räumst, meinen Kaffee und meinen Wein trinkst und jeden freien Millimeter besetzt, sodass ich keinen Schritt mehr tun kann, ohne dir in die Arme zu laufen. Nein, du musst auch noch jeden Mittag baden und dann …« Inzwischen schäumte ich richtig vor Wut. »Und dann lässt du auch noch den Stöpsel drin und das Wasser laufen. Sieh dir das an! Sieh dir das an!«

»Und das ist noch gar nichts im Vergleich zu unten«, fügte mein Nachbar grimmig hinzu.

»Miranda«, sagte Kerry. »Ich bin sicher …«

»Puh!« Brendan hielt beide Hände hoch. »Nun beruhige dich erst mal, Mirrie.«

»Miranda. Ich heiße Miranda. Den Namen ›Mirrie‹ gibt es nicht!«

»Deswegen brauchst du nicht gleich hysterisch werden.«

»Ich bin nicht hysterisch. Ich bin wütend.«

»Ich war heute gar nicht hier.«

»Was?«

»Ich war heute nicht hier.«

»Du musst hier gewesen sein.«

»Nein. Jetzt setzt euch doch erst mal, ich mache uns Tee. Oder brauchen wir etwas Härteres?« Er wandte sich an meinen Nachbarn. »Was meinen Sie, Mr., ähm …«

»Lockley. Ken.«

»Ken. Whisky? Ich glaube, Whisky haben wir da.«

»Meinetwegen«, brummte er.

»Gut.«

Brendan holte die Whiskyflasche und vier Gläser aus dem Schrank.

»Du musst hier gewesen sein«, sagte ich noch einmal.

»Anders ist es gar nicht möglich.«

»Ich habe erst mit Kerry das Haus vermessen, und dann war ich beim Einkaufen«, antwortete Brendan. »Danach habe ich mich mit Kerry zum Essen getroffen.« Kerry nickte. Sie wirkte immer noch geschockt über meinen Ausbruch von vorhin.

»Dann bin ich zu Derek und Marcia, um Troy zu besuchen.« Er legte mir eine Hand auf die Schulter. »Ich habe heute Mittag kein Bad genommen, Mirrie.«

»Aber …«

»Hast du selbst vielleicht gebadet, bevor du gegangen bist?«

»Ich würde niemals den Stöpsel stecken und das Wasser laufen lassen. So etwas passiert mir nicht.«

»Das passiert so leicht. Wir haben so was in der Art doch alle schon mal gemacht.« Er wandte sich an Ken. »Sind Sie nicht auch dieser Meinung? Ich bin sicher, Miranda wird sich um alles kümmern. Außerdem ist sie ja vom Fach, deswegen kann sie Ihnen bestimmt beim Streichen und all dem helfen. Hmm?«

»Ich war es nicht«, erwiderte ich hilflos.

»Miranda«, mischte sich Kerry ein. »Niemand macht dir einen Vorwurf. Aber du hast als Letzte die Wohnung verlassen und vorher ein Bad genommen, oder?«

»Aber ich …« Ich hielt inne. Eine unendliche Müdigkeit ergriff von mir Besitz. »Ich kann mich genau daran erinnern, dass ich die Wanne geputzt habe.«

»Keine Sorge«, sagte Brendan in sanftem Ton. »Wir helfen dir, dieses Chaos wieder zu beseitigen.«

»Ich verstehe das nicht.« Zu meinem eigenen Entsetzen spürte ich, dass mir die Tränen über die Wangen liefen.

»Miranda! Hör zu …« Kerrys Stimme klang scharf.

»Schhh!«, machte Brendan. Er nahm sie sogar kurz beiseite.

Ich sah, wie sie das Gesicht verzog. Einen Moment lang wirkte ihr Mund hart.

»Ist ja gut, ist ja gut!«, gurrte er anschließend in mein Ohr.

»Ich bin ja da, Mirrie. Ich bin bei dir!«

Ich zog die Schlafzimmertür hinter mir zu und griff nach dem Telefon.

»Laura!« Ich sprach so leise, dass man mich nebenan nicht hören konnte. »Laura, du glaubst nicht, was passiert ist. Ich muss unbedingt mit jemandem darüber reden …«

»Habe ich das jetzt richtig verstanden?«, fragte Laura, nachdem ich zu Ende erzählt hatte. »Willst du allen Ernstes behaupten, Brendan habe sich in deine Wohnung zurückgeschlichen und sie absichtlich überflutet?«

»Ja.«

»Warum um alles in der Welt sollte er das tun?«

»Weil er ein ganz merkwürdiger Typ ist. Er hat in Bezug auf mich irgendeine Macke.«

»Jetzt hör aber auf. Ich habe das Bad schon oft überlaufen lassen«, erklärte sie. »So was passiert ganz schnell.«

»Mir nicht.«

»Es gibt bei allem ein erstes Mal. Auf jeden Fall ist es eine plausiblere Erklärung als die deine, meinst du nicht auch?«

»Ich kann mich ganz genau daran erinnern, dass ich die Wanne sauber gemacht habe. Ich sehe es noch richtig vor mir.«

»Na bitte, da haben wir es ja schon. Du hast den Stöpsel wieder reingeschoben, die Wanne ausgespült und dann das Wasser laufen lassen.«

Ich gab auf. Ich würde es nicht schaffen, sie zu überzeugen.

Mittlerweile hielt ich es selbst schon fast für möglich, obwohl ich ganz genau wusste, dass es nicht so passiert war. Abgesehen davon fand ich es einfach zu anstrengend.

13. KAPITEL

Das Paar, das in dem Haus in Ealing wohnte, hatte zwei große Müllcontainer gemietet, die inzwischen fast voll waren. Als ich ging, spähte ich hinein. Zwischen alten Teppichen, angeschlagenen Tellern und kaputten Möbeln entdeckte ich einen noch recht neu aussehenden Computer, einen Laserdrucker, zwei Telefone, ein großes Ölgemälde von einem Windhund, mehrere Kochbücher, eine Stehlampe, einen Weidenkorb. Eigentlich müsste ich mich mittlerweile daran gewöhnt haben. Ich bekomme oft mit, dass die Leute Geräte wegwerfen, bei denen noch nicht mal die Garantie abgelaufen ist: Fernsehgeräte, Kochherde, voll funktionstüchtige Kühlschränke. Es gehört zu meinem Beruf, ständig neue Dinge herauszureißen und durch noch neuere zu ersetzen. Was letztes Jahr modern war, ist im nächsten schon wieder out. Ganze Küchen verschwinden in Müllcontainern, ebenso Badewannen, Betten und Schränke, Gartenhäuschen und kilometerweise Regale. In den Wertstoffsammelstellen türmen sich ganze Berge von unmodern gewordenen Möbeln und Elektrogeräten. Die Leute, für die wir arbeiten, sprechen immer davon, ihren Stil von Grund auf ändern zu wollen – als würden die Wohnlandschaften aus Edelstahl und Glas, die im Moment so angesagt sind, nicht bald wieder durch einen neuen Trend zum guten alten Holz abgelöst werden. Alles kehrt zurück.

Irgendwann fällt jedes Jahrzehnt in Ungnade, um dann in leicht veränderter Form wieder aufzuerstehen, genau wie der Schlag meiner Hosen, über die Bill immer lacht, weil sie ihn an die Siebziger erinnern, als er noch ein junger Mann war.

Verstohlen griff ich hinein und zog ein Kochbuch heraus.

Wenigstens das würde ich retten. Rezepte aus Spanien. Ich steckte es in die Tasche zu meinen Pinseln.

Zu Hause spülte Brendan gerade mit großem Brimborium ein paar Schüsseln ab, während Kerry am Herd stand und in einem Topf herumrührte. Sie wirkte gereizt.

»Wir kochen heute für dich«, erklärte sie.

»Das ist nett.«

Ich nahm ein Bier aus dem Kühlschrank und zog mich ins Bad zurück. Heißes Wasser von außen und kühlen Alkohol von innen, genau das brauchte ich jetzt. Ich lag in der Badewanne und fühlte mich angenehm benebelt, als plötzlich die Tür aufging und Brendan hereinkam. Erschrocken fuhr ich hoch und zog die Beine vor den Körper. Als wäre er ganz allein im Raum, stellte er sich vor die Kloschüssel gleich neben der Wanne und pinkelte. Nachdem er seinen Reißverschluss wieder zugezogen und sich die Hände gewaschen hatte, drehte er sich mit einem Lächeln zu mir um.

»Entschuldige mal!«, sagte ich in scharfem Ton.

»Ja?« Er baute sich vor mir auf.

»Raus hier!«

»Bitte?«

»Beweg sofort deinen Arsch hier aus! Ich bade gerade.«

»Dann hättest du die Tür zusperren sollen.«

»Du weißt genau, dass sie sich nicht absperren lässt.«

»Tja, so ein Pech.«

»Und runtergespült hast du auch nicht. Lieber Himmel!«

Ich stand auf und wollte nach dem Handtuch greifen, aber Brendan war schneller. Er zog es von der Stange und hielt es mir so hin, dass ich es gerade nicht erreichen konnte. Mit einem seltsamen Gesichtsausdruck, einer Art triumphierendem Grinsen, betrachtete er meinen nackten Körper. Er kam mir vor wie ein kleiner Junge, der noch nie eine nackte Frau gesehen hatte.

»Gib mir das verdammte Handtuch, Brendan.«

»Sei nicht so prüde, ich habe dich schließlich schon öfter nackt gesehen.«

Er gab mir das Handtuch, und ich wickelte mich darin ein.

In dem Moment ging die Tür auf, und Kerry kam herein.

Überrascht starrte sie uns an.

»Was ist denn hier los?«, fragte sie in scharfem Ton.

»Miranda hat die Tür nicht abgesperrt«, antwortete Brendan.

»Ich wusste nicht, dass sie im Bad ist.«

»Oh. Verstehe.« Sie sah mich an. Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg, und zog das Handtuch noch fester um meinen Körper.

»Die Tür hat kein Schloss«, erklärte ich, aber sie schien mir gar nicht zuzuhören.

»Das Essen ist gleich fertig«, sagte sie nach einer kurzen Pause. »Brendan? Kann ich mal kurz mit dir sprechen?«

»Oje«, antwortete Brendan mit einem Zwinkern in meine Richtung. »Nun kriege ich wohl eine auf den Deckel.«

Während ich mich anzog, sagte ich mir, dass es nun ja nicht mehr lange dauern konnte. Ein paar Tage würde ich es schon noch aushalten, dann konnte ich endlich wieder mein normales Leben führen.

Kerry hatte alles allein zubereitet, und das, obwohl sie mit Kochen eigentlich nicht viel am Hut hatte. Es gab Makkaroni mit Käse, Erbsen und Hackfleisch. Das Ganze war ziemlich pampig und leicht versalzen. Während meine Schwester mir eine riesige Portion auf den Teller lud, entkorkte Brendan schwungvoll eine Flasche Rotwein. Er schenkte mein Glas viel zu voll. Was soll’s, dachte ich. Vielleicht würde es mir gut tun, mich ein bisschen zu betrinken. Brendan hob sein Glas.

»Auf die Köchin!«, sagte er.

»Auf die Köchin!«, stimmte ich ein und nahm einen kleinen Schluck.

»Und auf dich«, antwortete Kerry und sah mich an.

»Unsere Gastgeberin. Danke, dass du uns Unterschlupf gewährst.«

Sie stießen beide mit mir an.

»Ist mir ein Vergnügen«, sagte ich, weil ich das Gefühl hatte, dass sie darauf eine Antwort erwarteten.

»Es freut uns, das zu hören«, sagte Brendan. »Vor allem in Anbetracht der Umstände.«

»Wie meinst du das?«

»Wir wollten dich etwas fragen«, antwortete Kerry.

»Was denn?«

»Na ja, also … das mit unserer neuen Wohnung hat nicht geklappt.«

Mein Gesicht fühlte sich plötzlich an wie eine Maske aus angetrocknetem Ton.

»Wieso denn das, um Gottes willen? Ihr hattet doch gesagt, es sei nur noch eine Frage von Tagen, bis ihr einziehen könnt.«

»Die Maklerfirma wollte uns verarschen«, erklärte Brendan.

»Inwiefern?«

»Ich glaube nicht, dass dich die Details interessieren.«

»Doch.«

»Fakt ist, dass wir ausgestiegen sind.«

»Du bist ausgestiegen«, sagte Kerry mit plötzlicher Schärfe.

»Wie auch immer.« Er wischte ihre Bemerkung beiseite, als handelte es sich dabei ebenfalls um ein unwichtiges Detail. »Ich fürchte, wir werden deine Gastfreundschaft noch ein bisschen länger in Anspruch nehmen müssen.«

»Aus welchem Grund seid ihr ausgestiegen?«, hakte ich nach.

»Da sind eine Menge Dinge zusammengekommen.«

»Miranda? Ist das für dich in Ordnung?«, fragte Kerry.

»Das Ganze ist uns sehr unangenehm. Wir suchen verzweifelt nach irgendeiner Übergangslösung.«

»Lass dir deswegen keine grauen Haare wachsen«, antwortete ich müde.

Den Rest des Abends war ich ziemlich still. Das Essen schmeckte für mich plötzlich wie Tapetenkleister. Am liebsten hätte ich mich auf der Stelle übergeben. Kerry nötigte mich zu einer zweiten Portion. Als Dessert hatte sie gefrorene Zitronen-Meringue besorgt. Nachdem ich auch davon ein kleines Stück gegessen hatte, fragte ich die beiden, ob sie mir böse wären, wenn ich gleich ins Bett ginge. Ich behauptete, starke Kopfschmerzen zu haben.

Sobald ich in meinem Zimmer war, riss ich die Fenster auf und atmete ein paarmal tief durch, als wäre die Luft im Raum verseucht. Ich hatte eine schreckliche Nacht. Lange Zeit lag ich wach und überlegte, wie es nun weitergehen sollte. Dabei kamen mir eine Menge verrückte Ideen. Ich konnte beispielsweise Nick heiraten. Gegen drei Uhr morgens begann ich ernsthaft über eine Auswanderung nachzudenken und im Geist eine Liste der infrage kommenden Länder zusammenzustellen. Das entscheidende Kriterium war, wie weit sie von Nord-London entfernt waren. Neuseeland fand ich besonders verlockend. Aus diesen Überlegungen glitt ich in einen Traum hinüber: Ich war im Begriff, irgendwohin abzureisen, und musste einen Zug erwischen, hatte aber so viel zu packen, dass ich nie aus meinem Zimmer herauskam. Dann war der Traum plötzlich zu Ende, und ich starrte wieder in die mich umgebende Dunkelheit. Einen Moment lang fragte ich mich, was mich wohl aufgeweckt hatte, dann schrie ich erschrocken auf. Im Halbdunkel stand eine Gestalt. Trotz meines umnebelten Zustands überriss ich relativ schnell, dass es Brendan war, der da auf mich herunterstarrte.

Ich schaltete das Licht an.

»Was zum Teufel …?«

»Schhh!«

»Von wegen ›schhh‹!«, zischte ich, geschockt und wütend.

»Was hast du in meinem Zimmer zu suchen?«

»Ich, ähm … ich wollte mir was zu lesen holen.«

»Verschwinde, sofort!«

Statt meiner Aufforderung nachzukommen, ließ er sich auf der Bettkante nieder und legte doch tatsächlich seine Hand über meinen Mund. Dann beugte er sich über mich und flüsterte:

»Bitte nicht schreien. Sonst weckst du womöglich Kerry auf. Sie könnte falsche Schlüsse ziehen.«

Ich schob seine Hand weg.

»Das ist ja wohl nicht mein Problem.«

»Wenn du dich da bloß nicht täuschst.« Er lächelte mich an und ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass er das alles als eine Art Spiel betrachtete.

Ich zog mir die Bettdecke über die Schultern und zwang mich, ruhig und sachlich zu sprechen.

»Brendan, das kann so nicht weitergehen.«

»Du meinst, das mit dir und mir?«

»Zwischen uns beiden ist nichts.«

Er schüttelte den Kopf.

»Erinnerst du dich, als wir das zweite Mal miteinander geschlafen haben, Miranda? Ich hatte mich schneller ausgezogen als du und lag schon im Bett. In diesem Bett. Ich lag da, wo du jetzt liegst, und habe dir zugesehen. Bevor du deinen BH ausgezogen hast, hast du dich ein bisschen von mir abgewandt, als wolltest du noch nicht, dass ich dich nackt sehe, obwohl du ja im Begriff warst, mit mir ins Bett zu gehen. Als du dich dann wieder zu mir gedreht hast, lag auf deinem Gesicht ein seltsames kleines Lächeln. Ich fand es sehr schön und fragte mich, ob es vor mir wohl schon mal jemandem aufgefallen war.

Weißt du, ich achte auf solche Dinge, und merke sie mir.« Trotz meiner Verwirrung und Wut, meiner Verzweiflung und Frustration war ich in dem Moment in der Lage, die Situation mit kalter Logik zu analysieren. Wäre ich in Brendan verliebt gewesen, hätte ich das alles unglaublich lieb und schön gefunden. Da dies aber nicht der Fall war, empfand ich es als derart abstoßend, dass mir regelrecht vor ihm grauste. Als wäre er ein Parasit, der sich in mein Fleisch gefressen hatte und den ich nun nicht mehr loswurde.

»Das muss ein Ende haben«, sagte ich. »Ihr könnt nicht hier bleiben.«

»Das spielt keine Rolle«, antwortete er. »Hast du denn nicht gehört, was ich gesagt habe? Du hast so ein geheimes Lächeln.

Ich habe es gesehen. Ich kenne dich auf eine Art und Weise, wie dich niemand sonst kennt. Das verbindet uns. Gute Nacht, Miranda.«

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte ich zunächst das Gefühl, aus einem schlimmen Traum erwacht zu sein, aber dann wurde mir plötzlich klar, dass es kein Traum gewesen war.

Brendan war tatsächlich in meinem Zimmer gewesen und hatte diese verrückten Dinge zu mir gesagt. Mein Mund fühlte sich an, als wäre er voller trockener Flusen. Mein Kopf schmerzte, und ich spürte ein Stechen hinter den Augen. Ich ging unter die Dusche, zog mich an und trank eine Tasse schwarzen Kaffee.

Außer mir war noch niemand auf. Bevor ich zur Arbeit aufbrach, kehrte ich noch mal in mein Zimmer zurück. Ich betrachtete meine Bücherregale, versuchte durch bloße Konzentration festzustellen, ob etwas anders war als sonst. Ich griff nach einem alten Roman, den ich als junges Mädchen geschenkt bekommen hatte. Das Buch war mein Notfall-Geldversteck. Zwischen den Seiten steckten immer ein paar Scheine. Ich zählte das Geld. Fünfundsiebzig Pfund. Während ich die Scheine wieder in das Buch legte und es zurück an seinen Platz stellte, überlegte ich, was ich tun konnte. Mir fiel etwas ein, das ich mal in einem Film gesehen hatte. Ich riss von einem Zettel einen ganz schmalen, etwa drei Zentimeter langen Streifen ab. Als ich ging, schob ich das Papier in den Türspalt, genau auf Höhe der unteren Angel. Während ich die Wohnung verließ, fragte ich mich, wie ich es überhaupt ertragen konnte, unter Bedingungen zu leben, die mich zu solchen Maßnahmen zwangen.

Den ganzen Tag musste ich daran denken. Sosehr ich mich auch bemühte, es ging mir nicht aus dem Kopf. Inzwischen tat es mir fast Leid, dass ich zu der List mit dem Streifen gegriffen hatte, denn irgendwie war es, als hätte ich damit eine ätzende Säure auf meinen Körper geschüttet und müsste nun zusehen, wie mir das Zeug das Fleisch von den Knochen fraß. Was brachte mir das Ganze überhaupt? Falls ich feststellen sollte, dass der Streifen noch da war, würde ich dann wirklich beruhigt sein? Und wenn er auf dem Boden lag, was bewies das?

Womöglich war Kerry in mein Zimmer gegangen, um sich mein Deo auszuleihen oder netterweise den Boden zu saugen. Aber vielleicht wollte ich ja genau das? Konnte es sein, dass ich nach Möglichkeiten suchte, noch wütender und misstrauischer zu werden?

Als ich abends nach Hause kam, war meine Wohnung ausnahmsweise mal verlassen. Sofort lief ich zur Schlafzimmertür und fand dort eine Variante vor, die ich überhaupt nicht in Erwägung gezogen hatte. Der Papierstreifen steckte noch fest in der Tür – allerdings fast einen halben Meter höher, als ich ihn am Morgen platziert hatte.

14. KAPITEL

»Nick«, fing ich an.

»Mmm?«

Wir spazierten über die Heath, unter unseren Füßen raschelte dürres, bernsteinfarbenes Laub. Inzwischen waren die Bäume fast kahl, und die Sonne stand bleich und tief am Himmel. Es war noch nicht mal vier, aber die Uhren waren vorgestellt worden, sodass es schon sehr früh dunkel wurde. Ich hatte meine kalte Hand in Nicks warme geschoben, mein Atem bildete weiße Wolken. Wir hatten uns in einem Bistro in der Nähe seiner Wohnung auf ein spätes Mittagessen getroffen, und abends würden wir auf eine Party gehen, die ein Freund von ihm gab. Hinterher würde ich bei ihm übernachten, auch wenn er das noch nicht wusste. Ich hatte meine Zahnbürste und einen extra Slip in der Tasche.

»Ich wollte dich was fragen …«

»Ja?«

Ich verlangsamte meine Schritte.

»Du weißt doch, dass Kerry und Brendan noch ein bisschen länger bei mir bleiben müssen, und …«

»Du möchtest, dass wir heute bei mir schlafen und nicht bei dir? Ist es das, was du mich fragen wolltest?«

»Ja, das auch, aber …«

»Ich wollte dir das sowieso vorschlagen. Wir zwei brauchen auch mal ein bisschen Privatsphäre, oder?« Er drückte meine Hand.

»Was hältst du davon, wenn ich für ein paar Tage zu dir kommen würde? Bloß, bis sie wieder weg sind.«

Als ich hochblickte, sah ich auf seinem Gesicht einen Anflug von Stirnrunzeln, und für einen Moment wirkte seine Mundpartie leicht verkniffen.

»Vergiss es, das war keine gute Idee«, sagte ich genau in dem Augenblick, als er antwortete: »Wenn sie dich wirklich so nerven …«

»Ich hätte dich gar nicht erst fragen sollen.«

»Natürlich, wieso denn nicht?«, entgegnete er eine Spur zu munter. »Du weißt ja, wie klein meine Wohnung ist, und es ist vielleicht ein bisschen früh, aber ich wollte vorhin sagen, dass du gerne …«

»Nein. Vergiss, dass ich überhaupt gefragt habe.«

Aber er würde es nicht vergessen, und ich auch nicht – dieses kurze Aufflackern von Bestürzung und Missbilligung, die kleine Pause, in die all unsere Zweifel flossen. In dem Moment wusste ich ganz sicher, was ich spätestens seit Venedig schon geahnt hatte: dass es nicht von Dauer sein würde. Es würde doch nichts Großes daraus werden, sondern eine nette kleine Affäre bleiben.

Wir hatten uns ineinander verliebt und dabei jenes rauschhafte Glücksgefühl empfunden, das fast mit dem fiebrigen, leicht umnebelten Zustand vergleichbar ist, in den man verfällt, wenn man die Grippe bekommt. Wir hatten schlaflose Nächte miteinander verbracht und tagsüber oft aneinander gedacht, uns daran erinnert, was der andere gesagt hatte, uns danach gesehnt, uns wieder im Arm zu halten. Für kurze Zeit, eine Woche oder so, hatten wir vielleicht sogar geglaubt, dass der andere der Richtige für uns sein könnte. Aber nein, es würde irgendwann zu Ende gehen. Nicht heute, nicht diese Woche, aber bald, weil die Flut, die uns mitgerissen hatte, bereits wieder am Verebben war und nur ein paar mitgeschwemmte Trümmer hinterlassen würde.

Tränen brannten in meinen Augen, und ich ging schneller, zog Nick hinter mir her. Ich wusste, dass ich nicht wirklich ihn vermissen würde, sondern eher den Zustand, mit jemandem zusammen zu sein. Voller Vorfreude nach Hause zu eilen.

Gemeinsame Unternehmungen zu planen. Morgens gut gelaunt aufzuwachen, sich energiegeladen und beschwingt zu fühlen.

Begehrt zu werden. Das Gefühl zu haben, schön zu sein.

Verliebt zu sein. Deswegen wollte ich nicht, dass es endete.

Blinzelnd versuchte ich die Tränen und das Selbstmitleid zu unterdrücken.

»Komm«, sagte ich. »Es wird kalt.«

»Hör zu, Miranda, wenn du möchtest …«

»Nein.«

»Es wäre wirklich kein Problem …«

»Nein, Nick.«

»Ich weiß nicht, wieso du plötzlich so beleidigt bist, nur weil ich nicht sofort …«

»Hör auf«, sagte ich. »Lass es sein. Bitte.«

»Was?«

»Du weißt schon.«

»Nein, weiß ich nicht.« Er verzog das Gesicht.

Plötzlich hatte ich das ungute Gefühl, dass es schon an diesem Abend vorbei sein würde, wenn wir noch lange so weitermachten.

»Lass uns nach Hause gehen und ein Bad zusammen nehmen«, sagte ich. »Ja?«

»Ja.«

»Kann ich über Nacht bleiben?«

»Natürlich. Unbedingt. Und wenn du möchtest …«

Ich legte meine Hand auf seinen Mund. »Schhhh.«

»Laura?«

»Miranda? Hallo.« Im Hintergrund lief Musik, und Tony rief irgendwas. Ich bekam sofort Heimweh nach meiner eigenen Wohnung, in der Kerry und Brendan gerade zu Abend aßen und sich nebenbei ein Video ansahen. Ich hatte zu ihnen gesagt, ich würde mich mit Freunden treffen, was aber nicht stimmte.

Stattdessen saß ich nicht weit von meiner Wohnung entfernt in einem kleinen, schlecht beheizten Café vor meiner zweiten Tasse Kaffee und wünschte, ich hätte mich wärmer angezogen.

»Störe ich?«

»Überhaupt nicht. Wir essen zwar demnächst, aber das ist kein Problem.«

»Ich wollte dich um einen Gefallen bitten.«

»Schieß los.«

»Es ist ein ziemlich großer Gefallen. Würdet ihr mir Asyl gewähren?«

»Asyl?« Ich hörte ein lautes malmendes Geräusch, als hätte sie sich eine Karotte oder einen Apfel in den Mund geschoben.

»Klar. Heute Nacht, meinst du? Geht’s dir nicht gut?«

»Nein. Doch. Ich meine, es geht mir gut, jedenfalls so einigermaßen. Und es muss nicht unbedingt gleich heute sein, aber vielleicht morgen oder übermorgen. Bloß für ein paar Tage

…«

»Warte mal einen Moment, ich verstehe dich so schlecht, die Musik ist so laut, und außerdem kocht gerade was über.

Moment.« Kurz darauf wurde die Musik leiser gedreht.

»So, bin wieder da.«

Ich holte tief Luft. »Kerry und Brendan kaufen das Haus nun doch nicht. Gott allein weiß, warum, auf jeden Fall werden sie nun noch länger bei mir wohnen, und das ertrage ich einfach nicht.« Ich hörte, wie schrill meine Stimme plötzlich klang. »Ich muss da raus, Laura, oder es passiert ein Unglück. Wenn ich bleibe, ersteche ich ihn mit einem Küchenmesser, oder ich schütte ihm kochendes …«

»Verstehe«, unterbrach mich Laura.

»Ich weiß, dass es verrückt klingt.«

»Ein bisschen. Für wie lange?«

»Bloß ein paar Tage.« Ich schluckte. Eine junge Frau mit rasiertem Schädel trat zu mir, hob die zwei Tassen hoch, wischte mit einem Lappen über die Tischplatte, stellte die Tassen wieder ab. »Hoffe ich zumindest. Ich habe keine Ahnung. Ein paar Tage, schätze ich, höchstens eine Woche, länger bestimmt nicht.« Das hatten Brendan und Kerry am Anfang auch gesagt.

Nun füllte sich meine Wohnung mit ihrem ganzen Zeug, und statt dass sie wieder gingen, ging ich. Ich spürte, wie Zorn in mir aufstieg. Am liebsten hätte ich vor Wut geschrien. »Glaubst du, Tony ist damit einverstanden?«

»Der wird überhaupt nicht gefragt«, antwortete Laura trotzig.

»Natürlich kannst du kommen. Morgen, sagst du?«

»Wenn es dir recht ist.«

»Klar. Du würdest dasselbe doch auch für mich tun.«

»Ja, so ist es«, antwortete ich mit Nachdruck. »Und ich werde dich auch ganz bestimmt nicht stören. Oder Tony.«

»Das klingt alles ein bisschen drastisch, Miranda.«

»Es ist wie eine Allergie«, erklärte ich. »Ich kann den Typen einfach nicht ertragen.«

»Hmmm«, sagte Laura.

Ich wollte keine dritte Tasse Kaffee, aber es war noch zu früh, um wieder nach Hause zu gehen. Ein Stück die Straße hinauf gab es einen Bagel-Laden, der rund um die Uhr geöffnet hatte.

Dort kaufte ich mir einen Bagel, gefüllt mit Räucherlachs und Frischkäse. Er war noch warm, und ich aß ihn gleich auf dem Gehsteig, während sich die Leute an mir vorbeischoben. Es war Sonntagabend, die meisten befanden sich wahrscheinlich auf dem Weg nach Hause, wo vielleicht schon ein köstliches Essen auf sie wartete, ein heißes Bad, ihr eigenes Bett.

»Ich dachte, es wäre besser so«, sagte ich zu Brendan und Kerry. »Ihr beide müsst doch auch mal allein sein.«

Kerry setzte sich an den Küchentisch, stützte das Kinn in die Hände und starrte mich an. Sie wirkte nicht mehr so glücklich wie am Anfang. Ihr Gesicht hatte einen leicht verkniffenen, kummervollen Ausdruck, fast wie früher, bevor Brendan ihr das Gefühl gab, geliebt zu werden.

»Das geht doch nicht, Miranda«, sagte sie. »Verstehst du das denn nicht? Wir können nicht zulassen, dass du unsretwegen deine eigene Wohnung verlässt.«

»Ich habe es mit Laura schon so vereinbart.«

»Wenn es Miranda so lieber ist«, meinte Brendan in sanftem Ton.

»Ist es so schrecklich für dich, uns hier zu haben?«

»Nein, natürlich nicht. Ich dachte nur, es wäre die naheliegendste Lösung.«

»Tu, was du für richtig hältst«, sagte sie. »Das tust du ja sowieso immer.« Mit diesen Worten stand sie auf und stürmte aus dem Raum. Sie knallte die Wohnungstür hinter sich zu, und kurz darauf hörten wir die Haustür zufallen.

»Was versprichst du dir davon?«, fragte Brendan in beängstigend liebenswürdigem Ton. Er trat zu mir und baute sich vor mir auf.

»Wie meinst du das?«

»Du kapierst es nicht, oder?«, fuhr er fort. »Du kannst nicht gewinnen. Schau her.« Er griff nach einem Glas, das noch halb voll Saft war und schlug es so hart auf die Tischplatte, dass es zerbrach und der Saft über den ganzen Tisch spritzte. Ein Teil der Scherben landete auf dem Boden.

»Mist!«, schimpfte ich. »Was soll das?«

»Schau her«, sagte er noch einmal, während er sich setzte, ein paar von den Scherben auf seine Handfläche legte und dann die Hand zur Faust ballte. »Ich gewinne immer. Ich kann Dinge ertragen, die du nicht ertragen kannst.«

»Was zum Teufel …?«

»Hmm?« Er lächelte mich an, auch wenn er mittlerweile ziemlich blass wirkte.

»Du bist doch verrückt! Lieber Himmel!«

Ich griff nach seiner Faust und versuchte, seine Finger auseinander zu ziehen, zwischen denen bereits Blut hervorquoll.

»Ich höre erst auf, wenn du mich darum bittest«, erklärte er.

»Du bist doch verrückt!«

»Sag bitte.«

Ich starrte auf das Blut, das aus seiner Hand quoll. Unten war die Haustür zu hören, dann Kerrys Schritte auf der Treppe. Sie kam herein und begann sich dafür zu entschuldigen, dass sie einfach so hinausgestürmt war, brach dann aber mitten im Satz ab und fing laut zu schreien an. Brendan lächelte mich immer noch an. »Hör auf«, sagte ich.

»Bitte!«

Er öffnete seine Hand und ließ die Scherben auf den Tisch fallen. Seine Hand blutete heftig.

»Das hast du jetzt davon«, sagte er, bevor er das Bewusstsein verlor.

Im Krankenhaus nähten sie Brendans Wunde mit zwölf Stichen und verpassten ihm eine Tetanusspritze. Nachdem seine Hand verbunden worden war, sagte man ihm, er solle alle vier Stunden Paracetamol nehmen.

»Wie ist denn das bloß passiert?«, fragte Kerry ungefähr zum zehnten Mal.

»Ein Unfall«, erklärte Brendan. »Blöd, oder? Es war nicht wirklich Mirries Schuld. Wenn überhaupt jemand Schuld hatte, dann ich.«

Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen. »Es war kein …«, begann ich. »Es war ganz …« Dann hielt ich inne, erstickt durch all die Dinge, die ich nicht sagen konnte, weil niemand mir glauben würde und ich selbst schon fast nicht mehr wusste, ob ich mir glauben sollte. »Ach, was soll’s«, sagte ich, mehr zu mir selbst.

Brendan lächelte zufrieden, wenn auch ein wenig benommen.

Sein Kopf lag auf Kerrys Schulter, seine bandagierte Hand auf ihrem Schoß. Sein Hemd war blutbespritzt.

»Ihr zwei Mädels solltet euch versöhnen«, sagte er. »Das war sowieso ein ganz blöder Streit. Es ist sehr nett von Mirrie, uns für eine Weile ihre Wohnung zur Verfügung zu stellen.«

Kerry strich ihm das Haar aus der Stirn. »Ich weiß«, antwortete sie sanft. Sie blickte kurz zu mir und sagte: »Danke.«

Dann wandte sie sich wieder Brendan zu. Sie sah ihn an, als wäre er eine Art Kriegsheld.

»So was kommt in jeder Familie mal vor«, meinte Brendan und schloss die Augen. »Kleine Meinungsverschiedenheiten.

Mein größter Wunsch wäre, dass alle glücklich sind.« Kerry drückte seine unverletzte Hand.

Ich ließ meine Schwester bei ihm zurück und fuhr nach Hause, um zu packen.

15. KAPITEL

Mein Auszug war mir wie eine unvermeidliche Reaktion auf eine Krisensituation erschienen, vergleichbar mit dem Ziehen der Notbremse in einem Zug. Aber wie so vieles in meinem Leben hatte ich das Ganze nicht gründlich genug durchdacht.

Ich musste an einen Freund denken, der mal ein großes Abendessen gegeben hatte. Irgendwann waren er und ein Gast sich derart in die Haare geraten, dass er der betreffenden Person am Ende ein »Du kannst mich mal!« an den Kopf warf und hinausstürmte. Erst nachdem er die Tür hinter sich zugeschlagen hatte und unten auf den Gehsteig hinaustrat, wurde ihm bewusst, dass er gerade aus seiner Wohnung gestürmt war. Er musste umkehren, an seiner eigenen Tür klingeln und kleinlaut darum bitten, wieder hineingelassen zu werden.

Ich war nun ebenfalls draußen und kam mir vor wie eine Idiotin. Ich hatte einen überstürzten Abgang gemacht, aber keinen Plan, wie es weitergehen sollte. An meinem zweiten Abend bei Laura blieben wir lange auf und tranken eine von mir besorgte Flasche Whisky. Ich hatte außerdem ein halbes Dutzend Flaschen Wein mitgebracht, frische Ravioli und Sauce aus dem Feinkostladen, an dem ich auf dem Heimweg vorbeigekommen war, und zwei Tüten mit Salat, den man nur noch anzumachen brauchte. Tony hatte einen Männerabend, sodass ich ein Essen nur für uns zwei zubereitete. Es war schön, mal wieder einen solchen Abend mit Laura zu verbringen. Das erinnerte mich an unsere Zeit an der Uni, als wir oft die ganze Nacht durchgemacht hatten. Aber wir waren nicht mehr an der Uni, und wir hatten beide ein Leben zu führen. Ich fragte mich, wie lange es dauern würde, bis ihre Geduld erschöpft war. Ich schenkte uns noch etwas von dem Whisky ein.

»Irgendwie«, sagte ich, »verbinde ich solche Augenblicke immer mit Whisky.« Meine Aussprache wurde bereits ein wenig undeutlich, aber Laura ging es genauso. »Wenn ich an Whisky und dich und mich denke, dann denke ich an lange Nächte, in denen häufig eine von uns vor sich hin heulte, bis die andere irgendwann auch anfing. Und geraucht haben wir auch meistens.

Weißt du noch, wie ich mal mit dem Rad unterwegs war und von einem Taxi angefahren wurde?«

»Natürlich«, antwortete Laura und nahm einen Schluck, woraufhin sie das Gesicht verzog, als hätte sie zu viel erwischt.

»Warum musste es eigentlich immer Whisky sein?«

»Warum nicht?«, fragte ich zurück. »Bin ich verrückt?«

»Bezieht sich diese Frage jetzt noch auf den Whisky?«, wollte Laura wissen.

Ich trank ebenfalls einen Schluck und schüttelte den Kopf.

»Lass uns die Fakten noch mal durchgehen«, sagte ich.

»Ich trenne mich von Brendan. Ehe ich michs versehe, ist er mit meiner Schwester verlobt. Ich stelle fest, dass ich seinen Anblick nicht mehr ertragen kann. Kurze Zeit später zieht er mit Kerry bei mir ein. Für mich ist es ganz schrecklich, die beiden in der Wohnung zu haben. Ehe ich michs versehe, bin ich ausgezogen. Nach Tagen des Manövrierens ist das Ergebnis, dass ein Mann, dessen Anwesenheit bei mir einen akuten Brechreiz auslöst, in meiner Wohnung lebt und ich selbst obdachlos bin.«

»Du wohnst hier bei mir«, widersprach Laura. »Du bist nicht obdachlos.«

Ich nahm sie in den Arm und drückte sie fest.

»Das ist so lieb von dir«, sagte ich und floss dabei vor Rührung fast über.

Einen unbeteiligten Beobachter hätte unser Anblick in dem Moment wahrscheinlich an zwei Betrunkene nach einem Pubbesuch erinnert.

»Wobei ich allerdings sagen muss, dass ich neugierig bin«, fuhr Laura fort.

»Worauf?«

»Auf diesen Brendan. Nach allem, was du erzählst, muss er so schrecklich sein, dass ich ihn mir wirklich gern mal ansehen würde. Wie eine von den skurrilen Attraktionen in einem alten Zirkus. Wer traut sich, einen Blick auf die bärtige Dame zu werfen?«

»Du glaubst, ich übertreibe.«

»Ich möchte ihn einfach mal live erleben«, entgegnete Laura mit einem Lachen. »Ich möchte sehen, was nötig ist, um dich zum Kotzen zu bringen.«

Am nächsten Tag fuhr ich früh zur Arbeit, damit Tony und Laura ein bisschen allein sein konnten. Ich war noch immer in dem Haus in Hampstead beschäftigt, weil den Besitzern ständig etwas Neues einfiel, was sie geändert haben wollten. Sie waren zu dem Schluss gekommen, dass ihnen die Beleuchtung im Wohnzimmer nicht gefiel, und entschieden sich statt für Wandlampen für Halogenstrahler an der Decke. Das venezianische Rot im Schlafzimmer war ihnen zu dunkel, nein, eigentlich war es ihnen zu rot … vielleicht hätten sie doch lieber das Erbsengrün nehmen sollen. Der Herr des Hauses, ein gewisser Sam Broughton, hatte angekündigt, dass er mittags vorbeikommen würde, um die Feinheiten mit mir zu besprechen.

Ich verbrachte den Vormittag damit, das graustichige Holz der Türen und Fußleisten glänzend weiß zu streichen.

Als Sam Broughton schließlich aus der City eintraf, informierte er mich darüber, dass er höchstens zwanzig Minuten Zeit habe. Ich zückte gerade meinen Notizblock, um mir bei unserer Runde durch das Haus seine Änderungswünsche aufzuschreiben, als mein Handy läutete.

»Tut mir Leid«, sagte ich zu ihm. »Nach diesem Gespräch schalte ich es ab. Hallo?«

»Miranda? Gott sei Dank erwische ich dich.«

»Ich bin gerade mitten in einer Besprechung, Mum. Könntest du mich ein bisschen später noch mal anrufen, sagen wir in …«

»Es handelt sich um einen Notfall, sonst würde ich dich nicht stören.«

Ich drehte mich ein wenig von Broughton weg, der seine Ungeduld zum Ausdruck brachte, indem er alle drei Sekunden auf die Uhr schaute. Durchs Fenster sah ich ein Eichhörnchen reglos in einem Kastanienbaum sitzen. »Was ist passiert?«

»Ich habe gerade einen Anruf von Troys Privatlehrerin bekommen. Sie sagt, Troy ist nicht zum Unterricht erschienen.«

»Das ist kein richtiger Notfall, Mum.«

»Er war schon seit Tagen nicht mehr bei ihr.« Sie schwieg einen Moment. »Fast die ganze letzte Woche.«

»Das klingt allerdings nicht gut.«

»Es ist genau wie damals. Er tut, als ginge er, taucht dort aber nicht auf. Und ich dachte, es würde besser!« Ich hörte sie schlucken. »Ich mache mir Sorgen, Miranda. Ich habe zu Hause angerufen, aber da ist er nicht, zumindest geht er nicht ran. Ich habe keine Ahnung, wo er sein oder was er tun könnte, und draußen ist es kalt, und es regnet.« Wieder schluckte sie.

»Was soll ich tun?«

»Ich stecke hier in der Arbeit fest. Ich kann wirklich nicht weg.« Meine Mutter arbeitete in einer Zahnarztpraxis.

»Außerdem ist es von hier aus viel zu weit, ich würde eine Ewigkeit brauchen. In deiner Wohnung habe ich auch schon angerufen, aber da meldet sich bloß der Anrufbeantworter.

Deswegen habe ich mir gedacht, du könntest vielleicht schnell zu uns rüberfahren und nachsehen, ob er zu Hause ist. Und falls nicht, nach ihm suchen.«

»Nach ihm suchen?«

Hinter mir räusperte Broughton sich wütend, während er gleichzeitig mit seinen auf Hochglanz polierten Schuhen auf den frisch lackierten Bodendielen herumklopfte.

»Du kannst viel leichter weg, Bill hat bestimmt nichts dagegen. Und wenn etwas passiert ist …«

»Ich werde rüberfahren und nachsehen«, unterbrach ich sie.

»Mir wird das einfach alles zu viel«, erklärte meine Mutter.

»Was stimmt nur mit uns nicht? Ich dachte, nun würde alles gut werden.«

»Das wird es bestimmt«, sagte ich mit zu viel Nachdruck.

»Ich fahre gleich los.«

Nachdem ich das Gespräch beendet hatte, drehte ich mich zu Broughton um.

»Ich muss weg.«

Sein wütender Blick wurde noch wütender.

»Ist Ihnen klar, wie teuer meine Zeit ist?«, fragte er.

»Es tut mir sehr Leid«, antwortete ich. Am liebsten hätte ich gesagt, dass meine Zeit auch etwas wert sei. Aber ich verkniff es mir. Ich dachte an Troy, der womöglich irgendwo im Regen herumlief.

Als Erstes fuhr ich zum Haus meiner Eltern. Die Handwerker waren nicht da, obwohl es im Erdgeschoss wie auf einer Baustelle aussah, was es natürlich im Moment auch war. Die Küche stand mehr oder weniger im Freien, der Boden war überall mit gelbem Londoner Lehm bedeckt. Ich ging von Raum zu Raum, rief immer wieder Troys Namen. In seinem Zimmer zog ich die Vorhänge auf und strich sein zerknittertes Bett glatt, damit es einladender aussah, wenn er zurückkam. Auf dem Boden lag ein aufgeschlagenes Buch über die Wanderrouten der Zugvögel. Ich merkte es mit einem Papierstreifen ein und legte es auf sein Kopfkissen.

Ich wusste nicht so recht, wo ich nach ihm suchen sollte. Wo würde ich an seiner Stelle hingehen, um herumzuhängen, bis der Tag vorüber war? Ich wanderte die Hauptstraße entlang und spähte in Cafés, CD-Läden, die nächstgelegene Buchhandlung.

Ich versuchte es auch in der Bibliothek, aber sie war geschlossen. Inzwischen hatte sie nur noch zwei Tage die Woche geöffnet. Ich warf einen Blick in die Mini-Einkaufspassage, wo ein paar Jungs, die wahrscheinlich ebenfalls blaumachten, in der verrauchten Düsternis mit den Spielautomaten zugange waren. Troy hasste solche Orte, sie verursachten ihm Beklemmungen.

Ich ging in den Park und wanderte im Regen umher. Es waren nicht viele Leute unterwegs, nur ein paar Penner, die auf den Bänken saßen, und eine junge Mutter, die mit verbissener Miene einen Kinderwagen schob. Aus seinem Inneren drang ein Heulen, das sich mehr nach einer Sirene als nach einem Baby anhörte. Kein Troy. Ich sah nach, ob er sich vielleicht auf dem Spielplatz untergestellt hatte, aber der war verwaist. Nur ein paar Tauben hüpften durch die Pfützen. Als Nächstes schaute ich in der kleinen Snackbar vorbei, die an sonnigen Tagen Eis verkaufte, aber dort befand sich nur ein einziger Gast, eine Frau.

Im Grunde konnte er überall sein. Ich rief Mum in der Arbeit an, aber sie hatte nichts von ihm gehört. Ich rief Dad an, der sich geschäftlich in Sheffield aufhielt, aber die Verbindung war sehr schlecht, ich konnte ihn kaum verstehen, und nach kurzer Zeit brach sie ganz ab. Sicherheitshalber rief ich auch in meiner Wohnung an, nur für den Fall, dass Troy aus irgendeinem Grund dort gelandet war. Nach zweimaligem Läuten schaltete sich der Anrufbeantworter ein, und meine eigene Stimme teilte mir mit, dass im Moment niemand zu Hause sei. Ich hinterließ trotzdem eine Nachricht: »Troy? Troy? Bist du da? Kannst du mich hören? Falls du da bist, könntest du bitte rangehen? Bitte geh ran. Troy?« Ich hörte die Angst in meiner Stimme.

Wenn man jemanden sucht, glaubt man ihn überall zu sehen, wenn auch oft nur aus dem Augenwinkel, aber sobald man sich in die entsprechende Richtung wendet, merkt man, dass man sich getäuscht hat. Oder man sieht ihn aus der Ferne auf sich zukommen, aber wenn der Betreffende sich einem dann nähert, stellt sich heraus, dass er es doch nicht ist. Oder man meint ihn ein Stück weiter vorne zu entdecken, aber dann dreht sich die Person um, und es handelt sich um ein ganz anderes Gesicht. Ich wanderte etwa eine Stunde herum, sagte mir aber wohl nicht ganz zu Unrecht, dass ich mir keine allzu großen Sorgen zu machen brauchte. Schließlich kehrte ich nass und frierend zu meinem Wagen zurück, der noch vor dem Haus meiner Eltern stand, und ging sicherheitshalber ein zweites Mal hinein, um nachzusehen, ob er inzwischen eingetroffen war.

Die Dielentür stand ein kleines Stück offen, und durch den Spalt konnte ich Troy auf dem alten Sofa sitzen sehen. Das Haar klebte ihm am Kopf, er hatte eine dicke Wolldecke um die Schultern, darunter war er nackt. Er wirkte so niedergeschlagen und in sich zusammengesunken, dass mich sein Anblick schmerzte. Ich musste erst einmal tief Luft holen, ehe ich auf ihn zuging. Er hob den Kopf und lächelte halbherzig zu jemandem hinauf, den ich nicht sehen konnte. Dann versperrte mir plötzlich eine große Gestalt die Sicht.

»Troy«, sagte ich. »Brendan. Was geht hier vor?«

Ich weiß nicht, was ich dachte, aber mein Ton war scharf. Ich schob mich an Brendan vorbei und kniete mich neben Troy, packte ihn an den schmalen Schultern.

»Troy? Alles in Ordnung?«

Er gab mir keine Antwort, sah mich nur an. Sein Blick ging durch mich hindurch. Er kam mir vor wie eins der Katastrophenopfer, die man in den Nachrichten immer sieht. Als wäre er aus den Trümmern eines Flugzeugs oder von einem sinkenden Schiff gerettet worden.

»Schätzchen«, sagte ich, als wäre er noch ein Baby. Am liebsten hätte ich auf der Stelle losgeheult. »Was ist passiert?«

»Ich habe dir ein schönes warmes Bad eingelassen«, meldete sich Brendan zu Wort. »Da legst du dich jetzt rein, und dann bringe ich dir eine heiße Schokolade. Einverstanden, Kumpel?«

Troy nickte.

»Und deine Mum rufen wir wohl besser auch an, hm?«

»Ich begleite dich ins Bad«, erklärte ich.

Ich ließ Troy in der Wanne zurück und ging in die Küche, wo Brendan in dem Chaos, das die Baufirma angerichtet hatte, einen Krug Milch für Troys Schokolade in die Mikrowelle schob. Für ihn war das ein schwieriges Unterfangen, weil er nur seine unverletzte Hand benutzen konnte.

»Ich hatte Marcias Nachricht auf dem Anrufbeantworter.

Anscheinend weiß sie noch nicht, dass du ausgezogen bist«, sagte er. Die Mikrowelle piepte. Er nahm den Krug heraus, schüttete Kakao und Zucker hinein und rührte um, bis es schäumte. »So.« Er nahm einen kleinen Schluck und fügte noch ein wenig Zucker hinzu. »Deswegen hielt ich es für das Beste, selbst nach ihm zu suchen.«

»Wo war er?«

»Unten bei den verlassenen Lagerhallen. Ich weiß auch nicht, wieso ich dort hinunter bin – ich hatte einfach so ein Gefühl, dass er dort sein könnte. Es war wie ein Instinkt. Ich wusste es irgendwie. Manche Menschen besitzen diese Fähigkeit, glaubst du nicht auch?«

Ich zuckte mit den Achseln.

»Wer weiß, was passiert wäre, wenn ich ihn nicht gefunden hätte. Ich glaube, es war mir vorherbestimmt, ihn zu retten. Es war Schicksal. Und deswegen habe ich einen Entschluss gefasst.« Er goss die Schokolade in eine große Tasse.

»Ich werde meine Jobsuche aufschieben, bis es Troy wieder gut geht. Troy wird mein neuer Job.«

»O nein«, antwortete ich. »Das halte ich für keine gute Idee.

Ganz und gar nicht. Wenn du mich fragst …«

»Ich frage dich aber nicht«, unterbrach er mich mit ruhiger Stimme.

»Ich sage es dir trotzdem. Troy braucht dich nicht. Ganz im Gegenteil. Was Troy – abgesehen von allem anderen – jetzt am dringendsten braucht, ist, dass du aus seinem Leben …«

»Ich bringe ihm die Schokolade«, unterbrach er mich.

»Du brauchst eigentlich nicht hier zu bleiben. Bestimmt wartet eine Menge Arbeit auf dich.«

»Ich bleibe«, erwiderte ich wütend. »Glaub bloß nicht, dass ich ihn mit dir allein lasse.«

»Ganz wie du meinst«, antwortete er.

16. KAPITEL

»Ich dachte, dir ginge es besser. Ich dachte, es würde endlich alles wieder normal werden.« Meine Mutter lief aufgeregt im Raum auf und ab. Ihr zu einem Knoten geschlungenes Haar hatte sich halb gelöst und hing ihr in Strähnen ins Gesicht.

Außerdem trug sie ihren Pullover verkehrt herum.

»Was genau meinst du mit ›besser‹?«, fragte Troy. »Und was ist schon normal? Kein Mensch ist normal.«

Er saß auf demselben Sofa, auf dem ich ihn am Vorabend gefunden hatte. Auch seine Haltung wirkte wieder genauso schlaff, als hätte er keinen einzigen Knochen im Leib.

»Ach, hör doch auf!«, fauchte meine Mutter.

»Beruhige dich, Liebes«, sagte mein Vater, der mit dem Rücken zum Fenster stand. Er war früher aus Sheffield zurückgekommen und trug noch seinen Anzug. Allerdings hatte er sich nicht rasiert, und der Knoten seiner Krawatte war gelockert. Er sah nicht gerade nach einem totalen Nervenzusammenbruch aus, aber doch ein wenig seltsam, fast verwegen.

»Ich soll mich beruhigen? Ist das alles, was dir dazu einfällt?

Diesen Rat gibst du mir jedes Mal, wenn etwas schief läuft.

Warum kommst du zur Abwechslung nicht mal auf die Idee, uns allen eine schöne Kanne Tee zu kochen?«

»Marcia …«

»Ich möchte, dass mal jemand anders sich um alles kümmert, nicht immer nur ich.«

Ich warf einen Blick zu Troy. Durchs Fenster schien die Sonne auf sein seidiges Haar, und er machte einen ruhigen Eindruck.

Als er meinen Blick spürte, hob er den Kopf, zog die Augenbrauen hoch und schenkte mir ein kleines Lächeln.

»Eine Tasse Tee wäre wirklich schön«, sagte er. »Und hungrig bin ich auch. Ich habe den ganzen Tag nichts gegessen.«

Ich stand auf.

»Ich mache uns gleich was«, erklärte ich. »Getoastete Käsesandwiches?«

»Gott sei Dank war Brendan zur Stelle«, sagte Mum voller Inbrunst. Ich zuckte leicht zusammen. Ich war auch zur Stelle gewesen, oder etwa nicht? »Wenn er ihn nicht gefunden hätte

…«

»Ich befinde mich im selben Raum wie du, Mum«, unterbrach sie Troy. »Du musst nicht in der dritten Person über mich reden.«

»Was habe ich bloß falsch gemacht?«

»Was hat das Ganze mit dir zu tun?«

»Genau«, pflichtete mein Vater ihm bei. »Es bringt uns überhaupt nicht weiter, wenn du jetzt wieder mit deinen Schuldgefühlen anfängst. Hier geht es um Troy.«

Meine Mutter öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, überlegte es sich dann aber anders. Sie setzte sich aufs Sofa und nahm Troys Hand.

»Ich weiß«, erklärte sie. »Ich habe mir nur solche Sorgen gemacht. Die ganze Zeit dachte ich …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende.

»Ich hatte nicht vor, mich umzubringen oder so was«, bemerkte Troy.

»Was wolltest du dann?«, fragte Dad. »Es muss doch irgendeinen Grund haben, wenn du nicht in die Schule gehst, sondern stattdessen in der Stadt herumwanderst.«

Troy zuckte mit den Achseln.

»Ich wollte einfach meine Ruhe«, sagte er schließlich.

»Ich konnte es nicht mehr ertragen, dass ständig jemand um mich herumscharwenzelt. Dass sich ständig jemand Gedanken über mein Wohlergehen macht.«

»Du meinst mich«, sagte meine Mutter. »Ich bin diejenige, die um dich herumscharwenzelt. Das ist mir durchaus bewusst. Ich versuche ja auch, mich zu bremsen, aber ich schaffe es einfach nicht. Ich habe das Gefühl, wenn es mir gelänge, dich zurück auf die richtige Spur zu bringen, dann würde mit dir wieder alles in Ordnung kommen.«

»Ihr solltet mir einfach vertrauen.«

»Wie können wir dir vertrauen«, fragte mein Vater, »wenn du nicht in den Unterricht gehst und uns anlügst?«

»Es ist mein Leben«, antwortete Troy trotzig. »Ich bin siebzehn. Wenn ich blaumachen will, dann ist das meine eigene Entscheidung. Wenn ich Mist baue, dann ist das mein eigener Mist, nicht eurer. Ihr behandelt mich wie ein kleines Kind.«

»Oh!«, sagte meine Mutter. Es klang wie ein Stöhnen.

»Wenn du wie ein Erwachsener behandelt werden willst, dann musst du dich auch wie einer benehmen«, erklärte mein Vater.

Er rieb sich einen Moment die Stirn, dann fügte er hinzu: »Es ist doch nur, weil wir dich lieben, Troy.«

Mein Vater sagte sonst nie solche Sachen.

»Ich mache uns jetzt die Sandwiches.« Mit diesen Worten verschwand ich in die halb in Trümmern liegende Küche.

Als ich nach einer Weile ins Wohnzimmer zurückkam, beladen mit einem Tablett, auf dem vier Tassen Tee und ein Teller mit getoasteten Käsesandwiches standen, hatte meine Mutter verweinte Augen. »Troy sagt, er möchte für eine Weile bei dir wohnen«, informierte sie mich.

»Oh«, sagte ich. »Das fände ich wunderbar, Troy, wirklich großartig. Das Problem ist nur, dass ich im Moment selbst nicht bei mir wohne. Brendan und Kerry haben die Wohnung übernommen.«

»Aber nicht für lange«, entgegnete Troy. »Ich kann ja ein paar Wochen mit ihnen dort wohnen, und dann kommst du zurück.

Okay?«

»Du weißt, wie gern ich dich bei mir hätte«, antwortete ich.

»Aber kannst du nicht noch ein bisschen warten? Eine Woche oder so?«

»Warum?«

Ich starrte ihn hilflos an. »Bist du sicher, dass du dich bei Kerry und Brendan wohl fühlen wirst?«

Er zuckte mit den Achseln. »Bestimmt werden sie auch um mich herumscharwenzeln. Mit dir wird es besser sein.«

»Dann warte.«

»Das kann ich nicht.«

»Na schön«, sagte ich. »Ich werde so oft wie möglich vorbeischauen. Und wenn du mich brauchst, rufst du mich einfach an. Einverstanden?«

»Einverstanden.«

Am nächsten Tag nahm ich mir frei und ging mit Troy ins Aquarium. Wir verbrachten zwei Stunden dort, drückten uns an den Scheiben die Nase platt. Troy gefielen am besten die tropischen Fische, die wie farbige Glasscherben funkelten, mir dagegen die Plattfische mit ihren eigenartigen, auf dem Kopf stehenden Gesichtern, die immer freundlich und ein wenig verblüfft wirkten, während sie mit ihrem sich wellenden Körper durchs Wasser glitten. Hinterher fuhr ich ihn zum Haus meiner Eltern zurück, damit er seine Sachen packen konnte. Brendan und Kerry würden ihn in ein paar Stunden abholen. Ich nahm ihn fest in den Arm.

»Ich werde dich ganz bald besuchen«, versprach ich. »In ein, zwei Tagen.«

In Wirklichkeit verging kaum eine Stunde, in der mir nicht etwas einfiel, das ich vergessen hatte. Ich lief ständig mit Papier und Stift herum, um mir die fehlenden Sachen gleich zu notieren. Ich konnte mir schließlich nicht alles neu kaufen. Die Liste wurde immer länger: T-Shirts. Nagelschere. Haarspülung.

Wollmütze. Scheckbuch. Straßenkarte. Irgendwie kam mir das Ganze total lächerlich vor. Am nächsten Tag begab ich mich nach der Arbeit mit meiner Liste in die Wohnung. Brendan und Troy spielten im Wohnzimmer Karten. Sie musterten mich ziemlich erstaunt. Brendan sagte etwas, aber ich konnte ihn wegen der lauten Musik nicht verstehen. Ich drehte sie leiser.

»Jetzt kann man fast nichts mehr hören«, beschwerte sich Troy. »Da muss man ja ein Stethoskop an die Box halten.«

»Ich hole bloß schnell ein paar Sachen«, erklärte ich.

»Schon gut«, antwortete Brendan. »Nur zu.«

Allein schon die Tatsache, dass Brendan so gnädig sein Einverständnis gab, obwohl es sich um meine eigene Wohnung handelte, weckte in mir den Wunsch, ihm einen Topf kochendes Wasser über den Kopf zu schütten. Einen Moment lang war ich sprachlos vor Wut, aber dann sagte ich doch etwas.

»Wie geht es dir, Troy?«

»Recht gut, oder?«, antwortete Brendan. Troy lächelte mich an und hob die Augenbrauen.

Ich ging in mein Zimmer. Wie erwartet, war es vorübergehend von Troy in Besitz genommen worden, und schon nach einem einzigen Tag sah es dort so aus, wie es in seinem Zimmer immer aussah: Das Bett war nicht gemacht, auf dem Boden lagen Klamotten und aufgeschlagene Bücher herum und ein ganz eigener, leicht schweißiger Geruch hing in der Luft. So schnell ich konnte, warf ich ein paar Sachen in die Plastiktüte, die ich zu diesem Zweck mitgebracht hatte. Dann griff ich nach dem Buch, in dem ich das Geld versteckt hatte. Ich zählte es. Sechzig Pfund. Plötzlich hatte ich eine Gänsehaut. Ich zählte noch einmal. Sechzig. Hätte er nicht einfach alles nehmen können?

Was für ein Spiel spielte er mit mir? Ich steckte den Rest des Geldes in meine Börse und ging wieder ins Wohnzimmer.

»Ich hatte in meinem Zimmer ein bisschen Geld«, sagte ich.

Brendan drehte sich mit fröhlicher Miene zu mir um.

»Ja?«

»Ein Teil fehlt. Hat sich vielleicht jemand von euch was davon geborgt?«

»Nicht schuldig«, meinte Brendan achselzuckend. »Wo war es denn?«

»Was spielt das für eine Rolle?«

»Vielleicht ist es irgendwo runtergerutscht.«

»Egal«, sagte ich. »Meine Tampons kann ich auch nicht finden.«

»Vielleicht hat Kerry sie sich ausgeliehen«, antwortete Brendan. »Sie hat gerade ihre Tage.«

»Ausgeliehen?«

»Ja«, sagte Brendan. »Im Moment gibt’s nur Analsex.«

Ich traute meinen Ohren nicht. Hatte ich mich vielleicht verhört? Ich spürte, wie mir der saure, scharfe Geschmack von Galle aufstieß.

»Bitte?«

»War bloß ein Witz.« Brendan grinste Troy an, dessen Miene zu einer Maske erstarrt war. »Miranda mag es, wenn ich sie necke. Zumindest glaube ich das. Du bist dran.«

Nachdem ich im Geist alles noch einmal durchgegangen war, versuchte ich es Nick zu erklären. Ich erzählte ihm, wie ich den Streifen in die Tür gesteckt und bei meiner Rückkehr an einer anderen Stelle vorgefunden hatte. Wir saßen in einem Weinlokal an der Tottenham Court Road, ein paar hundert Meter von seiner Wohnung entfernt.

»Ich hatte mir das nicht so kompliziert vorgestellt«, erklärte ich. »Du kennst das doch bestimmt aus irgendwelchen Filmen.

Da stecken sie auch immer so einen Papierstreifen in die Tür, und wenn sie ihn dann am Boden finden, wissen sie, dass jemand im Zimmer war.«

»Ja«, antwortete Nick. »Zum Beispiel in Der Clou. Robert Redford hat es gemacht, weil die Gangster hinter ihm her waren.«

»Wirklich?«, fragte ich. »Ich glaube, ich habe den Film vor Jahren im Fernsehen gesehen. An diese Stelle kann ich mich gar nicht erinnern, aber ich habe sowieso ein fürchterliches Gedächtnis, was Filme betrifft. Ich kann mir die Einzelheiten einfach nicht merken.« Ich nahm einen Schluck von meinem Wein. Irgendwie hatte ich das Gefühl, viel mehr zu trinken als Nick. Er saß ganz ruhig und nüchtern da, während ich redete und trank. »Der schwierige Teil war für mich, dass der Papierstreifen so demonstrativ an einer anderen Stelle platziert war. Verstehst du, was ich meine?«

»Nein«, antwortete Nick.

Es fiel mir ja selbst schwer, es zu erklären. Das Ganze war eine richtige Denksportaufgabe. Mir schwirrte schon der Kopf davon.

»Die Sache ist die«, begann ich. »Die meisten Menschen würden den Papierstreifen gar nicht bemerken. Vielleicht fünf Prozent würden ihn bemerken und sich die allergrößte Mühe geben, ihn wieder genau dorthin zu stecken, wo er vorher war, um auf diese Weise zu vertuschen, dass sie die Tür geöffnet haben. Aber nur fünf Prozent von diesen fünf Prozent würden den Streifen ganz bewusst an eine andere Stelle stecken, um zu demonstrieren, dass sie den Trick durchschaut haben. Verstehst du?«

Ich merkte, dass Nicks Aufmerksamkeit nachließ und er langsam ungeduldig wurde, aber ich konnte nicht aufhören.

Irgendwie wollte ich ihn wohl auf die Probe stellen. Wenn man jemanden mag – oder liebt –, dann macht es einem nichts aus, wenn der oder die Betreffende von etwas besessen ist. Es macht einem nicht einmal etwas aus, wenn er oder sie mal langweiliges Zeug erzählt. Vielleicht wollte ich herausfinden, wie geduldig er mir gegenüber sein konnte.

»Brendan spielt mit mir. Er hat den Papierstreifen absichtlich ein Stück höher angebracht, damit ich merke, dass er sich daran zu schaffen gemacht hat. Gleichzeitig wollte er mir damit aber auch zeigen, dass er keineswegs zu vertuschen versuchte, in meinem Zimmer gewesen zu sein.« Ich nahm einen weiteren Schluck von meinem Wein.

»Er wollte mir auf diese Weise eine Nachricht übermitteln.

Mir damit Folgendes sagen: ›Du verdächtigst mich, in deinem Zimmer gewesen zu sein. Ich weiß, dass du mich verdächtigst.

Ich möchte dir hiermit zeigen, dass ich es weiß. Und ich möchte dir zeigen, dass es mir völlig egal ist, ob du es weißt oder nicht.

Außerdem weißt du deswegen noch lange nicht, was ich gemacht habe, als ich in deinem Zimmer war.‹ Da ist noch so eine Sache. Ich hatte in einem Buch fünfundsiebzig Pfund versteckt. Meine geheime Notreserve.«

»Kannst du nicht wie jeder andere Mensch zum Bankautomaten gehen?«, fragte Nick.

»Das hilft einem nicht immer weiter. Manchmal geht diesen Automaten nämlich das Geld aus. Man sollte also irgendwo ein bisschen Bargeld versteckt haben. Egal, jedenfalls hätte jeder normale Dieb das ganze Geld geklaut. Brendan aber hat nur fünfzehn Pfund genommen. Nur um mich zu ärgern. Er versucht, mich in den Wahnsinn zu treiben.«

»Was sollte ihm das bringen?«

»Immerhin hat er sich schon in meiner gottverdammten Wohnung eingenistet, und ich sitze total genervt hier in dieser Bar.«

Nick schwieg eine ganze Weile. Ich kam mir vor wie eine Komikerin, die sich vergeblich bemüht hatte, ihr Publikum zum Lachen zu bringen.

»Ich kann das nicht mehr«, sagte Nick schließlich.

»Wie meinst du das?«, erkundigte ich mich, obwohl ich es genau wusste.

»Darf ich ganz ehrlich zu dir sein?«

»Natürlich.« Wenn jemand so fragte, bedeutete das in der Regel nicht, dass der oder die Betreffende vorhatte, einem etwas besonders Nettes zu sagen.

»Weißt du, was ich glaube?«

»Nein, keine Ahnung.«

»Ich glaube es nicht, ich weiß es«, fuhr Nick fort. »Du bist immer noch in Brendan verliebt.«

»Was?« Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet.

»Du bist richtig besessen von ihm. Du kennst gar kein anderes Thema mehr.«

»Natürlich bin ich besessen von ihm«, erwiderte ich. »Er ist wie ein Wurm, der mich befallen hat. Der nicht aufhört, an mir zu nagen.«

»Ganz genau. Es war wundervoll, Miranda.«

»War«, wiederholte ich dumpf.

Nun trank er endlich auch einen Schluck von seinem Wein.

»Es tut mir Leid«, sagte er.

Am liebsten hätte ich ihn angeschrien, ihm ins Gesicht geschlagen. Ein paar Augenblicke später wollte ich das plötzlich nicht mehr. Ich suchte in meiner Börse herum, fand einen Zwanzig-Pfund-Schein und legte ihn neben mein leeres Glas.

Ein wenig wackelig beugte ich mich zu Nick und küsste ihn.

»Mach’s gut, Nick«, sagte ich. »Es war wirklich der falsche Zeitpunkt.«

Ich drehte mich um und verließ die Bar. Noch einer von diesen überstürzten Abgängen. Eigentlich hatte ich vorgehabt, bei Nick zu übernachten. Zumindest hatte ich das Laura versprochen. Ein weiteres Versprechen, das ich nicht halten konnte.

17. KAPITEL

Am nächsten Morgen blieb ich ziemlich lange auf Lauras Sofa liegen, bevor ich mich zwang aufzustehen und dem Tag ins Auge zu blicken. Draußen war es windig und noch halb dunkel.

Mich fror, und ich war müde. Mein Haar musste dringend gewaschen werden, und meine Zunge fühlte sich an, als wäre sie zu dick für meinen Mund. Ich war seit Tagen nicht mehr gejoggt, meine Beine kamen mir schon ganz steif und eingerostet vor. Während ich mit geschlossenen Augen dalag und dem Gemurmel lauschte, das aus Lauras Schlafzimmer drang, hatte ich das Gefühl, einen Hang hinunterzurutschen, ohne Halt zu finden. Alles, was ich zu fassen bekam, entglitt mir sofort wieder.

Ich dachte an den vor mir liegenden Tag. Ich musste wieder in das blöde Haus in Hampstead und eine rote Wand grün streichen. In meiner Mittagspause sollte ich Kerry im Reisebüro abholen und mit ihr eine weitere überteuerte Wohnung besichtigen. Abends würde ich so spät wie möglich hierher zurückkommen, um Laura und Tony ja nicht mit meiner ständigen Gegenwart auf die Nerven zu gehen.

Ich traf ein bisschen zu früh im Journey’s End ein, dem Reisebüro, in dem Kerry arbeitete. Froh, das stürmische Wetter hinter mir lassen zu können, drückte ich die Tür auf. Am ersten Schreibtisch versuchte Kerrys Chef Malcolm gerade einen übergewichtigen Mann im Anzug davon zu überzeugen, dass es unbedenklich sei, nach Ägypten zu reisen. Ein paar andere Kunden standen vor dem Regal mit den Prospekten und betrachteten Bilder von Sonne und Meer und lachenden jungen Menschen mit strahlend weißen Zähnen und blondem Haar.

Kerry sprach am anderen Ende des Raums mit einem Mann, der einen langen Mantel trug. Obwohl er mir den Rücken zuwandte, erkannte ich ihn auf den zweiten Blick als Brendan und blieb ein paar Schritte von ihnen entfernt stehen.

»Ich habe mein Konto doch schon überzogen«, sagte Kerry gerade in flehendem Tonfall.

»Vierzig Pfund müssten mir eigentlich reichen.«

»Aber …«

»Kerry.« Er sprach leise, aber sehr eindringlich. Ich bekam allein schon vom Zuhören eine Gänsehaut. »Gönnst du es mir etwa nicht? Nach allem, was ich für dich und deine Familie getan habe?«

»Du weißt genau, wie dankbar ich dir dafür bin«, antwortete sie und begann gleichzeitig, ein paar Geldscheine aus ihrer Börse zu fischen.

»Tatsächlich? Dann frage ich mich, warum du so knausrig bist, Kerry. Ich bin wirklich sehr erstaunt. Enttäuscht.«

»Sag doch so was nicht, Bren. Hier. Mehr habe ich im Moment nicht.«

»Wie kann ich es jetzt noch annehmen?«

»Bitte, Bren. Nimm es.« Kerry hielt ihm eine Hand voll Scheine hin und schaute gleichzeitig auf, sodass sie mich entdeckte. Die Röte schoss ihr in die Wangen, und sie sah sofort wieder weg, richtete den Blick auf Brendan.

»Ich muss sagen, dass du heute ein bisschen farblos aussiehst«, erklärte er, während er das Geld entgegennahm und in seine Tasche stopfte. »Hmm?«

Ich sah Kerry zusammenzucken, als hätte er ihr eine Ohrfeige verpasst. Sie hielt eine Hand vor ihr Gesicht, als wollte sie sich dahinter verstecken.

»Der Mantel steht dir ausgezeichnet«, sagte ich eine Dreiviertelstunde später zu meiner Schwester. Kerry und ich saßen inzwischen in einem schäbigen kleinen Café in Finsbury Park.

»Findest du?« Sie fingerte unsicher an ihrem Kragen herum.

»Macht er mich nicht ein bisschen blass?«

»Es ist November. Wir sind alle ein bisschen blass. Du siehst großartig aus.« Ich sagte das betont fröhlich, als säße ich an ihrem Krankenbett, bemüht, sie davon zu überzeugen, dass sie sich auf dem Weg der Besserung befand.

»Danke«, antwortete sie so kleinlaut, dass ich sie am liebsten geschüttelt hätte.

»Außerdem dauert es nicht mehr lang, dann bist du auf Hochzeitsreise und lässt dir die Sonne auf den Pelz brennen –

wohin fliegt ihr noch mal? Auf die Fidschis?«

»Ja.« Sie zwang sich zu einem Lächeln.

»Phantastisch.«

Wir schwiegen einen Moment. Ich griff nach meiner leeren Kaffeetasse und tat, als hätte ich noch einen Rest zu trinken.

»Hat Brendan sich schon entschieden, was er machen möchte?«, fragte ich dann.

»Du meinst, beruflich?«

»Ja.«

»Er will sich zuerst um Troy kümmern.«

»Das halte ich für gar keine gute Idee.«

»Ich weiß auch nicht so recht.« Sie klang teilnahmslos.

»Sogar Troy selbst sagt, dass er mehr in Ruhe gelassen werden möchte«, fuhr ich fort. »Deswegen ist er ja von zu Hause ausgezogen.«

»Ich weiß.« Sie biss sich nervös auf die Unterlippe. »Mehr oder weniger dasselbe habe ich auch Brendan gesagt.«

»Ist mit euch beiden alles in Ordnung?«

»Natürlich«, antwortete sie kurz angebunden. »Wieso auch nicht?«

»Jedenfalls könnte er langsam mal anfangen, mehr an euch beide zu denken. Dort sollten seine Prioritäten liegen. Was hat er denn vorher gemacht?«

»Na ja«, erwiderte Kerry, »viele verschiedene Sachen.«

Sie kaute einen Moment auf der Ecke eines Fingernagels herum. »Er hat eine Weile Psychologie studiert und dann irgendeinen Job gemacht, der damit zu tun hatte, ihm auf Dauer aber nicht gefiel. Er ist einfach zu sehr Einzelgänger. Dann war er an verschiedenen Geschäftsprojekten beteiligt. Du kennst ihn ja, er geht gern Risiken ein. Und natürlich ist er viel gereist.«

»Natürlich. Verstehe.«

Ich versuchte mich an Einzelheiten zu erinnern, die er erzählt hatte. Plötzlich tauchte aus den Tiefen meines Gedächtnisses ein Name auf, den er bei dem Grillfest im Garten meiner Eltern erwähnt hatte. Vermont. Genau. Harry Vermont und die Dotcom-Firma. Nachdem Kerry gegangen war, nahm ich mein Handy und rief bei der Auskunft an.

Am nächsten Morgen um halb neun saß ich in einem großen, warmen Büro mit riesigen Fenstern, durch die man einen schönen Blick auf die Themse gehabt hätte, wenn sie auf die andere Seite des Gebäudes hinausgegangen wären. So aber sah man nur einen Block mit Sozialwohnungen, von denen die meisten mit großen Metallplatten zugenagelt waren. Harry Vermont bot mir einen Kaffee an, aber wir waren beide in Eile –

und wie sich herausstellte, dauerte unsere Unterhaltung auch gar nicht lang. Ich erklärte ihm, dass ich eine Bekannte von Brendan Block sei.

»Ach ja?«

»Sie und Brendan haben doch irgendwann mal eine Dotcom-Firma gegründet, oder?«

»Was?«

»Ich wollte etwas über Ihr gemeinsames Projekt erfahren.«

»Über unser gemeinsames Projekt?«, fragte er in sarkastischem Ton.

»Gibt es da ein Problem?«, fragte ich. »Können Sie darüber reden?«

»O ja«, sagte er. »Das kann ich.«

»Hast du viel Geld verloren, als eure Dotcom-Firma zusammenbrach?«, fragte ich fröhlich, ehe ich mir ein Stück bröckeligen Stilton in den Mund schob. Es war Bills Geburtstag, und er hatte uns alle zu sich nach Hause zum Mittagessen eingeladen. Draußen war es neblig und kalt, aber drinnen brannte ein loderndes Feuer im Ofen. Judy und Bill kochen sehr gut, viel besser als meine Eltern, und sie hatten uns mit einem Wildbraten und viel Rotwein bewirtet. Inzwischen waren wir bei Käse und Kräckern angelangt. Kerry saß am anderen Ende des Tisches und versuchte, Sasha zu überreden, ihre Brautjungfer zu machen. Aber Sasha, die mit ihren zwölf Jahren wie einundzwanzig aussieht und nur extreme Schlaghosen und Kapuzenshirts trägt, erklärte gerade, dass sie für niemanden auf der Welt ein pfirsichfarbenes Satinkleid anziehen würde. Dad und Bill aber hörten mir zu. Troy saß Brendan gegenüber. Es war schwer zu sagen, ob er dem Gespräch folgte oder nicht, da er gerade eine seiner lethargischen Phasen hatte.

»Auf jeden Fall zu viel«, antwortete Brendan und lachte wehmütig, ganz Mann von Welt.

»Und die anderen?«, fragte ich. Nachdem ich mein Glas geleert hatte, sprach ich so laut weiter, dass Kerry und Judy zu uns herübersahen. »Haben alle Geld verloren? Auch dieser Harry, von dem du uns damals erzählt hast? Wie war noch mal sein Name?«

Brendan sah mich verwirrt an.

»Hieß er nicht Vermont?«, fragte ich.

»Wie um alles in der Welt konntest du dir das merken?«

Meine Mutter lachte, erfreut darüber, dass ich so viel Interesse zeigte und freundlich zu Brendan war.

»Mitch und Sasha, räumt doch bitte die Teller in die Küche«, sagte Judy. Die beiden erhoben sich murrend.

»Ich weiß noch, dass ich damals dachte: Vermont wie in Neuengland«, antwortete ich.

Bill schenkte mir nach, und ich nahm einen großen Schluck.

Mitch griff nach meinem Käseteller und ließ dabei das butterverschmierte Messer in meinen Schoß fallen.

»Der arme alte Harry«, meinte Brendan. »Er war völlig am Ende.«

»Was macht er denn jetzt? Bist du noch mit ihm in Kontakt?«

»Man kann seine Freunde doch nicht einfach fallen lassen, bloß weil sie eine schlechte Phase durchmachen«, erwiderte er salbungsvoll.

»Ich habe mit ihm gesprochen«, erklärte ich.

»Was?«

»Er hat gesagt, er habe dich irgendwann mal kennen gelernt, aber ihr hättet nie zusammengearbeitet, und er sei auch nie in der Verpackungsbranche tätig gewesen. Außerdem hast du den Job damals sowieso nicht bekommen.«

Ich nahm einen großen Schluck Wein.

»Kaffee?«, fragte Bill.

»Das wäre wunderbar, Bill«, antwortete meine Mutter mit einer Spur von Panik in der Stimme.

»Also?«, fragte ich Brendan.

»Du bist zu Harry Vermont und hast mit ihm gesprochen?«

Brendans Ton klang sehr sanft. »Warum, Miranda? Warum hast du nicht erst mit mir darüber geredet?«

Alle sahen mich an. Ich legte beide Hände um die Tischkante.

»Ihr habt niemals zusammengearbeitet«, sagte ich. »Du hast mit ihm kein Geld verloren. Du kennst den Mann kaum.«

»Warum tust du so etwas?« Er schüttelte verwundert den Kopf, wandte sich an die ganze Runde. »Warum?«

»Weil du nicht die Wahrheit gesagt hast«, erklärte ich. Ein Gefühl von Übelkeit stieg in mir hoch. Ich spürte, wie mir der kalte Schweiß ausbrach.

»Wenn du mich vorher gefragt hättest, dann hätte ich es dir erklärt, Miranda.«

»Harry Vermont hat gesagt …«

»Harry Vermont hat alle im Stich gelassen, mit denen er zusammengearbeitet hat«, fiel mir Brendan ins Wort. Er lehnte sich ein wenig zurück, wandte sich wieder an die ganze Runde.

»Er wollte die Lorbeeren, aber nicht die Verantwortung.

Trotzdem habe ich ihm verziehen. Er war mein Freund.«

»Er hat gesagt …«

»Miranda!«, zischte meine Mutter, als könnten die anderen nicht sowieso jedes Wort hören. »Jetzt reicht es aber!«

»Ich wollte herausfinden …«

»Es reicht, habe ich gesagt!« Sie schlug mit der Hand so fest auf die Tischplatte, dass das Besteck klirrte. »Schluss damit!

Lasst uns Kaffee trinken.«

Judy wandte sich an Bill und nickte ihm zu. Die beiden erhoben sich und verließen den Raum. In der Küche ließ jemand ein Glas fallen.

Ich überlegte, ob ich aufstehen und gehen sollte, aber ich saß zwischen Tisch und Wand eingezwängt, und Troy hätte aufstehen müssen, um mich hinauszulassen. Stattdessen ergriff ich noch einmal das Wort: »Du hast uns angelogen.«

Ich wandte mich an die anderen. »Er hat uns angelogen«, wiederholte ich.

Brendan schüttelte den Kopf.

»Ich habe euch vielleicht nicht die ganze hässliche Geschichte erzählt, weil er mein Freund war und mir Leid tat. Ich wollte ihn nicht bloßstellen. Aber ich habe euch nicht angelogen. Nein, Miranda.« Er schwieg einen Moment und lächelte mich an.

»Was das betrifft, solltest du nicht von dir auf andere schließen.

Nicht jeder ist so skrupellos wie du.«

Draußen in der Diele hörte ich die Standuhr ticken.

Durch die Terrassentür sah ich die kahlen Äste der großen Rotbuche im Wind schwanken.

»Ich muss gerade daran denken, wie du damals Kerry hintergangen hast«, fügte er hinzu.

»Hört auf«, sagte Troy. »Ich mag das nicht. Bitte, hört auf.«

»Was?«, fragte Kerry im selben Moment in scharfem, angsterfülltem Ton. »Was meinst du damit?«

»Aber ich bin sicher, dass Kerry dir verziehen hat. Sie ist ja zum Glück nicht nachtragend. Hmm?«

»Wovon redest du überhaupt, Brendan? Nun sag schon!«

Ich sah die Angst in Kerrys Gesicht.

»Du warst ja schließlich erst siebzehn«, fuhr Brendan fort, immer noch an mich gewandt.

»Brendan, es tut mir Leid, wenn ich …«

»Und wie alt warst du, Kerry? Neunzehn, nehme ich an.«

»Wie alt war ich wann?«

»Du weißt schon, damals, als Miranda dir deinen Freund ausgespannt hat. Wie hieß er noch mal? Mike, oder?«

Um uns herum war es plötzlich totenstill.

Brendan schlug die Hand vor den Mund.

»Sag bloß, du hast das nicht gewusst! Miranda hat es dir nie gesagt? Ich hatte ja keine Ahnung! Mir hat sie es ganz beiläufig erzählt, als wir uns gerade mal ein paar Tage kannten, und deswegen dachte ich … deswegen bin ich einfach davon ausgegangen, dass ihr das alle wisst, ihr seid schließlich eine Familie, und da weiß man ja normalerweise …« Er sprach den Satz nicht zu Ende.

Ich öffnete den Mund, um richtig zu stellen, dass ich es ihm keineswegs erzählt hatte, sondern dass er es in einem Tagebuch gelesen hatte, das ihn überhaupt nichts anging, ließ es dann aber sein. Wen interessierte jetzt noch, wie er davon erfahren hatte?

Tatsache war, dass es stimmte.

»Kerry«, sagte ich schließlich. »Lass uns das nicht hier besprechen. Können wir irgendwo in Ruhe darüber reden?«

Sie starrte mich an. »Verstehe«, sagte sie. »Und jetzt versuchst du es wieder.«

18. KAPITEL

Obwohl Judy mich an der Tür zurückhalten wollte, stürmte ich aus dem Haus, stieg in mein Auto und fuhr bis ans Ende der Straße, wo ich an einer Bushaltestelle anhielt. Mich fröstelte, aber zugleich schwitzte ich, und meine Hände zitterten so sehr, dass ich kaum in der Lage war, den Motor abzustellen. Ich hatte einen ekelerregenden Geschmack im Mund, eine Mischung aus Wildbraten, Schimmelkäse, Rotwein und Angst. Einen Moment lang befürchtete ich, mich übergeben zu müssen. Ich blieb eine Weile sitzen und starrte einfach geradeaus, ohne richtig wahrzunehmen, wie der Verkehr an mir vorüberströmte, während es langsam düster zu werden begann, als würde die Farbe aus allem entweichen und die Welt in tristem Grau zurücklassen.

Hinter mir ertönte lautes Hupen, und als ich in den Rückspiegel blickte, sah ich, dass ein Bus wartete. Rasch ließ ich den Wagen an und ordnete mich wieder in den Verkehr ein, auch wenn ich keine Ahnung hatte, mit welchem Ziel. Eine Weile fuhr ich in Richtung meiner Wohnung, aber das war der letzte Platz auf der Welt, wohin ich mich jetzt flüchten konnte.

Ich hatte mein Zuhause immer geliebt, es war mein Hafen gewesen. Das war nun vorbei.

Natürlich konnte ich zurück zu Laura, aber ich sehnte mich verzweifelt danach, allein zu sein, weswegen ich immer weiter stadtauswärts fuhr, vorbei an Läden, die alte Kühlschränke verkauften, Mobiltelefone, Gaststättenbedarf, billige Videos, Gartenzwerge, Bodenfliesen, Windspiele … Die Straßen machten einen immer tristeren Eindruck, die Brücken, unter denen ich hindurchfuhr, waren mit Graffiti bedeckt, die kleinen Cafés, an denen ich vorbeikam, wirkten heruntergekommen, die Metzgereien, die immer noch geöffnet hatten und in deren Schaufenstern riesige Fleischstücke baumelten, alles andere als einladend. An einer Ampel klopfte ein junger Mann im Kampfanzug an mein Fenster und forderte mich auf, ihm mein Geld zu geben. Nachdem ich eine Überführung und mehrere große Kreuzungen hinter mir gelassen hatte, sah die Gegend wieder ansehnlicher aus. An die Stelle der Reihenhäuser traten einzelne, von Gärten umgebene Häuser. Überall gingen die Lichter an. Straßenlampen erhellten die Dämmerung.

Schließlich wurde es ländlich. Große, fast kahle Bäume säumten die Straße, zu beiden Seiten erstreckten sich Felder, zwischen denen sich ein Fluss hindurchschlängelte.

Ich bog aufs Geratewohl nach links in eine kleine Straße ein, dann noch einmal nach links in eine noch kleinere, wo ich schließlich neben einem Feld anhielt, auf dem ein Stück entfernt ein paar Kühe standen. In einer Stunde etwa würde es dunkel sein, und als ich die Tür öffnete, spürte ich die beißende Kälte.

Ich war nicht für draußen gekleidet, trug auch nicht die richtigen Schuhe, aber das war mir egal. Froh über den schneidenden Wind, der mir die Haare ins Gesicht peitschte, ging ich die Straße entlang. Ein paar Minuten lang marschierte ich so schnell dahin, dass meine Waden zu schmerzen begannen. Erst dann ließ ich meinen Gedanken freien Lauf.

Mit neunzehn war Kerry sehr hübsch, aber da sie selbst nicht dieser Meinung war und meist den Kopf einzog, fiel sie den Leuten kaum auf. Zumindest den meisten Jungen. Michael war nicht ihr erster Freund, aber der Erste, in den sie sich richtig verliebte, und vielleicht auch der Erste, mit dem sie Sex hatte.

Sie erzählte es mir nicht, und ich fragte sie auch nie danach.

Anfangs, weil ich auf den passenden Moment wartete, und später, weil mir bewusst war, dass dieser Moment nie kommen würde. Es war in den letzten Sommerferien, bevor sie mit dem Studium begann. Sie hatte einen Ferienjob in unserem Stammcafé, wo sie Geschirr spülte und den Gästen Kaffee und Kuchen servierte. Er war zwei oder drei Jahre älter als sie und studierte in Hull Hoch- und Tiefbau, verbrachte aber die Ferien zu Hause und sah Kerry ein paarmal im Café. Eines Tages beugte er sich über den Tresen, bestellte eine Tasse Tee und fragte sie bei der Gelegenheit, ob sie Lust hätte, abends mit ihm etwas trinken zu gehen.

Vielleicht lag es daran, dass er nichts über sie wusste und nicht zu der Welt gehörte, in der sie immer nur am Rand stand.

Vielleicht war sie einfach auch bereit dafür. Auf jeden Fall wirkte sie ziemlich begeistert von ihm, und gleichzeitig war sie stolz auf sich selbst, weil er älter war als sie und wenn auch nicht wirklich gut aussehend, so doch sehr extrovertiert und ein großer Charmeur. An seiner Seite fühlte sie sich sicherer und attraktiver als je zuvor. Sie blühte sichtlich auf … ähnlich, wie sie mit Brendan aufgeblüht war, dachte ich, während ich in der hereinbrechenden Dunkelheit die Straße entlangging.

Und dann … ich hatte zu viele Jahre versucht, nicht daran zu denken, sodass ich mich jetzt zwingen musste, mich der verdrängten Erinnerung zu stellen. Das mit Kerry und Michael dauerte nicht sehr lange, und schon nach ein paar Tagen war klar, dass sie sich mehr verliebt hatte als er. Zumindest war ich damals dieser Meinung, und später dann erst recht. Anfangs hatte er keine Notiz von mir genommen. Ich war vier oder fünf Jahre jünger als er und noch Jungfrau. Ich glaube nicht, dass ich so richtig mit ihm geflirtet habe, aber ich erinnere mich an den Blick, mit dem er mich eines Tages musterte – es war ein plötzlicher, abschätzender Blick, direkt über Kerrys Kopf hinweg, und noch heute erinnere ich mich ganz genau an das triumphierende Gefühl, von dem ich schlagartig durchdrungen war. Gleichzeitig empfand ich einen heftigen Abscheu vor mir selbst. Ab diesem Zeitpunkt musste ich ständig an ihn denken, nur weil er mich so angesehen hatte – in aller Öffentlichkeit, aber zugleich sehr intim. Ich glühte vor geheimer, schuldbewusster Lust.

Irgendwann gab er mir vor Kerrys Schlafzimmer einen hastigen Kuss. Ich ließ ihn gewähren, redete mir ein, dass es nichts bedeutete. Ein Kuss zählte nicht, ich hatte nichts Schlimmes getan. Eines Nachmittags hatten wir dann Sex auf meinem Bett, während Kerry rasch zum Kiosk um die Ecke ging, um Zigaretten für ihn zu holen. Das Ganze dauerte zwei schmerzhafte, schreckliche Minuten, und noch bevor wir richtig angefangen hatten, wurde mir bewusst, dass ich dabei war, den schlimmsten Fehler meines Lebens zu begehen. Danach konnte ich den Anblick seiner oberflächlichen, selbstzufriedenen Miene einfach nicht mehr ertragen und vermied jedes weitere Zusammentreffen mit ihm. Bevor er kam, verließ ich das Haus, und wenn das Telefon klingelte, ging ich nicht mehr ran. Ich wartete darauf, dass die Welle der Scham, die mich überflutet hatte, langsam wieder abebben würde. Er und Kerry waren nur noch kurze Zeit zusammen. Er rief immer seltener an und reagierte auch nicht mehr auf ihre Anrufe. Etwa eine Woche später, nachdem er wieder nach Hull zurückgekehrt war, begann Kerry mit ihrem Studium. Ich war sicher, dass er sie sowieso verlassen hätte. Ich versuchte Entschuldigungen zu finden, die mein Verhalten rechtfertigten, damit ich mich nicht mehr so schlecht zu fühlen brauchte, aber irgendwie gelang es mir nie so recht. Ich weiß nicht, ob Kerry ihm sehr nachtrauerte, ich wollte es auch gar nicht wissen. Ich konnte damals selbst kaum glauben, was passiert war. Und das ging mir noch heute so. Ich hatte es nie jemandem anvertraut. Außer meinem Tagebuch. Es aufzuschreiben war fast so eine Art Therapie gewesen, eine Möglichkeit, es aus meinem Kopf herauszubekommen und in einen Gegenstand zu verwandeln, den ich wegwerfen oder zumindest verstecken konnte. Aber letztendlich brachte ich es nie fertig, mein Tagebuch wegzuwerfen. Das wäre gewesen, als würde ich ein Stück von mir selbst wegwerfen.

Die entscheidende Frage war nun, ob ich damals nur deswegen mit ihm geschlafen hatte, weil er mit meiner älteren Schwester zusammen war. Ich erreichte einen Zaunübertritt und ließ mich darauf nieder. Spürte durch meine Kleidung die Feuchtigkeit des Holzes, spürte die Nässe des Bodens unter meinen dünnen Sohlen. Ich legte den Kopf in meine kalten Hände, presste die Daumen gegen die Ohren, um mich besser in mein Inneres versenken zu können. Denn falls dem tatsächlich so war, was sagte das über meinen Charakter aus? Welch seltsame, hässliche Replik des damaligen Geschehens lief da ab, diesmal aber für alle sichtbar und von allen mitverfolgt? Im Geist hörte ich wieder die gezischten Anweisungen meiner Mutter, die flehenden Worte Troys. Ich sah, wie sie mich alle anstarrten.

Kerrys bleiches Gesicht. Brendans Lächeln.

Eine noch brennendere Frage war, wie es jetzt weitergehen sollte. Ich schlug die Augen auf und erhob mich.

Inzwischen war es dunkel, der mondlose Himmel von Wolken verhüllt. Hier stand ich nun, auf einer abgelegenen Straße, umgeben von Wiesen und Wäldern, und hatte keine Ahnung, was ich als Nächstes tun sollte. Ein Teil von mir wollte einfach nur weglaufen und sich um nichts mehr kümmern müssen. Aber selbst zum Weglaufen brauchte man ein Ziel, man musste entscheiden, auf welcher Straße man in welche Stadt gelangen, wo man essen und in welchem Bett man schlafen wollte …

Am Ende ging ich einfach zu meinem Wagen und fuhr dieselbe Strecke zurück, die ich gekommen war. Ich fror so, dass meine schlecht funktionierende Autoheizung nicht mehr ausreichte, um mich aufzuwärmen. Kurz vor Lauras Wohnung hielt ich an einem Laden an und besorgte Milch, Kakaopulver und Kekse. Als ich die Wohnungstür aufsperrte, hörte ich, dass im Bad gerade jemand Wasser einließ, also beschränkte ich mich darauf, mir eine große Tasse heiße Schokolade zu machen und mich damit auf der Couch niederzulassen. Ich zog die Beine unter den Körper und trank die Schokolade ganz langsam, in kleinen Schlucken, um möglichst lange etwas davon zu haben.

19. KAPITEL

Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und rief in meiner Wohnung an. Brendan ging ran. Mir rutschte das Herz in die Hose, und am liebsten hätte ich sofort wieder aufgelegt, aber Brendan hätte bestimmt herausgefunden, dass ich es gewesen war, und hätte zurückgerufen oder sich sonst was ausgedacht, und alles wäre wieder irgendwie übel ausgegangen. Zumindest für mich. Deswegen sagte ich hallo.

»Geht es dir gut, Miranda?«, fragte er.

»Wie meinst du das?«

»Das Ganze muss sehr schmerzhaft für dich gewesen sein.«

»Und wessen Schuld ist das?«, gab ich zurück und verfluchte mich sofort dafür. Nun war ich in derselben Situation wie ein Boxer, der gerade freiwillig seine Deckung aufgegeben hatte.

Der Schlag ins Gesicht blieb nicht aus.

»Miranda, Miranda, Miranda«, sagte er in schrecklich besänftigendem Ton. »Nicht ich habe Kerry hintergangen, sondern du.«

»Trotzdem hast du gelogen«, erwiderte ich. »Du weißt von der Geschichte, weil du in meinem Tagebuch herumgeschnüffelt hast, aber den anderen gegenüber hast du behauptet, ich hätte es dir erzählt.«

»Spielt es wirklich eine Rolle, wie ich davon erfahren habe?

Vielleicht ist es besser so, Miranda. Geheimnisse sind schlecht für eine Familie. Es kann etwas Reinigendes und Befreiendes haben, wenn sie ans Tageslicht kommen.«

Einen Moment lang fragte ich mich, ob ich im Begriff war, wahnsinnig zu werden. Nicht nur das, was Brendan sagte, verursachte mir einen Brechreiz, nein, ich hatte sogar am Telefon das Gefühl, allein schon von seiner Stimme körperlich verseucht zu werden, als würde sie wie ein kleines schleimiges Lebewesen in mein Ohr hineinkriechen.

»Ich wollte bloß sagen, dass ich morgen kurz vorbeikomme, um ein paar von meinen Sachen abzuholen.« Nach einer kurzen Pause fügte ich hinzu: »Wenn das für euch in Ordnung ist.«

»Weißt du schon, wann?«

Am liebsten hätte ich geantwortet, was denn das für eine Rolle spiele, verkniff es mir aber. Ich wollte mich nicht schon wieder in irgendeine Art von Streit hineinziehen lassen und am Ende als die Dumme dastehen.

»Wenn ich von der Arbeit zurückkomme.«

»Wann wird das ungefähr sein?«

»Schätzungsweise so gegen halb sieben«, antwortete ich.

»Spielt das eine Rolle?«

»Wir sind immer gern vorbereitet, wenn du kommst, Miranda.

Damit wir dich gebührend empfangen können.«

»Ist Kerry da?«

»Nein.«

»Könntest du ihr ausrichten, dass sie mich doch bitte anrufen soll?«

»Natürlich«, antwortete er in liebenswürdigem Ton.

Nachdem ich mit einer ziemlich heftigen Bewegung den Hörer aufgeknallt hatte, sah ich Laura schuldbewusst an. Ihr Telefon zu demolieren war keine besonders gute Art, mich in ihrem Haushalt nützlich zu machen. Sie musterte mich besorgt. Schon wieder erwies sie sich als gute Freundin.

»Was ist los?«, fragte sie.

»Glaub mir, du willst es nicht wissen«, antwortete ich.

»Es ist ein ziemlich beschissenes Gefühl, wenn man einen Termin vereinbaren muss, um seine eigene Wohnung betreten zu dürfen. Tut mir Leid. Erst sage ich, du willst es nicht wissen, und dann erzähle ich es dir doch.« Lächelnd nahm sie mich in den Arm. »Es wird jetzt wirklich Zeit, dass du mit Tony ein paar Kinder in die Welt setzt«, fügte ich hinzu.

»Das ist dir doch hoffentlich klar, oder?«

»Wieso denn das?«

»Weil ich mindestens acht Jahre babysitten muss, um wieder gutzumachen, was du alles für mich getan hast.«

Sie lachte.

»Ich werde darauf zurückkommen«, meinte sie. »Aber Tony gegenüber solltest du das besser nicht erwähnen. Jedes Mal, wenn von Kindern die Rede ist, fällt ihm die Kinnlade herunter.«

Laura und Tony machten sich gerade zum Ausgehen fertig. Sie hatten sich offenbar gestritten, denn Laura war ihm gegenüber sehr kühl und kurz angebunden, und Tony schmollte. Ich würde einen einsamen Sonntagabend in ihrer Wohnung verbringen und mich in meinem Selbstmitleid suhlen. Ich hatte alles schon genau geplant. Erst mal würde ich mir ein paar Gläser Wein genehmigen. Als Abendessen würde es ein Schinken-Avocado-Sandwich mit viel Mayonnaise geben, die Zutaten hatte ich schon vorher besorgt. Dazu noch mehr Wein. Dann würde ich mir ein Bad gönnen und hinterher sturzbetrunken ins Bett fallen.

Zwischendrin standen ein paar Schluchz- und Heuleinlagen auf dem Programm. Wann sie im Einzelnen stattfinden sollten, hatte ich noch nicht entschieden.

Ich muss ausgesehen haben wie ein Kind auf einem Poster, denn plötzlich hörte ich hinter mir leises Gemurmel, dann flüsterte Laura etwas, das ich nicht verstehen konnte, und Tony fragte mich, ob ich nicht mitkommen wolle.

»Was? Ich?«, fragte ich verlegen. Mir war klar, dass ich ihnen Leid tat, und kam mir richtig erbärmlich vor. »Nein, nein. Ich mache mir lieber einen gemütlichen Abend auf der Couch.«

»Nun sei nicht albern«, meinte Laura. »Wir gehen zu einer Party. Es werden jede Menge Leute da sein. Du wirst dich bestimmt amüsieren. Und uns störst du ganz bestimmt nicht.«

Letzteres war eher an Tony gerichtet als an mich. Er wandte sich von ihr ab und warf einen Blick in meine Richtung, wobei er verschwörerisch die Augenbrauen hochzog. Ich tat, als würde ich es nicht bemerken.

»Lieber nicht. Ich bin doch gar nicht eingeladen.«

»Ach was«, gab Laura zurück. »Die Gastgeberin ist eine Freundin von mir, Joanna Gergen. Kennst du sie?«

»Nein.«

»Aber sie kennt dich. Ich hab ihr schon öfter von dir erzählt.«

»Was? Dass ich verrückt bin?«

»Nein, dass du meine beste Freundin bist. Sie gibt eine Hauseinweihungsparty. Das wird bestimmt lustig.«

Sie ließen nicht locker, sodass sie es am Ende doch schafften, mich zu überreden. Ich brauchte dreißig Sekunden, um zu duschen, und weitere fünfundvierzig Sekunden, um in mein schwarzes Kleid zu schlüpfen. Dann saß ich auf dem Rücksitz ihres Wagens und versuchte unter höchst widrigen Umständen, Wimperntusche und Lippenstift aufzutragen.

Joannas Wohnung lag in einer Seitenstraße der Ladbroke Grove und musste ein Vermögen gekostet haben, mindestens …

Ich versuchte, nicht weiter über den Preis nachzudenken, ich befand mich schließlich nicht in der Arbeit. Der Abend sollte mich ja gerade von dem jämmerlichen Leben ablenken, das ich im Moment führte. Joanna, die perfekt gestyltes blondes Haar hatte und ein ausgesprochen verruchtes rotes Kleid trug, wirkte ein wenig überrascht, als sie mich wie ein lästiges Anhängsel hinter Laura und Tony stehen sah.

»Das ist Miranda«, stellte Laura mich vor.

Auf Joannas Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.

»Dann sind Sie also die Frau, die aus ihrer eigenen Wohnung vertrieben worden ist?«, fragte sie.

Laura warf mir einen entschuldigenden Blick zu. »Ich habe Joanna erzählt, dass du meine beste Freundin bist und zurzeit mit ein paar Problemen zu kämpfen hast.«

Es spielte sowieso keine Rolle, und irgendwie brach es das Eis. Joanna geleitete mich hinein und begann mir in allen Einzelheiten zu erklären, was an dem Haus alles verändert worden war und wie lange es gedauert hatte. Offenbar wusste sie auch noch andere Dinge über mich.

Es war eine unerwartet gute Party. Zu der äußerst geräumigen Wohnung gehörte ein schöner Garten, in den man durch eine Terrassentür in der Küche gelangte. Der ganze Garten funkelte, weil überall Marmeladengläser mit Kerzen verteilt waren. Im Wohnzimmer spielte eine Live-Band Salsa, und die Badewanne war randvoll mit Eis und Bierflaschen. Abgesehen von Laura und Tony kannte ich keinen Menschen, was mir aber nichts ausmachte, ganz im Gegenteil. Eine Party mit lauter fremden Menschen zu besuchen ist, als würde man einen Abend auf einem anderen Planeten verbringen. Ich kämpfte gerade mit dem Verschluss einer Flasche, als ein Mann neben mich trat und sie mir aus der Hand nahm. Nachdem er sie mit Hilfe seines Feuerzeugs geöffnet hatte, gab er sie mir wieder zurück.

»Da, bitte«, sagte er.

»Sie sehen aus, als wären Sie jetzt mächtig stolz auf sich«, stellte ich fest.

»Ich bin Callum«, antwortete er, ohne auf meine Bemerkung einzugehen.

Ich betrachtete ihn argwöhnisch. Er war groß und hatte dunkles, krauses Haar. Außerdem trug er eins von diesen merkwürdigen, briefmarkengroßen Bärtchen unter der Unterlippe. Er ertappte mich dabei, wie ich es anstarrte.

»Sie können es gern anfassen, wenn Sie möchten«, erklärte er.

»Gibt es eine Bezeichnung dafür?«, fragte ich.

»Keine Ahnung.«

»Ist es schwierig, so was hinzukriegen?«

»Verglichen womit?«, wollte er wissen. »Mit einer Gehirnoperation?«

»Mit einem normalen Bart.«

»Bis jetzt hatte ich keine größeren Schwierigkeiten damit.«

»Ich heiße Miranda.«

»Ich weiß«, antwortete er. »Sie sind die Frau, die aus ihrer eigenen Wohnung ausgezogen ist.«

»Es ist nicht so aufregend, wie es klingt. Das Ganze ist eine ziemlich jämmerliche und deprimierende Geschichte.«

»So wie sie mir erzählt wurde, klang sie ziemlich komisch«, entgegnete Callum.

»Das mag schon sein«, räumte ich ein. »Aber in Wirklichkeit ist sie ziemlich traurig.«

Obwohl ich mir allmählich vorkam wie Coleridges alter Seemann, schilderte ich ihm die ganze Story. Während ich redete, bugsierte er mich zum Büffet hinüber und drückte mir einen Teller mit Schweinebraten und zwei Sorten Salat in die Hand. Ich hatte die Geschichte inzwischen ja schon mehreren Leuten erzählt, aber seltsamerweise klang sie diesmal tatsächlich komisch, was zum Teil wohl daran lag, dass Callum ungefähr zehn Zentimeter größer war als ich und ihm die ganze Zeit sein krauses Haar in die Stirn fiel, während er mit leicht fragendem Gesichtsausdruck zu mir herunterblickte. Außerdem ist es schwierig, ernst und würdevoll zu bleiben, wenn man gleichzeitig eine Geschichte erzählen, aus einer Flasche trinken, einen Teller halten und obendrein noch von diesem essen soll.

»Das Beste wäre«, erklärte Callum, nachdem ich zu Ende erzählt hatte, »Sie würden sie einfach rauswerfen.«

»Das kann ich nicht«, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen.

»Dann tun Sie doch so, als würden Sie Urlaub machen, nur dass Sie eben nicht im Hotel, sondern zu Hause übernachten. Sie haben jemanden, der auf Ihre Wohnung aufpasst, sodass Sie jeden Tag losziehen und sich in London amüsieren können.«

Unser Gespräch wandte sich nun anderen Themen zu. Er wusste bereits, was ich beruflich machte, und wie die meisten anderen Menschen war er äußerst beeindruckt davon, dass ich mir meinen Lebensunterhalt verdiente, indem ich auf Leitern stieg oder Holzstücke auseinander sägte. Zum Schluss fragte er mich nach meiner Telefonnummer, worauf ich ihm zur Antwort gab, ich hätte keine, das sei doch der Knackpunkt meiner ganzen Geschichte, er habe mir wohl nicht richtig zugehört. Lachend antwortete er, er sei ein Freund von Tony und werde mich dort anrufen.

Ein wenig verlegen stellte ich fest, dass Laura und Tony wohl schon eine ganze Weile in der Nähe gestanden und auf mich gewartet hatten, weil sie allem Anschein nach aufbrechen wollten. Obwohl doch eigentlich ich diejenige war, der es nicht gut ging, schien ich mich auf der Party ihrer Freundin besser amüsiert zu haben als sie selbst. Während der Heimfahrt musste ich wieder an das denken, was Callum gesagt hatte.

»Ich werde sie rauswerfen«, erklärte ich.

Laura wandte sich mit einem fragenden Blick zu mir um.

»Was?«

»Ich habe mich in diesen ganzen Mist so tief reinziehen lassen, dass ich schon gar nicht mehr klar denken konnte«, erklärte ich.

»Doch ab sofort werde ich mich wieder wie ein normaler Mensch benehmen. Ich werde für Kerry und Wiehießernochmal eine andere Lösung finden, und wenn ich die beiden in einem Hotel unterbringen muss!«

»Du kannst aber wirklich noch bei uns bleiben«, sagte Laura.

»Nicht wahr, Tony?«

»Was?«

»Miranda kann doch noch bei uns bleiben, oder?«

»Du bist der Boss.«

»Oh, mein Gott!«

Ich mischte mich ein.

»Nein, ihr wart beide ganz wunderbar. Ich habe nur das Gefühl, in einem Raum eingesperrt zu sein, in dem die Heizung läuft und die Vorhänge zugezogenen sind und irgendwas vor sich hin fault. Ich werde die Vorhänge öffnen und die Fenster aufreißen.«

»Und was machst du mit dem fauligen Ding?«, fragte Laura.

»Das hat wahrscheinlich nur in meiner Einbildung existiert.

Wenn andere Leute glauben, sich seltsam verhalten zu müssen, dann ist das deren Problem. Ich werde von jetzt an wieder mein eigenes Leben leben.«

»Es ist schön, dich so reden zu hören. Woher der plötzliche Sinneswandel?«

Ich lachte.

»Vielleicht war es das Gespräch mit Callum. Ich hatte das Gefühl, mich in einer griechischen Tragödie zu befinden. Dabei ist es wahrscheinlich nur eine Situationskomödie.«

20. KAPITEL

Ich schnürte meine Laufschuhe und trank ein Glas Wasser, ehe ich die Haustür öffnete. Es war halb sieben Uhr morgens, noch dunkel draußen und viel kälter als am Vortag. Auf dem Gehsteig lag Frost, und sämtliche Autofenster waren vereist. Einen kurzen Moment ging mir durch den Kopf, dass mein Vorhaben etwas Masochistisches hatte. Statt mich wie eine mittelalterliche Nonne zu kasteien, sollte ich lieber wieder ins warme Bett gehen

– oder zumindest zurück auf die Ausziehcouch. Rasch schob ich den Gedanken beiseite, zog die Tür hinter mir zu und begann meinen Lauf, der mich durch kleine Nebenstraßen in den Park führen würde.

Ich war schon lange nicht mehr gelaufen. Anfangs fror ich und fühlte mich noch ein wenig steif, aber dann fand ich allmählich meinen Rhythmus, und während ich so dahinjoggte – vorbei am Zeitungshändler, der gerade seine Metallrollläden hochzog, vorbei an der verwaisten Grundschule und der Wertstoffsammelstelle –, wurde die Morgendämmerung langsam vom Tag abgelöst. In den Häusern gingen die Lichter an, die Straßenlampen erloschen, und die ersten Wagen wurden, der Kälte wegen stotternd, angelassen. Der eben noch dunkelgraue Himmel hellte sich zusehends auf und bekam rosafarbene Streifen. Der Briefträger drehte bereits seine Runde.

Eine Frau, die drei riesige Hunde an der Leine führte, eilte an mir vorüber. Ich musste an die Leute denken, die sich gerade im Bett umdrehten und ihren Wecker abstellten, an die Kinder, die sich gähnend streckten und dann noch mal für ein paar Minuten unter ihre Bettdecke kuschelten, an prasselnde Duschen, dampfende Wasserkessel, knuspriges Brot … Und plötzlich überkam mich für einen Moment ein richtiges Glücksgefühl, durch die leeren Londoner Straßen zu laufen, während die aufgehende Sonne einen prächtigen Herbsttag verhieß.

Auf dem Rückweg machte ich kurz Halt und erstand eine Packung Speck und Weißbrot. In der Wohnung rührte sich noch niemand, sodass ich schnell unter die Dusche ging und mich dann anzog. Anschließend füllte ich den Kessel mit Wasser für den Kaffee und machte mich daran, den Speck zu braten. Die Schlafzimmertür ging auf, und Laura streckte verschlafen den Kopf heraus. Mit ihrem zerzausten Haar und den rosigen Wangen sah sie aus wie ein junges Mädchen. Sie schnüffelte und murmelte etwas, das ich nicht verstand.

»Kaffee und Sandwiches mit Speck«, verkündete ich.

»Möchtest du im Bett frühstücken?«

»Es ist Montagmorgen!«

»Ich dachte, wir sollten die Woche gut anfangen.«

»Wie lange bist du denn schon auf?«

»Ungefähr eine Stunde. Ich war joggen.«

»Warum bist du denn auf einmal so schwungvoll und fröhlich?«

»Ich nehme mein Leben wieder in die Hand«, erklärte ich.

»Das ist mein neues Ich.«

»Mein Gott!«, sagte sie und zog den Kopf zurück. Einen Moment später saß sie eingehüllt in einen dicken Bademantel bei mir in der Küche und sah zu, wie ich den Speck zwischen dicke Brotscheiben legte und Milch für den Kaffee heiß machte.

Nachdem ich ihr ein Sandwich gereicht hatte, biss sie vorsichtig ein kleines Stück ab. Ich stürzte mich hungrig auf meines.

»Was hast du denn heute für Pläne?«, fragte sie.

Ich schlürfte meinen Kaffee. Wohlige Wärme breitete sich in meinem Körper aus.

»Mir ist in der Nacht eine Idee gekommen. Ich werde alle Leute anrufen, von denen ich weiß, dass sie sich in der nächsten Zeit eine Weile im Ausland aufhalten wollen. Das sind eine ganze Menge. Viele unserer Kunden lassen irgendwelche Arbeiten an ihren Häusern machen, wenn sie nicht da sind. Ich werde fragen, ob jemand Interesse daran hat, dass ein zuverlässiges Paar in der Zwischenzeit auf ihr Haus aufpasst. Es ist eine Familie mit vielen Haustieren darunter, die sowieso zweimal am Tag gefüttert werden müssen. Vielleicht wären die Leute froh, Kerry und Brendan im Haus zu haben. Ich bin sicher, dass ich jemanden finden werde – das ist viel besser, als Unmengen von Zeitungsannoncen zu durchforsten.« Ich schenkte mir eine zweite Tasse Kaffee ein und griff nach einem weiteren Sandwich.

»Wenn sich die beiden nicht selbst um eine Übergangslösung bemühen, muss ich das eben für sie in die Hand nehmen«, fuhr ich fort. »Dann können Troy und ich uns wie geplant die Wohnung teilen. Außerdem muss ich heute mit Bill ins Reclamation Centre. Danach mache ich meine Buchhaltung, und wenn ich damit fertig bin, fahre ich in meine Wohnung, hol ein paar Sachen und sag den beiden, bis wann sie draußen sein müssen. Das war’s.«

»Puh! Da werde ich ja schon vom Zuhören müde.«

»Ihr seid mich also bald los.«

»Ich hab dich gern hier.«

»Wirklich lieb von dir, aber ich habe trotzdem das Gefühl zu stören. Ich möchte deine Geduld auf keinen Fall überstrapazieren.«

»Soll ich uns heute Abend was Schönes kochen?«

»Ich bring was mit«, antwortete ich. »Curry und Bier.«

Nachdem Laura in die Arbeit aufgebrochen war und ich den Frühstückstisch abgeräumt hatte, schaltete ich die Waschmaschine ein und saugte das Wohnzimmer. Ich nahm mir vor, ein großes Geschenk für Laura zu besorgen, wenn ich ihre Wohnung verließ.

Dann fuhr ich in Bills Büro, das nur ein paar hundert Meter von seinem Haus entfernt lag, und begann herumzutelefonieren.

Die Familie mit den Haustieren hatte bereits jemanden organisiert, der auf das Haus aufpassen würde. Die junge Frau, die in Shoreditch wohnte, wollte niemand Fremden in der Wohnung haben. Das Paar mit dem schönen Wintergarten hatte seine Pläne geändert und würde erst in ein paar Monaten ins Ausland gehen, aber die beiden Männer mit dem kleinen Haus in London Fields waren interessiert. Sie würden mich zurückrufen, sobald sie es miteinander besprochen hatten.

Während ich wartete, begann ich mit der Buchhaltung. Es dauerte nicht lange, bis das Telefon klingelte. Sie würden in acht Tagen nach Amerika aufbrechen, voraussichtlich für drei Monate, möglicherweise aber auch länger, wenn alles gut lief.

Sie hatten eigentlich nicht vorgehabt, sich jemanden ins Haus zu holen, aber nachdem es sich um eine persönliche Empfehlung handelte, hielten sie es eigentlich für eine gute Idee, vorausgesetzt, die neue Küche wurde während ihrer Abwesenheit trotzdem eingebaut, Kerry und Brendan zahlten eine kleine Miete, hielten das Haus sauber und gossen die Dattelpalme und den Orangenbaum im Bad.

»In acht Tagen?«, fragte ich.

»Ja.«

Es handelte sich um ein sehr schönes Haus, viel größer als meine Wohnung und mit einem wunderbaren Blick auf einen Park. Es war mit einem runden Bad und dicken Teppichen ausgestattet, und sobald wir mit dem Einbau fertig waren, konnten Kerry und Brendan auch noch über eine neue Küche mit Edelstahlherd und Ceranfeld, schönen Fliesen und einem riesigen Sonnendach verfügen. Nicht einmal Brendan könnte etwas daran auszusetzen haben. In acht Tagen wäre meine Wohnung wieder frei. Ich würde mein Schlafzimmer gelb streichen und sämtliche Möbel austauschen, die Fenster putzen und alles rauswerfen, was mir nicht mehr gefiel.

»Großartig«, antwortete ich. »Einfach großartig. Sie glauben gar nicht, was für einen Gefallen Sie mir damit tun.«

Sofort rief ich Troy an und erzählte ihm die Neuigkeit. Durchs Telefon hörte ich ihn lächeln.

Ich traf ein wenig früher als angekündigt in meiner Wohnung ein. Es brannte Licht, obwohl ich Kerrys Wagen nirgendwo entdecken konnte. Auf der Straße war es dunkel. Mühsam fummelte ich den Schlüssel ins Schloss und schob die Haustür auf. Ich hoffte, dass niemand da sein würde, aber wenn doch, würde ich ihnen von dem Haus in London Fields erzählen und versuchen, mit Kerry zu reden. Am Tag zuvor hatte ich das Gefühl gehabt, dass sie mir niemals verzeihen würde, aber heute sah die Sache ganz anders aus. Dabei hatte sich eigentlich nichts geändert, außer in meinem Kopf.

Während ich die Treppe hinaufging, stieg mir ein Geruch in die Nase, der mich wütend vor mich hinmurmeln ließ. Es war schon schlimm genug, dass sie mich aus meinem Zuhause vertrieben hatten, da konnte man doch zumindest erwarten, dass sie die Wohnung sauber hielten. Als ich die Tür aufschob, stieß sie gegen etwas, das aber nachgab, als ich ein wenig fester drückte.

Was ich als Erstes sah? Was ich als Erstes fühlte? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich werde es nie wissen. Das alles bildet in meinem Kopf einen dicken, verworrenen Knoten schrecklicher Erinnerungen, von denen ich mich niemals werde befreien können.

Stiefel mit abgestoßenen Spitzen, die ich schon Hunderte von Malen gesehen hatte, nur dass sie diesmal dreißig Zentimeter über dem Boden baumelten, darüber seine Segeltuchhose mit einem Fleck am Knie, in der Taille von einem Gürtel mit Schnalle zusammengehalten. In der Luft hing der Geruch von Kot. Auf dem Boden lag ein umgekippter Stuhl. In meinem Hals steckte wie ein dicker Aal die Angst.

Ich schaffte es nicht hochzublicken. Aber ich musste. Ich musste ihm ins Gesicht sehen. Sein Kopf hing schief, sein Mund stand leicht offen. Ich konnte die Zungenspitze sehen. Um die Lippen war seine Haut bläulich verfärbt. Seine Augen standen offen, starrten ins Leere. Mein Blick fiel auf den Strick, an dem er baumelte.

Vielleicht lebte er ja noch. O Gott, vielleicht lebte er noch.

Bitte, bitte, bitte! So schnell ich konnte, stellte ich den Stuhl auf und sprang hinauf, verlor vor lauter Aufregung fast das Gleichgewicht. Dann presste ich seinen Körper an mich, versuchte ihn anzuheben, damit ihm die Schlinge nicht mehr die Luft abschnürte, und bemühte mich, den Knoten zu lösen, aber meine Finger zitterten zu sehr. Ich spürte sein Haar an meiner Wange, seine kalte Stirn, seinen schlaffen Körper. Trotzdem können Menschen noch leben, auch wenn sie schon tot wirken.

Man liest manchmal von Fällen, in denen jemand wiederbelebt wird, obwohl eigentlich schon gar keine Hoffnung mehr bestand. Aber ich konnte den Knoten nicht lösen, und er war so schwer und roch schon nach Tod. Nach Kot und nach Tod, und seine Haut war kalt.

Ich sprang vom Stuhl, ließ seinen baumelnden Körper dort hängen und raste in die Küche. Das Brotmesser lag in der Spüle.

Ich griff danach und rannte zu Troy zurück. Rasch stieg ich wieder auf den Stuhl, stellte mich auf die Zehenspitzen und begann an der Schnur zu säbeln, während ich erneut versuchte, seinen Körper hochzustemmen. Plötzlich war er frei, und wir stürzten gemeinsam zu Boden. Sein Körper lag auf meinem.

Ich schob ihn von mir herunter und robbte zum Telefon, wählte voller Panik die Notrufnummer.

»Hilfe!«, stieß ich hervor. »Hilfe! Er hat sich aufgehängt! Bitte kommen Sie, und helfen Sie mir! Was soll ich tun?«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung blieb ruhig. Sie stellte mir Fragen, ich stammelte Antworten, und die ganze Zeit lag Troy nur eine Armlänge von mir entfernt. Ich fragte immer wieder: »Aber was soll ich tun, was soll ich tun?«

»Die Notfall-Einsatzkräfte werden so schnell wie möglich bei Ihnen eintreffen«, antwortete die Stimme.

»Soll ich Mund-zu-Mund-Beatmung machen? Wie kann ich sein Herz wieder in Gang bringen? Sagen Sie mir, was ich tun soll!«

Während ich sprach, sah ich zu Troy. Seine Haut war kalkweiß, abgesehen von den blauen Rändern um seine Lippen.

Die Zunge hing ihm ein wenig aus dem Mund. Seine offenen Augen blickten ins Leere. Die Schlinge lag inzwischen ganz locker um seinen Hals, aber dort, wo sie ihn eingeschnürt hatte, war die Haut blutunterlaufen. Mein kleiner Bruder.

»Beeilen Sie sich!«, flüsterte ich ins Telefon. »Beeilen Sie sich!«

Nachdem ich aufgelegt hatte, kroch ich zu ihm zurück. Ich bettete seinen Kopf in meinen Schoß und strich ihm das Haar aus der Stirn. Dann beugte ich mich zu ihm hinunter und küsste ihn erst auf die Wangen, dann auf den Mund. Ich griff nach seiner kalten Hand, legte sie zwischen meine beiden warmen Hände. Ich sah, dass an seinem Hemd ein Knopf offen war, und machte ihn zu. In einer Minute würde ich nach dem Telefon greifen und meine Eltern anrufen. Wie sagte man: »Euer Sohn ist tot!«? Der Gedanke war so entsetzlich, dass ich für einen Moment die Augen schloss.

Als ich sie wieder öffnete, fiel mein Blick auf seinen Pulli, der über der Rückenlehne des Sofas hing. Auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes Buch. An der Wand tickte die Uhr vor sich hin.

Ich betrachtete die Zeiger: fünfundzwanzig Minuten nach sechs.

Wenn es doch nur möglich wäre, sie so weit zurückzudrehen, dass Troy noch nicht mit der Schlinge um den Hals auf den Stuhl gestiegen wäre. Wenn ich doch nur eher gekommen wäre.

Wenn ich, statt eine Käsesemmel zu essen, meine Buchhaltung zu machen und im warmen Büro herumzutrödeln, doch gleich in meine Wohnung gefahren wäre. Ich ließ die Finger durch sein Haar gleiten. Nichts würde jemals wieder sein, wie es war.

Als es an der Tür klingelte, legte ich Troys Kopf ganz sanft zurück auf den Teppich und stand auf, um sie hereinzulassen.

Während sie sich um Troy scharten, griff ich nach dem Telefon.

»Mum«, begann ich. Ohne ihr Zeit zu lassen, sich nach meinem Befinden zu erkundigen oder mir irgendeine von ihren Neuigkeiten zu erzählen, sagte ich: »Hör zu …«

21. KAPITEL

Alles erschien mir zusammenhanglos, verzerrt, in einem seltsamen Licht, wie einer fremden Sprache zugehörig. Meine Wohnung fühlte sich nicht mehr wie die meine an. Mir war, als befände ich mich draußen auf der Straße, kurz nachdem ein Unfall passiert war. Menschen, die nichts mit mir zu tun hatten, liefen ein und aus, darunter drei Personen in grünen Overalls, die sich erst sehr schnell bewegten und einander hektische Anweisungen zuriefen, dann aber plötzlich langsam und still wurden, weil wir alle zu spät gekommen waren und es keinen Grund zur Eile mehr gab. Unter den Menschen, die ein und aus liefen, befanden sich auch ein Polizist und eine Polizistin. Sie mussten ebenfalls sehr schnell eingetroffen sein. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr, konnte aber nicht richtig erkennen, wie spät es war. Ich hatte den Eindruck, als wären die Zahlen zu weit weg und außerdem durcheinander geraten.

Jemand reichte mir eine Tasse mit einer heißen Flüssigkeit, an der ich mir die Lippen verbrannte. Es war ein gutes Gefühl. Ich wollte, dass es wehtat. Ich wollte wieder etwas spüren, aus dieser Taubheit erwachen.

Ich hatte mit meiner Mutter telefoniert. Das war mit das Erste gewesen, was ich getan hatte. Zunächst hatte ich vorgehabt, es ihr schonend beizubringen. So wäre es am besten gewesen. Ich wollte so etwas sagen wie: »Troy geht es sehr schlecht. Sehr, sehr schlecht.« Das hätte es für sie eventuell leichter gemacht, aber ich war dazu einfach nicht in der Lage. Er war zu kalt und tot, seine offenen Augen zu leer. Deswegen konnte ich nur sagen, dass Troy tot sei und sie vielleicht kommen sollten, dass es aber nicht unbedingt nötig sei, weil ich mich auch allein um alles kümmern könne. Ich hörte sie nach Luft schnappen und dann stammelnd Fragen stellen. »Tot? Bist du sicher?« Dann hörte ich nur noch ein Stöhnen. Schließlich meinte sie, sie habe geglaubt, Troy gehe es besser, so was in der Art, aber ich glaube, ich ließ sie nicht ausreden, weil ich mich sowieso nicht auf das konzentrieren konnte, was sie sagte.

Eine Hand legte sich auf meinen Arm, ein weibliches Gesicht schob sich vor meines. Es war eine Polizistin, jünger als ich, mit einem blassen Gesicht und roten Flecken auf den Wangen, die wie Ausschlag aussahen. Sie fragte mich, ob es einigermaßen gehe. Ich nickte. Dann wollte sie Einzelheiten wissen. Troys Namen. Sein Alter. Meinen Namen. Ich spürte, wie die Wut in mir aufstieg. Wie konnten sie mir in einem solchen Moment so blöde Fragen stellen? Dann riss ich mich zusammen, weil mir bewusst wurde, dass diese Fragen nun mal gestellt werden mussten. Ich sah die Situation plötzlich aus dem Blickwinkel dieser jungen Polizistin. Sie machte hier nur ihren Job.

Bestimmt wurde sie ständig zu einem solchen Einsatz gerufen, genau wie die Leute mit der grünen Uniform. Sie taten, was zu tun war, und abends fuhren sie nach Hause und sahen fern. Die Beamtin war wahrscheinlich speziell dafür ausgebildet, mit Menschen wie mir umzugehen. Für sie war ich bloß eine von vielen, mit denen sie sich herumschlagen musste, eine von vielen, für die diese Situation völlig neu war. Wahrscheinlich fragte sie sich gerade, ob ich zu der Sorte gehörte, die Probleme machte. Bestimmt war es mit manchen Menschen sehr schwierig, viele weinten vermutlich, andere waren wie betäubt und konnten nicht sprechen. Und es waren sicher auch welche dabei, die ausflippten oder sogar gewalttätig wurden. Zu welcher Sorte würde ich gehören?

Es würde so vieles zu organisieren sein, dachte ich. Formulare waren auszufüllen, Briefe zu versenden, Verwandte und Bekannte zu informieren. In dem Moment traf es mich wie eine Welle, die durch alle Zellen meines Körpers lief. Ich musste den Mund weit aufreißen und nach Luft schnappen, als wäre in meiner Wohnung plötzlich der Sauerstoff knapp geworden.

Mein Kopf fühlte sich seltsam leicht an, und ich begann zu schwanken. Wieder tauchte der Kopf der Frau vor meinem Gesicht auf.

»Ist Ihnen nicht gut, Miranda?«, erkundigte sie sich, während sie mir die Tasse aus der Hand nahm. Ein Teil der heißen Flüssigkeit war bereits auf meiner Hose gelandet. Einen Moment lang hatte ich die Hitze auf meiner Haut gespürt, aber inzwischen waren die Flecken kalt. »Miranda? Ist Ihnen schlecht?«

Ich sagte nur: »Geht schon«, weil ich ihr nicht vermitteln konnte, wie ich mich wirklich fühlte, nachdem mich gerade die schreckliche Erkenntnis getroffen hatte, dass dies das Ende von Troys Geschichte war. Mir schwirrte der Kopf vor lauter Erinnerungen an ihn: Ich sah ihn als kleinen Jungen vor mir, wie er am Strand auf einer Sandburg thronte. Wie er als Schulanfänger mit einer Zahnlücke nach Hause kam, nachdem er beim Spielen auf dem Pausenhof gegen einen Zaun gerannt war. Wie er jedes Mal auf seiner Unterlippe herumbiss, wenn er zeichnend oder malend über ein Blatt Papier gebeugt saß. Ich erinnerte mich an seine guten Phasen, wenn er seine Lachanfälle hatte und wie ein Besessener auf dem Boden herumtollte oder wenn seine Augen zu funkeln begannen, weil er vor neuen Ideen nur so sprudelte und gar nicht wusste, von welcher er zuerst erzählen sollte. Und an die anderen, weitaus häufigeren Phasen, wenn er apathisch auf seinem Bett lag und dreinblickte wie drei Tage Regenwetter und keiner von uns an ihn herankam. Seine langen, zarten weißen Finger und seine großen Augen, die manchmal fast zu groß für sein Gesicht zu sein schienen. All die Gespräche, die in seiner Abwesenheit über ihn geführt wurden, das Problemkind Troy. Das war mir aus meiner Jugendzeit mit am deutlichsten in Erinnerung geblieben: der gequälte Gesichtsausdruck meiner Mutter, wenn sie ihn ansah. Was sollen wir bloß mit Troy machen? Sie hatten so vieles versucht.

Sie waren mit ihm zum Arzt und zum Therapeuten gegangen.

Sie hatten versucht, ihm seine Ruhe zu lassen, ihm Mut zu machen, wenn es ihm schlecht ging. Sie hatten es mit Drohungen versucht, mit Schreien und Weinen. Zeitweise hatten sie auch versucht, so zu tun, als wäre alles ganz normal.

Tausende von Erinnerungen wirbelten durch meinen Kopf, unzählige Bruchstücke von Geschichten. All die Wege von all diesen Erinnerungen führten in meine Wohnung, zu einem Strick und einem Balken und diesem Ding auf meinem Boden, das Troy war und zugleich nicht mehr Troy, und um das sich nun fremde Leute scharten.

Wieder erschien das Gesicht der Polizistin vor mir. Sie hielt einen ganzen Berg Papiertaschentücher in der Hand. Erst jetzt merkte ich, dass ich hemmungslos vor mich hin schluchzte und die Leute in meiner Wohnung mich verlegen anstarrten. Ich versteckte mein Gesicht hinter den Taschentüchern, wischte die Tränen weg und putzte mir die Nase. Ich konnte einfach nicht aufhören zu weinen. Wir hatten versagt, wir hatten alle versagt.

Es war, als hätten wir mein ganzes Leben lang zugesehen, wie Troy langsam ertrank. Wir hatten dieses und jenes unternommen, wir hatten geredet, uns Sorgen gemacht, uns immer wieder überlegt, wie wir ihm helfen könnten, aber am Ende hatte alles nichts genützt, er war trotzdem untergegangen.

Allmählich ließ mein Schluchzen nach. Ich fühlte mich seltsam leer, wie ausgepresst.

Die Polizistin sagte mir, dass sie Vicky Reeder heiße. Neben ihr stand ein Mann im Anzug, den sie mir als Detective Inspector Rob Pryor vorstellte. Er bat mich, ihm zu berichten, wie ich Troy gefunden hatte. Ich war überrascht über die Ruhe und Präzision, mit der ich ihm antwortete. Während ich sprach, nickte er immer wieder. Alles, was ich zu sagen hatte, lag ohnehin auf der Hand. Danach nahmen er und ein Mann in Uniform den Balken in Augenschein, auf den ich in meiner Aufregung überhaupt nicht geachtet hatte. Als der Detective zu mir zurückkam, sprach er in leisem, respektvollem Ton, als wäre er nicht Polizist, sondern Leichenbestatter. Mir wurde bewusst, dass ich nun zu einer ganz besonderen Spezies gehörte, und zwar der der Hinterbliebenen, die dem normalen Leben vorübergehend ein Stück entrückt sind und mit Respekt, ja sogar einer gewissen Ehrerbietung behandelt werden müssen. Er erklärte mir, dass sie nun Troys Leiche wegbringen würden. Das könnte mich unter Umständen aufregen, fuhr er fort, und vielleicht wolle ich lieber für ein paar Minuten in ein anderes Zimmer gehen. Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte alles sehen.

Ich zwang mich, Troy anzuschauen. Er trug seine khakifarbene Hose und einen marineblauen Pulli, dazu seine alten Stiefel, die mir so vertraut waren. Über ihren Rand sah ich seine fröhlichen rot-blau gestreiften Socken hervorspitzen. Ich musste daran denken, wie er sie am Morgen angezogen hatte. Ob er da schon gewusst hatte, dass er sie nie wieder ausziehen würde? Stand sein Entschluss da schon fest, oder war es aus einem spontanen Impuls heraus geschehen? Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn ich ihn nachmittags noch einmal angerufen und ausgiebig mit ihm geplaudert hätte? Ich musste aufhören, solche Sachen zu denken. Er war mein Bruder, er war in meiner Wohnung gestorben, und ich war nicht da gewesen. Ich fragte mich, was ich wohl in dem Moment getan hatte, als der Stuhl umgekippt war und er jene letzten Sekunden in der Luft zappelte. Nein. Ich musste aufhören, mich mit solchen Gedanken zu quälen.

Einer der Sanitäter rollte neben Troy einen großen Plastiksack auseinander. Das Ding sah aus wie ein überdimensionales Federmäppchen. Ein anderer der Männer blickte verlegen zu mir auf, als wäre er im Begriff, etwas sehr Ungehöriges zu tun. Es war für mich in der Tat ein schlimmer Augenblick. Sie fassten ihn an Füßen und Schultern und hievten ihn auf den Plastiksack.

Es dauerte eine Weile, bis sie ihn richtig darin verstaut hatten.

Anschließend mussten sie noch das lose Ende der Schnur hineinschieben, die er um den Hals hatte. Dann wurde der große Reißverschluss zugezogen. Nun konnte er in den Krankenwagen transportiert werden, ohne dass die Öffentlichkeit über seinen Anblick erschrak.

In dem Moment hörte ich draußen Stimmen, und meine Eltern kamen zur Tür herein. Sie blickten sich um, als wären sie gerade aufgewacht und wüssten noch nicht so recht, wo sie sich befanden oder was gerade passierte. Sie wirkten beide um Jahre gealtert. Mein Vater war im Anzug. Anscheinend kam er direkt von der Arbeit und hatte nur einen Zwischenstopp eingelegt, um meine Mutter abzuholen. Mums Blick fiel auf den Plastiksack.

Das war wieder einer der besonders schlimmen Momente. Sie wirkte geschockt und ungläubig, als könnte sie die brutale Realität des Ganzen noch gar nicht fassen. Nachdem der Detective sich vorgestellt hatte, entfernten sich er und mein Vater ein paar Schritte und sprachen leise miteinander. Ich empfand ein Gefühl der Erleichterung. Nun konnte ich wieder Kind sein. Mein Dad würde sich um alles kümmern. Ich brauchte niemanden anzurufen und keine Formulare auszufüllen, meine Eltern würden diese Dinge erledigen.

Meine Mutter kniete neben dem Bündel nieder, das einmal Troy gewesen war. Ganz sanft legte sie ihre Hand auf die Stelle, wo sich seine Stirn befinden musste. Ich sah, dass sie die Lippen bewegte, konnte aber nichts hören. Sie blinzelte ein paarmal, stand dann auf und kam zu mir. Mir fiel auf, dass sie nicht über Troys Körper stieg, sondern umständlich um ihn herumging.

Dabei ließ sie ihn keine Sekunde aus den Augen, als wäre er ein Abgrund, in den sie fallen könnte. Nachdem sie einen Stuhl herangezogen hatte, setzte sie sich neben mich und nahm meine Hand, sah mich aber nicht an. Als die Sanitäter schließlich das Bündel hochhoben, blickte ich zu meiner Mutter hinüber. Sie weinte nicht, aber ich sah, dass ihr Mund zitterte.

Mein Vater verabschiedete sich von Rob Pryor, als hätte ihm der Detective Inspector geholfen, einen Reifen zu wechseln. Ich beobachtete, dass Pryor etwas auf ein Stück Papier schrieb und es meinem Vater reichte, dann gaben sie sich die Hand. Pryor ging, ebenso alle anderen, und wir blieben allein zurück. Ein seltsames Gefühl. War es das nun gewesen? Die Behörden hatten ihre Schuldigkeit getan, sie waren gekommen und hatten Troy mitgenommen, ihn irgendwo hingebracht. Und wir? Was sollten wir jetzt tun? Wollten sie denn nichts mehr von uns?

Mussten wir nicht noch irgendwelche Pflichten erfüllen? Ich hatte mit meinen Eltern bis jetzt kein Wort gesprochen.

»Troy«, sagte ich schließlich und schwieg dann wieder. Es gab nichts zu sagen und gleichzeitig doch so vieles.

Ich rechnete irgendwie damit, dass meine Mutter nun wie ich zuvor in Tränen ausbrechen würde, sodass ich sie in den Arm nehmen konnte und uns das Reden oder Denken noch eine Weile erspart bleiben würde, aber sie starrte bloß weiterhin verwirrt vor sich hin. Mein Vater kam zu uns und ließ sich mir gegenüber nieder. Er machte einen sehr ruhigen Eindruck.

»Kam das überraschend?«, fragte er.

Am liebsten hätte ich geschrien: Ja, verdammt noch mal, natürlich kam das überraschend. Aber dann musste ich daran denken, dass meine Eltern gerade ein Kind verloren hatten, und sagte bloß: »Ja.«

»Hat es irgendwelche Anzeichen gegeben, die wir hätten erkennen müssen?«

»Wir haben doch sein ganzes Leben lang Anzeichen gesehen«, antwortete ich. Sein ganzes Leben lang. Die Bedeutung dieser Worte hatte sich verändert. Mum begann wie im Schlaf zu reden. Sie sprach über Troys Zustand während der letzten Wochen, dass es ihm schlecht gegangen sei, sie aber trotzdem geglaubt habe, dass es insgesamt besser geworden sei. Er habe doch früher schon wesentlich schlimmere Phasen durchgemacht und sich immer wieder gefangen. Sie habe sich bereits den Kopf zermartert, ob es irgendein Signal oder Anzeichen gegeben habe, aber ihr falle nichts ein. Dann sprach sie über die Vergangenheit, als Troy noch jünger war. Es handelte sich dabei nicht um wehmütige oder nostalgische Erinnerungen. Das würde später kommen, dafür hatten wir noch den Rest unseres Lebens Zeit. Nein, sie sprach darüber, was sie alles für ihn getan und wie sie sich nach jedem gescheiterten Versuch gefragt hatten, ob sie es irgendwie anders hätten machen sollen. Aus ihren Worten sprach weder Selbstmitleid noch Bitterkeit, sondern echte Neugier, als könnten ich oder mein Vater ihr eine Antwort geben, die sie zufrieden stellen würde.

Dad wirkte auf eine verrückte Weise geschäftsmäßig.

Nachdem er Tee gemacht hatte, suchte er sich ein Stück Papier und einen Stift und begann aufzulisten, was alles zu tun war: Leute mussten informiert werden, vieles war zu organisieren.

Am Ende war eine ganze Seite mit seiner ordentlichen, geraden Handschrift bedeckt.

Nach all dem Schrecken nun auch noch diese seltsame Situation: Wir saßen zu dritt in meiner Wohnung, meine Mutter noch im Mantel, mein Vater mit seiner Liste. Es gab so viel zu erledigen, aber niemand machte Anstalten, etwas zu tun. Keiner wollte etwas essen, keiner irgendwohin fahren. Es gab eine Menge Leute, die davon erfahren mussten, aber das hatte noch Zeit. Es war, als müssten wir erst noch eine Weile hier zusammensitzen und das Geheimnis für uns behalten, ehe wir es in die Welt hinausposaunten. Ich war noch immer ganz erfüllt von der Schrecklichkeit des Geschehenen, so, als hätte ich die Finger in eine Steckdose gesteckt und würde nun immer wieder von neuem spüren, wie der Strom durch meinen Körper pulsierte.

Auf diese Weise vergingen Stunden, und es war schon kurz vor neun, als wir draußen auf der Treppe plötzlich jemanden reden und lachen hörten. Wenige Augenblicke später platzten Kerry und Brendan in den Raum. Sie wirkten überrascht, uns zu sehen.

»Was verschafft uns die Ehre?«, fragte Brendan mit einem Lächeln.

22. KAPITEL

Es war feucht und unnatürlich warm. In weniger als vier Wochen würde Weihnachten sein. In sämtlichen Hauptstraßen der Innenstadt hing schon die Weihnachtsdekoration: Santa Claus, Glocken, Disneyfiguren. In den Schaufenstern funkelten Lametta und anderes Glitzerzeug. Vor den Obst- und Gemüseläden lehnten die ersten verschnürten Christbäume.

Stechpalmenkränze zierten so manche Tür in meiner Straße. Die Tiefkühltruhen der Supermärkte waren voll gestopft mit Truthähnen, die Regale gefüllt mit Knallbonbons, Früchtebrot, Adventskalendern, abgepackten Datteln, riesigen Pralinenschachteln, Flaschen mit Portwein und Sherry, kleinen Körbchen mit Badesalz und Seifen, CDs mit Weihnachtsmusik, heiteren Büchern und billigen kleinen Geschenken für den Weihnachtsstrumpf. Vor Woolworth’s spielte eine Blaskapelle

»O Little Town of Bethlehem«. Frauen in dicken Mänteln klapperten in der Kälte mit Sammelbüchsen.

Was würden wir Weihnachten machen? Würden wir im halb abgerissenen Haus meiner Eltern einen Christbaum aufstellen?

Oder gar in meinem Wohnzimmer, wo sich vor neun Tagen mein Bruder Troy umgebracht hatte? Würden wir alle um einen Tisch herumsitzen und Truthahn mit Maronifüllung, Rosenkohl und Bratkartoffeln essen? Würden wir Knallbonbons aufziehen, uns alberne Hüte über den Kopf stülpen und einer nach dem anderen die Witze vorlesen? Konnten wir überhaupt irgendwie Weihnachten feiern, ohne dass es grotesk wirkte? Wie kann man jemals wieder zur Normalität übergehen, wenn etwas Derartiges passiert ist?

Zu Troys Beerdigung erschienen nicht allzu viele Leute. Er war ein einsamer Junge und ein eigenbrötlerischer junger Mann gewesen. Der Kontakt zu seinen wenigen Schulfreunden war abgerissen, nachdem er mit der Schule aufgehört hatte, auch wenn ein paar von ihnen mit dem stellvertretenden Direktor und Troys altem Physiklehrer auftauchten. Seine Privatlehrerin kam auch, außerdem mehrere Freunde der Familie, die Troy von klein auf gekannt hatten. Natürlich waren auch Bill, Judy und die Kinder da, ebenso Mums Schwester Kath, die mit ihrer Familie aus Sheffield angereist war, und ein paar andere Verwandte sowie Carol, eine Freundin Kerrys, außerdem noch Tony und Laura.

Und natürlich wir: Mum und Dad, ich und Kerry. Und Brendan. Brendan sah leidgeprüfter aus als wir alle, er hatte rote Augen und einen leichten Bluterguss an der Stirn, der sich langsam gelblich verfärbte. Sogar ich musste zugeben, dass er während der letzten Woche wundervoll gewesen war: unermüdlich, unverzichtbar, ein Fels in der Brandung.

»Wundervoll« in Anführungszeichen. Hinter Brendan steckte mehr, als ich zunächst gesehen hatte. Ich begriff es nicht so ganz, was auch immer »es« war, aber er war gut darin.

Ideenreich, energisch, aufmerksam, überzeugend, kooperativ, immer auf die Bedürfnisse und Gefühle der anderen achtend. Er hatte feine Antennen für das, was die Leute um ihn herum gerade brauchten.

Er hatte angeboten, sich um alles zu kümmern, was im Zusammenhang mit der Beerdigung zu tun war, um der Familie diese Bürde abzunehmen, aber Mum hatte ihm ruhig erklärt, dass es ihr helfe, eine Aufgabe zu haben. Er hatte den Telefondienst übernommen, Formulare ausgefüllt, kannenweise Tee gekocht, Einkäufe erledigt, seine und Kerrys Sachen ins Haus meiner Eltern zurückgeschafft, damit ich wieder in meine Wohnung konnte. In nur zwei Tagen würden sie in das Haus ziehen, das ich für sie organisiert hatte.

Eine Woche nach Troys Tod sprachen wir über die Hochzeit.

Kerry wollte sie verschieben, aber meine Eltern meinten, Liebe sei das Einzige, was uns durch diese schlimme Zeit retten könne. Brendan nickte dazu, streichelte Kerrys Hand und sagte in weisem, nachdenklichem Ton: »Ja, die Liebe wird uns retten.« Dabei leuchteten seine Augen. Zu einer anderen Zeit hätte mich das in den Wahnsinn getrieben. Mir war zwar immer noch bewusst, wie pathetisch seine Worte klangen, aber ich fühlte mich viel zu benommen, um mich darüber aufzuregen.

»Hier, ich habe was für dich, das ist besser als Tee.«

Bill drückte mir ein Glas Whisky in die Hand und stellte sich neben mich, während ich gleich einen großen Schluck nahm.

Wir waren alle zusammen ins Haus meiner Eltern zurückgekehrt und standen nun in ihrem zugigen Wohnzimmer herum, tranken Tee und wussten nicht so recht, worüber wir reden sollten. Was sagt man nach einem solchen Ereignis?

»Danke.«

»Geht es dir gut?«

»Ja.«

»Blöde Frage. Wie sollte es dir nach alledem gut gehen?«

»Wenn er durch einen Unfall gestorben wäre oder durch eine Krankheit oder sonst was, dann wäre es etwas anderes gewesen, aber so …« Ich brauchte den Satz nicht zu Ende zu sprechen.

»Marcia wird sich den Rest ihres Lebens fragen, was sie falsch gemacht hat.«

»Ja.«

»Das scheint bei einem Selbstmord immer so zu sein. Tatsache ist, dass sie alles in ihrer Macht Stehende getan hat. Das habt ihr alle.«

»Nein. Er hätte sich nicht umbringen dürfen.«

»Nein, natürlich nicht.«

»Ich meine, ich begreife es einfach nicht. Mum sagt, dass sie das Gefühl gehabt habe, er sei auf dem Weg der Besserung gewesen. Und es war wirklich so, Bill. Es hat tatsächlich so ausgesehen, als würde es ihm langsam besser gehen.«

»Man kann in einen Menschen einfach nicht hineinsehen.«

»Ja, so ist es.«

Ich nahm einen weiteren großen Schluck Whisky.

»Er war ein unglücklicher junger Mann.«

»Ja.«

Ich musste an Troys Kicheranfälle denken. Er hatte oft blöde Witze gerissen und dann grinsend zu mir hochgeblickt. Die ganze Zeit hatte ich sein Gesicht vor Augen, wie es in seinen glücklichen Phasen aussah, wenn er vor Energie nur so sprühte.

Bill schenkte mir noch mal nach und ging dann mit der Whiskyflasche zu Dad. Ich wanderte aus dem überfüllten Wohnzimmer zu der Baustelle, die einmal die Küche gewesen war, und dann durch das Loch in der Wand, wo sich einst die Tür befand, nach draußen in den vom Regen aufgeweichten Garten. Herausgerissene, gesplitterte Bodendielen und Stücke der alten Küchenelemente stapelten sich entlang des Zauns. Ich lehnte mich gegen ein altes Regalteil und sah mich um. Es war leicht neblig, alle Umrisse wirkten eine Spur verschwommen, aber vielleicht lag das auch am Whisky. Nach meinem Gespräch mit Bill befand ich mich in einem Zustand, in dem ich für alle Zweifel offen war. Dabei hatte die Autopsie eindeutig Selbstmord durch Erhängen ergeben. Ich rief mir das Gespräch mit Troy an jenem Morgen ins Gedächtnis. Ich hatte ihn angerufen, um ihm von dem Haus zu erzählen, das ich für Brendan und Kerry gefunden hatte, und wir hatten über unsere Pläne gesprochen. Er hatte sich ein wenig müde, ansonsten aber relativ fröhlich angehört. Ich hatte ihm gesagt, wie sehr ich mich darauf freute, die Wohnung mit ihm zu teilen, worauf er leicht verlegen geantwortet hatte, er freue sich auch. Meine brennenden Augen füllten sich erneut mit Tränen, obwohl ich geglaubt hatte, völlig leer geweint zu sein. Ich musste daran denken, wie Brendan mich am Vortag gefragt hatte, um welche Zeit ich denn in die Wohnung kommen würde, um meine Sachen abzuholen, und ich geantwortet hatte, so gegen halb sieben. Ich zwang mich, mich daran zu erinnern, wie ich um die vereinbarte Zeit die Tür aufgeschoben und Troys Leiche dort baumeln gesehen hatte. Sein kalkweißes Gesicht und seine starren Augen. Den umgekippten Stuhl zu seinen Füßen.

Ich schalt mich selbst hysterisch. Verrückt. Ich wünschte mir so sehr, dass Troy sich nicht umgebracht hatte und meine Eltern und ich uns wegen seines Todes nicht schuldig fühlen mussten, und mir graute so sehr davor, mir die Verzweiflung vorzustellen, die ihn zu dieser Tat getrieben hatte, dass ich mir stattdessen lieber Horrorgeschichten ausdachte.

Es begann ein wenig zu regnen. Ich leerte meinen Whisky und kehrte ins Wohnzimmer zurück, blieb aber in der Nähe der Tür stehen, weil es mir widerstrebte, mit jemandem über Troy zu sprechen, ich zugleich aber auch über nichts anderes sprechen wollte. Kerry hatte sich bei meinem Vater untergehakt. Ihre Wimperntusche war verschmiert, und sie hatte rote Flecken am Hals. Brendan stand allein auf der anderen Seite des Raums.

Unsere Blicke trafen sich einen Moment, dann sah er wieder weg und verzog gequält das Gesicht. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass er das nur für mich inszenierte, ein Schauspiel ganz allein für mich. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Er ballte eine Hand zur Faust, presste sie an den Mund und krümmte sich dabei zusammen, als müsste er einen Schrei unterdrücken.

Laura ging zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

Sie blieb eine Weile neben ihm stehen, während sein massiger Körper zuckte, als würde er von einem Weinkrampf geschüttelt.

Als er sich schließlich wieder aufrichtete, nahm sie ihre Hand weg, und die beiden redeten miteinander. Nach einer Weile sah ich sie zu mir herüberblicken.

Ich wandte mich ab und ging nach oben, um meine Mutter zu suchen, die ich nirgendwo entdecken konnte. Ich fand sie in Troys altem Zimmer – das wohl jetzt das Zimmer von Kerry und Brendan war, zumindest standen ihre Taschen neben der Tür.

Sie saß auf seinem Bett, zupfte an der Bettwäsche herum und starrte müde ins Leere. Zum ersten Mal fiel mir auf, was für Tränensäcke sie bekommen hatte und wie alt und faltig ihr Gesicht geworden war. Sogar ihr Haar hatte an Glanz verloren.

Ich setzte mich neben sie und legte ihr eine Hand aufs Knie. Sie blickte auf.

»Ich musste mich mal kurz zurückziehen«, erklärte sie.

»Das ist doch verständlich«, antwortete ich.

»Irgendwie fühle ich mich so rastlos«, fuhr sie fort. »Ich halte es nirgendwo lange aus.«

»Ich weiß, was du meinst.«

»Miranda?«

»Ja.«

»Er war auf dem Weg der Besserung. Ganz bestimmt.«

»Ich weiß.«

Ich blieb noch eine Weile neben ihr sitzen, dann ging ich wieder nach unten, wo sich bereits einige verabschiedeten, und sah mich nach der Whiskyflasche um.

Laura brachte mich nach Hause, weil ich viel zu viel Whisky getrunken hatte, um noch selbst fahren zu können. Sie begleitete mich nach oben in meine Wohnung, half mir aus dem Mantel, bugsierte mich aufs Sofa und zog mir die Schuhe aus.

»So«, sagte sie. »Was möchtest du: Tee oder Kaffee?«

»Es wäre doch schade um den schönen Rausch«, entgegnete ich. »Whisky?«

»Kaffee«, erklärte sie energisch. »Und ich lasse dir ein Bad einlaufen.«

»Das ist nett von dir. Musst du aber nicht. Ich komme schon klar.«

»Ich mache es gern.«

Sie füllte den Kessel mit Wasser.

»Wir wollten uns diese Wohnung teilen«, bemerkte ich.

»Ich weiß. Möchtest du etwas essen?«

»Ich habe einen schrecklichen Geschmack im Mund«, antwortete ich. »Was hat Brendan denn gesagt?«

»Gesagt?« Sie sah mich fragend an.

»Du hast dich doch mit ihm unterhalten. Nachdem er seine Tränenshow abgezogen hatte.«

»Das ist nicht fair, Miranda.«

»Ach nein?«

»Er ist am Boden zerstört, möchte es vor euch aber nicht zeigen. Er glaubt, für die Familie stark sein zu müssen.«