Nicci French

Der falsche

Freund

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Eine kurze Liebesaffäre entwickelt sich zu einem mörderischen Alptraum: Mirandas neuer Freund schleicht sich in ihr Leben, spioniert sie aus, verfolgt sie, verbündet sich mit ihrer Familie. Sie warnt ihre Liebsten vor dem Psychopathen, doch alle halten Miranda für krankhaft eifersüchtig und hysterisch. Erst als ihr kaum noch Luft zum Atmen bleibt, schlägt sie mit dem Mut der Verzweiflung zurück.

Nicci French mit dem beklemmenden Psychogramm einer totalen Kontrolle –

die Geschichte einer tödlichen Obsession.

ISBN: 3-570-00751-0

Original: Secret Smile

Deutsch von Birgit Moosmüller

Verlag: C. Bertelsmann

Erscheinungsjahr: 1. Auflage 2004

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

Buch

Miranda verliebt sich schnell und lässt auch schnell wieder los.

Selbstbewusst entscheidet sie in der Liebe und im Job. Als sie an diesem Nachmittag nach Hause kommt, ist ihr neuer Liebhaber Brendan schon da. Ungeniert liest er in ihren Tagebüchern. Sie wirf ihn hinaus – und zurück bleibt allenfalls ein schaler Nachgeschmack. Zwei Wochen später stellt Mirandas Schwester Kerry ihr verliebt und überglücklich ihren neuen Freund vor. Es ist Brendan. Die Familie erliegt seinem Charme. Nur Miranda hat ein ungutes Gefühl. Brendan schmeichelt und lügt, präsentiert sich als Kerrys Bräutigam und macht Miranda obszöne Angebote. Niemand außer Miranda scheint etwas zu bemerken. Wie eine Klette hängt er sich an sie, drängt sich unaufhaltsam in ihr Leben, stiehlt das Vertrauen ihrer Freunde und untergräbt ihr Selbstvertrauen. Dann kommen ihr Bruder und ihre beste Freundin unter mysteriösen Umständen ums Leben. Miranda ist überzeugt, dass Brendan seine Finger im Spiel hat. Niemand glaubt ihr. Hilflos muss sie zusehen, wie Brendan sie immer mehr isoliert. Doch erst, als sie kaum noch Luft zum Atmen hat, schlägt sie mit dem Mut der Verzweiflung zurück …

Autor

Hinter dem Namen Nicci French verbirgt sich ein Ehepaar: die Journalistin Nicci Gerrard und der Schriftsteller Sean French.

Seit Jahren schreiben sie zusammen höchst erfolgreiche Psychothriller. Mit »Höhenangst« oder »Der Sommermörder«

haben sie auch in Deutschland die Bestsellerlisten erobert. Sie leben mit ihren Kindern zurückgezogen im Süden von London.

FÜR PATRICK UND NORMA

1. KAPITEL

Ich träume neuerdings immer wieder den gleichen Traum, und jedes Mal kommt es mir vor, als wäre der Traum Realität. Ich bin wieder auf der Schlittschuhbahn, an jenem Nachmittag, als ich Brendan kennen lernte. Ich spüre die Kälte auf meinem Gesicht, ich höre das Kratzen der Kufen auf dem Eis, und dann sehe ich ihn. Er schaut mit diesem seltsamen, für ihn so typischen Blick zu mir herüber, als würde er mich zwar irgendwie wahrnehmen, gleichzeitig aber an etwas anderes denken. Mir fällt jedes Mal von neuem auf, dass er gut aussieht, wenn auch auf eine Art, die wahrscheinlich nicht jeden ansprechen würde: Sein Haar ist so glänzend schwarz wie das Gefieder eines Raben, sein Gesicht oval. Er hat ausgeprägte Wangenknochen und ein markantes Kinn. Seine Miene wirkt amüsiert, als hätte er einen Witz vor allen anderen begriffen.

Das gefällt mir an ihm. Wieder sieht er mich an, diesmal genauer, und dann kommt er herüber, um hallo zu sagen. Und in meinem Traum denke ich: Gut. Ich bekomme eine zweite Chance. Es muss nicht passieren. Diesmal kann ich es beenden, bevor es überhaupt richtig angefangen hat.

Aber ich tue es nicht. Ich lächle über das, was er zu mir sagt, und antworte etwas. Was ich sage, weiß ich nicht, ich kann die Worte nicht hören, aber es muss etwas Lustiges sein, denn Brendan lacht und erwidert etwas, woraufhin ich ebenfalls lache. Und so geht es weiter, hin und her. Wir sind wie Schauspieler in einer schon lange laufenden Fernsehserie; wir können unseren Text im Schlaf, und ich weiß genau, was mit diesem Jungen und diesem Mädchen passieren wird. Sie kennen sich noch nicht, aber er ist ein Freund eines Freundes von ihr, weshalb es sie beide wundert, dass sie sich noch nicht über den Weg gelaufen sind. In diesem Traum, von dem ich gleichzeitig weiß und nicht weiß, dass es ein Traum ist, versuche ich mir selbst Einhalt zu gebieten. Eine Schlittschuhbahn ist ein guter Ort zum Kennenlernen, vor allem, wenn weder der Junge noch das Mädchen Schlittschuh laufen können. Das bedeutet nämlich, dass sie sich aneinander lehnen müssen, um sich gegenseitig zu stützen. Der Junge ist fast gezwungen, den Arm um das Mädchen zu legen, und als die beiden trotzdem auf dem Eis landen, helfen sie einander auf und lachen über ihr gemeinsames Missgeschick. Hinterher hilft der Junge dem Mädchen beim Ausziehen der Schlittschuhe, deren Schnürsenkel gefroren sind, und sie legt dabei ihren Fuß auf seinen Schoß, weil es auf diese Weise leichter geht. Als sich die Gruppe aufzulösen beginnt, ist es nur normal, dass er das Mädchen nach seiner Telefonnummer fragt.

Zu ihrer eigenen Überraschung zögert sie kurz. Es hat Spaß gemacht, aber kann sie so etwas im Moment überhaupt gebrauchen? Sie betrachtet den Jungen. Seine Augen glänzen von der Kälte, und er lächelt sie erwartungsvoll an. Da fällt es ihr leichter, ihm die Nummer zu geben, auch wenn ich schon die ganze Zeit schreie, dass sie es nicht tun soll. Aber es ist ein stummes Schreien, und das Mädchen bin ja sowieso ich, bloß dass sie noch nicht weiß, was passieren wird – ich aber schon.

Ich frage mich, wie es kommt, dass ich es bereits weiß. Ich weiß, sie werden zweimal miteinander ausgehen – auf einen Drink, ins Kino – und dann, auf ihrem Sofa, wird sie denken: Na ja, warum eigentlich nicht? Und deswegen denke ich, dass gerade mein Wissen um das, was passieren wird, bedeutet, dass ich nichts daran ändern kann, kein noch so kleines Detail. Ich weiß, dass sie noch zweimal miteinander schlafen werden. Oder dreimal? Immer in der Wohnung des Mädchens. Nach dem zweiten Mal entdeckt sie eine fremde Zahnbürste neben ihrer eigenen. Einen Moment lang ist sie ziemlich perplex. Darüber wird sie erst noch nachdenken müssen. Sie wird nicht viel Gelegenheit dazu haben, denn am nächsten Nachmittag wird ihr die Entscheidung abgenommen. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt

– wenn das Mädchen nach Hause kommt und die Tür ihrer Wohnung öffnet – wache ich auf.

Nach Wochen grauen Nieselregens endlich wieder ein schöner Herbstnachmittag: ein leuchtend blauer Himmel, der erst jetzt gegen Abend ein wenig von seiner Intensität zu verlieren begann, dazu ein scharfer Wind, der bunte Blätter von den Bäumen wehte. Es war ein langer Tag gewesen, an dem ich die meiste Zeit auf einer Leiter gestanden und eine Zimmerdecke gestrichen hatte. Mein Nacken und mein rechter Arm schmerzten, mein ganzer Körper fühlte sich staubig und verspannt an. An den Handgelenken und im Haar hatte ich weiße Farbspritzer. Ich freute mich auf einen ruhigen Abend allein: ein heißes Bad, ein gemütliches Abendessen im Bademantel vor dem Fernseher. Käsetoast, dachte ich. Kaltes Bier.

Ich öffnete meine Wohnungstür und ging hinein, ließ meine Tasche auf den Boden fallen. In dem Moment sah ich ihn: Brendan saß auf dem Sofa, besser gesagt, er lag, ein Kissen unter den Füßen. Neben ihm auf dem Boden stand eine Tasse Tee, und er las etwas, das er zuklappte, als ich hereinkam.

»Miranda.« Er schwang die Beine von der Couch und stand auf. »So früh habe ich dich gar nicht erwartet.« Mit diesen Worten fasste er mich an den Schultern und küsste mich auf den Mund. »Möchtest du eine Tasse Tee? In der Kanne ist noch welcher. Du siehst ziemlich fertig aus.«

Ich war ratlos, was ich ihn als Erstes fragen sollte. Er wusste doch kaum etwas über meine Arbeit. Was machte er sich da Gedanken, wann ich nach Hause kam? Aber vor allem, was hatte er in meiner Wohnung zu suchen? Er benahm sich, als wäre er bei mir eingezogen.

»Was machst du hier?«

»Ich habe mich selbst reingelassen«, antwortete er. »Mit dem Schlüssel unter dem Blumentopf. Das ist doch in Ordnung, oder? Übrigens hast du Farbe im Haar.«

Ich griff nach dem Buch, das auf dem Sofa lag. Ein altes Schulheft mit einem festen roten Einband. Die Farbe war verblasst, der Rücken zerschlissen. Eins von meinen alten Tagebüchern.

»Das ist persönlich«, sagte ich. »Persönlich!«

»Ich konnte nicht widerstehen«, erklärte er mit seinem spitzbübischen Lächeln. Angesichts meiner wütenden Miene hob er entschuldigend die Hände. »Hab schon verstanden, tut mir Leid, es war nicht richtig. Aber ich möchte alles über dich wissen. Ich wollte bloß herausfinden, wie du warst, bevor ich dich kennen lernte.« Er berührte sanft meinen Kopf, als wollte er die Farbe aus meinem Haar entfernen. Ich trat einen Schritt zurück.

»Das hättest du nicht tun sollen.«

Wieder lächelte er.

»Ich werde es nicht wieder tun«, antwortete er halb scherzhaft, halb entschuldigend. »In Ordnung?«

Ich holte tief Luft. Nein, für mich war das nicht in Ordnung.

»Du hast es mit siebzehn geschrieben«, bemerkte er.

»Ich finde es schön, mir vorzustellen, wie du mit siebzehn warst.«

Als ich Brendan ansah, schien er bereits in die Ferne zu rücken. Er stand auf dem Bahnsteig, während ich in dem Zug saß, der gerade losfuhr und ihn für immer hinter sich lassen würde. Ich überlegte, wie ich es ausdrücken sollte, damit es so klar und endgültig wie möglich klang. Man kann sagen: »Ich glaube, das mit uns funktioniert nicht mehr«, als wäre die Beziehung eine Maschine, die nicht mehr richtig läuft, weil ein wichtiges Teil verloren gegangen ist. Oder:

»Ich glaube, es hat keinen Sinn«, als wäre man gemeinsam unterwegs zu einem bestimmten Ziel und würde plötzlich feststellen, dass der vor einem liegende Weg sich gabelt oder in Felsen und Dornen endet. Man kann auch sagen: »Ich will dich nicht mehr sehen«, womit man natürlich nicht nur sehen, sondern auch berühren, halten, spüren und lieben meint. Und wenn der Betreffende dann fragt, warum – »Warum ist es vorbei?«

»Was habe ich falsch gemacht?« –, dann sagt man natürlich nicht zu ihm: »Du gehst mir auf die Nerven«, »Ich kann dein Lachen nicht mehr ertragen«, »Mir gefällt ein anderer«. Nein, natürlich sagt man: »Du hast nichts falsch gemacht. Es liegt nicht an dir, es liegt an mir.« Diese Dinge lernen wir alle irgendwann.

Ehe ich selbst so richtig wusste, was ich tat, sprach ich die Worte aus: »Ich glaube, wir lassen es besser sein.«

Einen Moment lang starrte er mich mit ausdrucksloser Miene an, dann trat er einen Schritt auf mich zu und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Miranda.«

»Tut mir Leid, Brendan.« Ich wollte noch etwas hinzufügen, überlegte es mir dann aber anders.

Er hatte noch immer die Hand auf meiner Schulter.

»Du bist wahrscheinlich total erschöpft«, sagte er. »Wie wär’s, wenn du erst mal ein Bad nimmst und dir saubere Sachen anziehst?«

Ich trat einen Schritt zurück.

»Brendan, ich meine es ernst.«

»Das glaube ich nicht.«

»Bitte?«

»Kriegst du deine Periode?«

»Brendan …«

»Es müsste in etwa so weit sein, oder?«

»Ich spiele keine Spielchen.«

»Miranda.« Seine Stimme hatte einen beschwörenden Ton, als wäre ich ein verängstigtes Pferd, dem er sich mit einem Stück Zucker auf der flachen Hand näherte. »Du kannst es doch nicht einfach so beenden. Dafür waren wir viel zu glücklich. Denk an all unsere wundervollen Tage und Nächte.«

»Acht«, sagte ich.

»Was?«

»Achtmal haben wir uns gesehen. Oder waren es bloß siebenmal?«

»Jedes Mal war irgendwie besonders.«

Ich verkniff mir die Antwort: für mich nicht, auch wenn das die Wahrheit war. Man kann dem anderen nicht sagen, dass es einem nicht viel bedeutet hat. Dass es nur eine Episode war, eine von den Geschichten, die sich eben so ergaben. Stattdessen zuckte ich nur mit den Achseln. Ich wollte nicht mit ihm darüber diskutieren. Ich wollte, dass er ging.

»Wir sind heute mit ein paar von meinen Kumpels auf einen Drink verabredet. Ich habe ihnen gesagt, dass du mitkommst.«

»Was?«

»In einer halben Stunde.«

Ich starrte ihn an.

»Bloß auf einen schnellen Drink.«

»Du willst wirklich, dass wir dahin gehen und so tun, als wären wir noch zusammen?«

»Wir müssen dem Ganzen Zeit lassen«, antwortete er.

Das klang so absurd – wie die heuchlerischen Worte eines Eheberaters, adressiert an ein viele Jahre verheiratetes Paar mit Kindern und einer Hypothek –, dass ich gegen meinen Willen lachen musste. Sofort kam ich mir sehr grausam vor und riss mich am Riemen. Brendan brachte ein verkrampftes Lächeln zustande, das mehr von einer Grimasse hatte – gespannte Lippen über fest zusammengebissenen Zähnen.

»Du kannst da noch lachen«, stieß er schließlich hervor.

»Du kannst mir das antun und trotzdem noch lachen.«

»Tut mir Leid.« Meine Stimme klang noch immer ein bisschen zittrig. »Ich habe bloß aus Nervosität gelacht.«

»Hast du deine Schwester auch so behandelt?«

»Meine Schwester?« Die Luft um mich herum schien ein paar Grad abzukühlen.

»Ja. Kerry.« Er sagte den Namen sanft, fast nachdenklich.

»Ich habe es in deinem Tagebuch gelesen. Ich weiß Bescheid.

Hmm?«

Ich ging zur Tür hinüber und riss sie auf.

»Raus!«, sagte ich.

»Miranda.«

»Geh einfach.«

Er zögerte noch einen Moment, dann ging er. Nachdem ich behutsam die Tür geschlossen hatte, um nicht den Eindruck zu erwecken, als würde ich sie hinter ihm zuschlagen, überfiel mich ein heftiges Gefühl von Übelkeit. Ich hatte mich so auf mein gemütliches Essen vor dem Fernseher gefreut, aber inzwischen war mir der Appetit gründlich vergangen. Ich trank nur ein Glas Wasser und ging ins Bett, fand jedoch keinen Schlaf.

Meine Beziehung mit Brendan war so kurz gewesen, dass meine beste Freundin Laura, die zu der Zeit gerade in Urlaub war, nichts davon mitbekommen hatte. Als sie mich nach ihrer Rückkehr anrief, um mir zu berichten, was für eine wundervolle Zeit sie und Tony gehabt hätten, war die ganze Sache für mich so aus und vorbei, dass ich es gar nicht mehr der Mühe wert fand, Brendan zu erwähnen. Laura erzählte von dem Urlaub, dem Wetter und dem Essen, und ich hörte ihr zu. Als sie mich schließlich fragte, ob es in meinem Leben einen neuen Mann gebe, sagte ich nein. Sie antwortete, das sei aber seltsam, sie habe nämlich etwas Derartiges läuten hören. Ich entgegnete, die Sache sei nicht der Rede wert gewesen und außerdem vorbei, woraufhin sie kichernd meinte, sie wolle alles darüber hören. Ich antwortete, da gebe es nichts zu erzählen. Absolut gar nichts.

2. KAPITEL

Seit Brendans Abgang aus meiner Wohnung waren zwei Wochen vergangen. Es war halb drei Uhr nachmittags, und ich stand auf einer Leiter und streckte mich gerade, um mit meinem Pinsel die Ecke zu erreichen, als plötzlich mein Handy klingelte und mir klar wurde, dass es sich in meiner Jackentasche befand und ich meine Jacke nicht anhatte. Wir arbeiteten gerade an einem Neubau in Blackheath – lauter gerade Linien und viel Glas und Kiefernholz. Ich strich das Holz mit einer besonderen, fast transparenten Farbe auf Ölbasis, die für teures Geld aus Schweden importiert worden war.

Rasch stieg ich von der Leiter und legte den Pinsel auf den Deckel der Dose.

»Hallo?«

»Miranda, hier ist Kerry.«

Das war an sich schon ungewöhnlich. Wir trafen uns relativ regelmäßig, einmal im Monat oder so, meist bei meinen Eltern.

Außerdem telefonierten wir etwa einmal die Woche, wobei ich immer diejenige war, die anrief. Sie fragte mich, ob ich abends schon etwas vorhätte. Ich war tatsächlich schon halbwegs verabredet, aber sie meinte, es sei wirklich wichtig, sie würde mich sonst nicht so kurzfristig fragen. Mir blieb also gar nichts anderes übrig, als ja zu sagen. Als ich einen Treffpunkt mit ihr vereinbaren wollte, stellte sich heraus, dass Kerry sich das alles schon genau überlegt hatte. In Camden habe vor kurzem ein ganz schlichtes französisches Restaurant eröffnet, dort werde sie für acht einen Tisch reservieren. Falls ich nichts mehr von ihr hörte, könne ich davon ausgehen, dass es geklappt habe.

Ich war völlig baff. Sie hatte noch nie etwas Derartiges arrangiert. Während ich die Farbe auf die große Kiefernwand klatschte, überlegte ich, was sie mir wohl zu sagen haben könnte. Die entscheidende Frage war natürlich, ob es sich um etwas Positives oder etwas Negatives handeln würde, aber nicht einmal darauf fiel mir eine plausible Antwort ein.

Innerhalb einer Familie ist man mit einem bestimmten Charakter geschlagen. Die anderen machen sich irgendwann ein Bild von einem, und dabei bleibt es dann, egal, was man tut.

Man kann ein Kriegsheld werden, und trotzdem reden die Eltern immer nur über irgendeine vermeintlich lustige Angewohnheit, die man im Kindergarten hatte. Manche Menschen ziehen bis nach Australien, um das Bild hinter sich zu lassen, das ihre Familie von ihnen hat – oder von dem sie glauben, dass sie es hat. Das Ganze ist mit einem Raum voller Spiegel vergleichbar, mit Spiegelbildern und Spiegelbildern von Spiegelbildern und endlos so weiter. Man kann Kopfschmerzen davon bekommen.

Ich war nicht nach Australien geflohen, sondern lebte keine zwei Kilometer von dem Haus entfernt, in dem ich aufgewachsen war, und arbeitete für meinen Onkel Bill.

Manchmal kann ich gar nicht fassen, dass er mein Onkel ist, weil er so gar keine Ähnlichkeit mit meinem Vater aufweist. Er hat langes Haar, das er hin und wieder zu einem Pferdeschwanz bindet, und rasiert sich so gut wie nie. Noch bemerkenswerter ist, dass sich eine Menge reiche und trendige Leute darum reißen, seine Dienste in Anspruch zu nehmen. Mein Vater bezeichnet ihn nach wie vor als Maler und Tapezierer, und ich kann mich daran erinnern, dass er damals, als ich ein Kind war, mit einer wild zusammengewürfelten Schar von Taugenichtsen arbeitete und meist mit einem verbeulten Lieferwagen herumfuhr, den er sich von irgendjemandem geliehen hatte.

Inzwischen aber hat Onkel Bill – wie ich ihn nie nenne – eine richtige Firma, ein großes Büro, eine lukrative Geschäftsverbindung mit einem Architektenteam und eine lange Warteliste, in die man nur schwer Aufnahme findet.

Als ich eine Minute nach acht im La Table eintraf, war Kerry bereits da. Sie hatte ein Glas Weißwein vor sich stehen und daneben einen Kübel mit der Flasche, sodass ich sofort wusste, dass es sich um irgendeine gute Nachricht handeln musste. Sie schien von innen heraus zu strahlen, ihre Augen leuchteten richtig. Außerdem sah sie völlig verändert aus. Ich selbst trug mein Haar immer ziemlich kurz. Das gefiel mir, und außerdem bot es sich in meinem Fall an, weil meine Haare auf diese Weise nicht in Harz landen oder sich um einen Bohrer wickeln konnten, wenn ich arbeitete. Kerry hingegen war nie der Frauentyp gewesen, der einen bestimmten Look verkörperte; ich kannte sie eigentlich nur mit halblangem Haar und praktischer Kleidung. Jetzt hatte sie sich die Haare ebenfalls kurz schneiden lassen, was ihr sehr gut stand. Fast alles an ihr war anders. Sie war stärker geschminkt als sonst, wodurch ihre großen Augen besser zur Geltung kamen. Außerdem trug sie lauter neue Klamotten – eine dunkle Schlaghose, ein weißes Leinenhemd und eine Weste. Mit einer Weste hatte ich sie noch nie gesehen.

Sie wirkte elfenhaft und irgendwie erwartungsvoll. Als sie mich entdeckte, winkte sie mich an den Tisch und schenkte mir ein Glas Wein ein.

»Cheers!«, sagte sie. »Du hast übrigens Farbe im Haar.«

Am liebsten hätte ich ihr die Antwort gegeben, die mir immer auf der Zunge liegt, wenn ich das zu hören bekomme: dass es ganz normal ist, wenn ich Farbe im Haar habe, weil ich mein halbes Leben mit Streichen verbringe. Aber letztendlich sage ich es nie, und an diesem Abend würde ich es ganz bestimmt nicht sagen. Kerry sah so froh und erwartungsvoll aus. In froher Erwartung. Das konnte nicht sein, oder doch?

»Berufsrisiko«, antwortete ich.

Die Farbe befand sich an meinem Hinterkopf, wo ich sie ohne Spiegel schlecht lokalisieren konnte. Kerry begann in meinem Haar herumzuzupfen. Wir müssen ausgesehen haben wie zwei Schimpansen, die mitten im Lokal ihre Körperpflege betrieben.

Ich weiß selbst nicht, wieso ich sie trotzdem gewähren ließ.

Schließlich sagte sie, die Farbe gehe nicht ab, was ich irgendwie tröstlich fand. Ich nahm einen Schluck Wein.

»Scheint ein nettes Lokal zu sein«, stellte ich fest.

»Ich war letzte Woche schon mal hier«, erklärte Kerry.

»Es ist großartig.«

»Dir geht’s im Moment recht gut, stimmt’s?«

»Du fragst dich wahrscheinlich, warum ich dich angerufen habe«, antwortete sie.

»Das muss ja keinen bestimmen Grund haben«, log ich.

»Ich habe Neuigkeiten für dich«, fuhr sie fort. »Ziemlich überraschende Neuigkeiten.«

Demnach war sie tatsächlich schwanger. Etwas anderes konnte es nicht sein. Was mich allerdings ein wenig erstaunte, war die Tatsache, dass sie Alkohol trank.

»Ich habe einen neuen Freund«, erklärte sie.

»Das freut mich, Kerry. Das ist eine großartige Neuigkeit.«

Ich war noch verwirrter als zuvor. Natürlich freute ich mich für sie, weil ich wusste, dass sie schon längere Zeit keinen Freund mehr gehabt hatte und deswegen bekümmert gewesen war. Meine Eltern hatten sich deswegen auch ein wenig gesorgt, was es für Kerry nicht gerade leichter machte. Trotzdem fand ich es seltsam, dass sie es auf diese förmliche Weise verkündete.

»Das Ganze ist ein bisschen problematisch«, fuhr sie fort.

»Deswegen wollte ich zuerst mit dir darüber sprechen.«

»Was könnte daran problematisch sein?«

»Du hast Recht«, pflichtete sie mir sofort bereitwillig bei.

»Du hast völlig Recht. Das habe ich auch gesagt. Es dürfte eigentlich überhaupt kein Problem sein, wenn wir keines daraus machen.«

Ich nahm noch einen Schluck Wein und zwang mich, geduldig zu sein. Das war eine weitere Eigenart von Kerry: Sie konnte so unkommunikativ sein, dass sie kein Wort von sich gab, aber auch ins andere Extrem verfallen und unzusammenhängendes Zeug vor sich hin plappern.

»Was für ein Problem?«

»Es ist jemand, den du kennst.«

»Wirklich?«

»Eigentlich sogar mehr als das. Du warst mal mit ihm zusammen. Es ist ein Exfreund von dir.«

Ich gab ihr darauf keine Antwort, weil meine Gedanken zu rasen begannen. Wer konnte das sein? Lucas und ich hatten uns nach einem Riesenkrach getrennt, außerdem lebte er inzwischen mit Cleo zusammen. Die Beziehung mit Paul hatte etwa ein Jahr gedauert, und bestimmt waren er und Kerry sich ein- oder zweimal über den Weg gelaufen. Alles Weitere waren uralte Geschichten. Natürlich hatte es am College ein paar Techtelmechtel gegeben, aber zu der Zeit hatte ich zu Kerry fast keinen Kontakt gehabt. Ich versuchte mir vorzustellen, welch unglaublicher Zufall meine Schwester mit einem Mann aus meiner fernen Vergangenheit zusammengebracht haben könnte, beispielsweise mit Rob. Damals waren die beiden sich nie begegnet, oder doch? Womöglich musste ich ja noch weiter zurückgehen, in die Urvergangenheit meiner Schulzeit. Tom kam mir in den Sinn. Das musste es sein. Vielleicht war sie auf einem Schultreffen gewesen …

»Es ist Brendan«, sagte sie. »Brendan Block.«

»Was? Was meinst du?«

»Ist das nicht erstaunlich? Er wird gleich kommen. Er hat gesagt, er fände es gut, wenn wir drei uns zusammensetzen würden.«

»Das kann nicht sein«, sagte ich.

»Ich weiß, dass es dir ein bisschen seltsam vorkommen muss

…«

»Wo habt ihr euch kennen gelernt?«

»Das erzähle ich dir gleich«, antwortete sie. »Ich werde dir alles ganz genau berichten. Aber bevor Bren kommt, wollte ich dir noch schnell etwas anderes sagen.«

»Bren?«

»Meine schöne Miranda, ich möchte, dass du weißt, dass Bren mir alles erzählt hat. Ich hoffe, das ist dir nicht peinlich.«

»Was?«

Kerry beugte sich über den Tisch und legte die Hände auf meine. Aus ihren großen Augen sprach Mitgefühl.

»Miranda, ich weiß, dass eure Trennung sehr schmerzhaft für dich war.« Sie holte tief Luft und drückte meine Hände. »Ich weiß, dass Bren mit dir Schluss gemacht hat. Er hat mir erzählt, wie durcheinander du warst, wie wütend und verletzt. Aber er hofft, dass du inzwischen darüber hinweg bist. Er selbst hat kein Problem damit.«

»Er sagt, er hat kein Problem damit?«

In dem Moment betrat Brendan Block das Restaurant.

3. KAPITEL

Kerry ging Brendan entgegen. Sie trafen sich in der Mitte des Raums, und Brendan beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie innig auf den Mund. Kerry, die neben seiner großen, mächtigen Gestalt sehr klein und zierlich wirkte, schloss für einen Moment die Augen. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin er nickte und mit leicht schräg gelegtem Kopf zu mir herübersah, den Anflug eines Lächelns auf den Lippen. Er begrüßte mich, indem er ein weiteres Mal nickte, und kam dann mit ausgestreckten Armen auf mich zu. Ich wusste nicht so recht, was ich tun sollte.

Zögernd erhob ich mich halb von meinem Stuhl, sodass ich, als er mich erreichte, in einer ziemlich lächerlichen Haltung über dem Tisch hing, den Stuhl in den Kniekehlen.

»Miranda«, sagte er, legte die Hände fest auf meine Schultern, wodurch meine Haltung noch ein wenig gebückter wurde, und blickte mir tief in die Augen. »Oh, Miranda.«

Er beugte sich zu mir herunter, um mir einen Kuss auf die Wange zu drücken, kam dabei aber meinem Mund viel zu nahe.

Inzwischen war es Kerry gelungen, den Arm um Brendans Taille zu schlingen. Sie beugte sich ebenfalls zu mir herunter, und einen schrecklichen Moment lang waren unsere Gesichter nur ein paar Zentimeter voneinander entfernt, sodass ich den Schweiß in der Vertiefung über Brendans Oberlippe ebenso deutlich sehen konnte wie die kleine Narbe in Kerrys Augenbraue, wo ich sie mit einem Plastikspaten getroffen hatte, als ich vier und sie sechs war. Außerdem konnte ich seine Seife und ihr Parfüm riechen und noch einen anderen, leicht säuerlichen Geruch, der zwischen uns in der Luft hing. Ich wand mich aus Brendans Griff und sank erleichtert zurück auf meinen Stuhl.

»Dann hat Kerry es dir also schon gesagt?« Inzwischen hatte er sich zwischen mir und Kerry niedergelassen, sodass wir zu dritt nur einen kleinen Teil des Tisches in Anspruch nahmen und so dicht nebeneinander saßen, dass unsere Knie sich berührten.

Während er sprach, legte er eine Hand auf Kerrys Oberschenkel, und sie blickte mit ihren leuchtenden Augen zu ihm auf.

»Ja. Aber ich …«

»Und es ist wirklich in Ordnung?«

»Wieso sollte es nicht in Ordnung sein?« Ich hörte selbst, wie genervt und angespannt ich klang. Jeder Mensch auf dieser Welt wäre in einer solchen Situation ein wenig genervt und angespannt gewesen. Ich sah die beiden einen Blick wechseln.

»Wirklich, ich habe kein Problem damit.«

»Ich weiß, dass das sehr schwer für dich sein muss.«

»Es ist überhaupt nicht schwer für mich«, widersprach ich.

»Das ist sehr großzügig von dir«, sagte Brendan. »Ich habe mit nichts anderem gerechnet. Du bist einfach ein großzügiger Mensch. Das habe ich zu Derek und Marcia auch gesagt. Ich habe ihnen gesagt, dass sie sich deinetwegen keine Sorgen zu machen brauchen.«

»Mum und Dad?«

»Ja«, antwortete Kerry. »Sie haben Bren vor ein paar Tagen kennen gelernt. Sie fanden ihn sehr sympathisch. Wie sollte es auch anders sein? Troy mochte ihn auch, und du weißt ja, wie schwer es ist, Gnade vor seinen Augen zu finden.«

Brendan lächelte bescheiden. »Ein lieber Junge«, bemerkte er.

»Und du hast ihnen gesagt …« Ich sprach den Satz nicht zu Ende. Mir war plötzlich eingefallen, dass meine Eltern vorgestern Abend angerufen, nacheinander mit mir gesprochen und mich beide gefragt hatten, wie ich mich im Moment fühlte.

Ein Nerv unter meinem linken Auge begann leicht zu zucken.

»Dass du es sicher verstehen würdest, weil du eine Frau mit einem großen Herzen bist«, sagte Brendan.

Die Vorstellung, dass sie hinter meinem Rücken darüber gesprochen hatten, wie ich ihrer Meinung nach reagieren würde, ließ die Wut in mir hochsteigen.

»Wenn ich mich richtig erinnere …«

Brendan hielt eine Hand hoch – eine große, weiße Hand mit haarigen Gelenken. Haarige Gelenke, fleischige Ohrläppchen, ein dicker Hals. Bei mir kamen Erinnerungen hoch, die ich ganz schnell wieder verdrängte. »Lass uns jetzt nicht weiter darüber sprechen«, sagte er. »Gib der Sache Zeit.«

»Miranda«, mischte sich Kerry mit flehender Stimme ein.

»Bren hat ihnen bloß gesagt, was wir beide für nötig hielten.«

Als ich zu ihr hinüberblickte, sah ich auf ihrem Gesicht wieder diesen ungewohnten Ausdruck strahlenden Glücks. Ich schluckte meine Antwort hinunter und starrte auf die Speisekarte.

»Sollen wir dann langsam mal bestellen?«

»Gute Idee. Ich glaube, ich nehme die Daurade«, sagte Brendan und rollte dabei das »R« ganz weit hinten im Hals.

Ich hatte eigentlich überhaupt keinen Appetit mehr.

»Ich werde mich auf ein einfaches Steak mit Pommes beschränken«, erklärte ich. »Ohne die Pommes.«

»Machst du dir immer noch Sorgen wegen deines Gewichts?«

»Was?«

»Das brauchst du wirklich nicht«, fuhr Brendan fort. »Du siehst gut aus. Nicht wahr, Kerry?«

»Ja. Miranda sieht immer gut aus.« Einen Moment lang wirkte ihre Miene leicht säuerlich, als hätte sie in ihrem Leben schon zu oft gesagt: »Miranda sieht immer gut aus.«

Dann fügte sie hinzu: »Ich glaube, ich nehme den Lachs und einen grünen Salat.«

»Wie wär’s mit einer Flasche Chablis?«, fragte Brendan.

»Oder möchtest du zu deinem Steak lieber ein Glas Rotwein, Mirrie?«

Das war noch so eine Sache. Mir hatte der Name Miranda immer gefallen, weil man ihn nicht abkürzen konnte. Bis ich Brendan kennen lernte. »Mirrie.« Das klang wie ein Druckfehler.

»Weiß ist okay.«

»Bist du sicher?«

»Ja.« Ich umklammerte mit einer Hand die Tischkante.

»Danke.«

Kerry stand auf, um zur Toilette zu gehen. Während sie sich zwischen den Tischen hindurchschlängelte, sah Brendan ihr nach. Dabei hatte er wieder dieses kleine Lächeln auf den Lippen. In dem Moment trat der Kellner an den Tisch, und Brendan bestellte für uns. Dann wandte er sich wieder mir zu.

»Also …«

»Miranda.«

Lächelnd legte er seine Hand über die meine.

»Ihr beide seid sehr unterschiedlich«, bemerkte er.

»Ich weiß.«

»Nein, ich wollte damit sagen, dass es zwischen euch Unterschiede gibt, von denen ihr unmöglich etwas wissen könnt.«

»Was?«

»Nur ich kann in der Hinsicht Vergleiche ziehen.« Noch immer lächelte er mich liebevoll an.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich verstand. Rasch entzog ich ihm meine Hand.

»Brendan, hör zu …«

»Hallo, Liebes«, sagte er über meinen Kopf hinweg und stand auf, um den Stuhl für Kerry herauszuziehen. Nachdem sie wieder Platz genommen hatte, tätschelte er ihr kurz den Kopf.

Unser Essen wurde serviert. Mein Steak war fett und blutig und rutschte mir immer wieder weg, als ich es zu schneiden versuchte. Brendan sah eine Weile zu, wie ich mich damit abmühte, und gab dann einer Kellnerin, die gerade vorbeiging, ein Zeichen. Nachdem er auf Französisch etwas zu ihr gesagt hatte, das ich nicht verstand, brachte sie mir ein anderes Messer.

»Brendan hat eine Weile in Paris gelebt«, erklärte Kerry.

»Aha.«

»Aber das weißt du ja wahrscheinlich?« Sie hob den Kopf und sah mich kurz an. Ich konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. War er misstrauisch, abweisend, triumphierend oder einfach nur neugierig?

»Nein, davon wusste ich nichts.« Ich wusste überhaupt nur sehr wenig über Brendan. Er hatte mir erzählt, dass er sich gerade nach einem neuen Job umsehe. Außerdem hatte er etwas von einem Psychologiekurs erwähnt und dass er ein paar Monate durch Europa gereist sei, aber darüber hinaus konnte ich mich an keine Details aus seinem Leben erinnern. Ich war nie in seiner Wohnung gewesen, hatte keinen seiner Freunde kennen gelernt. Über seine Vergangenheit hatte er nicht gesprochen, und was seine Zukunftspläne betraf, war er ziemlich vage geblieben. Natürlich waren wir nur so kurz zusammen gewesen und hatten uns gerade erst der Phase genähert, in der man einander von seinem Leben erzählt, als ich ihn dabei ertappt hatte, wie er sich auf seine eigene Art über mein Leben informierte.

Endlich schaffte ich es, mir ein Stück von meinem Steak in den Mund zu schieben. Während ich energisch darauf herumkaute, zog Brendan behutsam mit Daumen und Zeigefinger einen dünnen Knochen aus seinem Mund und legte ihn vorsichtig auf den Rand seines Tellers, ehe er den Rest mit Weißwein hinunterspülte. Ich wandte den Blick ab.

»Nun erzähl mal«, sagte ich zu Kerry. »Wie habt ihr beide euch kennen gelernt?«

»Oh«, sagte sie und blickte von der Seite zu Brendan auf.

»Eigentlich ganz zufällig.«

»Nenn es nicht Zufall. Es war Schicksal«, widersprach Brendan.

»Eines Abends bin ich nach der Arbeit noch zum Luftschnappen in den Park, als es plötzlich zu regnen anfing und dieser Mann …«

»Damit meint sie mich …«

Kerry kicherte glücklich. »Ja. Bren. Er hat gesagt, ich käme ihm bekannt vor. ›Sind Sie nicht Kerry Cotton?‹, hat er mich gefragt.«

»Natürlich kannte ich ihr Gesicht von dem Foto, das ich bei dir gesehen hatte«, erklärte Brendan. »Und plötzlich stand sie vor mir im Regen.«

»Er hat mir erzählt, dass er dich kennt«, fuhr Kerry fort.

»Nicht dass ihr … du weißt schon, was, sondern bloß, dass er dich kennt. Dann hat er mir angeboten, seinen Schirm mit mir zu teilen …«

»Ich bin nun mal ein Gentleman«, bemerkte Brendan.

»Du kennst mich ja, Mirrie.«

»Gemeinsam sind wir weiter durch den Park spaziert, obwohl es mittlerweile wie aus Kübeln goss. Nach einer Weile waren wir klatschnass, in unseren Schuhen stand schon das Wasser.«

»Trotzdem sind wir weiter durch den Regen spaziert.«

Brendan streichelte Kerry übers Haar. »Nicht wahr?«

»Wir waren völlig durchnässt, deswegen habe ich ihn eingeladen, mit zu mir zu kommen und sich ein bisschen aufzuwärmen …«

»Ich habe ihr das Haar frottiert«, fügte Brendan hinzu.

»Das reicht«, sagte ich mit einer abwehrenden Handbewegung und tat, als müsste ich lachen. »Wir belassen es beim Aufwärmen, okay?«

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin, dass du jetzt Bescheid weißt«, erklärte Kerry. »Als ich das mit euch beiden erfuhr, dachte ich eine Weile, das würde alles ruinieren.

Ich könnte nie etwas tun, das dich verletzt, das weißt du doch, oder?« Sie wirkte in dem Moment erstaunlich hübsch: zart, schlank und strahlend. Ich spürte plötzlich einen leichten Schmerz in der Brust.

»Du verdienst es, glücklich zu sein«, sagte ich, wobei ich Brendan bewusst den Rücken zuwandte und nur Kerry ansprach.

»Ich bin glücklich«, antwortete sie. »Wir kennen uns zwar erst seit ein paar Tagen, zehn, um genau zu sein, und es ist ja noch nicht so lange her, dass ihr beide – na ja, du weißt schon …

Deswegen sollte ich das jetzt vielleicht nicht sagen, aber ich kann mich nicht daran erinnern, jemals so glücklich gewesen zu sein.«

»Ich freue mich für dich.« Zehn Tage, dachte ich.

Wir aßen weiter, tranken unseren Wein, stießen miteinander an. Ich lächelte und nickte, sagte an den richtigen Stellen ja und nein und versuchte dabei die ganze Zeit krampfhaft, nicht nachzudenken und die Erinnerungen an bestimmte Dinge nicht hochkommen zu lassen: den leichten Bauchansatz über seinen Boxershorts, die schwarzen Haare auf seinen Schultern.

Schließlich warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr und tat sehr überrascht, obwohl es erst halb zehn war. Ich erklärte, dass ich am nächsten Tag früh rausmüsse und eine lange Fahrt vor mir hätte, deswegen bliebe leider keine Zeit mehr für einen Kaffee … Dann folgte eine lange Abschiedsprozedur. Kerry nahm mich fest in den Arm, Brendan küsste mich wieder knapp neben den Mund, und ich widerstand dem Drang, die feuchte Stelle mit dem Handrücken abzuwischen. Beide meinten, wir müssten das unbedingt bald wiederholen, und dankten mir, weil ich mich so großartig verhalten hätte; das sei so lieb von mir, einfach wunderbar.

Brendan begleitete mich zur Tür.

»Es hat geregnet«, bemerkte er.

Ich ignorierte seine Worte.

»Wirklich ein unglaublicher Zufall«, sagte ich.

»Was?«

»Ich trenne mich von dir, und ein paar Tage später triffst du meine Schwester auf der Straße, und schon seid ihr zusammen.

Kaum zu glauben.«

»Es gibt im Leben keine Zufälle«, entgegnete Brendan.

»Vielleicht ist es gar nicht so überraschend, dass ich mich in eine Frau verliebt habe, die aussieht wie du.«

Ich sah über Brendans Schulter zu Kerry hinüber, die noch am Tisch saß. Sie lächelte nervös und drehte dann den Kopf weg.

Als ich mich wieder an Brendan wandte, bemühte ich mich, ebenfalls zu lächeln, damit unsere Unterhaltung auf Kerry einen freundlichen Eindruck machte.

»Soll das irgendeine seltsame Art von Scherz sein, Brendan?«

Er wirkte verblüfft und ein bisschen beleidigt.

»Ein Scherz?«

»Kann es sein, dass du nur mit meiner Schwester spielst, um es mir auf diese Weise heimzuzahlen?«

»Das klingt ganz schön egozentrisch«, antwortete Brendan,

»wenn du mir die Bemerkung erlaubst.«

»Tu ihr bloß nicht weh«, sagte ich. »Sie hat es verdient, glücklich zu sein.«

»Verlass dich auf mich. Ich weiß genau, was ich tun muss, um sie glücklich zu machen.«

Ich konnte seine Gegenwart keine Sekunde länger ertragen.

Draußen atmete ich erst mal tief durch. Die kalte Luft tat mir gut. Während ich durch die nassen Straßen nach Hause marschierte, gingen mir immer wieder dieselben Fragen durch den Kopf. Hatte er sich ernsthaft in Kerry verliebt? Spielte es wirklich eine Rolle, wie sie sich kennen gelernt hatten? Ich beschleunigte mein Tempo, bis meine Beine von der Anstrengung schmerzten.

Ich denke oft über die Rollenverteilung innerhalb der Familie nach, über den Unterschied, den es für einen selbst macht. Wäre ich ein anderer Mensch geworden, wenn ich das älteste Kind gewesen wäre? Wie wäre es Kerry ergangen, wenn sie statt meiner die Mittlere gewesen wäre? Wäre sie dann selbstbewusster und extrovertierter geworden, mehr so wie ich –

beziehungsweise wie die Person, die meine Familie in mir sah?

Und Troy, das Baby der Familie, der neun Jahre nach mir kam?

Was hätte es für ihn bedeutet, wenn er nicht diese Sonderstellung als Nachkömmling und offensichtlicher Unfall eingenommen hätte? Oder wenn er zumindest Brüder gehabt hätte, die ihm hätten zeigen können, wie man mit dem Fußball schießt, seine Fäuste gebraucht und brutale Computerspiele spielt, statt zwei Schwestern, die ihn als Kleinkind verhätschelten und später ignorierten?

Aber wir mussten mit dem zurechtkommen, was uns gegeben worden war. Kerry war als die Erste gezwungen gewesen, die Rolle der Anführerin zu übernehmen, auch wenn sie diese Rolle hasste. Und ich als die Zweite hatte es kaum erwarten können, erwachsen zu werden, und war immer erpicht darauf gewesen, die Erste zu sein, hatte immer versucht, meine Schwester zur Seite zu drängen, um sie zu überholen. Und Troy war als der Dritte und einzige Junge in vieler Hinsicht der Letzte, andererseits aber auch fast schon wieder der Erste: schmalschultrig, verträumt, weltfremd, seltsam.

In meiner Wohnung angekommen, ging ich gleich ins Bett.

Obwohl ich am nächsten Tag früh rausmusste, konnte ich eine ganze Weile nicht einschlafen. Ich wechselte immer wieder die Position und wendete das Kissen, um eine kühlere Stelle zu finden. Es gab in meiner Wohnung kein Foto von Kerry, aber da ich Brendans Geschichte sowieso nicht geglaubt hatte, spielte dieses Detail im Grunde keine Rolle. Er hatte sich an Kerry herangemacht, weil sie meine Schwester war. Aus einem gewissen Blickwinkel betrachtet, hatte das sogar etwas Romantisches.

4. KAPITEL

Als ich am nächsten Tag von der Arbeit nach Hause fuhr, schienen die Gebäude im Nieselregen zu schwanken, und die Skyline der Stadt wirkte weich und verschwommen. Im Sommer wäre es um diese Zeit noch hell gewesen, aber nun zogen die Leute bereits die Vorhänge zu und schalteten das Licht an. In meiner Wohnung befreite ich mich aus meinem Overall und stellte mich unter die lauwarme Dusche. Dann schlüpfte ich in eine bequeme Jeans und ein Langarmshirt. Ich stellte mich vor den Spiegel und zog den Bauch ein. Was hatte Brendan über mein Gewicht gesagt? Ich betrachtete mich von der Seite, unzufrieden mit dem, was ich sah. Vielleicht sollte ich anfangen zu joggen. Jeden Morgen vor der Arbeit eine Runde laufen. Was für eine schreckliche Vorstellung.

Ich wollte mich gerade auf dem Weg zu Laura machen, als das Telefon klingelte.

»Miranda?«

»Hallo, Mum.«

»Ich hab’s schon ein paarmal bei dir probiert, dich aber nie erwischt. Ich konnte dir nicht mal was aufs Band sprechen.«

»Mein Anrufbeantworter hat den Geist aufgegeben.«

»Wie geht es dir? Alles in Ordnung?«

»Ja, alles bestens.«

»Wirklich?«

Ich hatte nicht vor, ihr zu Hilfe zu kommen.

»Es geht mir gut, Mum. Ich bin bloß ein bisschen müde. Jetzt, wo Bill nicht da ist, habe ich ziemlich viel zu tun. Wie geht’s dir und Dad?«

»Ich habe mit Kerry gesprochen. Sie hat gesagt, ihr hättet einen schönen Abend miteinander verbracht.«

»Ja, es war schön, sie zu sehen.« Inzwischen tat sie mir fast schon ein bisschen Leid, deswegen fügte ich nach einer kurzen Pause hinzu: »Und Brendan.«

»Miranda, du bist in dieser Sache wirklich sehr tapfer. Uns ist durchaus bewusst, wie schwer das für dich sein muss. Ich wünschte nur, du hättest uns davon erzählt, als es passierte. Es ist für mich ein schrecklicher Gedanke, nicht zu wissen, wenn es dir schlecht geht.«

»Da gab es nichts zu erzählen. Ihr macht euch alle eine völlig falsche Vorstellung davon. In Wirklichkeit war das ganz anders.«

»Falls es dich irgendwie tröstet, Kerry ist völlig verwandelt.

Du hast es ja selbst gesehen, sie ist ein ganz anderer Mensch.

Ich bin darüber sehr glücklich, aber gleichzeitig macht es mir auch ein bisschen Angst.«

»Du meinst, weil Brendan sie wieder verlassen könnte?«

»Oh, sag so was nicht! Immerhin sieht es ja so aus, als würde er sie ebenfalls vergöttern.« Ich schwieg einen Moment zu lang, weshalb sie in scharfem Ton hinzufügte: »Miranda? Bist du anderer Meinung?«

»Sie machen beide einen sehr glücklichen Eindruck.«

»Und dir geht es wirklich gut?«

»Ja, wirklich. Aber ich muss weg, bin schon ein bisschen spät dran.«

»Eine Frage noch, bevor du losstartest: Hättest du Zeit, am Sonntag zu uns zum Mittagessen zu kommen? Dann wären wir mal alle zusammen.«

»Du meinst, mit Brendan?«

»Mit Kerry und Brendan, ja.«

Mein Magen zog sich zusammen.

»Ich weiß noch nicht, ob ich da kann.«

»Mir ist klar, wie schwer das für dich ist, Miranda, aber ich halte es für wichtig. Für Kerry, meine ich.«

»Es ist nicht schwer für mich. Überhaupt nicht. Ich weiß bloß noch nicht, ob ich Zeit habe, das ist alles.«

»Wir können es auch am Samstagmittag machen. Oder am Abend, wenn dir das besser passt.«

»Also gut. Am Sonntag«, gab ich mich geschlagen.

»Ein ganz zwangloses Essen. Du wirst dich bestimmt wohl fühlen.«

»Natürlich werde ich das. Da habe ich nicht die geringsten Bedenken. Ihr macht euch von der ganzen Sache eine völlig falsche Vorstellung.«

»Du kannst gerne jemanden mitbringen.«

»Was?«

»Einen Mann. Du weißt schon. Falls es jemanden gibt …«

»Da gibt es zurzeit niemanden, Mum.«

»Ich nehme an, dafür ist es auch noch zu früh.«

»Ich muss jetzt wirklich weg, Mum.«

»Miranda?«

»Ja?«

»Oh, ich weiß auch nicht. Es ist bloß … du warst immer der Glückspilz von euch beiden. Vielleicht ist jetzt mal Kerry an der Reihe. Steh ihr nicht im Weg.«

»Das ist doch albern.«

»Bitte.«

Ich stellte mir vor, wie sie mit angespannter Miene den Hörer umklammerte, während ihr wie immer eine Haarsträhne über die gerunzelte Stirn fiel.

»Ich bin sicher, das wird alles ganz wunderbar«, sagte ich, um sie endlich zufrieden zu stellen. »Ich verspreche dir, dass ich Kerrys Glück nicht im Weg stehen werde. Aber jetzt muss ich wirklich los. Wir sehen uns ja morgen, wenn ich Troy abhole.«

»Vielen Dank, meine liebe Miranda«, sagte sie in pathetischem Ton. »Vielen Dank!«

»Ich kenne ihn nicht, oder?«

Wir saßen im Schneidersitz auf dem Boden, den Rücken gegen das Sofa gelehnt, und futterten Ofenkartoffeln. Laura aß die ihre nur mit Sauerrahm, aber ich hatte meine oben ein wenig gespalten und quetschte mehrere große Butterkeile hinein, um das Ganze anschließend mit geriebenem Käse zu bestreuen.

Allein schon der Anblick hatte etwas Wohltuendes. Draußen war es dunkel und nasskalt.

»Nein, dafür war die Zeit zu kurz. Es ging erst los, nachdem du nach Barcelona aufgebrochen warst, und als du zurückkamst, war es schon wieder vorbei.«

»Du hast Schluss gemacht?«

»Ja.«

»Was hast du dann für ein Problem damit?«

»Gar keines«, antwortete ich, noch bevor sie die Frage zu Ende gesprochen hatte.

»Doch, ich sehe es dir an.«

Ich überlegte einen Moment.

»Ja, stimmt. Irgendwie habe ich bei der Sache ein ungutes Gefühl. Es kommt mir fast ein bisschen wie Inzest vor.

Außerdem nervt mich, dass Mum und Dad und wahrscheinlich auch der Rest der Welt glauben, dass er mir das Herz gebrochen hat. Bei dem Gedanken kriege ich so eine Wut, dass ich am liebsten alles kurz und klein schlagen würde.«

»Ich verstehe, dass dich das ärgert, aber irgendwo ist es doch auch lustig.«

»Nein«, widersprach ich. »Ganz und gar nicht. Sie nennt ihn

›Bren‹.«

»Tja …«

»Und er nennt mich ›Mirrie‹.«

»Familienstress«, meinte Laura vage. Sie wischte sich ein wenig Sauerrahm vom Kinn.

»Mirrie«, wiederholte ich. »Unglaublich. Oder findest du, dass ich überreagiere?«

»Vielleicht ein bisschen.«

»Wahrscheinlich hast du Recht.«

Von meiner Kartoffel war inzwischen nur noch die knusprige Schale übrig. Ich gab noch einmal Butter darauf und biss ein Stück ab. Dann nahm ich einen großen Schluck Wein. Am liebsten hätte ich mich gar nicht mehr von der Stelle bewegt.

Hier im Raum war es warm, ich war satt und angenehm müde, während draußen der Wind in den Bäumen raschelte und die Autos durch große Pfützen fuhren.

»Wie läuft’s mit Tony?«, erkundigte ich mich.

»Oh. Gut. Glaube ich.«

Ich sah sie an. Sie hatte sich ihr glänzendes schwarzes Haar hinter die Ohren geschoben und sah in dem Moment sehr jung aus.

»Du glaubst? Was heißt das?«

»Es läuft gut. Du weißt schon, ganz normal eben. Nur manchmal …« Sie hielt inne.

»Manchmal?«

»Manchmal frage ich mich, wie es weitergehen soll.« Mit gerunzelter Stirn schenkte sie uns den Rest des Weins ein.

»Ich meine, wir sind nun schon fast drei Jahre zusammen.

Sollen wir einfach so weitermachen? Ich glaube, Tony hätte nichts dagegen, Jahr für Jahr so weiterzuleben, vertraut wie ein altes Ehepaar, bloß mit separaten Wohnungen. Oder wir entschließen uns doch irgendwann dazu, zusammenzuleben –

richtig, meine ich. Unter einem Dach. Mit einem gemeinsamen Kühlschrank und gemeinsamem Geschirr. Einer gemeinsamen Bücher- und CD-Sammlung. Du verstehst mich schon. Und wenn nicht, wieso sind wir dann überhaupt noch zusammen?

Man muss sich doch irgendwie vorwärts bewegen, meinst du nicht auch?«

»Ich weiß nicht. Ich hatte noch nie eine so lange Beziehung.«

»Das ist noch so ein Punkt. In deinem Leben passiert so viel Dramatisches und Aufregendes.«

»Findest du?«

»Bei dir gibt es immer wieder etwas Neues, und alte Geschichten gehen zu Ende.«

»Dafür passieren gewisse andere Dinge bei mir überhaupt nicht.«

»Stimmt«, räumte sie zögernd ein. »Aber ich bin doch erst sechsundzwanzig. Ist dieser Teil meines Lebens wirklich schon ganz vorbei? War’s das?«

»Würdest du denn gern mit ihm zusammenziehen?«

»Na ja, manchmal denke ich mir, es wäre …«

Aber in dem Moment hörten wir einen Schlüssel im Schloss, und die Tür schwang auf.

»Hallo!«, rief Tony fröhlich, ließ draußen in der Diele seine Tasche fallen und entledigte sich schwungvoll seiner Schuhe.

Man hörte sie nacheinander über den Holzboden schlittern. Mit feuchtem Haar und von der Luft geröteten Wangen kam er in den Raum. »Oh, hallo, Miranda. Wie geht’s dir?«

Er beugte sich zu Laura hinunter und küsste sie, woraufhin sie eine Hand an seine Wange legte und ihn anlächelte. Für mich sah das nicht so schlecht aus.

Ich hatte den Lieferwagen noch nicht mal richtig geparkt, als er bereits zur Tür herausstürmte und den Gartenweg entlanggelaufen kam. Er konnte nicht winken, weil er mit der einen Hand eine prall gefüllte Plastiktüte hielt und mit der anderen seinen Rucksack, aber sein blasses Gesicht strahlte, und er rief mir grinsend etwas zu, das ich nicht hören konnte. Dann stolperte er und wäre beinahe gestürzt. Sein Rucksack knallte gegen seine Beine, aber er hörte nicht auf zu lächeln und gleichzeitig Worte zu formen. Manchmal tat es fast mehr weh, Troy glücklich zu sehen als traurig.

»Hallo, junger Mann«, sagte ich, als er auf den Beifahrersitz kletterte und sein Rucksack sich dabei irgendwie mit seinem mageren Körper verhedderte. »Wie geht’s?«

»Gut. Richtig gut.« Er schnallte den Sicherheitsgurt um sich und sein Gepäck. »Ich bringe mir gerade das Gitarrespielen bei, musst du wissen. Erinnerst du dich noch an deine alte Gitarre?

Ich habe sie in der Rumpelkammer gefunden. Sie ist ziemlich ramponiert, aber das spielt im Moment noch keine große Rolle.

Egal, auf jeden Fall habe ich mir gedacht, dass ich uns heute was Schönes zum Abendessen koche, okay? Die Zutaten sind in der Tüte. Du hast doch keine anderen Pläne, oder?«

»Nein«, antwortete ich. »Natürlich nicht. Was soll’s denn geben?«

»Erst mal herzhafte Pfannkuchen«, informierte er mich.

»Ich habe sie in einem von Mums Kochbüchern entdeckt.

Angeblich sind sie total einfach. Ich weiß noch nicht, womit ich sie füllen werde, aber du hast bestimmt irgendwas, das ich reintun kann. Vielleicht Käse? Oder Thunfisch. Sogar du musst doch in irgendeinem Schrank eine Dose Thunfisch haben. Dann Kebab. Da muss ich vorher eine Marinade zubereiten, es könnte also eine Weile dauern. Das mache ich gleich als Erstes, wenn wir bei dir sind. Über die Nachspeise habe ich noch nicht nachgedacht. Willst du überhaupt eine? Vielleicht reichen uns die Vorspeise und der Kebab. Ich könnte uns natürlich einen Milchreis kochen. Ach nein, Reis gibt es ja schon zum Kebab, dann ist das wohl keine so gute Idee.«

»Lieber keine Nachspeise«, sagte ich. Ich sah schon vor meinem geistigen Auge, welches Chaos meiner Küche bevorstand.

Troy und ich treffen uns jeden Donnerstag. Wir ziehen das seit zwei Jahren ziemlich konsequent durch. Angefangen haben wir mit diesem Arrangement, als er fünfzehn war und in großen Schwierigkeiten steckte. Ich hole ihn nach der Arbeit bei Mum und Dad ab und bringe ihn abends wieder zurück oder lasse ihn auf meiner schon etwas durchgelegenen Ausziehcouch schlafen.

Manchmal gehen wir ins Kino oder in ein Konzert. Gelegentlich unternehmen wir auch etwas mit meinen Freunden. Den Donnerstag zuvor waren wir mit Laura, Tony und ein paar anderen in einem Pub, aber es handelte sich um einen seiner lethargischen Tage, sodass er nach dem ersten Schluck Bier einfach den Kopf auf den Tisch legte und einschlief. Manchmal wirkt er schrecklich schüchtern, an anderen Tagen ist ihm einfach alles egal. Dann greift er mitten im Gespräch nach einem Buch, dreht sich um und verschwindet damit. Weil ihm gerade danach ist.

Ziemlich oft fahren wir einfach zu mir in die Wohnung und machen irgendwas miteinander. Seit ein paar Wochen ist er total versessen aufs Kochen, mit unterschiedlichem Erfolg. Er kann sich sehr schnell für etwas Neues begeistern, aber ebenso rasch flaut sein Enthusiasmus auch wieder ab. Es gab beispielsweise mal eine Phase, in der er nur Patiencen legen wollte. Solange er ein Spiel nicht beendet hatte, war er zu nichts anderem zu gebrauchen. Wenn es aufging, betrachtete er das als gutes Omen, was aber fast nie der Fall war. Im Sommer entdeckte er sein Faible für große Puzzles. Einmal brachte er eines mit, das sich »Das schwierigste Puzzle der Welt« nannte. Es bestand aus Tausenden von winzigen, beidseitig bedruckten Teilchen, und man wusste nicht, wie das fertige Bild aussehen sollte.

Wochenlang konnte ich meinen Tisch nicht benutzen, weil darauf das angefangene Puzzle lag, außen herum die bereits fertigen Kanten und in der Mitte das langsam entstehende Bild einer Straßenszene. Von einem Tag auf den anderen fand er das Ganze dann plötzlich langweilig. »Was hat es eigentlich für einen Sinn, solche Puzzles zusammenzusetzen?«, fragte er mich.

»Erst sitzt man ewig daran, und wenn man dann endlich fertig ist, nimmt man es wieder auseinander und legt es zurück in die Schachtel.« Obwohl er schon so viel Zeit darauf verwendet hatte, brachte er es nicht zu Ende. Es befindet sich noch immer in einer Schachtel unter meinem Bett.

Was ist bei ihm schief gelaufen? Das fragt meine Mutter manchmal, vor allem, wenn Troy stumm und in sich gekehrt in seinem Zimmer sitzt und sein Gesicht aussieht wie eine trotzige Maske. Er war von Anfang an ein sehr gescheites Kind gewesen, manchmal sogar auf verblüffende Weise: Er hatte schon mit einem Jahr ganze Sätze gesprochen, mit drei Jahren Lesen gelernt und später alle seine Lehrer mit seinen Fähigkeiten beeindruckt. Meine Eltern hatten vor ihren Freunden mit ihm angegeben. Er war bei Veranstaltungen zur Schau gestellt und mit Schulpreisen überhäuft worden. Das Lokalblatt hatte mehrfach über ihn berichtet, und am Ende wurde er in eine Klasse gesteckt, in der alle anderen Kinder ein, zwei Jahr älter waren als er – und einen halben Meter größer, weil er anscheinend nicht wuchs. Er war ein extrem kleiner Junge mit knochigen Knien und abstehenden Ohren.

Irgendwann begannen die Schikanen. Ich meine damit nicht nur, dass er auf dem Schulhof herumgeschubst und als Streber verspottet wurde. Nein, er wurde von einer Gruppe von Jungs systematisch gequält und von allen anderen geschnitten. Seine Peiniger nannten ihn »Troy Boy«, sperrten ihn auf der Schultoilette ein, banden ihn hinter dem Fahrradschuppen an einen Baum, warfen seine Bücher in den Dreck und trampelten darauf herum, ließen im Klassenzimmer Zettel herumgehen, auf denen sie ihn als Waschlappen und Tunte bezeichneten. Sie boxten ihn in den Magen, verfolgten ihn auf seinem Heimweg von der Schule. Er erzählte niemandem davon – und Kerry und ich waren so viel älter als er, dass wir zu dem Zeitpunkt bereits in einer anderen Welt lebten und nichts davon mitbekamen. Er beschwerte sich auch nicht bei seinen Lehrern oder unseren Eltern, die nur wussten, dass er still und »anders« war als die anderen Jungs in seiner Klasse. Er arbeitete einfach noch härter und eignete sich eine pedantische und leicht sarkastische Art an, die ihn nur noch mehr isolierte.

Als er dreizehn war, wurden meine Eltern in die Schule zitiert, weil man ihn dabei erwischt hatte, wie er auf dem Schulhof ein paar Jungs mit Knallkörpern bewarf. Er raste und heulte vor Wut und beschimpfte jeden, der in seine Nähe kam, als würden die Qualen von acht Jahren Schikane plötzlich alle auf einmal aus ihm herausbrechen. Er wurde für eine Woche vom Unterricht ausgeschlossen. Während dieser Woche »beichtete«

er Mum alles, woraufhin sie in die Schule stürmte und einen Aufstand machte. Mehrere Jungs mussten vor dem Direktor erscheinen und wurden für ihr Verhalten bestraft. Aber wie soll man Kindern beibringen, jemanden zu mögen, noch dazu, wenn dieser Jemand so ist wie mein kleiner Bruder: schüchtern und voller Angst, in seinem sozialen Verhalten gestört und durch seine besondere Art von Intelligenz gehandikapt? Und wie ist ein Schaden wieder gutzumachen, der bis in die Grundfesten reicht? Ein Haus kann man in einem solchen Fall abreißen und neu aufbauen, aber bei einem Menschen geht das natürlich nicht.

Ich hatte mittlerweile meine Ausbildung am College abgeschlossen. Wie ernst die Lage tatsächlich war, begriff ich erst, als Troy seinen Abschluss machen sollte. Vielleicht hatte ich es einfach nicht sehen wollen. Alle rechneten damit, dass er hervorragend abschneiden würde. Er selbst sagte, es sei gut gelaufen, äußerte sich ansonsten aber nur sehr vage über die einzelnen Prüfungen. Wie sich herausstellte, war er zu keiner einzigen erschienen. Stattdessen hatte er sich in einen Park in der Nähe seiner Schule gesetzt, die Enten mit Brot gefüttert, den Müll am Rand des Teichs betrachtet und hin und wieder auf seine Uhr gesehen. Als es schließlich herauskam, waren meine Eltern völlig ratlos. Ich kann mich noch an einen Nachmittag erinnern, als Mum weinte und ihn immer wieder fragte, was sie denn falsch gemacht habe, ob sie wirklich so eine schlechte Mutter gewesen sei, und Troy einfach nur schweigend dasaß, während seine Miene eine Mischung aus Triumph und Scham zeigte, die mich erschreckte. Der Schulpsychologe, den meine Eltern hinzuzogen, erklärte, es handle sich um einen Hilferuf.

Ein paar Monate später sagte er, die Verletzungen, die Troy sich selbst zufügte – Dutzende von flachen Schnitten an den Unterarmen –, seien gleichermaßen ein Hilferuf, und dass er an manchen Tagen einfach nicht aus dem Bett komme, sei ebenfalls so zu interpretieren.

Troy kehrte nicht an die Schule zurück. Er bekam einen Privatlehrer und jede Menge Therapiesitzungen. Dreimal die Woche geht er zu einer Frau mit ein paar Buchstaben hinter ihrem Namen, um mit ihr über seine Probleme zu sprechen. Ab und zu frage ich ihn, wie diese fünfundvierzig Minuten dauernden Sitzungen ablaufen, aber meist zuckt er nur grinsend mit den Achseln. »Oft schlafe ich einfach«, hat er einmal geantwortet. »Ich lege mich auf die Couch und schließe die Augen, und plötzlich sagt eine Stimme zu mir, dass meine Sitzung vorbei ist.«

»Wie geht’s dir denn so?«, fragte ich, während ich uns eine Kanne Tee machte und er rote Paprikaschoten in Streifen schnitt. In der Küche herrschte bereits Verwüstung. Ein Topf mit Reis kochte so wild vor sich hin, dass der Dampf immer wieder den Deckel hochdrückte und Wasser über den Rand schwappte. Der Tisch war mit Eierschalen übersät, in der Spüle stapelten sich Schüsseln und Löffel. Der Boden war mit Mehl bestäubt, als hätte es in meiner Küche leicht geschneit.

»Ist dir schon mal aufgefallen, dass die Leute immer in einem besonders vorsichtigen, taktvollen Ton mit mir sprechen, wenn sie mich fragen, wie es mir geht?«

»Tut mir Leid«, sagte ich.

»Es langweilt mich zu Tode, immer nur über mich zu sprechen. Wie geht’s denn dir?«

»Passt schon.«

»Nein, ich will es wirklich wissen. Das ist der Deal. Ich sage es dir, du sagst es mir.«

»Eigentlich trifft es ›passt schon‹ im Moment ziemlich genau.

Bei mir gibt’s zurzeit nicht viel zu berichten.«

Er nickte. »Brendan will mir das Fischen beibringen«, erklärte er.

»Ich wusste gar nicht, dass du dich dafür interessierst.«

»Tu ich ja auch nicht. Ich habe nie einen Gedanken daran verschwendet. Aber er sagt, wir könnten irgendwann ans Meer fahren, wo ein Freund von ihm ein Boot liegen hat, und damit Makrelen fischen. Er sagt, man zieht sie einfach aus dem Wasser, eine nach der anderen, und dann brät man sie über dem Feuer.«

»Klingt gut.«

»Er sagt, es mache sogar bei Regen Spaß, in einem Boot zu sitzen und zu warten, bis einer angebissen hat.«

»Demnach hast du ihn schon oft getroffen?«

»Ein paarmal.«

»Und du magst ihn?«

»Ja. Allerdings kann ich ihn mir nicht als deinen Freund vorstellen.«

»Warum nicht?«

Er zuckte mit den Achseln. »Er ist nicht dein Stil.«

»Was ist denn mein Stil?«

»Du bist eher der Katzen- als der Hundetyp.«

»Ich habe keinen blassen Schimmer, wovon du sprichst.«

»Er hat mehr von einem Hund als von einer Katze, findest du nicht? Eifrig und um Aufmerksamkeit bemüht. Katzen sind unabhängiger und hochnäsiger.«

»Dann bin ich also hochnäsig?«

»Zu mir nicht. Aber zu Leuten, die du nicht so gut kennst.«

»Und was bist dann du?«

»Ein Otter«, antwortete er wie aus der Pistole geschossen.

»Du hast über das Thema wirklich nachgedacht, hm?«

»Und Mum ist ein Känguru.«

»Ein Känguru?!«

»Ja, sie kann sich einfach nicht so richtig daran gewöhnen, dass wir nicht mehr in ihrem Beutel stecken. Mal abgesehen davon, dass ich noch ab und zu hinein- und wieder hinauskrieche.«

»Was ist Dad?«

»Brendan hatte auch schon mal so eine Art Zusammenbruch«, wechselte Troy das Thema. Er fing an, Lammfleischstücke und Paprikastreifen auf Holzspieße zu stecken.

»Wirklich? Das wusste ich nicht.«

»Er hat gesagt, er spricht sonst mit niemandem darüber. Mir hat er es nur deswegen erzählt, weil er mir klar machen wollte, dass Schmerz ein Fluch, aber zugleich auch ein Geschenk sein kann, und dass es möglich ist, etwas Positives darin zu sehen.«

»Das hat er gesagt?«

»Ja. Er hat manchmal ein bisschen was von einem Hippie.«

»Ich glaube, ich werde mir ein Bier genehmigen.«

»Dad ist eine Ente.«

»Ich glaube nicht, dass ihm das gefallen würde.«

»Enten sind ganz in Ordnung. Sie sind Optimisten.«

»Und Kerry?«

»Vielleicht eine Gazelle?«

»Hat Brendan irgendwas über mich gesagt?« Ich versuchte die Frage möglichst beiläufig zu stellen.

»Er hat gesagt, er habe dir wehgetan.«

»Aha.«

»Stimmt das?«

»Nein.«

»Und er hat gesagt, du seist zu stolz, um es zuzugeben.«

5. KAPITEL

»Geht es dir gut?«, fragte Mum, sobald sie mir die Tür geöffnet hatte.

Es ging mir gut. Aber da sie mich ständig danach fragte, noch dazu in diesem mitfühlenden Ton, war mir diese Frage inzwischen sehr unangenehm. Als würde jemand mit Schleifpapier über meine Haut fahren. Ich wusste schon gar nicht mehr, was ich darauf sagen sollte. Ein einfaches »gut«

reichte nicht mehr aus, das klang zu defensiv. Ich begann zu überlegen, was ein Mensch, dem es wirklich gut ging, auf diese Frage antworten würde – was ich zu meiner Mutter sagen konnte, um sie wirklich davon zu überzeugen, dass das Ganze überhaupt nichts Peinliches hatte, zumindest nicht für mich.

»Es geht mir bestens«, antwortete ich. »Das Ganze ist überhaupt kein Problem.«

Zu viel. Meine Mutter war schon wieder voller Mitgefühl.

»Du siehst sehr hübsch aus, Miranda«, sagte sie.

Ich sah in der Tat ganz annehmbar aus, auch wenn mir die Entscheidung, was ich anziehen sollte, sehr schwer gefallen war.

Einem alten Klischee zufolge soll man, wenn man verlassen worden ist – was auf mich natürlich nicht zutraf, aber darum ging es im Moment nicht –, darauf achten, möglichst blendend auszusehen, damit demjenigen, der einen verlassen hat oder von dem die Leute glauben, dass er einen verlassen hat, bewusst wird, was er alles verpasst. Da es sich dabei aber um ein altes Klischee handelt, das jeder kennt, kann es am Ende auch ein wenig erbärmlich wirken, wenn man in einer solchen Situation zu viel Mühe auf sein Aussehen verwendet. Andererseits kann man aber auch nicht ins andere Extrem verfallen und den Eindruck erwecken, als hätte man den ganzen Tag weinend im Bett verbracht und nebenbei eine Flasche Sherry getrunken. Das Ganze hätte überhaupt kein Problem sein dürfen, war aber trotzdem eins, und ich konnte es nur lösen, indem ich mir überlegte, was ich angehabt hatte, als ich das letzte Mal in Gesellschaft unterwegs war – den Abend mit Kerry und Brendan nicht mitgezählt. Unglücklicherweise hatte es sich bei meinem letzten gesellschaftlichen Ereignis um einen Junggesellinnenabschied für eine alte Freundin gehandelt, zu dem ich ein gewagtes kleines Schwarzes getragen hatte, das für ein Sonntagsessen bei meinen Eltern völlig ungeeignet war. Das Mal davor aber war ein zwangloser Kneipenbesuch mit ein paar Freunden gewesen, und ich hatte eine Jeans, ein weißes Hemd und meine neue Jeansjacke mit dem Wildlederkragen getragen.

Das konnte ich gut anziehen.

»Du siehst wirklich sehr hübsch aus«, betonte meine Mutter noch einmal. Langsam bekam ich das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. »Die anderen sind schon alle da«, fuhr sie fort. »Kerry sieht phantastisch aus. Was natürlich nicht heißen soll …« Sie musterte mich verlegen. »Sollen wir zu ihnen hinausgehen?«

»Ist Troy auch da?«, fragte ich.

»Ja. Er scheint recht guter Laune zu sein. Nicht ganz so aufgedreht wie letzten Donnerstag, aber im grünen Bereich. Toi, toi, toi!«, fügte sie hinzu und klopfte gegen das Holz des Türrahmens.

Mit der Familie Cotton schien also alles in Ordnung zu sein.

Kerry war glücklich, ich sah hübsch aus, Troy wirkte gut gelaunt. Ich war versucht, eine sarkastische Bemerkung zu machen, riss mich aber zusammen. Schließlich wollte ich mich heute von meiner besten Seite zeigen. Wie die Sonne, die zur Feier des Tages von einem strahlend blauen Himmel schien.

Obwohl schon Oktober war, hatten sich alle draußen in dem langen, schmalen Garten hinter dem Haus versammelt. Alle außer Troy, der sich in Gruppen nicht wohl fühlte. Meist ließ er sich am Anfang kurz blicken und zog sich dann unauffällig zurück, um oben ein Buch zu lesen oder Musik zu hören.

Trotzdem wirkte der kleine Garten überfüllt. Bill und Judy waren ebenfalls da. Meine Eltern hatte mir gar nicht gesagt, dass sie meinen Chef eingeladen hatten. Demnach wusste er es also auch schon. Obwohl »wissen« hier das falsche Wort war, weil Brendans Geschichte ja gar nicht stimmte. Eigentlich hätte es für einen solchen Fall ein eigenes Wort geben müssen.

Jedenfalls war das Wetter so schön, dass Dad den Grill angeheizt hatte. Ich sah ihn am hinteren Ende des Gartens in den Kohlen herumstochern, unterstützt von – tatsächlich, ich hatte mich nicht getäuscht – Brendan. Die beiden unterhielten sich angeregt, waren aber so weit von mir entfernt, dass ich nicht hören konnte, was sie sagten. Kerry stand bei Judy. Sie trug eine weite schwarze Hose und ein enges, geripptes rosa Oberteil. Sie sah, wie schon im La Table, glücklich und selbstbewusst aus.

Ich beschloss, alle potenziellen Peinlichkeiten so weit wie möglich hinauszuschieben, und ging zu Bill hinüber, der mir die neutralste Person im Garten zu sein schien. Er begrüßte mich mit einem freundlichen Nicken.

»Hallo, Miranda. Wie geht’s dir?«

Auf dem Tisch neben ihm stand ein Vorrat an Bierdosen bereit. Er reichte mir eine.

»Was für eine nette Überraschung«, bemerkte ich. »Du bist hier ja nicht gerade ein häufiger Gast.«

»Marcia hat darauf bestanden.«

Ich nahm einen Schluck von dem Bier und betrachtete die Rückseite meines Elternhauses, die mit einem Baugerüst versehen war.

»Was hältst du davon?«, fragte ich.

»Wenn sie es jetzt nicht in Angriff genommen hätten, würde es nächstes Jahr nicht mehr stehen.«

»So schlimm?«

»Noch schlimmer. Man kann richtig zusehen, wie der Riss größer wird.«

»Miranda«, sagte mein Vater, der plötzlich von der Seite auftauchte. »Wie geht es dir?«

Ich ignorierte die Frage, nicht zuletzt, weil Brendan an seiner Seite klebte. Er trug eine neue, gebügelte Jeans und einen hellblauen Pullover, bei dem er die Ärmel bis knapp unter die Ellbogen hochgeschoben hatte.

»Hallo, Dad. Schön, dich zu sehen«, sagte ich und legte einen Arm um meinen Vater. Er tätschelte ein wenig verlegen meinen Rücken. Umarmungen sind nicht so sein Ding.

»Ich muss zugeben, dass Brendan ein echter Grillmeister ist«, erklärte er.

»Es kommt darauf an, die Kohle richtig aufzutürmen«, antwortete Brendan. »Man ordnet die Briketts zu einer Pyramide an, legt ein paar Anzünder darunter und sorgt dann dafür, dass das Ganze so richtig schön brennt. Man breitet die Kohlen erst aus, wenn die Flammen erloschen sind.«

»Bill und ich haben gerade über das Haus gesprochen«, wechselte ich das Thema.

»Du solltest aufpassen, was Brendan zu sagen hat«, meinte Dad. »Du könntest vielleicht etwas von ihm lernen.«

»Ich grille so selten in meiner Wohnung.«

»Irgendwann ist immer das erste Mal«, erwiderte Brendan.

»Ich glaube, Grillen ist doch eher ein Männersport«, gab ich zurück.

»Wir haben nie miteinander gegrillt, oder, Mirrie?«

Ich war versucht zu sagen: »Nein, Brendan. Wir haben nie miteinander gegrillt, weil wir nur ungefähr neun Tage zusammen waren, sodass wir gar keine Zeit dafür hatten, genauso wenig wie für viele andere Dinge.« Aber ich verkniff es mir. Stattdessen holte ich tief Luft. Es war ein stummes, metaphorisches Luftholen.

»Nein, das haben wir nicht«, antwortete ich.

»Ich fürchte, ich habe Brendan gelangweilt«, erklärte Dad. »Er hat mich über meine Arbeit reden lassen.«

»Schachteln«, sagte Brendan und rieb die Hände aneinander.

»So einfach, und doch so wichtig. Stellt euch das Leben ohne Schachteln vor!«

Bill schnappte nach Luft. Sogar mein Vater wirkte angesichts von so viel Enthusiasmus ein wenig verblüfft.

»Nun ja«, antwortete er. »Dazu kann ich wenig sagen. Ich bin eher der praktische Typ. Ich stelle gern Dinge her. Und es hat mir immer Spaß gemacht, Probleme zu lösen. Problemlösungen zu finden. Dazu hat man in der Verpackungsbranche viel Gelegenheit.«

»Ich weiß genau, was du meinst«, pflichtete Brendan ihm bei.

»Auf den ersten Blick scheint es eine ziemlich banale Arbeit zu sein. Aber ich weiß noch genau, was für Probleme es gab, als ich vor ein paar Jahren mit einem Typen namens Harry Vermont eine Dotcom-Firma gründete.«

»Was für eine Firma?«, fragte mein Vater.

Brendan lachte ein wenig kläglich.

»Eine von der Sorte, die uns alle zu Millionären machen sollte«, antwortete er. »Aber inzwischen existiert sie nicht mehr.«

»Worum ging’s dabei?«, wollte Bill wissen.

»Die Grundidee war«, erklärte Brendan, »dass die Leute alle möglichen Waren im Internet bestellen konnten und wir sie liefern würden. Wir wollten die Mittelsmänner oder besser die Vermittler sein. Am Anfang dachte ich, es würde dabei hauptsächlich um technische Fragen gehen. Aber als wir dann so richtig loslegten, merkte ich, dass das nur zum Teil zutraf und es letztendlich auch um die Verpackung und Auslieferung ging.

Man musste am richtigen Ort die richtige Firma finden und dafür sorgen, dass die Ware so schnell wie möglich verpackt wurde, damit wir sie pünktlich ausliefern konnten. Das war eine unglaubliche Herausforderung für uns.«

»Mit wem habt ihr zusammengearbeitet?«, fragte Dad.

»Bitte?«

»Die Verpackungsbranche ist in diesem Land eine kleine Welt. Ich habe mich gerade gefragt, ob vielleicht jemand dabei war, den ich kenne.«

»Wir waren erst in der Planungsphase«, entgegnete Brendan.

»Dann brach der ganze Dotcom-Markt zusammen, und unsere Finanzierung platzte. Der gute alte Harry ist darüber nie so ganz hinweggekommen.«

»Wenn es dich interessiert, Brendan, kann ich dich gern mal in der Firma herumführen.«

»Das wäre großartig«, antwortete Brendan. »Aber ich schätze, jetzt ist es erst mal an der Zeit, das Fleisch auf den Grill zu legen.«

Wie sich herausstellte, war es keineswegs an der Zeit, das Fleisch auf den Grill zu legen. Während wir uns unterhalten hatten, war das Grillfeuer wieder ausgegangen. Brendan meinte, das passiere manchmal, wenn die Briketts zu lange in einem Schuppen gelegen hätten und feucht geworden seien. Mein Vater wirkte hocherfreut und erklärte, er hätte es ohnehin nicht ertragen können, jemanden in der Familie zu haben, der sich besser aufs Grillen verstand als er, weil das seine Stellung als Herr und Meister gefährden würde.

Die Vorstellung, Brendan »in der Familie zu haben«, war mir so unangenehm, dass ich eine ganze Weile nichts mehr sagte.

Erst nachdem ich mein Bier geleert und eine zweite Dose geöffnet hatte, begann ich das Ganze etwas lockerer zu sehen.

Ich stand ein Stück von den anderen entfernt und beobachtete, wie Brendan um meine Familie herumscharwenzelte. Ich musste daran denken, dass dieser schmale Gartenstreifen einer von Dutzenden in der Straße war und es in London Millionen davon gab, und plötzlich fand ich es fast rührend, wie bemüht und eifrig Brendan zwischen dem Grill – der mittlerweile schnell und effektiv von Bill in Gang gesetzt worden war – und meinen Eltern hin und her wuselte. Ab und zu stahl er sich an Kerrys Seite und legte kurz den Arm um sie oder flüsterte ihr etwas zu oder sah sie einfach nur liebevoll an, woraufhin sie jedes Mal übers ganze Gesicht zu strahlen begann.

Er half meiner Mutter, das Hühnerfleisch und die Lachsstücke mit Marinade zu bestreichen. Dazwischen fand er irgendwie die Zeit, ins Haus zu gehen und Troy aus dem Winkel zu locken, in den er sich diesmal verkrochen hatte. Er trieb ihn nach draußen und überredete ihn dazu, die Teller zum Esstisch zu tragen und anschließend die Salate zu bringen, die Troy und meine Mutter am Vormittag gemacht hatten. Ein wenig beschämt wurde mir bewusst, dass ich selbst nichts zu den Vorbereitungen beigetragen hatte. Irgendwie ging ich davon aus, dass die Familie Cotton nur zu meinem Nutzen da war, wie eine Art Museum, in dem ich jederzeit auf einen Sprung vorbeischauen konnte, wenn mir danach war. Und bei dem ich mich darauf verlassen konnte, dass andere Leute es in Schuss hielten. Meine Eltern waren dafür da, alles Mögliche für mich zu tun und den Kopf hinzuhalten, wenn etwas schief ging. Hatte ich je einen Gedanken daran verschwendet, auch einmal etwas für sie zu tun?

Als ich schließlich bei meinem dritten Bier angelangt war, wurde meine Stimmung immer versöhnlicher; ich fühlte mich plötzlich mit nahezu allen Menschen auf dieser Welt verbunden, ganz bestimmt aber mit allen in diesem Garten, wenn auch nicht notwendigerweise auf eine besonders fassbare Art.

Brendan legte sich gerade so richtig ins Zeug, machte fünf Sachen gleichzeitig. Meine Mutter lief hektisch hin und her, trug Geschirr und Besteck heraus. Mein Vater hantierte mit dem Grillrost, der unter seiner Last aus Huhn und Fisch immer wieder zu kippen drohte. Kerry unterhielt sich mit Judy, und Troy spielte irgendwas mit Bills Kindern, Sasha und Mitch.

Während ich mir das geschäftige Treiben ansah, fiel mir etwas Seltsames auf: Alle schienen sich prächtig zu amüsieren.

Brendan brachte mir einen Teller mit gegrilltem Huhn und Salat, und ich begann gierig zu essen. Ich brauchte dringend etwas, um das viele Bier aufzusaugen. Vor lauter Hunger fiel mir erst gar nicht auf, dass ich die Erste gewesen war, der Brendan etwas gebracht hatte. Als diese etwas seltsame Tatsache schließlich doch in mein Bewusstsein drang, sah ich zu Kerry hinüber.

Offenbar spürte sie meinen Blick, denn sie drehte sich zu mir um und lächelte. Ich lächelte zurück. Was für eine glückliche Familie.

6. KAPITEL

Ich weiß noch, wie ich Bill mit dreizehn oder vierzehn als unbezahlte Praktikantin in ein Haus in Finsbury Park begleiten durfte, ein kleines Haus mit winzigen Räumen und dunklen Möbeln. Wir standen im Wohnzimmer, wo der Boden mit Laken abgedeckt war. Mein Onkel drückte mir einen Vorschlaghammer in die Hand und forderte mich auf, damit ein Loch in die Wand zu schlagen, die das Zimmer von der Küche trennte. Er musste es mir zweimal sagen, weil ich nicht glauben wollte, dass er das ernst meinte. Die Wand wirkte so stabil, der Raum so klein und trist, dass ich mir einfach nicht vorstellen konnte, dass sich daran etwas ändern ließ. Außerdem konnte man doch nicht einfach so mir nichts, dir nichts eine Wand durchbrechen, oder doch? Aber Bill nickte nur und trat ein Stück zurück. Also hievte ich den Hammer, der so schwer war, dass ich ihn kaum heben konnte, auf meine linke Schulter und schwang ihn mit aller Kraft gegen die Mauer. Sein Gewicht riss mich mit, und ich verrenkte mir dabei fast den Arm. Verputz bröckelte von der Wand, und ein Spalt wurde sichtbar. Nach meinem zweiten Versuch wies die Mauer bereits ein Loch auf.

Es hatte einen zackigen Rand und die Größe meiner Faust. Ein weiterer Schlag, und es war schon so groß, dass ich die Mitte der Küche sehen konnte, ein Abtropfbrett und eine Spüle mit tröpfelnden Hähnen, und dahinter ein kleines Stück des Gartens, an dessen Ende ein Lorbeerbaum stand. Und plötzlich war ich unglaublich aufgeregt – ein wundervolles Gefühl, Dinge auf diese Weise zu öffnen, mit jedem Hammerschlag neue Ausblicke zu schaffen und von einer Sekunde auf die andere Licht in einen so düsteren Raum zu bringen. Ich glaube, in dem Moment ging mir zum ersten Mal durch den Kopf, dass ich dasselbe machen wollte wie Bill, auch wenn er mir Jahre später, als ich ihm das zu erklären versuchte, lächelnd auf die Schulter klopfte und sagte: »Wir sind bloß Maler und Tapezierer, Miranda.«

Noch immer überkommt mich bei meiner Arbeit gelegentlich dieses Gefühl von Euphorie – als hätte ich eine riesige Luftblase in der Brust oder als würde ein Wind durch mich hindurchblasen. Ich spürte es beispielsweise bei dem Dachgarten in Clapham, der irgendwie den Deckel von dem ganzen Haus nahm, und ebenso damals, als wir einen zugemauerten Kamin öffneten, der so riesig war, dass man darin stehen und zu einem pennyförmigen Stück Himmel hinaufsehen konnte. Wände niederzureißen erfüllt mich immer mit frischer Energie. Hin und wieder empfinde ich dasselbe Hochgefühl auch in meinem Privatleben. Es geht mit Übergängen und Veränderungen einher, beispielsweise wenn es Frühling wird oder man sich verliebt. Oder wenn man in ein Land reist, das man noch nicht kennt. Oder eine Krankheit überstanden hat und sich plötzlich wie ein neuer Mensch fühlt.

Als ich von jenem Mittagessen nach Hause kam, fasste ich zwei Beschlüsse: Ich würde meine Wohnung einer Grundreinigung unterziehen, und ich würde zu joggen beginnen.

Das war alles. Trotzdem schrieb ich beide Vorhaben auf die Rückseite eines alten Briefumschlags und unterstrich sie jeweils zweimal, als würde ich sie sonst gleich wieder vergessen. Dann ließ ich mich in meinen Sessel fallen. Ich hatte drei Dosen Bier getrunken und zwei Portionen mariniertes Huhn gegessen, außerdem ein Stück leicht verkohlten Lachs, drei Scheiben Knoblauchbrot und eine Schüssel Eis. Eigentlich hätte ich meine guten Vorsätze auf der Stelle in die Tat umsetzen und eine Runde laufen sollen, bevor es zu dunkel wurde, aber wahrscheinlich war es gar nicht so gesund, mit vollem Magen zu joggen. Außerdem wollte ich nicht mit meiner alten grauen Sporthose, bei der der Bund schon völlig ausgeleiert war, die Hauptstraße entlanglaufen.

Deswegen beschloss ich, mit der Wohnung anzufangen. Ich schlüpfte in eine bequeme Hose und ein ärmelloses Shirt und legte eine schwungvolle CD ein. Eigentlich putze ich meine Wohnung ganz gern. Sie liegt im ersten Stock und ist sehr klein –

ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer mit einem Esstisch an der einen Wand, eine Kochnische, durch deren Fenster man auf einen Flickenteppich aus lauter schmalen Gärten hinaussieht, ein Bad.

Ich genieße es, wenn alles wieder sauber ist – alle Oberflächen von Staub befreit, das Geschirr gespült und aufgeräumt, der Teppich gesaugt, der Boden gewischt, die Zeitungen sauber auf meinem Schreibtisch gestapelt, die Stifte in einer Tasse auf dem Kaminsims, die dreckige Wäsche im Korb, die restlichen Klamotten im Schrank. Es ist ein gutes Gefühl, wenn das Bad blitzt und alles nach Reinigungsmitteln, Politur und Seife riecht.

Als ich schließlich fertig war, hatte ich schmutzige Füße und Arme und eine schweißnasse Stirn. Der Nachmittag war in den Abend übergegangen, und nun, da ich aufgehört hatte, wie eine Wilde durch die Wohnung zu sausen, spürte ich die schneidende Kälte einer wolkenlosen Oktobernacht.

Einige meiner Freunde wohnen äußerst ungern allein. Sie betrachten es nur als Übergang. Ich dagegen finde es schön.

Wenn ich die Haustür hinter mir zuziehe und die Treppe hinaufsteige, freue ich mich jedes Mal, dass oben meine stille Wohnung auf mich wartet. Ich brauche niemanden um Erlaubnis zu fragen, wenn ich mich zwei Stunden in die Wanne legen oder um halb neun ins Bett gehen möchte. Ich kann mitten in der Nacht Musik hören oder mir ein Glas Wein einschenken und mir irgendeine billige Quizshow anschauen. Ich genieße es sogar, allein zu essen, auch wenn ich im Gegensatz zu Troy über ein sehr begrenztes und konservatives Repertoire an Gerichten verfüge. Manchmal bereite ich mir mehrere Abende hintereinander das Gleiche zu. Eine Weile war es Rührei auf gebuttertem Roggentoast. Dann kam die Phase des griechischen Salats, den ich mittlerweile zur Perfektion gebracht habe: Ich mache ihn nicht nur mit Tomaten, Gurke und Feta-Käse, sondern zusätzlich mit Avocado, Fenchel und sonnengetrockneten Tomaten. Ein paar Wochen lang kombinierte ich eine Dose Tintenfischstücke mit einer Dose Kichererbsen, wovon ich inzwischen aber wieder Abstand genommen habe. Wenn Freunde zu Besuch kommen, gibt es entweder Hühnchenbrust mit Knoblauch, Rosmarin und Olivenöl – man braucht das Ganze bloß in den Herd zu schieben und eine halbe Stunde zu warten –, oder wir lassen uns was kommen. Meistens Letzteres.

Vielleicht war mir Brendan nicht zuletzt deswegen so schnell auf die Nerven gegangen, weil er es sich in meiner Wohnung gleich so gemütlich gemacht hatte. Als wäre es auch sein Zuhause. Aber ich wollte nicht mehr an Brendan denken. In meinem Leben würde ab jetzt wieder ein anderer Wind wehen.

In einem Laden in der Camden High Street, der Run Run Run hieß, erstand ich ein hübsches blaues Trikot, weiße Shorts, schwarze Wildlederlaufschuhe und ein Buch mit dem Titel Lauf um dein Leben, verfasst von einem Mann namens Jan, der auf der Rückseite abgebildet war und mit seinem Stirnband aussah wie ein Mitglied von Duran Duran. Anschließend besorgte ich mir im Spirituosenladen eine Flasche gekühlten Weißwein. Eine derart transparente Flüssigkeit konnte unmöglich eine größere Menge Kalorien enthalten. Dazu kaufte ich mir eine teure Packung Chips, die der Aufschrift zufolge mit einer besonders gesunden Sorte Sonnenblumenöl zubereitet worden waren. Zu Hause angekommen, sicherte ich die Tür mit der Kette und legte mich mit einer Schüssel Chips, einem Glas Weißwein und meinem Laufbuch in die Badewanne. Eine höchst wohltuende Kombination. Das erste Kapitel schien für Leute gedacht, die noch weniger fit waren als ich. Demnach sollte man das Lauftraining mit einem flotten zehnminütigen Marsch beginnen, dann etwa hundert Meter laufen, anschließend weitere zehn Minuten marschieren. Der mit dem Training beginnende Läufer sollte niemals ernstlich außer Atem kommen und schon beim leisesten Anzeichen von Unbehagen aufhören. Völlig verkehrt sei es, ohne jede Vorbereitung loszulaufen.

»Es ist besser, langsam anzufangen und aufzubauen«, hieß es an einer Stelle in Kursivschrift, »als schnell anzufangen und schnell wieder aufzugeben.« Das klang für mich recht einleuchtend. Ich überblätterte einige Seiten. Wie es aussah, konnte ich ruhig ein paar Phasen überspringen und würde immer noch nicht Gefahr laufen, ins Schwitzen zu geraten.

Der Verfasser empfahl allen aufstrebenden Läufern und Läuferinnen, an das sportliche Training zu denken, das sie im Rahmen ihres ganz normalen Arbeitstages absolvierten.

Demzufolge tat man sogar schon etwas für seinen Körper, wenn man einfach nur von seinem Schreibtisch aufstand und die paar Schritte zum Wasserspender ging. Ich machte viel mehr als das: Ich trug Leitern und Dielen durch die Gegend, strich in verrenkter Körperhaltung eine Zimmerdecke nach der anderen und hielt schwere Farbdosen minutenlang mit nur einer Hand. Die Lauferei würde das reinste Kinderspiel für mich werden. Ich stellte meinen Wecker eine halbe Stunde früher als sonst. Am nächsten Morgen wagte ich mich in meinem neuen Sportoutfit auf die Straße. Ich wünschte, ich hätte mir auch gleich noch eine Maske besorgt.

Zum Aufwärmen marschierte ich erst mal fünf Minuten. Kein Problem. Dann rannte ich ungefähr hundert Meter in flottem Tempo. Ich befolgte Jans Rat und hörte sofort auf, als ich das erste Anzeichen von Schmerz verspürte. Nachdem ich wieder ein paar Minuten gegangen war, versuchte ich es noch mal mit Laufen. Diesmal kam der Schmerz schneller. Mein Körper realisierte langsam, was mit ihm geschah. Erneut drosselte ich mein Tempo und machte mich auf den Heimweg. Laut Jan war es am Anfang besonders wichtig, Verstauchungen oder Zerrungen infolge eines übertrieben ehrgeizigen Trainings zu vermeiden. Es gelang mir ohne größere Schwierigkeiten, diesen Ratschlag zu beherzigen.

»Hallo? Miranda? Ich wollte bloß …«

Ich griff nach dem Hörer.

»Hallo, Mum.«

»Ich habe dich doch nicht aufgeweckt, oder?«

»Nein, ich war schon auf dem Sprung.«

»Ich möchte dir nur für gestern danken. Eigentlich wollte ich dich gestern Abend noch anrufen, aber dann sind Kerry und Brendan so lange geblieben … Es ist alles recht gut gelaufen, nicht wahr?«

»Ja, es war sehr nett.«

»Findest du nicht auch, dass Kerry sehr glücklich wirkt?«

»Doch, ja.«

»Weißt du, was? Mir kommt es vor wie ein Wunder.«

»Mum …«

»Ein Wunder«, wiederholte sie. »Wenn ich daran denke, wie

…« Die Worte verschwammen, und ich schloss ergeben die Augen. Ich wollte eine gute Tochter sein.

»Hallo, Miranda. Ich bin’s, Kerry. Miranda? Bist du da?«

Nach einer kurzen Pause war im Hintergrund eine Männer-stimme zu hören, auch wenn ich nicht verstehen konnte, was sie sagte. Kerry kicherte, dann fuhr sie fort: »Wir wollten bloß hören, wie es dir geht. Es wäre nett, wenn wir uns bald mal wieder sehen würden. Was? … Oh, Brendan lässt dich auch schön grüßen …«

Ich drückte auf den Knopf, um die Nachricht zu löschen.

In der Woche ging ich dreimal zum Laufen, konnte aber noch keine erkennbaren Fortschritte verzeichnen. Meine Lunge begann jedes Mal zu schmerzen, wenn ich eine kurze Strecke gelaufen war, meine Beine fühlten sich immer noch an wie Blei und mein Herz wie ein Stein, der in meinem Brustkasten umherpolterte. Wenn ich auf einen Hügel hinauflief, wurde ich meist von flott marschierenden Fußgängern überholt. Immerhin gab ich nicht auf, das allein war schon ein gutes Gefühl.

Am Freitag war ich zu einer Party eingeladen, die meine Freunde Jay und Pattie veranstalteten. Ich tanzte, trank erst Bier, dann Wein und anschließend einen seltsamen Schnaps aus Island, den Pattie ganz hinten in ihrem Schrank fand, nachdem die meisten ihrer Gäste gegangen und wir in jene wundervolle Phase der Nacht eingetreten waren, in der man keinerlei Anstrengungen mehr zu unternehmen braucht. Etwa ein Dutzend von uns saßen noch in ihrem schummrig beleuchteten Wohnzimmer herum, das mit leeren Bierdosen, Kippen und nicht zusammenpassenden Schuhen übersät war, und nippten vorsichtig an dem Schnaps, der meine Augen tränen ließ. Ich hatte im Lauf des Abends einen Mann namens Nick kennen gelernt. Er saß im Schneidersitz vor mir auf dem Boden, bis er sich nach einer Weile an meine Knie lehnte. Ich spürte die Wärme seines verschwitzten Rückens. Nach ein paar Minuten fuhr ich mit der Hand durch sein kurzes braunes Haar. Es fühlte sich weich und flauschig an, wie das Fell eines Tiers. Er legte mit einem leisen Seufzer den Kopf zurück, sodass ich sein Gesicht sehen konnte. Er lächelte. Ich beugte mich vor und küsste ihn rasch auf sein Lächeln.

Als ich ging, fragte er mich, ob ich Lust hätte, ihn wiederzusehen.

»Ja«, antwortete ich. »Gern.«

»Ich rufe dich an.«

»Tu das.«

Wir sahen uns an. Anfänge sind etwas so Wundervolles, genau wie jenes erste winzige Loch in der Wand, durch das man die Welt auf der anderen Seite erahnen kann.

7. KAPITEL

Zwei Tage später rief Nick an. Es scheint ganz strenge Regeln zu geben, wann man jemanden anrufen darf, genau wie es früher bestimmte Regeln gab, die einem sagten, beim wievielten Rendezvous man sich das erste Mal küssen durfte. Wenn man noch am selben Tag anruft, grenzt das fast schon an Belästigung. Ruft man am nächsten Tag an, wirkt man unter Umständen ein bisschen verzweifelt, denn da der erste Tag absolut tabu ist, ist der zweite Tag im Grunde die erste Möglichkeit. Wenn jemand überhaupt anruft, dann spätestens am dritten Tag. Wartet man länger als bis zum dritten Tag, kann man es genauso gut ganz bleiben lassen, denn dann ist die betreffende Person entweder schon verheiratet oder ausgewandert. Ich persönlich habe nie auf diesen Kodex geachtet. Für solchen Unsinn ist das Leben viel zu kurz. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich angerufen, sobald ich von der Party nach Hause gekommen wäre.

Jedenfalls rief Nick an, und von da an war alles ganz einfach.

Wir verabredeten uns für den nächsten Abend in einer Bar in Camden Town. Ich kam fünf Minuten zu früh, er fünf Minuten zu spät. Er trug eine ausgewaschene Jeans und ein lässiges Karohemd, darüber eine Lederjacke. Er war unrasiert, und seine Augen waren so dunkelbraun, dass sie fast schwarz wirkten.

»Du arbeitest für eine Maler- und Tapezierfirma«, begann er.

»Das hat mir Pattie erzählt. Außerdem hast du Farbe im Haar.«

Ich zupfte verlegen in meinem Haar herum.

»Ich kann nichts dagegen machen«, erklärte ich. »Immer ist irgendwo hinten am Kopf ein Fleck, den ich übersehe.

Irgendwann geht die Farbe dann von selbst ab.«

Wenn ich neue Leute kennen lerne, finden sie es meist aufregend, dass ich als Frau einer solchen Arbeit nachgehe. Als würde ich Bomben entschärfen. Nun ja, immerhin liefert mein Job einen guten Ausgangspunkt für ein Gespräch. Außerdem ist es ein bisschen so, als wäre ich Ärztin. Die Leute fragen mich um Rat. Sie wollen von mir wissen, wie sie ihr Zuhause neu gestalten sollen.

Als Nächstes fragte mich Nick, was ich denn danach tun wolle.

»Wann, danach?« Ich tat, als hätte ich ihn nicht verstanden.

»Na ja, ich meine – möchtest du diesen Job dein ganzes Leben lang machen?«

»Du meinst, statt mir einen richtigen Beruf zu suchen?«

»So ungefähr«, gab er verlegen zu.

»Ja«, antwortete ich nur. »Das ist genau die Arbeit, die ich mir vorstelle.«

»Entschuldige. Das hat wahrscheinlich sehr gönnerhaft geklungen.«

Das hatte es in der Tat, weshalb ich mich nun meinerseits bei Nick erkundigte, was er denn beruflich so mache. Er erklärte, dass er für eine Werbeagentur arbeite. Ich fragte, ob es irgendeine bekannte Werbung von ihnen gebe. Jede Menge, antwortete er, unter anderem den Spot mit dem sprechenden Plüschschwein. Leider hatte ich den nicht gesehen. Als ich ihn fragte, womit er sich im Moment beschäftige, erzählte er, sie hätten soeben einen großen Auftrag von einer Ölfirma an Land gezogen, und er arbeite gerade an einem Konzept zur Vorbereitung der Kampagne.

Aber das war alles nicht so wichtig. Viel wichtiger waren die Untertöne unserer Unterhaltung, die Dinge, die wir nicht aussprachen. Nach einer Weile, die mir sehr kurz erschien, warf ich einen Blick auf meine Uhr und stellte zu meiner Überraschung fest, dass wir schon über eine Stunde miteinander redeten.

»Ich muss jetzt leider aufbrechen«, informierte ich ihn.

»Ich bin noch verabredet. Mit einer alten Freundin, Laura«, fügte ich hinzu, um klarzustellen, dass ich mich nicht mit einem Mann traf, bei dem es sich womöglich um einen Freund, Exfreund oder potenziellen neuen Freund handelte.

»Schade«, sagte er. »Ich hatte gehofft, wir könnten miteinander zu Abend essen. Oder etwas anderes unternehmen.

Aber daraus wird dann heute wohl nichts. Wie wär’s mit … ich weiß auch nicht … Donnerstag?«

Mit Troy war ich diese Woche schon am Mittwoch verabredet, sodass mir Donnerstag recht gut passte. Ja, dachte ich, als ich die Kneipe verließ, ich war mir sicher, zumindest ziemlich sicher, dass zwischen uns etwas passieren würde. Mir ging noch ein anderer, fast ein wenig beängstigender Gedanke durch den Kopf: Vielleicht war genau das der beste Teil der ganzen Geschichte. Wahrscheinlich würden wir während der nächsten Tage oder Wochen eine gewisse Aufregung darüber empfinden, etwas Neues in unserem Leben zu haben, das wir erforschen und kennen lernen konnten. Wir würden einander Fragen stellen, uns gegenseitig sorgsam bearbeitete Geschichten über unser früheres Leben erzählen. Wir würden besonders nett zueinander sein, besorgt und zuvorkommend und unendlich neugierig. Und dann? Dann würde es entweder langsam nachlassen oder ganz schnell zu Ende gehen, und wir würden uns aus den Augen verlieren und füreinander zu einer Erinnerung werden. Aus irgendeinem Grund wurde nie eine nette Freundschaft daraus.

Dahin führte kein Weg. Oder wir würden ein Paar werden, und selbst dann würden wir in irgendeiner Art von Normalität enden, in der wir unsere Jobs machten, Jahrestage feierten, die gleichen Ansichten zu bestimmten Themen hatten und die Sätze des anderen zu Ende sprachen. Das konnte auch schön sein.

Zumindest behaupteten es die Leute. Trotzdem würde es nie wieder die schier unendlichen Möglichkeiten des Anfangs haben. Diese Gewissheit machte mich ein wenig melancholisch, was gut zur Tageszeit passte. Auf der einen Seite der Straße wurden die Autos, die Ladenfronten und die von der Arbeit heimkehrenden Menschen von den letzten Sonnenstrahlen in ein goldenes Licht getaucht, auf der anderen Straßenseite waren sie bereits in tiefen Schatten versunken.

Als Laura mich sah, erkannte sie sofort, dass etwas im Busch war, was ja eigentlich gar nicht stimmte. Zumindest noch nicht.

»Du brauchst gar nichts zu sagen«, begrüßte sie mich.

»Ich sehe es dir ganz deutlich an.« Ich entgegnete, sie solle nicht albern sein, ich hätte mich bloß auf einen Drink mit jemandem getroffen. Er mache einen netten Eindruck, aber ich sei mir noch nicht sicher.

In Wirklichkeit war ich überzeugter, als ich zugab. Der Donnerstag lief ebenfalls gut. Wir aßen in einem Lokal gleich bei mir um die Ecke, und der Abend verging wie im Flug.

Plötzlich waren wir die letzten Gäste im Restaurant, und der Koch kam mit einem Glas Wein aus der Küche und unterhielt sich mit uns. Zwanzig Minuten später standen wir in meinem Hauseingang und küssten uns. Nach einer Weile löste ich mich von ihm und lächelte.

»Ich würde dich ja gern noch zu mir einladen«, sagte ich.

»Aber …?«

»Bald«, antwortete ich. »Ganz bald. Es war so ein schöner Abend, ich habe mich sehr wohl gefühlt, und ich mag dich wirklich sehr gern. Ich bin bloß noch nicht …«

»Sicher?«

»Bereit. Ich bin sicher, Nick.«

»Kann ich dich morgen sehen?«

»Ja, natürlich …« Dann fiel es mir wieder ein. »Mist. Tut mir Leid. Ich muss … Du wirst es nicht glauben, aber ich muss zu meinen Eltern. Das ist im Moment alles ein bisschen kompliziert. Ich werde es dir erzählen. Aber nicht jetzt.«

»Wie wär’s mit übermorgen?«

»Das wäre wunderbar.«

Als ich bei meinen Eltern eintraf, hatte ich ziemlich schlechte Laune. Ich war über die Einladung ohnehin nicht gerade begeistert gewesen, und dann rief mich meine Mutter auch noch in letzter Sekunde an und bat mich, mich besonders fein zu machen. Ich hatte meine Hose und das lässige Oberteil wieder ausgezogen und war stattdessen in mein blaues Samtkleid geschlüpft, das ich schon so lange besaß, dass sich mittlerweile der Saum wellte.

»Du siehst sehr hübsch aus, Liebes«, sagte meine Mutter, als sie mich hereinließ.

Ich brummte bloß etwas vor mich hin. Wenigstens hatte sie mich nicht gefragt, wie es mir gehe. Meine Eltern hatten sich so richtig in Schale geworfen. Troy war ebenfalls da. Er trug eine seiner üblichen Kombinationen, eine Kordhose und einen ausgewaschenen grünen Pulli, der ihm eigentlich sehr gut stand.

Troy ist ein ziemlich gut aussehender junger Mann oder könnte es zumindest sein, aber irgendetwas an ihm wirkt immer eine Spur schräg.

»Schön, dich zu sehen, Miranda«, begrüßte mich mein Vater.

»Zurzeit sehen wir uns recht oft, nicht?«

»Wo sind denn die Turteltäubchen?«, fragte ich.

»Miranda!«, erwiderte meine Mutter in vorwurfsvollem Ton.

»Wieso? Das habe ich doch nicht böse gemeint.«

»Sie müssten eigentlich jeden Moment …« Noch ehe sie den Satz zu Ende sprechen konnte, klingelte es. Sie lächelte mich an.

»Du kannst ihnen gleich aufmachen«, meinte sie und schob mich in Richtung Eingang.

Ich öffnete die Tür, und da waren die beiden: eng umschlungen, lachend, verliebt. Bevor sie ins Haus stürmten, nutzten sie die Gelegenheit, mich mit einer ihrer Gruppenumarmungen zu begrüßen. Als ich sie dann anschließend im Licht des Wohnzimmers genauer betrachtete, stellte ich fest, dass sie auffallend schick wirkten: Kerry trug ein violettes Satinkleid, das ich noch nie an ihr gesehen hatte. Es schmiegte sich eng um Hüften und Brüste. Jedes Mal, wenn sie Brendan ansah, sprach aus ihrem Blick Begierde. Die beiden wirkten wie ein Paar, das ungefähr acht Sekunden zuvor miteinander im Bett gewesen war. Brendan trug einen teuer aussehenden Anzug aus einem glänzenden Stoff und dazu eine große farbenfrohe Krawatte, auf der eine mir unbekannte Comicfigur prangte. Er hatte eine Einkaufstüte dabei, aus der er nun zwei schimmernde, mit Wassertropfen bedeckte Champagnerflaschen hervorholte. Auf dem Tisch standen bereits sechs Sektkelche bereit. Nachdem er die Flaschen abgestellt hatte, griff er nach einem der Gläser und schlug mit dem Finger leicht dagegen, sodass es klang wie eine kleine Glocke.

»Ohne große Vorrede«, begann er. »Ich freue mich so, dass ihr alle hier seid. Kerry und ich wollten, dass ihr es als Erste erfahrt.« Ich spürte, wie sich mein Magen verkrampfte. »Gestern Abend habe ich Kerry zum Essen ausgeführt. Und ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich kurz vor dem Dessert für ziemliches Aufsehen gesorgt habe. Ich bin nämlich neben ihr auf die Knie gesunken und habe sie gefragt, ob sie meine Frau werden möchte. Und ich bin sehr glücklich, euch berichten zu können, dass sie ja gesagt hat.«

Kerry hob mit einem scheuen Lächeln die Hand, um uns ihren Ring zu zeigen. Ich sah zu meiner Mutter hinüber, der bereits die Tränen über die Wangen liefen. Sie ging mit ausgestreckten Armen auf die beiden zu. Nachdem sie sie umarmt hatte, trat ich ebenfalls vor.

»Kerry«, sagte ich, »ich freue mich so für dich.«

»Moment, Moment«, warf Brendan ein, »das kann warten. Ich würde gern noch etwas sagen. Ich habe den Großteil meines Lebens bei Pflegeeltern verbracht, wurde von einer Familie zur nächsten weitergereicht. Ich war ein einsamer kleiner Junge und wusste nicht, was es heißt, wirklich zu einer Familie zu gehören und von ihr geliebt und akzeptiert zu werden.« Während er sprach, rollten zwei große Tränen genau parallel seine Wangen hinunter. Er wischte sie nicht weg. »Als ich zum ersten Mal hierher kam«, fuhr er fort, »und euch, Derek und Marcia, kennen lernte, hatte ich plötzlich das Gefühl, heimgekommen zu sein. Ich fühlte mich bei euch zu Hause. Was kann ich noch sagen? Vielen, vielen Dank. Und nun lasst uns den Champagner aufmachen, damit ihr auf unser Glück anstoßen könnt.«

Nun brach allgemeines Chaos aus. Meine Mutter nahm Brendan erneut in den Arm, mein Vater gratulierte per Handschlag. Zwischendrin schaffte Brendan es irgendwie, den Champagner zu öffnen. Troy erklärte achselzuckend, er finde das Ganze wirklich toll und wünsche ihnen Glück. Meine Mutter drückte Kerry so fest, dass ich schon befürchtete, sie würde ihr die Rippen brechen. Als der Champagner ausgeschenkt war, stieß mein Vater ein Hüsteln aus. O Gott, dachte ich. Noch eine Rede.

»Nur ein paar Worte«, begann er. »Das alles ist ziemlich schnell gegangen, das muss ich schon sagen.« Er lächelte meine Mutter an. Es war ein scheues Lächeln, das ihn plötzlich sehr jungenhaft aussehen ließ. »Aber wenn ich mich richtig erinnere, haben ein paar andere Leute in diesem Raum auch ziemlich impulsiv gehandelt, als sie sich kennen lernten.« Meine Eltern waren sich 1974 auf der Hochzeit von Freunden begegnet und hatten zwei Monate später geheiratet. »Manchmal sollten wir tatsächlich auf unsere Instinkte vertrauen. Und noch eins: Ich habe Kerry noch nie so freudestrahlend und schön gesehen.

Brendan, ich glaube, du kannst dich glücklich schätzen, dass du sie bekommst.«

»Ich weiß«, antwortete Brendan, und wir mussten alle lachen.

»Und nun lasst uns auf das glückliche Paar trinken«, fuhr mein Vater fort.

»Auf das glückliche Paar!«, riefen wir und stießen alle miteinander an.

Ich betrachtete Kerry. Sie war den Tränen nahe. Meine Mutter weinte richtig. Brendan putzte sich mit einem Taschentuch die Nase und wischte dann über seine feucht glänzenden Wangen.

Sogar mein Vater hatte verdächtig nasse Augen. In dem Moment schwor ich mir etwas. Ich würde alles in meiner Macht Stehende tun, damit die beiden miteinander glücklich wurden.

Oder ihrem Glück zumindest nicht im Weg stehen. Jemand stupste mich von der Seite an.

»Einen Penny für deine Gedanken«, sagte Brendan.

»Herzlichen Glückwunsch«, erwiderte ich. »Ich freue mich sehr für euch.«

»Das bedeutet mir viel.« Er blickte sich um. Mum, Dad, Kerry und Troy standen am andern Ende des Raums beieinander und unterhielten sich lachend. Brendan beugte sich ein wenig zu mir herunter.

»Als ich vorhin die große Neuigkeit verkündete, habe ich dich angesehen«, erklärte er. »Du hast einen geschockten Eindruck gemacht.«

»Ich war nur überrascht«, antwortete ich. »Das ist alles so schnell gegangen.«

»Ich kann verstehen, dass es schwierig für dich ist.«

»Überhaupt nicht.«

»Während ich sprach, habe ich auf deinen Mund geschaut«, fuhr er fort.

»Bitte?«

»Du hast einen schönen Mund.« Er rückte noch ein Stück näher an mich heran. Ich spürte seinen säuerlich riechenden Atem auf meinem Gesicht. »Und ich musste daran denken, dass ich in diesem Mund gekommen bin.«

»Was?«

»Das ist schon seltsam.« Er sprach inzwischen sehr leise.

»Ich heirate deine Schwester und denke an mein Sperma in deinem Mund.«

»Was?«, wiederholte ich, diesmal etwas zu laut.

Die anderen hörten zu reden auf und sahen zu uns herüber. Ich spürte etwas Heißes, Fiebriges auf meiner Haut.

»Entschuldigt mich«, sagte ich. Mein Mund fühlte sich seltsam klebrig an. Ich stellte mein Glas ab und verließ rasch den Raum.

Im Gehen hörte ich Brendan etwas sagen. Ich schaffte es gerade noch rechtzeitig. Über die Kloschüssel gebeugt, übergab ich mich immer wieder, bis nichts mehr übrig war als heiße Flüssigkeit, die in meinem Mund und meinem Hals brannte.

8. KAPITEL

»Bist du sicher, dass du das machen willst, Miranda?«

»Was? Ja, klar. Wir werden bestimmt Spaß dabei haben.«

Meine Gedanken waren ganz woanders. Mit Nick im Bett. Er war die ganze Nacht geblieben. Irgendwann waren wir endlich eingeschlafen, in den frühen Morgenstunden aber schon wieder aufgewacht. Benommen vor Müdigkeit, hatten wir in der Dunkelheit die Arme nach dem anderen ausgestreckt. Und am Morgen war er immer noch da gewesen. Das Gesicht eines Fremden auf meinem Kopfkissen. Ein seltsames Gefühl.

Blinzelnd lächelte ich Kerry an. Meine Lippen waren wund, mein ganzer Körper prickelte.

»Ich habe vier Besichtigungen vereinbart«, sagte sie gerade.

»Und die Termine so gelegt, dass wir keinen Leerlauf dazwischen haben. Eigentlich müssten wir es in einer Stunde schaffen, vielleicht sogar noch schneller. Man weiß ja nie so genau, was von den Angaben der Makler im Einzelnen zu halten ist, nicht wahr?«

»Vielleicht können wir hinterher noch zusammen Mittag essen.«

»Das wäre schön. Ich bin zwar schon mit Brendan verabredet, aber wir können ihn ja anrufen und irgendeinen Treffpunkt vereinbaren. Er wollte eigentlich sowieso mitkommen, aber er hatte Dad versprochen, ihm beim Schleppen der Möbel zu helfen, bevor morgen früh die Handwerker erscheinen und das Haus in seine Einzelteile zerlegen. Nachmittags hatte er keine Zeit, weil dieser Mann kommt, um sich meine Wohnung ein zweites Mal anzusehen.«

»Schauen wir erst mal, wie lange wir brauchen«, trat ich den Rückzug an. »Vielleicht muss ich hinterher doch gleich weg.

Auf mich wartet ein Dachbodenausbau.«

»Es ist doch Sonntag«, protestierte sie. »Du arbeitest zu viel.«

Ihr Glück hatte sie großzügig gemacht. Sie wollte, dass alle anderen auch glücklich waren. »Du siehst müde aus.«

»Wirklich?« Ich berührte sanft mein Gesicht, wie Nick es getan hatte. »Es geht mir gut, Kerry, ich habe letzte Nacht bloß ein bisschen zu wenig Schlaf erwischt, das ist alles.«

Wir waren im Kino gewesen. Der Film hatte uns nicht besonders gefallen, was in diesem Fall aber keine große Rolle spielte. Wir hatten uns eng aneinander geschmiegt. Nick hatte seine Hand auf meinen Oberschenkel gelegt, ich meinen Kopf an seine Schulter gelehnt. Hin und wieder hatten wir uns geküsst, nur ganz leicht: ein Versprechen. Er hatte gesalzenes Popcorn besorgt, aber wir aßen nicht viel davon. Uns war beiden klar gewesen, dass es in dieser Nacht passieren würde, der Film war nur eine Art Warten im Dunkeln, das dazu diente, all die anderen Dinge aus unseren Gedanken zu verdrängen. In meinem Fall bedeutete das, dass ich zu vergessen versuchte, was Brendan am Vorabend zu mir gesagt hatte. Die Art, wie er sich vorgebeugt und es mir zugeflüstert, wie er mit einem Lächeln jene Worte ausgesprochen hatte. Ich durfte nicht mehr daran denken, musste das alles ganz schnell wieder aus meinem Kopf herausbekommen, wo es wie eine fette, schmutzige Fliege umhersummte. Deswegen betrachtete ich die Bilder, die über die Leinwand flimmerten, und sah zwischendrin immer wieder Nick an. Gelegentlich schloss ich für einen Moment die Augen.

Als wir aus dem Kinosaal in das Foyer traten, war es draußen bereits dunkel. Nick nahm meine Hand und küsste sie. »Und nun?«

»Meine Wohnung liegt näher als deine«, antwortete ich.

Wir stiegen in einen Doppeldeckerbus und setzten uns oben ganz nach vorn. Ich presste die Stirn an das Fenster und spürte das Vibrieren des Motors, sah unten auf der Straße die Menschen dahineilen. Die meisten hatten den Kopf eingezogen, weil so ein starker Wind blies. Mir wurde bewusst, wie nervös ich war. Bald würde ich Sex mit diesem Mann haben, der jetzt wortlos neben mir saß und mit dem ich mich erst zweimal getroffen hatte. Wie würde es sein? Sex kann ganz locker und problemlos ablaufen, aber manchmal erscheint er einem auch sehr bedeutsam und schwierig, fast unmöglich. Zwei Menschen mit all ihren Hoffnungen, Erwartungen, Neurosen und Wünschen, zwei miteinander kollidierende Welten.

»Hier müssen wir raus«, sagte ich.

Er stand auf und zog mich hoch. Seine Hand fühlte sich warm und fest an. Er lächelte. »Alles in Ordnung?«

Es war in Ordnung. Schön. Hinterher machten wir uns aus einem der halbfertigen Baguettes, die ich auf Vorrat hatte, ein Sandwich mit Ziegenkäse und Tomaten und tranken dazu ein Glas Wein. Dann zogen wir uns erneut ins Schlafzimmer zurück, und diesmal war es mehr als nur in Ordnung. Es war wundervoll. Während ich nun in Kerrys Wagen saß, ließ mich der bloße Gedanke daran vor Sehnsucht dahinschmelzen.

Anschließend hatten wir zusammen ein Bad genommen, unsere Beine in der kleinen Wanne ineinander verschlungen und uns dabei wie zwei Idioten angegrinst.

»Über was grinst du so?«

»Hmm? Oh, nichts.«

»Hier. Das ist das Erste.« Kerry parkte am Randstein und starrte mit zweifelnder Miene auf ihre Unterlagen. »Hier steht, es handle sich um eine Maisonette mit zwei Schlafzimmern.

Angeblich sind viele Details aus der Entstehungszeit des Hauses erhalten geblieben.«

»Steht da auch, dass es direkt neben einem Pub liegt?«

»Nein.«

»Na ja, sehen wir es uns trotzdem mal an.«

Ein Häuserkauf ist immer eine gefährliche Sache.

Normalerweise weiß man schon auf den ersten Blick, ob man ein Haus mag, noch bevor man einen Fuß hineingesetzt hat. Es ist fast wie bei einer Beziehung, da heißt es ja auch immer, das Entscheidende sei der erste Eindruck, die wenigen Momente, bevor das Gehirn sich einschalte. Man muss sich in das Haus verlieben, das man kauft. Alles andere – ob das Dach in Ordnung ist, die Rohre gut sind, die Anzahl der Räume ausreicht

– ist am Anfang zweitrangig. Mauern kann man einreißen, Rohre erneuern, aber die Liebe kann man nicht erzwingen. Ich war als Expertin dabei, als die Stimme, die zur Vorsicht mahnte.

Als Kerry klopfte, flog sofort die Tür auf, als hätte uns die Frau bereits durch ihren Spion beobachtet.

»Hallo, kommen Sie herein. Bitte stolpern Sie nicht über die Stufe. Soll ich Sie herumführen, oder möchten Sie selbst schauen, dann könnten Ihnen allerdings ein paar Details entgehen. Hier herein, kommen Sie erst mal hier herein, das ist das Wohnzimmer. Sie müssen entschuldigen, dass so ein Chaos herrscht …« Sie war groß und atemlos und sprach sehr hektisch, ihre Worte überschlugen sich fast. Sie lotste uns über wild gemusterte Teppiche von einem Raum in den nächsten. An den Wänden hingen unzählige Teller, die sie gesammelt hatten, aus Venedig, Amsterdam, Scarborough, Cardiff, Stockholm, und ihr Anblick bewirkte, dass mir die Frau Leid tat. Sie zog schwungvoll Türen auf, zeigte uns den Wäschetrockenschrank und den neuen Boiler, die zweite Toilette, die in eine von der Küche abgeknapste Nische gezwängt war, die Dimmerschalter in dem winzigen Schlafzimmer, das Gästezimmer, das eher wie eine Besenkammer aussah und ebenfalls nachträglich abgeteilt worden war, noch dazu von einem Pfuscher. Als die Frau einen Moment nicht hersah, lehnte ich mich gegen die Wand und spürte, wie sie nachgab. Kerry murmelte höfliche Kommentare und blickte sich mit glänzenden Augen um. Wahrscheinlich überlegte sie schon, wo sie das Kinderbett hinstellen sollte.

»Fühlen Sie sich durch das Pub gestört?«, fragte ich die Frau.

»Das Pub?« Sie tat überrascht, zog die Stirn kraus. »Ach, das.

Nein. Das hört man kaum. Vielleicht mal am Samstagabend …«

Wie aufs Stichwort setzte nebenan laute Musik ein. Man spürte durch die Wand sogar das Vibrieren der Bässe. Die Frau errötete, redete dann aber weiter, als hätte sie nichts gehört. Ich warf einen Blick auf die Uhr: Es war halb zwölf am Sonntagvormittag. Wir sahen uns den Rest des Hauses trotzdem noch an, priesen die schöne Aussicht, die man vom Bad aus hatte, bewunderten den keilförmigen Garten. Je weniger einem ein Haus gefiel, desto mehr musste man so tun, als ob.

Allerdings hatte ich nicht den Eindruck, dass uns die Frau auf den Leim ging.

»Was meinst du?«, fragte mich Kerry, nachdem wir wieder draußen waren. »Wenn wir …«

»Auf keinen Fall. Nicht mal für den halben Preis.«

»Die Hütte ist am Einfallen«, erklärte ich, nachdem wir das zweite Haus verlassen hatten.

»Aber …«

»Daher auch der günstige Preis. Das Haus ist auf den ersten Blick erschwinglich, aber um es herzurichten, müsstest du noch mal die gleiche Summe hineinstecken. Ich bezweifle, dass es dir jemand versichern würde.«

»Es ist so ein hübsches Haus.«

»Es ist eine Ruine. Die schlimmsten Stellen in der Diele sind neu verputzt und gestrichen worden, aber man sieht trotzdem noch, dass es überall feucht ist. Ich habe außerdem den Eindruck, dass das ganze Haus abgesackt ist. Das müsste man erst mal von einem Statiker überprüfen lassen. Die Fensterrahmen sind definitiv schon halb verrottet, und die Elektrik stammt aus der Steinzeit. Verfügst du über das nötige Kapital, um es zu renovieren?«

»Vielleicht, wenn Bren einen Job gefunden hat …«

»Ist er denn auf der Suche?«

»O ja. Er denkt ständig darüber nach, was das Richtige für ihn sein könnte. Er sieht es als Chance, noch mal ganz von vorn anzufangen und endlich die Art von Leben zu führen, die ihm für sich vorschwebt.« Sie errötete. »Für uns«, fügte sie hinzu.

»Aber bis er etwas gefunden hat, kann er erst mal keine großen Sprünge machen, und ihr seid auf das angewiesen, was deine Wohnung einbringt und was du selbst verdienst.«

»Mum und Dad waren sehr großzügig.«

»Ja?« Ich versuchte den Anflug von Groll zu unterdrücken, den ich verspürte, als ich das hörte. »Das hast du auch verdient.

Aber verpulvere es nicht für dieses Haus.«

Man muss in der Lage sein, sich Fehlendes vorzustellen und Vorhandenes wegzudenken, hinter die Dinge zu blicken und ihnen den eigenen Geschmack aufzupfropfen. Das dritte Haus war dreckig und roch nach Zigaretten und jahrelang geschlossenen Fenstern. Die Wände waren braun und fleckig oder mit Blumentapeten beklebt, die meisten Räume mit einem hässlichen lilafarbenen Teppich ausgelegt. Die Trennwand zwischen dem Wohnzimmer und dem Koch-/Essbereich musste herausgerissen werden, um im Erdgeschoss einen weiten, offenen Raum zu schaffen. Außerdem musste der Rigips vom Kamin geklopft werden.

»Man könnte die Küche mit einem großen Sonnendach überspannen, das Ganze vielleicht sogar zu einem Wintergarten erweitern. Das hätte einen phantastischen Effekt.«

»Meinst du?«

»Mit diesem Garten schon. Der ist ja fast zwanzig Meter lang.«

»Das ist groß für London, stimmt’s? Aber er besteht bloß aus Unkraut.«

»Stell dir vor, was man daraus machen könnte!«

»Hast du gesehen, in welchem Zustand die Küche ist?«

»Er hat jahrelang hier gelebt, ohne sich um irgendwas zu kümmern. Aber das ist gleichzeitig das Schöne daran – du kannst daraus machen, was immer du willst.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass wir für den Preis ein so großes Haus kriegen könnten. Und all die Simse und Stuckleisten …

und richtige Erkerfenster!«

»Soweit ich es auf die Schnelle beurteilen konnte, scheint die Bausubstanz ganz in Ordnung zu sein. Ich werde dir helfen, es zu renovieren.«

»Wirklich? Das würdest du tun?«

»Natürlich.«

»Und du meinst, es ist das Richtige für uns?«

»Die Entscheidung liegt bei dir. Du musst es wollen, und was ich meine, spielt keine Rolle. Aber man könnte wirklich etwas Tolles daraus machen.«

Kerry drückte meinen Arm. »Ich kann es kaum erwarten, Brendan davon zu erzählen.«

Ich hörte meinen Anrufbeantworter ab.

»Hallo, Mirrie. Wie ich höre, hast du gerade unser neues Zuhause für uns ausgesucht. Das ist sehr lieb von dir. Aber auch ein bisschen seltsam, nicht wahr? Ich schätze, daran müssen wir uns erst noch gewöhnen.«

Ich drückte auf Löschen. Meine Hände zitterten.

Tony, Laura, Nick und ich besuchten gemeinsam ein Pub.

Inzwischen waren wir in die Phase eingetreten, in der man als Paar mit anderen Paaren ausging. Alle waren sehr nett zueinander, bemüht, gut miteinander auszukommen. Zuerst gab Nick eine Runde aus, dann Laura, und dann, als alles gerade so gut lief, ertappte ich mich dabei, dass ich schon wieder über Brendan sprach.

»Eigentlich sollte ich mich ja freuen«, sagte ich. »Immerhin schwebt Kerry im siebten Himmel.«

»Um wen geht es?«, fragte Nick in liebenswürdigem Ton, während er sich nebenbei ein paar Chips in den Mund schob.

»Brendan. Kerrys Freund«, antwortete ich. »Ihren Verlobten, um genau zu sein. Die beiden kennen sich erst ein paar Wochen, sind aber schon verlobt.«

»Wie romantisch.«

»Daneben sehen Laura und ich ziemlich spießig und langweilig aus«, bemerkte Tony grinsend, was ihm einen wütenden Blick von Laura einbrachte, den er geflissentlich übersah.

»Aber irgendwas stimmt mit ihm einfach nicht«, fuhr ich fort.

»Ich bekomme in seiner Gegenwart jedes Mal eine Gänsehaut.«

»Zum Glück brauchst du ihn ja nicht zu heiraten.«

»Warst du nicht auch kurz mit ihm zusammen?«, fragte Tony.

Laura bedachte ihn mit einem weiteren vernichtenden Blick. Ich bin mir nicht sicher, ob sie ihm unter dem Tisch nicht sogar einen Tritt versetzte.

»Nicht wirklich«, antwortete ich.

»Wie ist man denn ›nicht wirklich‹ mit jemandem zusammen?«

»Nicht lange, wollte ich sagen. Es war überhaupt nicht der Rede wert.« Mir war klar, dass es besser gewesen wäre, das Thema zu wechseln, konnte es aber aus irgendeinem Grund nicht. »Ich habe mit ihm Schluss gemacht«, fuhr ich fort. »Es war andersherum, als er es allen erzählt.«

Nick starrte mich verwirrt an und machte Anstalten, etwas zu sagen, aber Tony kam ihm zuvor.

»Wo liegt dann das Problem?«

»Na ja, zum Beispiel hat er mir gegenüber so eine Bemerkung gemacht, nachdem sie uns über ihre Hochzeitspläne informiert hatten.«

»Was für eine Bemerkung?«

»Es war ziemlich pervers. Er hat gesagt …« Abrupt brach ich ab. Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. Schlagartig begann ich zu schwitzen. »Er hat etwas total Widerliches gesagt.«

»Was denn? Erzähl!« Nur Tony schien sich der Peinlichkeit der Situation nicht bewusst zu sein. Laura starrte mich verlegen an, Nick fingerte an seinem Bierdeckel herum.

»Es war etwas ganz Blödes. Ich weiß gar nicht, warum ich es erwähnt habe.«

»Nun komm schon, Miranda. Sonst bin ich gezwungen, meine Phantasie spielen zu lassen.«

»Ich möchte es nicht sagen.« Wie prüde das klang! »Lassen wir das Thema.«

»Du hast selbst damit angefangen.«

»Ich weiß. Das war ein Fehler. Es handelt sich nur um blöden Familienkram.«

»Meintest du widerlich im Sinn von sexuell anzüglich?«

Tony konnte es einfach nicht lassen.

»Er hat bloß gesagt …« Ich zögerte einen Moment. »Er hat gesagt, ich hätte einen schönen Mund.«

»Oh.« Nick schob sich eine weitere Hand voll Chips in den Mund. Tony starrte mich überrascht an. »Aber das ist doch nicht so schlimm, oder?«

»Nein«, antwortete ich kläglich. »Lasst uns nicht mehr darüber reden. Vergesst es einfach.«

»Vor mir gab es also diesen Brendan.«

»Ja. Eigentlich waren wir gar nicht richtig zusammen. Es dauerte bloß zwei Wochen oder so. Ich bin da irgendwie reingerutscht. Das Ganze war ein Fehler. Nicht mal ein wichtiger Fehler, bloß ein ganz kleiner, unwichtiger. Das Seltsame an der Sache ist nur, dass er auf diese Weise wieder aufgetaucht ist …« Warum um alles in der Welt sprachen wir im Bett über Brendan? »Wer war denn meine Vorgängerin?«, wechselte ich das Thema.

»Eine Frau namens Frieda, aber das ist schon eine ganze Weile her …«

Auf diese Weise bewegten wir uns in weniger gefährliche Gewässer, erzählten einander von unseren früheren Liebschaften, verrieten einander unsere Geheimnisse, wie es die meisten frisch gebackenen Liebespaare tun: Der hat mich vergöttert, der hat mir gar nichts bedeutet, der hat mir das Herz gebrochen … Ich hatte im Radio mal eine Diskussion gehört, bei der jemand sagte, man könne sich nur drei- oder viermal im Leben richtig verlieben. Während ich so in Nicks Armen lag, fragte ich mich, wie oft ich mich eigentlich schon verliebt hatte.

War das, was ich jetzt empfand, Liebe? Woran erkennt man, dass man verliebt ist?

Ein paar Tage später standen sie unangemeldet bei mir vor der Tür. Ich hatte mal wieder einen schweißtreibenden Tag auf einer Leiter hinter mir und war gerade völlig erledigt in ein heißes Bad gestiegen. Fluchend schlüpfte ich in einen alten Bademantel und ging an die Tür. Nasskalte Abendluft schlug mir entgegen.

Kerry lächelte etwas verkniffen, Brendan schwenkte einen Strauß Blumen.

»Kommen wir ungelegen?«

»Ich war gerade in die Wanne gestiegen.« Ich zog meinen Bademantel fester zu und hielt ihn oben am Hals zusammen.

»Wir können es uns ja gemütlich machen, während du weiterbadest«, meinte Brendan. »Nicht wahr, Kerry?«

»Nein, schon in Ordnung. Kommt herein.«

Widerwillig trat ich zur Seite, dann folgten sie mir ins Wohnzimmer. Kerry ließ sich auf dem Sofa nieder, aber Brendan baute sich mitten im Raum auf und blickte sich um, als wäre er der Wohnungseigentümer.

»Du hast die Möbel umgestellt.«

»Ein bisschen.«

»Mir hat es vorher besser gefallen. Möchtest du die Blumen nicht ins Wasser stellen?«

»Ja. Danke.« Am liebsten hätte ich sie in meinen überquellenden Mülleimer gestopft.

»Hast du schon gegessen?«, fragte er, als wäre ich bei ihm hereingeschneit und nicht umgekehrt.

»Nein, ich bin noch nicht hungrig. Ich werde mir später eine Kleinigkeit machen.« Ich holte tief Luft, dann fragte ich: »Wollt ihr einen Kaffee? Oder was Alkoholisches?«

»Ein Glas Wein wäre nett«, antwortete er.

Ich holte die Flasche aus dem Kühlschrank, die Nick beim letzten Mal mitgebracht hatte.

»Soll ich sie für dich aufmachen?«, fragte Brendan.

»Das kann ich sehr gut allein.«

Mit einer theatralischen Geste hob er die Hände.

»Entschuldige! Natürlich kannst du das, Mirrie. Ich wollte nur höflich sein.«

Ich rammte den Flaschenöffner in den Korken und drehte ihn etwas schief nach unten. Als ich anzog, kam nur die Hälfte des Korkens heraus. Brendan sah mir mit einem mitleidigen Lächeln zu, wie ich vorsichtig die bröselnden Reste des Korkens aus der Flasche pulte und drei Gläser füllte. Er hielt das seine ans Licht und fischte behutsam ein paar kleine Korkstückchen heraus, bevor er den ersten Schluck nahm.

»Wir hätten selbst eine Flasche mitbringen sollen«, meinte Kerry.

»Weil wir dich nämlich um einen Gefallen bitten möchten.«

»Ja?«, fragte ich argwöhnisch.

»Nun ja, etwas Erstaunliches ist passiert. Du weißt doch, dass am Sonntag ein Mann kommen wollte, um sich meine Wohnung ein zweites Mal anzusehen?«

»Ja?«

»Er hat uns ein Angebot gemacht. Es liegt nur knapp unter dem, was wir uns vorgestellt haben.«

»Das ist ja großartig.«

»Er scheint die Wohnung unbedingt zu wollen.«

»Aber nur, wenn er sofort einziehen kann. Spätestens in zwei Wochen«, warf Brendan ein.

»Aha.« Mir schwante Schreckliches.

»Das Problem ist, dass Bren seine Wohnung bereits gekündigt hat und wir nicht so schnell in unser neues Zuhause können«, erklärte Kerry. »Auch wenn der Besitzer bereits im Altersheim ist und die Maklerin uns versprochen hat, alles so schnell wie möglich abzuwickeln.«

»Tja«, sagte Brendan und lächelte mich an. Er schenkte sich ein zweites Glas Wein ein und nahm gleich einen großen Schluck.

»Deswegen stecken wir jetzt ein wenig in der Klemme«, fuhr Kerry fort. »Wir haben uns gefragt, ob wir vielleicht bei dir wohnen könnten. Nur für ein paar Tage oder eine Woche, allerhöchstens zwei.«

»Was ist mit …?«

»Natürlich würden Derek und Marcia uns sofort aufnehmen«, antwortete Brendan. »Bloß dass deren Haus in den nächsten Monaten aussehen wird, als hätte dort eine Bombe eingeschlagen. Du weißt wahrscheinlich besser als wir, was für ein Albtraum es ist, auf einer Baustelle zu leben. Womöglich müssen sie sogar selbst für eine Weile ausziehen.«

»Wäre das möglich, Miranda?«, fragte Kerry.

Es wunderte mich, dass Kerry diese Möglichkeit überhaupt in Betracht zog. Wäre es andersherum gewesen, hätte ich versucht, für einen großen Sicherheitsabstand zwischen Brendan und seiner Ex zu sorgen, und sie ganz bestimmt nicht in einer kleinen Wohnung zusammengebracht, selbst wenn – oder gerade wenn – es sich bei dieser Ex um meine Schwester handelte. Vielleicht war ich bloß misstrauischer als sie. Oder vielleicht musste sie sich selbst, mir und Brendan beweisen, dass sie nichts zu befürchten hatte. Ich sah sie an, konnte ihren Gesichtsausdruck aber nicht deuten.

»Meine Wohnung ist so klein«, sagte ich lahm. »Ich habe nicht mal ein Gästezimmer.«

»Du hast deine Ausziehcouch«, meinte Brendan.

»Vielleicht können wir ja doch eher in das neue Haus, sodass wir deine Gastfreundschaft gar nicht in Anspruch nehmen müssen«, meinte Kerry. »Und falls es sich tatsächlich nicht vermeiden lassen sollte, werden wir dir ganz bestimmt nicht im Weg sein und dafür sorgen, dass alles ordentlich bleibt, und für dich kochen. Und ehe du dich versiehst, sind wir wieder weg.

Eine Woche.«

»Habt ihr denn keine Freunde mit einer größeren Wohnung?

Wo ihr euch wohler fühlen würdet?«

»Miranda, du bist meine Schwester!« Kerry hatte Tränen in den Augen. Sie warf Brendan einen Hilfe suchenden Blick zu, woraufhin er ihre Hand nahm und sie streichelte.

»Du bist Familie. Worum wir dich bitten, ist doch keine so große Sache. Mum und Dad waren sicher, dass es dir nichts ausmachen würde. Ich war auch dieser Meinung. Ich habe mir sogar eingebildet, du würdest dich vielleicht freuen, uns für ein paar Tage bei dir zu haben. Mir wäre nie in den Sinn gekommen, dass …«

»Vielleicht empfindet Mirrie es immer noch als schmerzlich«, bemerkte Brendan in sanftem Ton.

»Was?!«

»Wir hätten dich nicht fragen sollen«, fuhr Brendan fort.

»Das war nicht fair. Vielleicht bist du dafür einfach noch nicht bereit.«

Ich umklammerte mein Weinglas so fest, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn es zerbrochen wäre.

»Aber irgendwie schuldest du es Kerry, meinst du nicht?«

Seine Stimme klang immer noch sanft, hatte jetzt aber einen viel sagenden Unterton. »Nach allem, was passiert ist. Hmm? Hmm?«

»Wie meinst du das?«, fragte Kerry.

Ich starrte Brendan an. Am liebsten hätte ich ihm den Wein ins Gesicht gekippt und das Glas gleich hinterhergeworfen.

»Miranda?«, versuchte meine Schwester es noch einmal.

»Nur für ein paar Tage?«

Ich wandte mich ihr zu, versuchte mich auf ihren vorwurfsvollen Gesichtsausdruck zu konzentrieren. Die Vorstellung, in meinem Bett zu liegen und zu wissen, dass Brendan ein paar Meter von mir entfernt mit meiner Schwester auf dem Sofa lag, war mir unerträglich. Morgens aufzustehen und ihn am Küchentisch sitzen zu sehen, als gehörte er dorthin. Ihm auf dem Weg ins Bad über den Weg zu laufen … Aber vielleicht konnte ich ein, zwei Nächte bei Nick bleiben oder sogar bei Laura.

Eventuell übers Wochenende irgendwohin fahren. Egal, wohin.

»Na schön«, sagte ich. »Eine Woche.«

Kerry nahm meine Hand, und Brendan kam mit ausgestreckten Armen auf mich zu. Wenn er mich jetzt berührte, würde ich laut schreien, mich übergeben, gewalttätig werden. Ich flüchtete in Richtung Bad.

»Ich werde jetzt mein unterbrochenes Bad fortsetzen«, erklärte ich. »Ihr könnt gerne in Ruhe euren Wein austrinken.«

Das Wasser war inzwischen lauwarm, aber ich ließ mich trotzdem wieder hineinsinken, schloss die Augen und tauchte unter, bis mein wild schlagendes Herz sich einigermaßen beruhigt hatte. Als ich hochkam, um Luft zu holen, hörte ich es an der Tür klopfen. Brendan rief meinen Namen.

»Was ist?«

»Telefon für dich. Ich bin rangegangen. Ich hoffe, das war in Ordnung.«

»Wer ist es?«, fragte ich, während ich bereits nach einem Handtuch griff.

»Jemand namens Nick«, antwortet Brendan. »Er schien ein bisschen überrascht, mich an der Strippe zu haben.«

Nachdem ich erneut in meinen Bademantel geschlüpft war, riss ich wütend die Tür auf und marschierte ins Wohnzimmer. »Ich nehme das Gespräch im Schlafzimmer an. Du kannst auflegen.«

»Ist das dein neuer Freund?« Obwohl ich ihm darauf keine Antwort gab, legte er den Arm um Kerry, zog sie an sich und sagte: »Das sind ja wundervolle Neuigkeiten, Mirrie. Wir freuen uns so für dich!«

Ich knallte demonstrativ die Schlafzimmertür hinter mir zu und griff nach dem Hörer.

»Nick?«

»Ich wollte nur deine Stimme hören. Wie geht es dir?«

»Jetzt, wo ich mit dir rede, gleich viel besser.«

Plötzlich hörte ich ein Atemgeräusch. Da war noch jemand in der Leitung. Ich wartete, bis es leise Klick machte. Kurz darauf hörte ich, wie die Wohnungstür ins Schloss fiel.

9. KAPITEL

Ich beugte mich über mein Currygericht und räusperte mich.

»Ich möchte dir etwas sagen. Nichts Schlimmes«, fügte ich hinzu, als ich sein erschrockenes Gesicht sah. »Ich hatte nur das Gefühl, dass an dem Abend mit Laura und Tony ein paar Sachen missverständlich gewesen sein könnten.«

»Kein Grund, sich deswegen graue Haare wachsen zu lassen«, antwortete Nick.

»Ich weiß. Aber ich habe nachgedacht. Ich möchte ganz offen zu dir sein.«

»Warst du das denn bisher nicht?«

»Doch, aber beim letzten Mal habe ich es so wirr erzählt, dass es am Ende ganz falsch rüberkam. Deswegen würde ich dir das Ganze gern noch mal erklären. Es ist im Grunde ganz einfach.«

Ich nahm einen Schluck Wein und schilderte kurz, was mit Brendan, Kerry und meiner Familie passiert war.

»Nun weißt du Bescheid«, sagte ich schließlich. »Er war jemand, für den ich nicht besonders viel empfand, ganz abgesehen davon, dass ich ihn am Ende für einen ziemlichen Mistkerl hielt. Aber jetzt ist er mit meiner Schwester zusammen, und alle sind ganz begeistert, weil sie glücklicher zu sein scheint als je zuvor, und deswegen …«

»Deswegen fragst du dich vielleicht, ob du einen Fehler begangen hast.«

»Wie meinst du das?«

»Als du mit ihm Schluss gemacht hast.«

Ich zog eine Grimasse.

»O Gott, nicht für den Bruchteil einer Sekunde. Ich bin davon ausgegangen, dass ich ihn nie wieder zu Gesicht bekommen würde, und nun gehört er sozusagen zum Mobiliar.«

Nick nahm sich ein Stück von dem Tandoori-Huhn und aß es bedächtig.

»Warum hast du überhaupt etwas mit ihm angefangen, wenn er so ein Mistkerl ist?«, fragte er schließlich.

»Wir haben uns doch bloß ein paarmal gesehen. Dann habe ich das Ganze beendet.«

»Für mich ist es eine seltsame Vorstellung, dass du mit so jemandem zusammen warst.«

»Hattest du noch nie etwas mit einer Frau, die dir dann doch nicht so sympathisch war?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Nick nachdenklich.

»Du hast dich nie von einer angezogen gefühlt und dann später festgestellt, dass es bloß ein Strohfeuer war?«

»Ich frage mich gerade, zu welchem Ergebnis du kommen wirst, wenn du mich besser kennst.«

»Ich glaube, das weiß ich schon«, antwortete ich. »Und genau deswegen liegt mir so viel daran, dir diese Sache zu erklären.«

»Du brauchst mir gar nichts zu erklären.«

»Aber …«

»Lass uns nach Hause gehen.«

Hinterher kuschelten wir uns in meinem dunklen Schlafzimmer aneinander. Nur an den Rändern des Vorhangs fiel von draußen ein wenig Licht herein. Ich hatte den Kopf auf Nicks Brust gelegt und streichelte sanft seinen Bauch, bis hinunter zum Rand seiner Schambehaarung. Er atmete so ruhig und gleichmäßig, dass ich schon glaubte, er wäre eingeschlafen. Aber dann fragte er plötzlich: »Was hat er gesagt?«

»Was?«

»Brendan. Was hat er gesagt? Ich meine, was hat er wirklich gesagt?«

Ich stützte mich auf einen Ellbogen und sah auf ihn hinunter.

»Du weißt, dass du mich alles fragen kannst.«

»Deswegen frage ich dich ja.«

»Ich wollte eben noch hinzufügen, dass es manchmal besser ist, etwas nicht zu wissen. Manche Dinge können einem ganz schön zu schaffen machen.«

»Stimmt. Seit du diese Sache erwähnt hast, geht sie mir nicht mehr aus dem Kopf. Und genau deswegen muss ich wissen, was er gesagt hat. So schlimm kann es doch gar nicht gewesen sein.«

Ich spürte plötzlich eine eisige Kälte auf meiner Haut, als hätte ich Fieber und würde gleichzeitig frieren.

»Er hat gesagt …« Ich holte tief Luft und stieß es dann schnell hervor. »Er hat gesagt, er müsse daran denken, wie er in meinem Mund gekommen sei. Ich fühlte mich – na ja, du kannst es dir vielleicht vorstellen. Ich bin aus dem Zimmer gerannt und habe mich übergeben. So, jetzt weißt du es. Jetzt kennst du die Wahrheit.«

»Lieber Himmel«, sagte er. Dann schwieg er eine Weile, und ich wartete. »Hast du es jemandem erzählt?«, fragte er schließlich.

»Du bist der Erste.«

»Warum hast du es deiner Familie nicht gesagt? Sie hätten ihn bestimmt auf der Stelle hinausgeworfen.«

»Glaubst du? Ich weiß nicht. Er hätte es abstreiten können.

Wahrscheinlich hätte er behauptet, ich hätte ihn falsch verstanden. Irgendwas wäre ihm bestimmt eingefallen.

Außerdem konnte ich in dem Moment keinen klaren Gedanken fassen. Ich hatte das Gefühl, als hätte mir jemand gleichzeitig ins Gesicht und in den Magen geboxt. Und? Was sagst du dazu?

Ist es schlimmer, als du es dir vorgestellt hast?«

»Ich weiß nicht so recht«, antwortete er zögernd. Dann schwiegen wir beide. Allerdings konnte ich lange nicht einschlafen, und ich weiß nicht, wie es ihm erging. Irgendwann murmelte ich etwas, aber er reagierte nicht. Nur sein gleichmäßiger Atem war zu hören. Ich lag noch eine Weile schlaflos neben ihm und starrte zur Zimmerdecke, über die hin und wieder das Licht eines Scheinwerfers glitt.

Als meine Mutter die Bar betrat, wurde mir plötzlich klar, dass sich nicht nur meine Schwester verändert hatte. Mum sah sehr hübsch aus und irgendwie jünger als das Bild, das ich mir in meiner Vorstellung von ihr machte. Ihr Haar war hochgebürstet, und sie trug einen Regenmantel mit Gürtel, dessen Stoff beim Gehen raschelte, lange Ohrringe und einen dunkelroten Lippenstift. Lächelnd hob sie eine behandschuhte Hand, während sie den Raum durchquerte. Als sie sich herunterbeugte, um mir einen Kuss zu geben, roch ich eine Mischung aus Parfüm und Gesichtspuder.

Aus heiterem Himmel fiel mir eine Episode aus meiner Kindheit ein. Wir hatten eine Radtour gemacht, und ich war weit hinter den anderen zurückgeblieben. So sehr ich mich auch abmühte, ich kam einfach nicht voran, und der Abstand zwischen mir und den anderen wurde immer größer. Nach einer Weile warteten sie, bis ich sie eingeholt hatte. Dann ließen sie mich wieder hinter sich zurück. Ich weiß noch, dass ich vor Wut und Erschöpfung Tränen in den Augen hatte, aber beharrlich weiterstrampelte. Als wir wieder zu Hause waren, nahm mein Vater mein Fahrrad genauer unter die Lupe und stellte fest, dass mit meiner Bremse etwas nicht stimmte und dadurch einer meiner Reifen während der gesamten Fahrt abgebremst worden war. Vielleicht ist das eine zu einfache Metapher für Phasen, in denen uns alles besonders schwer zu fallen scheint – als würden wir mit angezogener Bremse fahren. Gerade fragte ich mich, ob meine Mutter vielleicht jahrelang mit angezogener Bremse gefahren war und nun, da Kerry sich verliebt hatte, endlich befreit durchstarten konnte.

»Ich habe uns eine Flasche Weißwein kommen lassen«, sagte ich.

»Eigentlich sollte ich nichts trinken«, antwortete sie, was in Mutter-Sprache so viel hieß wie »vielen Dank«.

»Keine Sorge«, erwiderte ich. »Das ist hier ein besonderes Angebot. Man bestellt zwei Gläser Wein, und sie geben einem die ganze Flasche. Du weißt, dass ich bei Schnäppchen nie widerstehen kann.«

Nachdem ich ihr Glas voll geschenkt hatte, stießen wir miteinander an, natürlich mal wieder auf Kerry und Brendan.

Ich versuchte meinen Groll zu unterdrücken und nicht auf die fünfjährige Miranda in mir zu hören, die ihrerseits im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen wollte.

»Kerry hat mir erzählt, wie sehr du ihr bei der Wohnungssuche geholfen hast und dass du sie bei dir wohnen lässt und all das«, sagte Mum. »Ich weiß, dass sie ihre Dankbarkeit manchmal nicht so zeigen kann. Wahrscheinlich aus Verlegenheit. Aber es bedeutet ihr sehr viel. Und mir auch.«

»Das mit der Wohnungssuche war wirklich nicht der Rede wert«, entgegnete ich.

»Ich bin wegen Kerry so glücklich, dass ich es kaum ertragen kann. Ich halte die ganze Zeit die Finger überkreuzt, und nachts liege ich oft wach und bete stundenlang, dass alles gut geht.«

»Warum sollte es nicht?«

»Es ist fast zu schön, um wahr zu sein«, antwortete meine Mutter. »Als würde zurzeit eine gute Fee die Hand über sie halten.«

»Es ist kein Märchen, Mum. Und Brendan kein Märchenprinz.«

»Ich weiß, ich weiß. Aber ich hatte bei Kerry schon immer das Gefühl, dass ihr alle Möglichkeiten offen stehen würden, wenn sie nur ein wenig mehr Selbstvertrauen hätte. Das hat Brendan ihr gegeben.«

»Irgendwie ist das beängstigend«, bemerkte ich, während ich den bernsteinfarbenen Wein in meinem Glas schwenkte.

»Von welch verschiedenen Dingen Glück abhängen kann. Das macht es so zerbrechlich.«

»Dich habe ich in dieser Hinsicht immer ganz anders eingeschätzt«, erklärte meine Mutter. »Auch wenn es noch so sehr auf und ab ging, bei dir war ich immer sicher, dass du deinen Weg machen würdest.«

»Oh«, sagte ich lahm. Aus irgendeinem Grund stimmten mich ihre Worte nicht besonders fröhlich.

»Jetzt ist Troy unser letztes Sorgenkind«, fuhr meine Mutter fort. »Aber komischerweise habe ich, was ihn betrifft, neuerdings auch ein besseres Gefühl. Als würde gerade eine Glückssträhne beginnen.« Ich schenkte ihr Wein nach. Sie wartete, bis ich fertig war, dann holte sie tief Luft und sagte:

»Da wir gerade von Kerry und Troy sprechen, scheint es mir ein guter Zeitpunkt zu sein, über ein paar Dinge zu reden, die dein Vater und ich noch nie so richtig mit dir diskutiert haben.«

»Was für Dinge?« Ich hatte plötzlich ein ungutes Gefühl.

Sie griff nach einer der kleinen Papierservietten, die man zum Wein bekam, und begann sie zu drehen und zu falten, als wollte sie ein Papierflugzeug bauen.

»Natürlich wissen wir alle, was für ein wundervoller Junge unser Troy ist. Trotzdem wird er immer finanzielle Unterstützung brauchen. Du weißt, dass wir schon seit Jahren in einen Treuhandfonds für ihn einzahlen.«

»Vielleicht bekommt er ja doch einen Job«, sagte ich zögernd.

»Man muss nur den richtigen Bereich für ihn finden.«

»Ich hoffe, du hast Recht, Miranda. Ich hoffe es sehr. Aber das ist im Moment nicht unser dringendstes Problem. In zwei Monaten werden Kerry und Brendan heiraten. In einem ganz bescheidenen Rahmen. Die beiden werden eine Weile arm wie Kirchenmäuse sein. Derek hat mit Brendan gesprochen und war sehr beeindruckt. Brendan hat eine ganze Reihe von Ideen. Die verschiedensten Pläne. Vorerst aber werden Kerry und er Unterstützung brauchen, beispielsweise, was den Kauf der Wohnung betrifft. Wie du weißt, haben wir im Moment Schwierigkeiten mit unserem eigenen Haus, aber wir werden ihnen trotzdem unter die Arme greifen, so gut wir können, und einen kleinen Teil der Kosten für die Wohnung übernehmen.«

»Das freut mich«, sagte ich. »Aber warum erzählst du mir das?«

»Du kommst so gut zurecht«, antwortete meine Mutter und drückte meine Hand. »Das war bei dir immer schon so.

Manchmal denke ich, dass du dir gar nicht vorstellen kannst, wie schwer Troy und Kerry es im Vergleich zu dir hatten.«

»Ich arbeite in einem Maler- und Tapezierbetrieb. Ich bin keine Börsenmaklerin.«

Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Du bist in deinem Beruf sehr gut. Ich habe mit Bill gesprochen. Er hält große Stücke auf dich.«

»Dann wünschte ich, er würde mir mehr bezahlen.«

»Das kommt schon noch, Miranda. Dir sind keine Grenzen gesetzt.«

»Worauf willst du hinaus?«

»Du bist so großzügig, Miranda, und ich weiß, du wirst in dieser Sache nicht lange überlegen, wie andere es vielleicht täten. Genau wie deinem Vater und mir ist sicher auch dir klar, dass Troy und Kerry auf eine Art und Weise finanzielle Unterstützung brauchen und immer brauchen werden, wie du sie niemals benötigen wirst.«

»Worauf willst du hinaus?«, wiederholte ich. Dabei wusste ich ganz genau, worauf sie hinauswollte.

»Ich will damit nur sagen, dass wir besondere Ressourcen für Troy und Kerry bereitstellen werden. Dein Vater und ich halten das einfach für nötig, und wir hoffen, du siehst das auch so.«

Konkret meinte sie damit – natürlich –, dass sie Geld aus jenem Stück des Familienkuchens, der rein theoretisch auf irgendeine Weise für mich bestimmt gewesen war, stattdessen Troy und Kerry geben würden. Was sollte ich dazu sagen?

Nein? Ich will nicht, dass ihr meinem Bruder und meiner Schwester helft? Eine kleine, ungefähr haselmausgroße Miranda in einer Ecke meines Gehirns stimmte ein wütendes, klägliches Geheul an, aber ich stopfte ihr einen metaphorischen Knebel in den Mund.

Am liebsten hätte ich ebenfalls losgeheult. Es ging mir nicht um das Geld, zumindest glaube ich das. Es ging mir um die Gefühle, die hinter dem Geld steckten. Wir werden niemals erwachsen genug, um nicht mehr das Bedürfnis zu haben, von unseren Eltern verhätschelt und umsorgt zu werden. Ich lächelte breit. »Natürlich«, antwortete ich.

»Ich wusste, dass du einverstanden sein würdest«, sagte meine Mutter erleichtert.

»Dann muss ich mir jetzt wohl einen reichen Ehemann suchen«, meinte ich, immer noch lächelnd.

»Du wirst alles bekommen, was du dir wünschst«, antwortete meine Mutter.

10. KAPITEL

Sie kamen früher als erwartet, sodass ich noch im Bademantel Kaffee trank und dazu ein Stück Vanillecremetorte aß, das ich vor ein paar Tagen auf dem Heimweg von der Arbeit gekauft hatte. Kein sehr gesundes Frühstück, aber die Creme schmeckte bereits ein wenig fad, und wenn ich die Torte jetzt nicht vertilgte, würde ich sie wegwerfen müssen. Außerdem war ich schon joggen gewesen, hatte an diesem wunderschönen, wenn auch kalten Oktobermorgen keuchend acht Kilometer hinter mich gebracht. Den qualvollen Lauf glich die Torte wieder aus.

Ich hatte eigentlich vorgehabt, mir noch die Zehennägel zu lackieren, das Wohnzimmer ein wenig aufzuräumen und Nick anzurufen, um mich mit ihm zum Mittagessen zu verabreden, damit ich einen guten Vorwand hatte, gleich nach ihrem Eintreffen die Flucht zu ergreifen.

Leider war ich noch nicht dazu gekommen, diesen Vorsatz in die Tat umzusetzen, als es dreimal energisch klingelte. Bevor ich ihnen öffnen konnte, hörte ich schon einen Schlüssel im Schloss kratzen. Obwohl ich ihn Kerry selbst gegeben hatte, verspürte ich einen Anflug von Groll. Ich fand, sie hätten mir trotzdem Gelegenheit geben sollen, sie bei ihrer Ankunft wie Gäste in mein Reich einzulassen. Das kratzende Geräusch dauerte an. Ich hörte erst leises Fluchen, dann Gelächter. Rasch stopfte ich mir das letzte Stück Torte in den Mund, band im Gehen den Gürtel meines Bademantels fester und riss die Tür auf. Mit ihr zog ich Brendan in die Wohnung, der immer noch an dem im Schloss steckenden Schlüssel herumfummelte. Wir waren ungefähr sechs Zentimeter voneinander entfernt. Er trug einen dicken Mantel, der meinem Vater gehörte, und einen langen gesprenkelten Schal, der aussah wie der, den ich Troy im Vorjahr zu Weihnachten geschenkt hatte. In der linken Hand hielt er eine große Nylontasche. Ich konnte einen Pyjama sehen, einen Bademantel, Rasierschaum. Seine Augen leuchteten, sein dunkles Haar glänzte. Sein Mund wirkte röter als sonst.

»Hallo«, sagte ich kurz angebunden und trat beiseite, um ihn hereinzulassen, aber er stellte sich einfach vor mich hin, als wären wir Partner bei einem Tanz, und blickte auf mich herab.

Sein aufgestellter Mantelkragen streifte mein Kinn. Ich spürte seinen Atem auf meiner Wange.

»Hallo, Mirrie«, begrüßte er mich. Er hob einen Daumen, und bevor ich ihn davon abhalten konnte, wischte er mir sanft einen Tortenkrümel von der Oberlippe. Dann beugte er sich zu mir herunter und drückte mir seine roten Lippen auf die Wange. Ich roch Minze und darunter etwas Säuerliches.

Rasch wandte ich mich ab und wischte mit der Hand über die Stelle, wo er mich geküsst hatte. Dann zog ich mich weiter in die Diele zurück. Brendan folgte mir. Hinter ihm trat Kerry in die Wohnung. Sie hatte einen leuchtend roten Dufflecoat an und von der Kälte gerötete Wangen. Ihr helles Haar trug sie wie ein kleines Mädchen zu Zöpfen geflochten. Sie war mit einer Schachtel beladen: Kleie, Kräutertee, Vitamintabletten, Alfaifabohnen, Holunderblütensirup aus biologischem Anbau.

Bevor sie mich umarmen konnte, musste sie erst die Schachtel auf dem Boden abstellen.

»Lass die Tür bitte auf«, sagte sie. »Wir haben noch jede Menge im Wagen. Mum, Dad und Troy kommen dann mit dem Rest.«

»Keine Angst«, meinte Brendan. »Wir haben nur das Allernötigste dabei.«

»Ich ziehe mir was an, dann helfe ich euch beim Tragen.«

»Wie wär’s, wenn du stattdessen Kaffee für uns machst?«, schlug Brendan vor. »Gefrühstückt haben wir auch noch nicht, stimmt’s, Kerry? Wir waren so im Stress.«

»Ihr wart so im Stress. Ich weiß gar nicht, wo ihr die Energie hernehmt.«

Er grinste einen Moment süffisant, dann sagte er: »Bloß Toast und Marmelade, das reicht uns völlig. Oder hast du Tahini?«

»Was?«

»Kerry und ich versuchen, uns möglichst gesund zu ernähren.«

Er streckte seine große, haarige Hand aus und tätschelte Kerrys Kopf. »Wir wünschen uns ein langes gemeinsames Leben, nicht wahr, Liebling?«

»Wir haben einen Fragebogen aus dem Internet ausgefüllt«, erklärte Kerry. »Man musste angeben, wie viel Sport man macht und was man isst, und am Ende kam heraus, in welchem Alter man sterben wird. Ich werde zweiundneunzig, Brendan sechsundneunzig.«

»Ich habe nur Marmelade«, antwortete ich.

Nachdem ich ins Schlafzimmer zurückgekehrt war, setzte ich mich erst mal aufs Bett und atmete ein paarmal tief durch, um mich wieder zu beruhigen. Dann zog ich mich in aller Ruhe an, bürstete mir unnötigerweise das Haar, machte das Bett. Das Telefon klingelte, aber draußen nahm jemand ab, ehe ich rangehen konnte.

Als ich das Schlafzimmer wieder verließ, stand die Wohnungstür immer noch offen. Inzwischen waren auch meine Eltern und Troy eingetroffen. Auf einem der Sessel thronte ein kleiner Fernsehapparat. Auf dem Küchentisch standen ein Computer samt Drucker, ein tragbarer CD-Player, neben dem ein paar CDs gestapelt waren, außerdem eine Nachttischlampe, deren Kabel auf den Boden hing. Neben der Tür sah ich drei große, prall gefüllte Taschen. Am schlimmsten fand ich den Berg aus Schuhen, seine vermischt mit ihren, der für mich fast schon etwas erschreckend Intimes hatte. Daneben lehnten zwei Tennisschläger an der Wand, ein Trimmrad versperrte den Eingang zum Bad. Auf den Arbeitsflächen in der Küche war allerlei Krimskrams verteilt: zwei elektrische Zahnbürsten, eine Flasche Kontaktlinsen-Reinigungsflüssigkeit – wieso war mir gar nicht aufgefallen, dass Brendan Kontaktlinsen trug, als wir zusammen waren? –, Antischuppenshampoo, ein Schminktäschchen, ein zweiter Toaster, ein Bügeleisen, ein gerahmtes Foto, das Brendan und Kerry Arm in Arm auf einer Holzbank zeigte, stapelweise Reiseprospekte, ein verheddertes Glockenspiel, das Kerry schon seit ihrer Teenagerzeit besaß.

Wie hatten die beiden es bloß geschafft, in so kurzer Zeit so viel Zeug anzusammeln?

Ich blieb einen Moment lang im Türrahmen stehen und starrte sie an. Brendan mahlte Kaffeebohnen, und Kerry machte für alle Toast mit Marmelade. Es roch bereits tröstlich nach verbranntem Brot. Mum war lässiger gekleidet, als ich es von ihr gewöhnt war. Sie trug eine alte Kordhose und ein kariertes Hemd. Sie hatte sich das Haar hinter die Ohren gestrichen, und einen Moment lang war ich verblüfft, wie unbekümmert sie wirkte. Sie hielt einen Strauß bunter Dahlien in der Hand.

Brendan legte den Arm um sie, woraufhin sie sich lachend an ihn lehnte und ihm die Blumen unter die Nase hielt. Ich warf einen Blick zu meinem Vater hinüber, aber den schien das nicht im Geringsten zu stören. Er blickte sich gerade mit strahlender Miene im Raum um. Er war unrasiert und hatte Marmelade am Kinn.

Troy saß auf einer zusammengefalteten Steppdecke am Boden, den Rücken gegen das Sofa gelehnt. Er war mit einer Art Puzzle beschäftigt, das ich ihm am Donnerstag zuvor geschenkt hatte, bestehend aus einer Reihe von Styroporformen, die sich laut Anleitung auf der Verpackung zu einem Würfel zusammenfügen ließen. Ich betrachtete sein konzentriertes Gesicht. Er wirkte schmal, blass und müde. Seinen Augenringen nach zu urteilen hatte er geweint, aber er strahlte auch etwas Friedliches aus.

Troy ist der einzige Mensch, den ich kenne, der gleichzeitig glücklich und traurig sein kann. Er schob die letzte Form an ihren Platz – tatsächlich, das Ganze ergab einen Würfel – und lächelte zufrieden, bevor er anfing, die Teile wieder auseinander zu nehmen. Ich spürte, wie ein Gefühl von Zärtlichkeit in mir aufstieg, und wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen.

»Hallo, ihr alle!« Ich küsste meine Eltern auf die Wange und zerzauste Troy das Haar.

»Der Kaffee ist fertig«, verkündete Brendan fröhlich.

»Wahrscheinlich habe ich sämtliche Kaffeebohnen aufgebraucht.«

»Wo willst du das alles bloß unterbringen?«, fragte ich Kerry.

»Ich weiß wirklich nicht, wo wir eure Klamotten aufhängen sollen.«

»Wir haben von Dad einen Kleiderständer bekommen«, antwortete sie. »Für die schöneren Sachen und meine Arbeitsklamotten. Wir können ihn hinter das Sofa stellen. Den Rest lassen wir einfach in den Taschen.«

Ich brachte nur ein schwaches, zustimmendes Achselzucken zustande. Während ich Mum dabei zusah, wie sie die Dahlien in ein Glas stellte, versuchte ich einen Anfall von Selbstmitleid zu unterdrücken. Mir hatte sie keine Blumen mitgebracht, als sie das letzte Mal hier war.

»Bitte schön«, sagte Brendan. »Mit Milch, aber ohne Zucker, richtig?« Dabei zwinkerte er zufrieden, als hätte er gerade eine Quizfrage korrekt beantwortet.

Ich ließ mich neben Troy nieder und sah zu, wie Kerry eine Schachtel Müsli nach der anderen in meine Küchenschränke räumte. Brendan nahm einen Stapel Bücher aus einem großen Regalfach und stellte stattdessen den kleinen Fernseher hinein.

»So können wir im Bett fernsehen«, sagte er. »Ist deine Ausziehcouch bequem, Mirrie? Ich habe noch nie darauf geschlafen.«

»Wie geht es dir?«, wandte ich mich an Troy, obwohl ich an seinem kalkweißen Gesicht und seiner gebeugten Haltung sehen konnte, wie er sich fühlte: bedrückt und kraftlos.

Plötzlich war der Raum von lauter Musik erfüllt.

»Mozart«, verkündete Brendan. »Wir lieben Mozart, stimmt’s, Kerry?«

»Geht schon«, antwortete Troy. »Gut.« Er griff wieder nach den Styroporteilen und begann von neuem.

»Hier, Kumpel.« Brendan ging neben ihm in die Knie und reichte ihm eine Scheibe Toast. »Du brauchst Blutzucker.« Er legte die Hand unter Troys Kinn und hob es an. »Du siehst müde aus. Hast du letzte Nacht nicht gut geschlafen?«

»Nicht besonders.«

»Das ist schlecht. Aber jetzt iss erst mal deinen Toast. Später machen wir dann einen strammen Spaziergang. Das hilft gegen Schlaflosigkeit. Hmm?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Troy. Er wandte den Blick ab und biss in seinen Toast. »Ich weiß nicht, ob mir nach Spazierengehen zumute ist.«

»Ich sollte euch vielleicht vorwarnen, dass ich demnächst weg muss«, wechselte ich das Thema. »Tut mir Leid. Ich habe das schon vereinbart, bevor ich wusste, wann ihr kommt.«

»Wie schade«, sagte meine Mutter. »Kannst du es nicht absagen?«

»Wen triffst du denn?«, fragte Brendan.

»Niemanden, den du kennst.«

»Miranda!«, rügte mich meine Mutter. »Ich weiß, du meinst es nicht so, aber das hat eben ein bisschen unhöflich geklungen.«

Ich musste mich zusammenreißen, meiner Mutter darauf keine wirklich unhöfliche Antwort zu geben.

»Er heißt Nick«, sagte ich.

»Nick?« Brendan hob die Augenbrauen.

»Ja.«

»Wie seltsam. Ich habe gerade mit ihm telefoniert. Als du dich angezogen hast. Tut mir Leid, ich hätte es dir gleich sagen sollen. Ich habe gesagt, du würdest ihn zurückrufen – aber er schien nichts von eurer Verabredung zu wissen. Hmm? Ich habe ihn ganz spontan eingeladen herüberzukommen und mit uns zu essen. Ich wusste, dass du nichts dagegen haben würdest. Wir haben uns gedacht, wir könnten so etwas wie eine Einstandsparty feiern. Die Küche von Derek und Marcia hat ja im Moment nur drei Wände und ist nicht zu benutzen.«

Ich schloss für einen Augenblick die Augen. Als ich sie wieder aufschlug, stand er immer noch lächelnd vor mir.

»Ich kann nicht …« Ich wusste nicht, wie ich den Satz zu Ende führen sollte. Ich ballte die Fäuste, bis sich meine Nägel tief in die Handflächen gruben.

»Er hat sich über die Einladung gefreut.«

»Wir müssen ihn ja sowieso irgendwann kennen lernen«, mischte sich Mum ein. Sie war gerade damit beschäftigt, Kerrys und Brendans Schuhe zu Paaren zu ordnen und an der Wand entlang aufzureihen.

»Troy kann uns was Feines kochen«, schlug Brendan vor.

»Ich weiß nicht, ob mir heute nach Kochen zumute ist«, entgegnete Troy.

»Ihr scheint das alles ja schon wunderbar geplant zu haben«, stellte ich fest.

»Du brauchst keinen Finger zu rühren«, antwortete Brendan.

»Wir werden dich mal so richtig verwöhnen. Das machen wir gern, Mirrie.«

11. KAPITEL

Ich ergriff trotzdem die Flucht, weil ich es in der Wohnung nicht mehr aushielt – in meiner eigenen Wohnung, die sich nicht mehr wie meine eigene anfühlte, seit Brendans Rasierschaum in meinem Bad und Kerrys Fernseher in meinem Regal stand.

Durch meine Räume schallte jetzt ihre Musik, ihre Sojamilch stand in meinem Kühlschrank, ihre Sachen für die Nacht hingen über der Rückenlehne meines Sofas.

Nachdenklich wanderte ich über die Heath. Unter meinen Füßen raschelte das Laub, mein Atem bildete in der kalten klaren Luft weiße Dampfwolken. Es war ein schöner Tag, und in meinem Leben gab es einen Mann, den ich gern hatte.

Eigentlich hätte ich mich glücklich fühlen müssen – aber das Einzige, was ich spürte, war dieses nagende Gefühl, das sich wie Säure in meine Magenwände fraß. Ich konnte nicht anders, ich musste mir ständig vorstellen, wie Brendan auf meinem Klo saß, in meiner Badewanne lag, ganz in meiner Nähe sein Essen zu sich nahm, sich an meine Schwester und meine Mutter schmiegte … Seine Haare in meiner Bürste, seine Hand auf meiner Schulter, sein Atem auf meiner Wange. Schaudernd beschleunigte ich mein Tempo, versuchte meine Wut und meinen Abscheu auf diese Weise abzureagieren.

Während ich ein Häufchen Rosskastanien aus dem Weg kickte und beobachtete, wie sie davonrollten, sagte ich mir, dass ich Kerry zuliebe nett und freundlich sein musste. Bloß ein paar Tage, höchstens ein, zwei Wochen, dann würden sie damit beschäftigt sein, ihre eigene Wohnung herzurichten und ihre Hochzeit zu planen, und ich brauchte sie kaum mehr zu sehen.

Aber während ich versuchte, mir das einzureden, hörte ich wieder seine Stimme, hörte ihn von meinem schönen Mund sprechen. Ich musste an seine feuchten Lippen an meiner Wange denken, und sofort war mir wieder kotzübel.

Mein Handy klingelte.

»Hallo?«

»Miranda, ich bin’s.«

»Nick. Ich hätte dich auch gleich angerufen.«

»Ich bin gerade bei Greg. Ich freue mich schon auf heute Abend, auch wenn es eine etwas erschreckende Vorstellung ist, deine ganze Familie auf einmal kennen zu lernen. Soll ich irgendwas mitbringen?«

»Du brauchst nicht zu kommen, wenn du nicht magst.«

»Möchtest du nicht, dass ich komme?«

»Doch, natürlich. Ich dachte bloß, es wäre dir vielleicht zu viel. Die ganze Familie. Außerdem sind Kerry und Brendan gerade mit ihrem halben Hausstand bei mir eingezogen. In meiner Wohnung herrscht ein schreckliches Chaos.«