img1.png

 

Kapitel 6

 

Kiemhild war jung, aber sie war auch die Schwester des Königs, und so hatte man sie auf manches vorbereitet, das einem Fräulein ihres Standes zustoßen mochte. Sie konnte recht gut mit dem Dolch und leidlich mit einem Schwert umgehen (wenn auch nicht gut genug, um einen der Hunnen damit zu beeindrucken). Sie war eingewiesen in die Regeln der Politik und Diplomatie, und sie wußte, wie sie sich im Fall einer Begegnung mit Feinden des Reiches zu verhalten hatte. Niemals nachgeben, hatte man sie gelehrt, immer burgundischen Stolz und königliche Kühnheit zeigen. Man hatte sie sogar mit der furchtbarsten aller Möglichkeiten, einer Schändung durch gegnerische Krieger, vertraut gemacht, indem man ihr Frauen vorstellte, die solche Schrecken durchgemacht hatten und ihr von ihren Erlebnissen berichteten. Kurzum, Kriemhild wußte, was sie in den Klauen der Hunnen zu erwarten hatte.

Worauf sie jedoch niemand vorbereitet hatte, das war Etzels ausgesuchte Höflichkeit.

Der Hunnenprinz schien sich in vorzüglichem Benehmen übertreffen zu wollen, beinahe, als sähe er in Kriemhild einen hochgestellten Gast, keine Gefangene. Doch auch seine tadellose Oberfläche hatte den einen oder anderen Riß, und so litt jede Geste, jedes Wort, gar jeder Blick am Beigeschmack des Einstudierten. Etzel mochte ernst meinen, was er sagte, aber auf Kriemhild wirkte es wie die Darbietung eines talentierten Gauklers, der für eine Weile sein wahres Wesen abstreifte und in die Haut eines anderen schlüpfte. Und ganz gleich, wieviel Mühe der Prinz sich geben mochte, so war ihm doch die Haut eines Edlen von burgundischem Zuschnitt um einiges zu groß. Das wenigstens war es, was Kriemhild empfand, besser: empfinden wollte. Denn nach einer Weile an Etzels Seite konnte sie eine gewissen Achtung vor seinen Bemühungen nicht leugnen, und ihre Furcht, die sie so mühsam zu überspielen suchte, legte sich ein wenig.

Etzel stieg mit ihr eine Treppe zum Wehrgang der Ummauerung hinauf, als sie fragte: »Ihr wißt, wer ich bin, Prinz, und dennoch gebt Ihr Euch alle Mühe, mir gefällig zu sein. Wie könnt Ihr das erklären?«

Die Leibgarde des Prinzen war auf seinen Befehl hin im Hof zurückgeblieben. Er wandte sich auf der Treppe zu Kriemhild um und sagte: »Man muß Euch wenig Vorteilhaftes über mein Volk gelehrt haben, wenn Eure Erwartungen so barbarisch sind. Was, glaubt Ihr, sollte ich einer Gefangenen wie Euch wohl antun?«

»Sicher ist es nicht nötig, Euch dazu eine Anleitung zu geben, Prinz.«

Er lächelte, aber es wirkte nicht allzu vergnügt. »Meine Krieger sind ebensolche Männer wie die Euren daheim in Worms, mit den gleichen Gelüsten, der gleichen Liebe zu ihrer Heimat und oft auch der gleichen Grausamkeit. Was immer man Euch über Heldentaten im Krieg erzählt hat, Prinzessin, vergeßt es am besten wieder, bis Ihr selbst erlebt habt, was Haß und der Tod geliebter Menschen aus einem Mann zu machen vermögen. Plünderung, Schändung, Folter – all das sind Dinge, derer sich Eure Kämpfer genauso schuldig machen wie die meinen. Ich kann Euch versichern, daß der Ruf der burgundischen Krieger bei mir zu Hause nicht freundlicher ist als der unsere bei Euch.«

Kriemhild rümpfte die Nase. Über ihre Lippen kam eine auswendiggelernte Formel, nicht das, was sie wirklich empfand: »Die Ritter des Burgundenreichs sind weithin für ihre Ehre bekannt, Prinz Etzel. Was man von den Euren nicht gerade behaupten kann.«

Zu ihrer Überraschung zeigte er kein Zeichen von Zorn. »Ihr sprecht so, weil Ihr uns nicht kennt. Wir dagegen wissen fast alles über Euch. Verratet mir, zum Beispiel, ob Ihr je zuvor meinen Namen gehört habt.«

»Nein«, gestand sie.

»Seht Ihr«, erwiderte er zufrieden. »Ich bin Euch unbekannt, während Ihr für mich wie eine Verwandte seid. Schon bevor ich Euch traf, kannte ich Euer Aussehen, Eure Wildheit, Eure zänkische Art.«

Kriemhild riß erbost die Augen auf, zog es aber vor zu schweigen.

Etzel lächelte, während er ihr den Vortritt zum Wehrgang ließ. »Ich hörte einiges über die Art und Weise, mit der Ihr Euch bei Hofe gebt, Prinzessin. Ihr seid nicht leicht zu bändigen. Das spricht für Euch.«

»Vielen Dank«, brummte sie finster.

Er lachte. »Ich verstehe Euch besser, als Ihr meinen mögt. Nur eines begreife ich nicht – werdet Ihr mir daher eine Frage gestatten?«

»Ihr mögt Eure Männer am Fuß der Mauer zurückgelassen haben, aber ich bin sicher, sie wären schnell mit den Klingen bei der Hand, würde ich mich Euren Wünschen widersetzen.«

Er schüttelte ein wenig resigniert den Kopf. »Warum habt Ihr Euch in der Zeit, in der Ihr hier seid, nicht ein einziges Mal nach der Herrin dieser Festung erkundigt? Zu ihr wolltet Ihr doch, nicht wahr?«

»Ich nahm an, Ihr habt sie getötet – so, wie es Art der Hunnen ist.« Einen Moment lang fürchtete sie, den Bogen überspannt zu haben, doch auch diesmal blieb Etzel ruhig. Falls ihre Worte ihn getroffen hatte, so hielt er seine Wut im Zaum.

Statt dessen nickte er langsam. »Es ist Art der Sieger, die Erinnerung an die Verlierer auszulöschen. Und ich gestehe, ich mußte meine Männer davon abhalten, dieser Hexe die Haut abzuziehen.«

Kriemhild schöpfte neue Hoffnung. »Dann lebt sie?«

Mit einem weiteren Kopfnicken sagte er: »Sie lebt, wenn auch um eines hohen Preises willen.«

»Ich bin sicher, mein Bruder wird ihn zahlen.« Tatsächlich war sie sich dessen alles andere als sicher, doch der Gedanke, daß ihre Reise möglicherweise doch nicht umsonst gewesen und Berenike am Leben war, erfüllte sie mit Freude. Vielleicht würden sie die Pest doch noch besiegen können, bevor die Seuche Worms und die westlichen Länder erreicht hatte!

»Der Preis, von dem ich sprach«, sagte er betrübt, »ist keiner, den Euer Bruder zahlen könnte.« Er blieb stehen, stützte sich mit beiden Händen auf die Zinnen und blickte über das nebelverhangene Tal hinweg. »Ich allein habe diesen Preis zu zahlen.«

»Ihr, Prinz Etzel?«

Er fuhr sich mit einer Hand durch seinen pechschwarzen Haarschopf. »Eine Schuld, die mich in meine Träume verfolgen wird, dessen seid gewiß.«

Sie lehnte sich neben ihm an einen der brusthohen Steinquader und versuchte, von der Seite seinen Blick einzufangen. Doch Etzel schaute nur gedankenverloren über den milchigen Dunst nach Osten.

»Von welcher Art Preis sprecht Ihr?« Plötzlich überkam sie ein schmerzhaftes Gefühl der Vorahnung, ohne daß sie ihre Befürchtung in Worte hätte fassen können.

»Ich will es Euch zeigen, Prinzessin«, sagte er, löste sich vom Zinnenkranz und ging weiter den Wehrgang entlang. »Deshalb habe ich Euch hier heraufgeführt.«

Im Inneren der Ummauerung gab es eine Reihe von Häusern, deren Dachgiebel den Blick auf die andere Seite der Zinnen verwehrten. Kriemhild und Etzel mußten fast die gesamte Anlage umrunden, ehe sie ans Ziel gelangten. Kurz vorher verstellte der Prinz Kriemhild noch einmal den Weg. »Was Ihr sehen werdet«, sagte er traurig, »geschieht nicht auf meinen Wunsch hin. Aber manchmal muß auch ein Rudelführer dem Willen seiner Wölfe folgen. Und meine Wölfe wollen das Blut dieser Hexen.«

Kriemhild starrte einen Moment lang in seine schmalen, dunklen Augen und wunderte sich über die sonderbare Melancholie darin. Dann schob sie ihn grob beiseite und setzte eilig ihren Weg über den Wehrgang fort.

Und endlich sah sie, was er meinte.

Im nördlichen Teil der Festung, gleich unterhalb der Mauer, gab es einen kleinen Platz aus Pflastersteinen. Eine stattliche Anzahl von Hunnenkriegern hatte sich dort versammelt und folgte mit starren Blicken einem grausamen Schauspiel. In der Mitte des Platzes war aus Weidenzweigen und Brettern eine riesige Gestalt errichtet worden, fast so hoch wie der Wehrgang. Ein breiter Leib und gehörnter Schädel, beides aus hölzernem Gitterwerk, erhob sich wie ein archaischer Hohepriester inmitten der Hunnenschar.

Der Bauch der Holzgestalt war hohl. Einen Einstieg an der Vorderseite hatten die Hunnen mit straff gespannten Seilen versperrt. Ein gutes Dutzend Hände kratzte und zerrte von innen an den Knoten, vergeblich. Verzweifelte Schreie drangen aus dem Gitterleib, haltloses Weinen und Flehen. Eine Gruppe junger Frauen und Mädchen, einige noch im Kindesalter, war im Inneren des dämonischen Weidenmannes gefangen. Alle trugen lange weiße Gewänder. Mehrere Fackelträger rund um das grotesk-entsetzliche Gefängnis ließen keinen Zweifel an dem, was den Frauen bevorstand.

Etzel trat neben Kriemhild, die immer noch starr am Rand des Wehrgangs stand und in den Abgrund des Hofes blickte. Das Schreien und Weinen der Frauen verschmolz zu einem fremdartigen Klangteppich, der Kriemhild umwob wie ein Gespinst aus giftigen Dornenranken.

»Sagt jetzt nichts«, flüsterte Etzel, »sondern hört mir nur zu.«

Kriemhild fuhr mit einem Ruck herum. »Nichts sagen?« Sie deutete mit bebender Hand auf den Weidenmann. »Und Ihr wagt es, Eure Krieger mit denen des Burgundenreichs zu vergleichen? Ihr wagt es, mir eine Rede darüber zu halten, daß im Krieg alle gleich sind?« Sie spie ihm voller Verachtung ins Gesicht. »Großer Gott, ich hätte Euch beinahe geglaubt!«

»Und weise wäret Ihr gewesen, hättet Ihr es getan«, sagte er und wischte sich achtlos ihren Speichel von der Wange. »Was dort geschieht, geschieht nicht auf meinen Wunsch hin.«

Sie lachte ihm voller Hohn entgegen. »Wollt Ihr damit sagen, Eure Männer hätten gegen Euch gemeutert?«

»Nein, natürlich nicht. Sie gehorchen mir aufs Wort.«

»Dann macht dem ein Ende!«

»Das kann ich nicht.«

»Ihr seid erbärmlich in Euren Widersprüchen.«

Er zuckte mit den Schultern. »Denkt über mich, wie Ihr wollt. Und dennoch bitte ich Euch, mir zuzuhören.« Während er sprach, trat einer der Hunnen vor und vollführte mit geschlossenen Augen heidnische Gesten vor dem Käfig. Er trug lange Gewänder, sein Gesicht war mit bizarren Zeichen bemalt. Ein Priester, der seinen Göttern ein Opfer weihte.

»Der Sturm auf diese Festung hat viele meiner Männer das Leben gekostet«, sagte Etzel und blickte Kriemhild dabei fest in die Augen. »Wir wußten nicht, was uns hier erwartet. Mein Vater sandte uns als Spähtrupp in diesen Teil Eures Reiches, und wir glaubten, diese Burg sei aufgrund ihrer abgelegenen Lage ein guter Ausgangspunkt für verborgene Vorstöße in Eure Ländereien. Wir kamen nicht, um Krieg zu fuhren, sondern nur um zu beobachten, zu horchen und das Erfahrene heim zum Hof meines Vaters zu tragen.« Er seufzte leise. »Ich gestehe, wir wußten nicht, auf was wir uns einließen, als wir vor zwei Tagen diese Burg angriffen.«

Kriemhild blickte abwechselnd zwischen ihm und dem Weidenmann hin und her. Das Schreien und Bitten der Frauen ertönte immer höher und schriller.

Etzels bronzene Rüstung klirrte bei jeder Bewegung. »Ich hatte früher schon von der Erzhexe Berenike gehört, aber niemals hätte ich sie hier vermutet, in diesen Mauern. Als wir die Felsen erklommen, stürzte uns eine Felslawine entgegen, und ich schwöre, sie kam aus dem Nichts. Aus dem Nichts, Kriemhild, versteht Ihr? Fast ein Drittel meiner Männer wurde in die Tiefe gerissen, noch bevor sie überhaupt begriffen, was geschah. Wir sind Hunnen, und wir sterben mit einem Schwert in der Hand! Wir werden nicht von ein paar Steinen erschlagen!« Zum erstenmal lag Wut in seiner Stimme, Wut von solcher Kraft, daß Kriemhild einen Moment lang sogar das Schicksal der Frauen vergaß. »Der Rest von uns erreichte die Mauern der Festung, und ich befahl, ein paar Brandpfeile über die Zinnen zu schießen, um Verwirrung zu stiften. Aber noch ehe der erste Pfeil auf der Sehne lag, standen plötzlich fünf oder sechs meiner Männer in Flammen. Sie hatten sich selbst in Brand gesetzt!«

»Eine wirklich schlagkräftige Truppe, die Ihr da anführt«, bemerkte Kriemhild bissig, aber als sie die animalische Glut in Etzels Augen sah, bereute sie ihre Worte. Plötzlich sah er aus, als sei es sein größter Wunsch, sie in Stücke zu reißen.

»Meine Männer trifft keine Schuld!« brüllte er sie an, so laut, daß einige der Krieger im Hof irritiert emporblickten. »Es war Berenikes Magie, die uns solchen Schaden zugefügt hat, dessen seid gewiß, Prinzessin. Als es uns schließlich gelang, die Zinnen zu überwinden, war die Hälfte meiner Leute tot. Und alles, was wir hier drinnen fanden, war ein Haufen kreischender Weiber. Keine Ritter, überhaupt keine Männer! Nur diese Mädchen dort unten – und Berenike.«

»Wo ist sie jetzt?«

»Im Nordturm, in ihrer Kammer.«

Kriemhild deutete mit einer Handbewegung hinab in den Hof. »Was kann ich tun, um dieses Massaker zu verhindern?«

»Nichts, fürchte ich. Was Ihr dort seht, ist der Preis für Berenikes Leben und zugleich noch viel mehr. Meine Männer wollen Blut sehen, um die Ehre unserer Toten zu bewahren, und ich kann es Ihnen nicht verübeln.«

»Das klingt, als wäret Ihr dagegen.«

»Ich sagte Euch schon, was dort geschieht, ist nicht mein Begehr.« Er zuckte mit den Schultern.

»Aber ein Befehlshaber, gleichgültig ob Hauptmann oder Herrscher, muß Zugeständnisse an seine Leute machen.« Er deutete auf den Mann mit dem bemalten Gesicht. »Und an seine Priesterschaft.« Als Kriemhild vor Abscheu das Gesicht verzog, fügte er hinzu: »Als Schwester des Königs solltet Ihr das wissen.«

»Wir bauen unseren Priestern Kirchen, wenn wir Ihnen gefallen wollen. Wir bringen keine Menschenopfer.«

Etzel hob die Augenbrauen. »Ihr glaubt, wir hätten dieses Ding dort errichtet? Den Weidenmann?« Er schüttelte vehement den Kopf. »Das waren nicht wir.«

»Aber –«

»Nein, Prinzessin. Mögt Ihr über uns denken, was Ihr wollt, aber dieses Menschenopfer war nicht unser Einfall.«

Sie schnappte nach Luft. »Berenike?«

»Natürlich. Sie hat uns gewarnt. Ein Opfer sei vonnöten, bei dem, was uns allen bevorstünde, hat sie gesagt. Dieser Scheiterhaufen dort im Hof, Prinzessin, war eigentlich für Euch bestimmt.«

Die angstvollen Schreie der Frauen erfüllten Kriemhild mit fremdem Entsetzen, das schlagartig zu ihrem eigenen wurde.

Etzel sah, was in ihr vorging, fuhr aber dessen ungeachtet fort: »Etwas wird hier geschehen, jeder kann das spüren, auch Ihr, wenn Ihr Euch nur ein wenig Mühe gebt. Es liegt in der Luft wie ein schlechter Geruch, eine Ahnung von etwas, das kommen wird.«

»Das ist doch wirres Zeug.« Aber in Wahrheit glaubte auch Kriemhild es zu spüren, eine seltsame Strömung, als zöge rund um die Festung ein unsichtbares Gewitter herauf.

»Vielleicht täuschen wir uns alle«, gab Etzel zu. »Dennoch bin ich gerne gegen alle Möglichkeiten gerüstet. Mag sein, daß Ihr mir noch dafür danken werdet. Wie es aussieht, habe ich Euren Dank ohnehin schon verdient.«

Ihr Blick war voller Verachtung. »Dafür, daß all diese Frauen an meiner Stelle sterben müssen? Nur, damit Ihr für mich ein Lösegeld von meinem Bruder fordern könnt – darum geht es Euch doch, nicht wahr?«

»Was würdet Ihr tun, wenn Ihr in meiner Lage wärt? Ich bin sicher, zumindest Euer Bruder würde genauso handeln.«

»Ihr macht es Euch sehr einfach, wenn das die Art ist, auf die Ihr Eure Entscheidungen trefft.« Jetzt wollte sie ihn verletzen, und es war ihr gleich, was er danach mit ihr anstellen würde. »Denkt Ihr Hunnen immer so: Wie würde der König der Burgunden in meiner Lage handeln?« Sie lachte verbittert auf. »Mein Bruder wird sich freuen, das zu hören.«

»Ihr werdet albern.«

»Wenn das nötig ist, um Euch aus Eurer Gleichgültigkeit zu rütteln, gerne, dann bin ich albern.«

Unten im Hof versank der Hunnenpriester mit erhobenen Armen in einer grotesken Starre. Seine geflüsterten Beschwörungen gingen im Flehen der Frauen unter.

»Gebt den Befehl, damit Schluß zu machen«, verlangte Kriemhild eindringlich. »Ihr könnt nicht all diese Frauen töten, nur um einer vagen Gefahr aus dem Weg zu gehen. Was erwartet Ihr denn? Daß Eure Götter von den Bergen herabsteigen?«

Er sah sie verwundert an. »Das ist sonderbar.«

»Was?«

»Ihr habt gerade die gleichen Worte benutzt wie Berenike: ›Die Götter werden über die Berge steigen.‹ Genau das war es, was sie sagte.«

In ihrer Erinnerung hörte Kriemhild wieder Jodokus’ Stimme: Die Götter sammeln ihre Kräfte. Sie bereiten das Ende vor. Das große Finale.

Plötzlich wurde ihr schlecht. Fröstelnd blickte sie zur Spitze des Nordturms empor.

»Laßt mich mit Berenike sprechen«, flüsterte sie atemlos.

Das Hinterteil eines Pferdes führte sie an, und niemand war sich der Lächerlichkeit dieses Umstands bewußter als Jodokus. Noch immer hatte es auf dem schmalen Pfad keine Gelegenheit gegeben, Lavendel wenden zu lassen, und noch immer mußte das arme Tier rückwärts gehen. Jodokus tat sein Bestes, den Schimmel mit freundlichen Worten zu besänftigen, auch um seiner selbst willen. Jeden Augenblick mochte Lavendel störrisch stehenbleiben und den Weg versperren, und Jodokus mußte sich nicht erst zu Hagen umdrehen, um zu wissen, wer das würde ausbaden müssen.

Doch so beschwerlich und angstvoll diese Angelegenheit auch war, Jodokus haderte nicht länger mit seinem Schicksal.

Jeder andere hätte die Begegnung mit der Prinzessin verflucht; nicht so Jodokus. Vielmehr machte ihm die Trennung von ihr weit arger zu schaffen als alles andere. Arger als Hagens dräuende Präsenz in seinem Rücken. Arger auch als Berenikes Hort, der jenseits der Bergkuppe aus den Nebeln emportauchte.

Schließlich gelangten sie an die Stelle, an der Jodokus und Kriemhild Abschied genommen hatten, und hier endlich bot sich genügend Platz, um Lavendel aus seiner mißlichen Lage zu befreien. Mit einem Wiehern drehte das Tier sich um, ungeachtet der Äste, die über sein Fell kratzten. Jodokus fürchtete, das Pferd würde wohl nach hinten austreten und ihm den Huf vor den Schädel hämmern. Doch der Schimmel blieb ruhig, als sähe er die Notwenigkeit ein, Kriemhild schnellstens zur Hilfe zu eilen.

Hagen zwängte sich an dem Schimmel vorbei an die Spitze, Jodokus folgte ihm. Am tiefblauen Himmel flatterten zwei Raben und stießen heisere Schreie aus. Hagen blickte zu ihnen empor, und sogleich verstummte ihr Krächzen. Die beiden Vögel senkten sich herab und verschwanden zwischen den Baumkronen.

»Ihr habt Macht über Tiere, Herr?« fragte Jodokus beeindruckt.

»Nicht genug, um einen Esel zum Schweigen zu bringen.«

»Ihr macht Euch über mich lustig.«

»Merkwürdig«, knurrte Hagen, ohne den Blick von Berenikes Hort zu nehmen, »lustig hat mich noch keiner genannt.«

Der Krieger setzte sich wieder in Bewegung und ging mit weiten Schritten den Hang hinab. Jodokus ergriff Lavendels Zügel und folgte. Hinter ihnen kletterte der Junge von Hagens Roß und führte das Tier mit einer Selbstverständlichkeit, als sei es sein eigenes.

»He, Junge«, rief Jodokus nach hinten, »wie heißt du überhaupt?«

»Jorin«, gab der Junge mißmutig zurück. »Jorin Pferdehüter.« Hagen mußte ihn mit seiner schlechten Laune angesteckt haben.

Sie näherten sich dem Punkt, an dem der Waldweg auf den Felsendamm wechselte, der über das Nebelmeer hinweg zur Festung führte.

Bevor sie den Schatten des Waldes verlassen konnten, blieb Hagen stehen. »Welches Instrument spielst du, Sänger?« fragte er.

»Vielerlei«, erwiderte Jodokus wahrheitsgetreu. »Flöte, Laute, Schalmei, Cornamuse, Schreichpsalter, manchmal auch die Harfe. Warum fragt Ihr?«

»Hast du eines davon dabei?«

»Keines, wie Ihr wohl sehen könnt.«

Hagen brummte etwas, das Jodokus nicht verstand, dann fragte er: »Aber singen kannst du doch wenigstens?«

»Gewiß, Herr.« Ihm schwante nichts Gutes bei diesem sonderbaren Fragespiel.

»Dann wirst du dich jetzt nützlich machen«, sagte Hagen. »Dir liegt doch auch daran, die Prinzessin zu retten, nicht wahr?«

»Natürlich.«

»Um deines Kopfes willen eine weise Entscheidung.«

Zum ersten Mal war Jodokus über eine Bemerkung Hagens ernsthaft empört. »Was denkt Ihr von mir?« fuhr er den Krieger an, ungeachtet aller Folgen, die soviel Kühnheit haben mochte. »Ich würde mein Leben für das der Prinzessin geben, dessen seid gewiß.«

Hagen starrte ihn lange mit seinem dunklen Auge an. Jodokus gab sich alle Mühe, dem durchdringenden Blick standzuhalten. Plötzlich legte der Krieger ihm die Hand auf die Schulter. »Du bist ein guter Kerl, das will ich glauben. Doch nicht dein braves Sinnen wirst du heute unter Beweis stellen müssen, sondern deinen Mut und deine Kampfkraft.«

»Das will ich«, gab Jodokus mit vorgestrecktem Kinn zurück – obwohl ihn beim Wort Kampfkraft ein kälter Schauder packte, denn aufs Kämpfen verstand er sich alles andere als prächtig.

»Zuerst aber«, sagte Hagen, »wirst du singen.«

»Ich hoffe, Ihr gedenkt nicht, die Hunnen mit meinem Gesang zu vertreiben.«

Noch immer blieben Hagens Mundwinkel starr wie die einer Wachsmaske. »Zwar sandte Berenike der Königinmutter Ute eine Taube mit der Botschaft vom Hunnensturm auf ihre Burg – doch schrieb sie darin auch, daß nicht einmal Felslawinen und Feuer die Angreifer aufhalten konnten. Ich fürchte, junger Mann, mag dein Gesang auch noch so garstig sein, die Hunnenkrieger werden wir damit nicht in die Flucht schlagen.«

Jodokus atmete auf, doch Hagen sagte: »Dennoch wirst du für sie singen. Nimm den Schimmel und reite zur Burg. Sing irgendein Lied, etwas, das die Hunnen gnädig stimmen mag.«

»Kein Lied vermag diese Barbaren gnädig zu stimmen«, widersprach Jodokus mit bebender Stimme.

Hagen nickte. »Das weiß ich. Aber es wird sie hoffentlich lange genug ablenken, bis ich einen Weg in die Festung gefunden habe.«

»Sie werden mir das Maul mit einem Morgenstern stopfen!«

»Dein Leben für das der Prinzessin – waren das nicht deine Worte?«

Jodokus straffte sich. »Ja, Herr.«

»Wohlan denn, Sänger, so laß uns –«

Plötzlich drängte sich Jorin zwischen sie. Jodokus und Hagen mußten beide einen Schritt zurücktreten. »Was ist mit mir?« fragte der Kleine keß.

Jodokus erwartete, daß Hagen dem Jungen mit der Faust Respekt beibringen würde. Statt dessen aber sagte der Krieger: »Du kommst mit mir, Jorin Sorgebrecht.«

Mit stockendem Atem fragte Jodokus: »Ihr wollt ein Kind mit in den Kampf nehmen?«

Hagen schenkte dem Einwurf keine Beachtung. Er ging vor Jorin in die Hocke, nahm eine Hand des Jungen in seine behandschuhte Rechte – sie lag sehr weiß, sehr klein auf dem gegerbten schwarzen Leder – und sagte: »Dein Anteil an diesem Abenteuer wird kein geringer sein, mein Kind. Ich möchte, daß du immer daran denkst, ganz gleich, was geschieht.«

»Ja, Herr«, gab der Kleine zurück, teils verschüchtert, teils stolz.

So wurde denn der Aufbruch beschlossen. Hagen und Jorin blieben zurück, während Jodokus auf dem Rücken des Schimmels zum Hochweg hinaufritt. Sobald er sich auf dem schmalen Grat befand, konnte er den Blick nicht mehr von der Festung nehmen. Der Umriß der Klippe mit ihren beiden spitzen Türmen kauerte vor dem Nebelmeer wie ein zweiköpfiger Zauberer, verzerrt ins Riesenhafte. Die Oberfläche des Nebels strudelte wie ein See voller Untiefen, und manchmal sah Jodokus aus den Augenwinkeln, daß die Nebelränder an den geborstenen Felsschollen des Hochwegs emporleckten, eine lautlose, geisterhafte Brandung.

Auf den Zinnen der Festung entdeckte er winzige Punkte, Wachtposten, die ihn längst entdeckt haben mußten. Mit einem Räuspern zog er sein Wams zurecht, streckte sich im Sattel und tätschelte Lavendels Mähne. Dann holte er tief Luft und begann zu singen, ein altes Lied über die Pferdezucht, von dem er hoffte, es entspräche dem Geschmack der Hunnen – vorausgesetzt, sie verstanden seine Sprache. Doch je näher er den beiden Türmen kam, desto schneller schwand sein letzter Rest von Hoffnung. Bei jedem Schritt, den Lavendel tat, erwartete Jodokus, einen Pfeil in seine Richtung zischen zu sehen, und er betete, daß ihn der erste Treffer töten würde. Doch noch hielten die Hunnen sich mit Beschuß zurück, vielleicht weil sie der wunderliche Sänger verwirrte.

Jodokus hatte etwas mehr als die Hälfte des Hochwegs bewältigt, als eine unerwartete Empfindung ihn traf wie ein Schwerthieb aus dem Hinterhalt. Es war das gleiche Gefühl, das er früher so oft verspürt hatte, das letzte Mal an Kriemhilds Seite, im Wald, kurz bevor der Zorn der Götter über sie gekommen war.

Sein Gesang brach ab, als seine Kehle sich weigerte, weitere Töne hervorzubringen. Einen Augenblick lang schwankte er im Sattel, und nur mit Glück gelang es ihm, die Zügel zu packen und sich auf Lavendels Rücken zu halten. Sein Mund klappte stumm auf und zu, und seine Augen wandten sich benommen himmelwärts.

Dort oben aber war nichts. Nur die Sonne und ein paar einzelne Raben in einem Abgrund von azurnem Blau. Nichts, nur Leere und Kälte und peitschende Winde.

Doch Jodokus wußte es besser, und er verfluchte dieses Wissen mit der gleichen Wut, mit der man einst ihn selbst verflucht hatte.

Etzel drehte den Schlüssel in der Tür des Turmzimmers und gab Kriemhild mit einem Nicken zu verstehen, daß sie eintreten dürfe. Er selbst blieb auf der schmalen Wendeltreppe zurück, deren engem Verlauf sie hinauf in die Spitze des Nordturms gefolgt waren.

Kriemhild mußte sich beim letzten Schritt zur Tür an ihm vorbeizwängen und streifte dabei seinen violetten Umhang und die Rüstung mit ihren ziselierten Mustern. Beides gehörte zur Kleidung eines Edelmannes und war doch, zumindest was Zeichnung und Stickereien betraf, eindeutig hunnischer Herkunft.

Gegen Kriemhilds Willen ließ die eigenartige Faszination, die von Etzel ausging, sie nicht kalt. Allein beim Blick in seine schmalen Augen erkannte sie in ihm den kommenden Herrscher des Hunnenreiches. Sie sah darin die ungezähmte Wildheit der Steppenvölker, das Barbarische seiner Abstammung, die Beiläufigkeit, mit er bereit war, fremdes Leben zu nehmen. Sie fürchtete und achtete ihn zu gleichen Teilen, sie haßte, aber sie mochte ihn auch. Seine Gegensätzlichkeit begann bereits, auf ihr eigenes Denken abzufärben.

Mit einem unmerklichen Kopfschütteln unterbrach sie die Berührung ihrer Blicke und trat in Berenikes Turmzimmer. Etzel zog von außen die Tür zu, doch seine Schritte entfernten sich nicht. Er hatte nie einen Hehl daraus gemacht, daß er mitanhören wollte, was die beiden Frauen zu bereden hatten.

»Ah«, sagte Berenike leise, »endlich bist du da.«

Sie saß in einem hohen Stuhl, fast ein Thron, mit einer Rückenlehne, die bis hinauf zur Decke reichte. Die Armlehnen hatten die Form zweier Stiere; auf ihre spitzen Hörner hatte Berenike achtlos allerlei Dokumente gespießt, die meisten vergilbt und längst vergessen.

Der Raum war kreisrund, abgesehen von einem geraden Wandstück zu beiden Seiten der Tür. Unweit des Eingangs konnte man über eine Leiter eine enge Luke erreichen, die auf das Spitzdach des Turmes führte. Kreuz und quer standen Tische, Ablagen und Truhen, auf denen sich eine Vielzahl geöffneter Schriftrollen wellte. Aufgeschlagene und geschlossene Bücher lagen verstreut in jedem Winkel. An den Wänden hingen Pergamente, eng bekritzelt mit fremdartigen Zeichen und Formen, die alles Mögliche bedeuten mochten, von Runen bis hin zu Grundrissen phantastischer Bauwerke. Auf einem Tisch waren Töpfe und Tiegel zu brusthohen Türmen gestapelt, einige lagen zerbrochen am Boden. Hinter Berenikes Stuhl ruhte auf einem Gerüst eine Scheibe mit plastischen Darstellungen von Bergen und Tälern, offenbar eine Karte der Welt. Unter der Decke, rund um die Wände, hingen Tiergerippe, zusammengehalten von Fäden, Lehm und Harz. Ein schwerer, süßlicher Geruch hing in der Luft, nicht unangenehm, beinahe wie von frischem Backwerk. Die Feuerstelle im Zentrum der Kammer glühte noch, doch das Rost, das an rußigen Ketten darüber hing, war leer.

Kriemhild deutete eine Verbeugung an, nicht sicher, wie sie sich verhalten sollte, ob fordernd oder ehrerbietig. Die Hexe hatte ohne Zweifel an Macht verloren, mochte sie in ihrem Thron auch erhaben wirken wie eh und je.

Berenike war alt, viel älter als Kriemhild sie in Erinnerung hatte. Sie hatte langes graues Haar, das ihr offen und glatt über die knochigen Schultern fiel. Ihre weiten, silberbestickten Gewänder verbargen die Form ihres Leibes, doch das magere Gesicht verriet deutlich, daß Berenike aus wenig mehr als Haut und Knochen bestand. Das Weiß ihrer Augen hatte einen leichten Gelbstich, während ihre Pupillen groß und formlos wirkten, als breite sich ihr Schwarz nach allen Seiten hin über die Augäpfel aus.

»Ich bin froh, daß du gekommen bist«, sagte Berenike mit einer Stimme, die im Widerspruch zu ihrem Äußeren melodiös, beinahe jugendlich klang.

»Als hättest du nur ein einziges Mal daran gezweifelt«, gab Kriemhild zurück.

Die Erzhexe lächelte milde. »Ich fühle Widerstand in deinem Inneren. Ich fühle Argwohn.«

»Was hast du erwartet? Freude, dich zu sehen?«

»Ich kann mich erinnern, daß du auf dem Weg hierher noch ganz anders gedacht hast.«

»Ich wußte noch nicht, welche Pläne du mit mir hattest.«

»So, so«, sagte Berenike, und ihr Lächeln wurde freundlicher, »der kleine Prinz hat dir ein paar Dinge erzählt. Er hat ein loses Mundwerk, in der Tat.«

Kriemhild blickte unwillkürlich zur Tür. Falls Etzel Berenikes Worte verstanden hatte, so bewegten sie ihn nicht dazu, sich zu erkennen zu geben.

»Und nun«, meinte die Hexe, »bist du gekommen, um die ganze Geschichte zu hören, nicht wahr? Dabei kennst du sie schon.« Sie lehnte sich müde in ihrem Stuhl zurück. »Du dummes, dummes Kind.«

»Ich kam her, um der Pest ein Ende zu machen, nicht um mich beleidigen zu lassen.«

»Wie stolz sie geworden ist, die hübsche Prinzessin.« Berenike kicherte. »Ich habe dich ganz anders in Erinnerung, mein Kind. Viel zahmer.«

»Unsere erste Begegnung liegt Jahre zurück.«

»Oh, gewiß. Du warst jünger und voller Demut.« Berenikes Augen wurden trüb, als sie direkt in die Vergangenheit zu blicken schien. »Du warst bereit, alles für dein Volk zu opfern.«

»Das bin ich noch heute.« Tatsächlich aber war sie dessen längst nicht mehr so sicher wie noch vor wenigen Tagen. Sie hatte die Bewohner eines ganzen Dorfes in den Tod geschickt, und dennoch hatte sie seitdem kaum einen Gedanken an sie verschwendet. Verhielt sich so eine Prinzessin, der nur das Wohl ihrer Untertanen am Herzen lag? Und wäre sie wirklich bereit gewesen, sich bei lebendigem Leibe verbrennen zu lassen?

Nein, entschied sie. Nein auf beide Fragen.

»Du weißt, daß Etzel mich nicht opfern wird«, sagte Kriemhild. »Er will sich das Lösegeld nicht entgehen lassen.«

»Sagt er das?« Berenike schüttelte lächelnd den Kopf. »Dieser Prinz ist ein kleiner Junge, und er hat weniger mit den übrigen Männern seines Volkes gemein, als er selbst ahnen mag. Er besitzt eine höhere Bildung und kennt die Bedeutung des Wortes Mitleid. Nicht, daß er oft Gebrauch davon macht, aber –«

Kriemhild unterbrach sie in aller Schärfe: »Mitleid, Berenike? Ausgerechnet du sprichst von Mitleid? Du hast das sichere Todesurteil über deine Schülerinnen gesprochen!«

Die Hexe blieb gelassen. Ihre langen, dünnen Finger spielten beiläufig mit den Pergamentfetzen, die auf den Stierhörnern ihrer Armlehnen steckten. »Ich war nur aufrichtig, nichts sonst. Ich verriet Etzel, was es mit dem Weidenmann auf sich hat, und ich sagte ihm, daß du herkommen würdest. Mir war klar, daß er deinen Opfertod nicht zulassen würde, und er fragte mich, welche Möglichkeiten es sonst gäbe, das kommende Unheil …« Sie brach kurz ab und überlegte – »vielleicht nicht abzuwenden, aber doch abzuschwächen.«

»Du hast damals gesagt, Gott verlange meine Unschuld, nicht mein Leben.«

»Hätte das Schicksal seinen Lauf genommen, hättest du deine Unschuld verloren. Schon auf dem Weg hierher. Vor Scham hättest du dich nicht heim zu deinen Brüdern gewagt und wärest bei mir geblieben. Als meine Schülerin.«

Kriemhild lachte bitter. »Wer schmiedet solche Pläne? Du, Berenike? Oder die Götter?«

»Oh, ich nicht, ganz gewiß nicht. Ich habe nur gesehen, daß es so kommen sollte. Und die Götter scheinen derzeit andere Sorgen zu haben. Irgend etwas ist nicht so geschehen, wie es vorgesehen war.«

»Ich sollte mich in Jodokus verlieben, um –«

»Deine Unschuld zu verlieren, allerdings. Der Sänger hätte darüber von seinem Wahn gelassen, die Götter wären besänftigt worden, und alles wäre gut geworden.« Sie seufzte. »Aber es hat wohl nicht sein sollen. Deshalb war ein weit größeres Opfer nötig, um dem Unheil entgegenzuwirken.«

Kriemhilds Mund war trocken geworden, sie hatte Mühe, überhaupt ein Wort über die Lippen zu bringen. »Dieses Unheil, vor dem ihr alle eine solche Angst habt, ist es das, was ich denke?«

»Ja.«

»Und du glaubst allen Ernstes, der Tod deiner Schülerinnen könnte es abwenden?«

Berenike hob die Schultern. »Ihr Tod, dein Tod, wer weiß? Besser, es zu versuchen, als stillzuhalten, bis alles zu Ende ist.«

Der Gleichmut der Hexe brachte Kriemhild fast zur Raserei. »Es zu versuchen? Großer Gott, diese Frauen werden sterben!«

»Wie der Rest von uns, wenn nicht ein Wunder geschieht.«

Die Erkenntnis überkam Kriemhild mit niederschmetternder Gewißheit. »Dann hat Jodokus die Wahrheit gesagt?«

»Das kommt wohl auf den Standpunkt an. Er glaubt, daß es die Wahrheit ist, und wahrscheinlich reicht das schon aus.«

»Das ist doch Wahnsinn!« fuhr Kriemhild auf. »Der Glaube eines einzelnen kann nicht –«

»Was sonst als der Glaube ist es, das die alten Götter am Leben hält, Kriemhild? Der Glaube war immer ihre mächtigste Waffe, und er ist es auch heute noch. Was Jodokus auf seinem Rücken trägt, mag Wodans Dichtermet sein oder auch nicht – er jedenfalls glaubt daran. Grund genug für die Götter, die doch selbst nichts anderes sind als gestaltgewordener Glaube, sich seiner anzunehmen.«

Kriemhild spürte, daß ihre Hände zitterten. »Er sagt, daß sie mit ihm spielen.«

»Wenn er es sagt, dann ist es so.« Berenike streckte eine Hand nach Kriemhild aus und ergriff sachte ihren Unterarm. »Es ist leichter zu verstehen, als du denkst, süße Prinzessin.«

»Aber dieses … Spiel …« Sie hatte immer noch Mühe, etwas so Absurdes auszusprechen. »… dieses Spiel, das sie spielen, wie läuft es ab?«

»Wie immer auch die Regeln lauten mögen, die Partie steht kurz vor der Entscheidung. Das Spielbrett ist von einer Seite zur anderen durchquert, und diese Burg ist das Ziel.«

Eine grauenvolle Ahnung stieg in Kriemhild auf. Doch sie wollte, sie durfte nicht daran glauben, denn das würde alles nur noch schlimmer machen. Es reichte, daß die Hexe, ihre Schülerinnen und die Hunnen diesen Irrsinn wahrhaben wollten – und ihn damit wahrmachten.

»Das Spielbrett?« fragte sie ahnungsvoll.

Berenike schien erfreut, daß Kriemhild allmählich Zusammenhänge herstellte, denn sie lächelte gütig wie eine liebevolle Großmutter. »Das Pestland, Kriemhild. Was sonst ist es, als das Spielbrett der Götter? Jodokus hat es auf seiner Flucht kreuz und quer bereist, und überall, wohin er ging, brachte er den Keim der Seuche. Er selbst hat die Arena abgesteckt, in der man ihn an die Löwen verfüttern wird. Die Pest existiert nur, weil Jodokus existiert, weil sein Glaube und mit ihm seine Götter existieren. Das alles sind die Glieder einer Kette, die sich hier und jetzt zu einem Kreis schließt.«

»Dann hatten die Dorfbewohner recht.« Kriemhild spürte, daß ihre Knie nachzugeben drohten. Sie löste sich aus Berenikes Griff, stolperte zwei Schritte zurück und stützte sich auf eine Tischkante. »Jodokus ist König Pest!«

»Ein Name, nichts sonst«, meinte die Hexe. »Aber, zugegeben, ein recht treffender.«

»Du hast es gewußt!« Kriemhilds Stimme drohte erneut zu versagen. »Du hast es schon vor Jahren gewußt, als du mir prophezeit hast, hierherzukommen.«

Berenikes Mundwinkel zuckten, aber sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts von alldem gewußt, nicht wirklich. Ich habe bestimmte Dinge vor mir gesehen, im Traum, aber auch im Wachsein, aber ich kannte nicht die Hintergründe, nicht die Ursachen. Ich ahnte, daß es für dich nötig sein würde, hierherzukommen, und ich sah auch, daß eine Seuche der Anlaß sein würde – doch das war schon alles. Erst in den letzten Tagen habe ich begriffen, wie die Dinge tatsächlich zusammenhängen. Meine Fähigkeit ist es, in Träumen zu lesen, manchmal auch, sie zu erschaffen, aber ich weiß selten alles über ihre Bedeutung, und wenn doch, dann meist erst, wenn es zu spät ist. Kein leichtes Schicksal, glaube mir.«

»Ich verstehe nicht …«

»Komm her«, bat die Hexe und winkte Kriemhild mit gekrümmtem Zeigefinger heran. »Als ich in Worms war, da hast du mir noch von einem anderen Traum erzählt, einem Traum von Falken und Adlern. Erinnerst du dich?«

»Ich habe ihn seither wieder und wieder geträumt«, bekannte Kriemhild, konnte sich dabei aber kaum auf ihre eigenen Worte konzentrieren. »Ich ziehe einen herrlichen Falken heran. Eines Tages ist er fort. Statt seiner sitzen auf den Giebeln des Münsters zwei weiße Adler.«

Berenike nickte zufrieden. »Das war es, was du damals gesagt hast. Weißt du mittlerweile, was mit dem Falken geschehen ist?«

»Die beiden Adler haben ihn zerfleischt.«

Noch einmal nickte die Hexe. »Tritt näher, mein Kind, und ich will dir etwas zeigen.«

Kriemhild überwand ihre Scheu. Zum ersten Mal fiel ihr auf – und es war in ihrer Lage eine völlig absurde Wahrnehmung –, daß die Hexe den Duft exotischer Kräuter verströmte. Berenike hob eine Hand und schwenkte sie wie einen Fächer vor Kriemhilds Gesicht hin und her.

»Du sollst noch etwas über die beiden Adler erfahren«, flüsterte sie sanft, und im –

– selben Moment lösten sich Berenike und ihr Turm-Zimmer vor Kriemhilds Augen in Luft auf. Vor sich sah sie einen weiten blauen Himmel. Davor schwebten die beiden weißen Adler aus ihren Träumen, prachtvolle Tiere, und doch umgab sie eine Aura der Gefahr. Etwas Bedrohliches, ja Teuflisches ging von ihnen aus. Plötzlich schienen sie Kriemhild zu entdecken, denn aus ihrem majestätischen Schweben wurde ein steiler Sturzflug in die Tiefe – genau auf sie zu!

Doch statt ihrer selbst stand plötzlich ein anderer unter der strahlenden Himmelskuppel. Eine Gestalt in bronzefarbener Rüstung, die ihr bekannt vorkam, ohne daß sie sich in ihrem Traum zu erinnern vermochte, woher. Die einzelnen Teile des Rüstzeugs waren mit feinen Ziselierungen geschmückt. Über den Schultern der Gestalt lag ein weiter Umhang aus violettem Stoff, der aus sich selbst heraus zu leuchten schien wie Gewitterwolken über einem nächtlichen Horizont. Ein reichverzierter, gehörnter Helm verdeckte das Gesicht des Ritters; darauf flatterte ein scharlachroter Schweif in den eisigen Winden, die als Vorhut der Adler vom Himmel wehten.

Die Raubvögel stürzten sich auf den Ritter, ohne Warnung, ohne ersichtlichen Grund. Er erwehrte sich ihrer mit einem langen Spieß, und obgleich sie ihn heftig von zwei Seiten attackierten, gelang es ihm schnell, dem ersten eine tiefe Wunde zu versetzen. Sterbend trudelte das Tier davon, bis es gänzlich im unendlichen Blau verschwunden war.

Der zweite Adler aber kämpfte um so heftiger, als er die Niederlage seines Gefährten erkannte. Mit fingerlangen Krallen schlug er nach dem Ritter, zerfetzte den Umhang und hackte mit seinem Schnabel nach den Augenschlitzen des Helms. Immer wilder wurde der Kampf, immer boshafter die Angriffe des Adlers, der mal von oben, mal von hinten attackierte.

Schließlich aber, als der Vogel eine enge Schleife flog, um erneut aus einem tückischen Winkel herabzustürzen, schleuderte der Ritter den Spieß mit aller Kraft hinauf in die Lüfte. Die Spitze drang in die Brust des Adlers, und dunkles Blut färbte das weiße Gefieder, sprühte vom Himmel herab wie roter Regen. Ein letztes Mal schlugen die weiten Schwingen, dann fiel das Tier in die liefe, ein heller Stern, der sich vom Himmelszelt löste und auf immer verlorenging.

Der Ritter stand starr vor den blauen Sphären, ein ehrfurchtgebietender Anblick, trotz des zerrissenen Umhangs und der Blutspuren auf seiner Brünne. Langsam legte er beide Hände an den Helm und zog ihn vom Kopf.

Und im Traum schlüpfte Kriemhild in den Körper des Kämpfers, denn es war ihr eigenes Gesicht, das unter dem Helm zum Vorschein kam. Ihr langes blondes Haar wehte wie ein zweiter Umhang über ihre Schultern, und ihre Züge waren anmutig und glatt, trotz des heftigen Ringens.

In ihren Augen aber stand blanker Haß, der Haß einer im Kampf Unterlegenen, die ihren Feinden die ewige Verdammnis wünschte.

»Aber ich habe die Adler doch besiegt!« rief Kriemhild aus und begriff zugleich, daß sie sich noch immer in Berenikes Turmzimmer befand. Sie kniete vor dem Thron der Hexe, nicht demütig, sondern schlichtweg erschöpft von den Strapazen der Vision. Jetzt, zurück in der Wirklichkeit, erkannte sie sofort, daß es Prinz Etzels Rüstung gewesen war, die sie beim Kampf mit den Adlern getragen hatte.

Sie öffnete den Mund, um all ihre Fragen hervorsprudeln zu lassen, doch Berenike war schneller und verschloß Kriemhilds Lippen mit einem Zeigefinger. »Psst«, machte sie zärtlich. »Ich kenne keine der Antworten, die du zu wissen begehrst, keine einzige. Nicht ich habe die Bilder geschaffen, die du gesehen hast. Sie waren in dir, Prinzessin, tief in deinem Inneren begraben. Noch sind sie nur Mosaiksteine eines Traums, aber manchmal ist ein Traum die Saat dessen, was geschehen wird. Ich habe die Bilder hervorgeholt, habe sie geweckt, wenn du so willst, doch deuten kann ich sie nicht.«

»Aber –«

»Nein, Kriemhild.« Berenike lehnte sich wieder zurück und schloß die Augen. »Laß mich jetzt allein. Ich bin müde. Und ich will bereit sein, wenn die Götter Einlaß begehren.«

Es war wie ein Blitzschlag, ebenso plötzlich, ebenso heiß: Kriemhild verlor die Beherrschung, derart unerwartet, daß ihr nicht einmal die Zeit blieb, sich über sich selbst zu wundern. Mit einem Aufschrei ließ sie beide Hände vorschießen, packte Berenike an den dürren Schultern und schüttelte sie, daß ihre Gewänder raschelten wie ein Reisigbündel.

»Sag mir die Wahrheit!« schrie sie die Alte an. »Sag mir, verflucht noch mal, die Wahrheit!«

Hinter ihr flog mit einem Poltern die Kammertür auf. Kriemhild bemerkte es kaum; sie hielt die Hexe weiterhin gepackt wie eine Puppe, und schon griff sie mit einer Hand nach dem faltigen Hals, besessen von dem Wunsch, ihn zu zerquetschen.

Jemand legte ihr eine Hand auf die Schulter, doch sie schenkte ihm keine Beachtung. »Die Wahrheit!« brüllte sie außer sich und starrte die Hexe an.

Der Druck auf ihre Schulter wurde stärker, und ehe Kriemhild sich versah, wurde sie von Berenike fortgerissen und herumgewirbelt. Etzel blickte sie düster an, als suchte er in ihren Augen nach einem Weg, sie wieder zu sich zu bringen. Er holte aus, um ihr eine Ohrfeige zu verpassen. Im selben Moment aber kam Kriemhild zur Besinnung. Sie versuchte, sich aus Etzels Griff zu winden, doch die Hände des Hunnenprinzen waren stark wie Eisenzwingen.

»Sie hat dir die Wahrheit gesagt!« sagte er scharf. »Es stimmt mit allem überein, was unsere Weisen vorausgesehen haben.«

»Eure Weisen?« Kriemhild stieß ein hysterisches Lachen aus. »Was kommt noch? Hexen, Seher – als nächstes vielleicht ein paar christliche Priester? Herrgott, glaubt denn jeder hier an das, was diese Alte faselt? Seht Ihr denn nicht, daß es nur Euer Glaube ist, der diese Dinge geschehen läßt?«

»Denkt Ihr, das wüßte ich nicht?« zischte er und zerrte sie mit sich zur Tür.

»Dann tut etwas dagegen, verdammt!«

Sie stolperten hinaus, und Etzel schlug die Kammertür zu, ohne den Schlüssel herumzudrehen. Während er Kriemhild die Stufen hinabdrängte, war sein Blick gleichbleibend finster, als verzehre ihn eine Wut, auf die er längst keinen Einfluß mehr hatte.

»Man kann einen Glauben nicht ablegen wie ein zerrissenes Hemd, Prinzessin.« Er war so aufgebracht, daß sie einen Augenblick lang glaubte, er würde sie doch noch töten. »Wahrer Glaube unterscheidet sich nicht von Wissen, und was ich weiß, kann ich nicht verleugnen.«

Tränen strömten über Kriemhilds Wangen, aber sie achtete nicht darauf, während sie rückwärts vor ihm die Treppe hinabstolperte. »Es muß doch einen Weg geben!«

Etzel aber schüttelte nur den Kopf. »Wir selbst sind es, die die Vernichtung über uns bringen. Versteht Ihr das nicht? Es ist unser Glaube, unser Wissen.« Plötzlich blieb er stehen, setzte sich auf die Stufen und vergrub das Gesicht in den Händen. »Unsere eigene Überzeugung wird uns töten, und es gibt nichts, was wir dagegen tun könnten.«

Kriemhild fiel vor ihm auf die Knie, nur eine Stufe tiefer. »Aber das ist nicht wahr! Ihr selbst toleriert, was geschieht. Es ist Euer Priester, der das Feueropfer vollzieht, und damit den Glauben vervielfacht an das, was kommen wird. Ihr habt es ihm erlaubt, Etzel! Und nur Ihr könnt es noch verhindern. Es wäre ein erster Schritt, diesem Wahnsinn entgegenzutreten.«

Er hob das Gesicht und sah ihr in die Augen. Sein Blick war müde, sein Haar zerzaust. »Merkt Ihr es denn nicht, Prinzessin? Merkt Ihr nicht, daß auch Ihr selbst längst daran glaubt?«

Und da erst begann Kriemhild vollends zu begreifen, was Berenike ihr angetan hatte.

Der Weidenmann brannte lichterloh, und längst waren die Schreie in seinem Inneren verstummt. Schwarzer, fettiger Qualm stieg als breite Säule zum Himmel empor, und selbst die beiden Raben, die seit einer Weile über der Festung schwebten, mieden die Nähe der stinkenden Schwaden. Der Geruch von verbranntem Fleisch hing zwischen den Mauern und würde wohl erst vom nächsten Regen wieder fortgespült werden. Zugleich ging ein feiner Ascheschauer auf Dächer und Durchgänge nieder, legte sich über das Metall der Rüstungen und Waffen.

Der Hunnenpriester stand wie versteinert vor dem lodernden Götzen, während die Krieger im Hintergrund unruhig von einem Fuß auf den anderen traten, miteinander flüsterten oder sich gänzlich von dem grausigen Schauspiel abwandten.

Jorin vermochte von seinem Versteck auf den Zinnen aus nicht in den Gesichtern der Männer zu lesen – ohnehin kamen ihre fremdländischen Züge ihm wie teuflische Masken vor –, aber das Raunen aus der Menge verriet ihm deutlich, daß nicht jeder der Hunnen mit dem Opfer einverstanden war. Bevor Hagen den Jungen in dem Versteck zurückgelassen und sich allein auf den Weg ins Innere der Festung gemacht hatte, hatte Jorin den Krieger auf seine Beobachtung angesprochen; doch Hagen hatte nur den Kopf geschüttelt und geflüstert, daß die Barbaren wohl enttäuscht waren, daß der Priester ihnen verboten hatte, ihren Spaß mit den kreischenden Weibern zu haben.

Hagen war schon eine ganze Weile fort, und Jorin kam sich sehr hilflos vor. Dabei schien sein Versteck verhältnismäßig sicher zu sein: Er kauerte hinter einigen Kisten, oben auf den nördlichen Zinnen, und durch die Zwischenräume konnte er hinab in den Hof und auf den brennenden Weidenmann blicken. Er und Hagen hatten die Festung über eine Sturmleiter betreten, die die Hunnen bei ihrem Angriff an der Ostmauer angelegt hatten. Bis jetzt hatte niemand es für nötig gehalten, sie zu entfernen.

»Warte hier, bis ich dich abhole«, hatte Hagen gesagt, ehe er davongeschlichen war, verdeckt vom Rauch des Scheiterhaufens.

Und so saß Jorin nun da, zitterte am ganzen Leib und versuchte, auf andere Gedanken zu kommen. Doch immer wieder stieg die alte Furcht in ihm auf, jene Panik, die er empfunden hatte, als sie zwischen den Felsschollen des Hochwegs näher an die Burg herangeschlichen waren, durch ein Gewirr von Spalten und Rissen, manche fast zwei Schritte breit. Ein falsch gesetzter Fuß, eine vorschnelle Bewegung, und sie wären in die Tiefe gestürzt, hinab in das strudelnde Nebelmeer. Viel schlimmer aber war die Kletterpartie rund um die Burg gewesen, auf einem schmalen Sims zwischen Felsen und Mauer. Einmal war Jorin auf loses Geröll getreten und wäre abgestürzt, hätte Hagen ihn nicht im letzten Moment am Arm gepackt. Damit verdankte er dem Krieger bereits zum zweiten Mal sein Leben.

Jorin schüttelte sich bei der Erinnerung an den Weg zur Festung. Als er seine Sinne wieder beisammen hatte, erkannte er, daß unten im Hof etwas Neues vor sich ging.

Das Gitterwerk des Weidenmannes war längst zusammengestürzt. Der Priester löste seinen Blick von den Flammen, um sich den Kriegern zuzuwenden. Gerade wollte er zu weihevollen Worten ansetzen, als die Männer in Unruhe gerieten. Zwei von ihnen traten vor und zerrten eine schmale Gestalt mit sich, die aus einer Wunde am Kopf blutete.

Jodokus, Anblick grub sich wie ein Eisenstachel in Jorins Herz. Hilflos mußte der Junge mitansehen, wie der Priester ein paar kurze Worte mit den Bewachern des Sängers wechselte, dann deutete er unmißverständlich auf das Feuer in seinem Rücken.

Ungerührt verfolgte der Priester, wie die beiden Krieger Jodokus zum Scheiterhaufen zerrten. Die Flammen spiegelten sich im Blick des Hunnen, und selbst für Jorin oben auf den Zinnen sah es aus, als hätten seine Augäpfel Feuer gefangen.

Lange saßen Kriemhild und Etzel auf den Stufen des Nordturms und sagten kein Wort, versunken in sorgenvollen Gedanken. Schließlich aber gab der Prinz sich einen Ruck und stand auf.

»Ich muß zurück zu meinen Männern«, meinte er und reichte Kriemhild die Hand.

Sie beachtete die Geste nicht und erhob sich ohne seine Hilfe. Der Gestank des brennenden Weidenmannes zog durch den Turm wie durch einen Kaminschacht, sammelte sich im oberen Teil und wurde mit jedem Atemzug unerträglicher. Aber Kriemhild wußte auch, daß der Odem der brennenden Frauen sie in jeden Winkel der Festung verfolgen würde und daß es keinen Zweck hatte, davor davonzulaufen.

Sie gab Etzel ebenso wie Berenike die Schuld am Tod der Hexenschülerinnen. Aber hatte er überhaupt eine andere Wahl gehabt? Der Priester und die übrigen Krieger verlangten vom Sohn ihres Herrschers, daß er sich unerbittlich zeigte. Doch allein die Tatsache, daß Etzel dem grauenvollen Ritual nicht beigewohnt hatte, verriet deutlich, daß es mit seiner Unerbittlichkeit nicht allzuweit her war. Etzel war kaum älter als Kriemhild, und sie fragte sich, wie sie selbst an seiner Stelle gehandelt hätte. Sie gab solche Gedankengänge auf, als ihr klar wurde, daß sie sich nie, niemals in einen Hunnen würde hineindenken können.

»Gestattet mir eine Frage«, bat er, als er hinter ihr die Stufen hinabstieg.

Sie gab keine Antwort, deshalb fuhr er fort: »Seid Ihr bereits einem Bräutigam versprochen?«

Sie versuchte, ihr Lachen so kalt wie möglich klingen zu lassen. »Macht Ihr Euch Hoffnungen?«

»Oh, gewiß nicht«, sagte er schnell, »zu Hause wartet bereits eine Braut auf mich.«

»Wie ist ihr Name?«

»Helche. Sie ist die Tochter eines Fürsten und mir seit ihrer Geburt versprochen.«

»Wie rührend.«

»Nicht im geringsten. Ich habe sie noch kein einziges Mal zu Gesicht bekommen.«

Kriemhild seufzte, und für einen winzigen Moment schienen sie sich beide an einem Ort außerhalb jeder Gefahr zu befinden, wo sie nichts anderes waren als zwei Königskinder, die über Dinge sprachen, die nur für Menschen ihres Standes Bedeutung hatten. »Einst hatte mein Vater ähnliche Pläne mit mir«, sagte sie. »Doch als er starb, hob mein Bruder die alten Versprechungen auf und gewährte mir das Recht, an der Entscheidung teilzuhaben.« Sie zögerte einen Moment, ehe sie abrupt das Thema wechselte. »Sagt, warum habt Ihr eigentlich die Festung nicht längst verlassen?«

»Der Priester hat darauf bestanden, das Ritual zu vollziehen.«

»Und Ihr opfert ohne weiteres Euer eigenes Leben für den Starrsinn eines anderen?«

»Noch besteht die Möglichkeit, daß das Ritual die Götter besänftigt.«

Kriemhild verzog abfällig das Gesicht, erwiderte aber nichts. Sie durchschaute Etzels wahre Beweggründe: Wenn er mit ihr als Geisel heimkehrte, dazu mit dem Bericht des Priesters, daß der Prinz eine heraufziehende Götterdämmerung abgewendet hatte, war Etzels Thronfolge nicht länger nur eine Frage der Abstammung. Man würde seine Taten im ganzen Hunnenreich besingen.

Ein markerschütternder Schrei riß sie aus ihren Gedanken.

»Das kam vom Hof!« Etzel drängte von hinten gegen sie. Kriemhild mußte die letzten Stufen mit weiten Sätzen hinabspringen, um nicht unter seinem Anprall zu stolpern. Im Erdgeschoß stieß er sie grob beiseite und stürmte hinaus ins Freie. Kriemhild folgte ihm ohne Groll. Sie rannten durch eine schmale Gasse zwischen zwei Häusern und erreichten den freien Platz im Norden der Festung.

Der Weidenmann war bis auf das Pflaster heruntergebrannt. Die Flammen schlugen immer noch mannshoch aus der Asche, doch es war abzusehen, daß sie bald verlöschen würden. Im Gewirr der Überreste des Götzen waren die verbrannten Leichen der Frauen nicht mehr zu erkennen; unmöglich zu sagen, was Zweige und was verkohlte Knochen waren.

Vor dem Feuer standen zwei Hunnen und hielten eine Gestalt, die sich verzweifelt zur Wehr setzte. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte Kriemhild Jodokus. Die Hunnen machten Anstalten, ihn ins Feuer zu stoßen!

Sie schrie wutentbrannt auf und wollte vorstürzen, doch Etzel packte sie am Arm und riß sie zurück.

»Laßt mich los!« brüllte sie ihn an und schlug mit den Faust auf ihn ein.

Etzel aber beachtete sie kaum. Er sah auch nicht zu Jodokus hinüber. Statt dessen war sein Blick hinauf zu den Zinnen gerichtet. Dort stand, unweit einer Reihe von Kisten und Fässern, ein Hunnenkrieger und stützte sich mit beiden Händen auf die Mauer. Er hatten ihnen allen den Rücken zugewandt und schaute über die Zinnen hinweg ins Tal. Dabei rührte er sich nicht, als sei er vor Entsetzen zu Stein erstarrt.

Da erst begriff Kriemhild, daß es nicht Jodokus gewesen war, der den furchtbaren Schrei ausgestoßen hatte.

Etzel rief etwas in der Sprache des Hunnenvolkes zu dem Mann hinauf. Der Krieger antwortete nicht. Erst als auch der Priester die Stimme erhob, wandte der Mann sich langsam um. Selbst gegen den hellblauen Himmel war deutlich zu erkennen, wie bleich er geworden war. Seine Augen waren weit aufgerissen. Stockend rief er einige Worte in den Hof hinunter, und sogleich ging ein aufgeregtes Raunen durch die Reihen der Hunnenkämpfer. Die beiden, die Jodokus festhielten, rührten sich nicht; in der Aufregung hatte ihr Auftrag an Bedeutung verloren.

Etzel nahm sich nicht die Zeit, Kriemhild irgend etwas zu erklären. Er ließ sie los und stürmte auf die nächstgelegene Treppe zu, die hinauf zum Wehrgang führte. Kriemhild wollte ihm folgen, doch mehrere Krieger verstellten ihr den Weg. Etzel rief ihnen, ohne sich umzudrehen einen Befehl zu, so daß sie eilig zurücktraten. Sogleich sprang Kriemhild hinter dem Prinzen die Stufen hinauf. Einige Hunnen wollten den beiden folgen, doch der Priester hielt sie mit keifenden Rufen zurück. Was immer der Wächter auf den Zinnen entdeckt hatte, es ließ den Priester um seine Autorität fürchten.

Kriemhild holte Etzel noch auf der Treppe ein. Gemeinsam traten sie an die Zinnen und blickten in die Richtung, in die der Wächter gedeutet hatte.

Der Anblick war enttäuschend und beruhigend zugleich. Vor ihnen wogte das weiße Nebelmeer und deckte das Tal mit seinen Schwaden vollkommen zu. Erst nach einigen Herzschlägen fiel Kriemhild auf, daß die Tannen und Fichtenwipfel, die noch bei ihrer Ankunft an einigen Stellen aus dem Dunst geschaut hatten, verschwunden waren. Ein Blick an der Burgmauer hinab bestätigte, ihr daß sich der Nebel gehoben hatte, um mindestens vier oder fünf Mannslängen. Die Klippe, auf der Berenikes Hort ruhte, war bereits im Nebel versunken wie ein leckgeschlagenes Schiff, und nun griffen die Dunstarme auch nach den Granitmauern.

Etzel fuhr den Wächter gereizt in seiner Sprache an, und der Mann erwiderte etwas.

»Was hat er gesehen?« fragte Kriemhild. Ihr Herz raste vor Aufregung und bösen Vorahnungen.

Etzels Blick schweifte über den Dunst, bis hinüber zu den dunkelblauen Silhouetten der Bergkuppen. »Er sagt, da war etwas im Nebel. Irgend etwas Großes. Er meint, es sei wie ein Flußotter kurz an der Oberfläche entlanggeglitten und dann sofort wieder verschwunden.«

Kriemhild schüttelte verständnislos den Kopf. »Aber da unten ist kein See, nur Wald.«

»Das weiß ich«, sagte der Prinz gereizt. »Als meine Leute und ich durchs Tal ritten, war der Nebel noch nicht da. Nur ein Wald wie jeder andere. Aber vielleicht sind wir ein wenig zu schnell davon ausgegangen, daß alles Göttliche von oben kommt.«

»Es ist der Nebel!« rief da Jodokus über das Prasseln der Flammen hinweg. »Der verdammte Nebel!«

Kriemhild sah zu ihm hinunter, aber ihre Blicke kreuzten sich nicht. Jodokus starrte gebannt in die Flammen, selbst jetzt noch, während sich alle Augen auf ihn richteten.

Der Priester begann erneut, Befehle zu kreischen, und schon schleppten die beiden Wächter Jodokus näher an die Flammen. Doch da brüllte Etzel lautstark etwas über den Lärm hinweg, und sofort wandten sich die beiden Krieger mit ihrem Gefangenen vom Feuer ab und zerrten ihn die Stufen zum Wehrgang hinauf.

Kriemhild fiel Jodokus um den Hals, und Etzel gab Befehl, ihn loszulassen. Die beiden Hunnen lösten ihren Griff, blieben aber unmittelbar hinter dem Sänger stehen.

Jodokus lächelte schief und erwiderte Kriemhilds Umarmung.

»Wo ist der Met?« fuhr Etzel ihn an.

Die beiden lösten sich voneinander. »Welcher Met?« fragte Jodokus trotzig, doch Kriemhild schenkte ihm einen drohenden Blick und sagte nur: »Der Buckel.« Sogleich wurde der Sänger erneut von einem seiner Bewacher gepackt, während der andere Jodokus’ Wams hochriß und den Weinschlauch entblößt. Nach zwei, drei schnellen Schnitten mit dem Dolch lag der Schlauch in der Hand des Hunnen.

Jodokus protestierte empört: »Er gehört mir! Gib ihn zurück!« Doch seine Gegenwehr blieb vergebens. Gegen die Kraft des Hunnen war er machtlos.

»Jodokus«, sagte Kriemhild beruhigend, doch er beachtete sie gar nicht, sondern hatte nur Augen für den Weinschlauch, der jetzt an Etzel gereicht wurde.

»Jodokus!« rief sie noch einmal, diesmal schärfer, und jetzt traf sie sein vorwurfsvoller Blick. Sie aber ließ den Sänger gar nicht erst zu Wort kommen. »Wir werden sterben, wenn du dich nicht davon trennst.«

»Als ob das einen Unterschied macht«, gab er zornig zurück, aber er schien sich mit der Niederlage abzufinden.

Kriemhild wunderte sich über sich selbst, als sie sich vorbeugte und ihm einen Kuß auf die Wange hauchte. »Danke«, flüsterte sie leise.

Etzel hatte den Schlauch derweil entkorkt und hielt die Öffnung vorsichtig unter die Nase. »Es ist tatsächlich Met, ganz eindeutig.«

»Was habt Ihr erwartet?« fragte Jodokus höhnisch, aber er klang nicht mehr ganz so angriffslustig wie zuvor. Er starrte nur Kriemhild an, die ihm ein knappes Lächeln schenkte.

Der Hunnenprinz wirkte unschlüssig, was er mit dem Met tun sollte. Berenike mußte ihm alles darüber erzählt haben, doch jetzt, wo er den Schlauch in Händen hielt, zweifelte er plötzlich.

»Werft ihn in den Nebel«, schlug Kriemhild vor.

Etzel verharrte einen Augenblick lang, dann nickte er nachdenklich. »Das wird wohl das beste sein.«

»Nein!« rief Jodokus. »Ich habe zu lange –«

Kriemhild fiel ihm barsch ins Wort. »Du hast einen ganzen Landstrich damit entvölkert!«

Jodokus mußte die Wahrheit zumindest ahnen, denn er verstummte schlagartig und versuchte kein weiteres Mal, den Met zurückzuerlangen.

Etzel preßte den Korken tief in die Öffnung des Weinschlauches, packte ihn dann an seinem schmalen Ende, holte aus und schleuderte ihn weit über die Zinnen hinaus. Es ertönte kein Donnern und keine göttliche Stimme; kein Blitz fuhr zur Erde, und kein Schlund tat sich im Nebel auf. Statt dessen sauste der Schlauch nur in weitem Bogen in die Tiefe und wurde vom Dunst verschluckt.

Einen Augenblick lang herrschte Stille. Niemand sprach ein Wort. Sogar das Feuer im Hof knisterte kaum mehr, allmählich erloschen die Flammen.

Etzel und Kriemhild wechselten einen unsicheren Blick. Sie wußte, daß er dasselbe dachte wie sie selbst: Hat es gewirkt? Kann das wirklich schon alles gewesen sein?

Die Antwort gab ihnen der Nebel, denn er schien plötzlich schneller zu steigen. Schnell genug, um der Bewegung mit bloßem Auge folgen zu können.

»Es hört nicht auf«, flüsterte Etzel beklommen.

Kriemhild war plötzlich sehr kalt. Wieder wurde ihr bewußt, daß sie längst jedes einzelne von Berenikes Worten für bare Münze nahm. Ihr eigener Glaube an Jodokus’ Götter vereinigte sich mit dem der anderen, und gemeinsam machten sie die Mächte dort draußen mit jedem Atemzug stärker, zorniger, furchterregender.

»Es ist das Spiel«, raunte Jodokus kaum verständlich. »Niemand bricht ein Spiel so kurz vor dem Ende ab, egal, was geschieht. Sie drängen auf eine Entscheidung.«

Keiner widersprach ihm. Nur Etzel fragte: »Was wird geschehen?«

Jodokus versuchte, die Schultern zu heben, doch der Klammergriff seines Bewachers hielt ihn davon ab. »Ich weiß es nicht«, sagte er matt.

Kriemhild schaute zurück in den Hof. Die Hunnen standen stocksteif, keiner wagte sich zu rühren. Sogar der Priester blickte starr zu ihnen empor. Seine Lippen bewegten sich im lautlosen Gebet.

Und noch etwas sah sie. Eine Bewegung am Rand des Platzes, im Schatten eines Gebäudes, jenseits einer Ecke. Sie sah einen Umriß, eine Gestalt. Dann einen Wink.

»Etzel«, sagte sie und versuchte, gefaßt zu klingen. »Ich muß mit Euch sprechen. Unter vier Augen.«

Der Prinz blickte sie fragend an, doch er wirkte nicht mißtrauisch, nur ein wenig erstaunt. Sein Antlitz war leichenblaß, so wie die Gesichter aller anderen auch. Sie würden noch eine Weile brauchen, um gänzlich zu erfassen, was auf sie zukam. Falls ihnen so viel Zeit überhaupt noch blieb.

Etzel nickte ihr kurz zu und stieg dann mit ihr die Stufen zum Hof hinunter. Im Vorbeigehen gab er Jodokus’ Bewacher Befehl, den Sänger loszulassen. Die beiden anderen, der zweite Wachtposten und jener, der etwas im Nebel gesehen zu haben glaubte, folgten ihnen die Treppe hinab, schlossen sich unten den übrigen Männern an. Jodokus blieb mit einem Krieger auf dem Wehrgang zurück, und beide blickten jetzt gleichermaßen angstvoll über die Zinnen hinweg in den aufsteigenden Nebel.

Der Priester wollte Kriemhild und Etzel folgen, doch der Prinz gab ihm mit einer Geste zu verstehen, daß er mit Kriemhild allein sein wollte. In die Hunnenkrieger kam derweil Bewegung, als mehrere von ihnen nach ihren Waffen griffen. Sie begannen, sich um den Priester zu scharen, so daß dieser den Prinz und die Prinzessin schnell aus den Augen verlor.

Nach wenigen Schritten blieb Kriemhild im Schatten stehen.

»Was denkt Ihr«, fragte sie, »wie hoch ist wohl das Lösegeld für das Kind eines Königs.«

Er schüttelte verärgert den Kopf. »Vergeßt das Lösegeld. Ich glaube, wir haben andere Sorgen als den Wert Eures Kopfes.«

»Ihr mißversteht mich«, entgegnete sie mit schmalem Lächeln, »es geht nicht um meinen Kopf.«

Hagen löste sich aus seinem Versteck jenseits der Hauskehre, ein blitzschneller Schemen, der lautlos heranschoß, eine behandschuhte Pranke von hinten auf den Mund des Prinzen preßte und den anderen Arm um seine Brust legte. Nur Herzschläge später waren beide hinter dem Gebäude verschwunden. Kriemhild blickte sich sichernd zum Hof hin um, dann eilte sie hinterher.

Als sie um die Ecke bog, war Etzel bereits ohne Bewußtsein.

»Ist er-«

»Nein«, entgegnete Hagen im Flüsterton, »natürlich nicht.«

Kriemhild überspielte ihre Erleichterung und fragte leise: »Ich nehme an, du hast einen Plan.«

»Der Nebel zieht bereits über den Hochweg. Wir müssen uns beeilen, wenn wir noch rechtzeitig von hier verschwinden wollen.«

»Wo ist der Junge?«

Er schüttelte finster den Kopf. »Vergiß den Jungen. Wir müssen dein Leben retten.«

Sie sah ihn entgeistert an. »Das ist doch nicht dein Ernst, oder?«

»Der Junge ist nicht mehr wichtig. Es ist zu spät.«

Kriemhild stand fassungslos da und bebte vor Wut. »Du hast dieses Kind nur mitgenommen, um es an meiner Stelle zu opfern! So ist es doch, nicht wahr? Du wolltest mich befreien, warst aber nicht sicher, ob Berenike mit ihrer Prophezeiung nicht doch recht hatte. Dein Plan war, statt meiner den kleinen Jorin zu töten!«

Hagens Blick verriet keine Spur von Scham oder Reue. »Wenn du weiter so herumschreist, werden sie uns entdecken.«

»Das macht wohl kaum noch einen Unterschied!«

»Wir müssen zum Tor«, sagte er eindringlich. »Noch können wir die Burg über den Hochweg verlassen. Wenn er erst völlig im Nebel untergegangen ist, dann –«

»Nicht ohne Jorin!« sagte sie fest. »Und nicht ohne Jodokus!«

»Du willst den Sänger mitnehmen? Du hast ja den Verstand verloren!« Hagen hielt immer noch den bewußtlosen Etzel im Arm; Kriemhild kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß er sie sonst auch gegen ihren Willen von hier fortgeschleppt hätte.

»Wir gehen zurück und holen sie«, beharrte sie und fügte ein wenig unsicherer hinzu: »Irgendwie.«

»Irgendwie!« Hagen verzog das Gesicht. »Es ist völlig unmöglich. Jeden Moment werden sie anfangen, nach dir und diesem Prinzen zu suchen. Bis dahin müssen wir von hier fort sein.«

Kriemhild schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie war sich bewußt, daß sie vielleicht gerade den größten Fehler ihres Lebens beging. Und den letzten. Sie konnte nicht anders.

Ohne Hagen weitere Beachtung zu schenken, drehte sie sich um und trat wieder an die Hausecke. Vorsichtig blickte sie um die Kante zurück zum Hof. Der Priester wies gerade zwei Krieger an, eine von den Kisten herbeizuholen, die oben auf den Zinnen standen.

Hagen stand plötzlich hinter ihr. Er hatte Etzel am Boden abgelegt.

»Verflucht!« entfuhr es ihm, als er sah, daß die beiden Krieger sich den Kisten auf dem Wehrgang näherten.

»Was ist?« fragte Kriemhild.

»Der Junge! Er versteckt sich hinter den Kisten.«

Kriemhild blickte alarmiert hinauf zu den Zinnen. Die beiden Krieger beugten sich vor und hoben gemeinsam eine der Kisten vom Boden. Dahinter war nichts als leere Mauer. Kriemhild atmete auf. Eilig trugen die Männer ihre Last die Stufen hinunter und luden sie vor der Feuerstelle auf dem Pflaster ab. Der Priester verscheuchte sie mit einer Handbewegung und stieg auf den Kistendeckel. Zufrieden mit seiner erhöhten Position blickte er ernst auf die Männer herab, die sich im Halbkreis um ihn versammelten.

Auch der einzelne Krieger, der mit Jodokus auf den Zinnen zurückgeblieben war, trat an die innere Kante des Wehrganges und blickte hinab in den Hof. Sein Befehl, den Nebel zu beobachten, war vergessen; wie alle anderen suchte er Trost in den Worten des Priesters.

Der Mann stand mit dem Rücken zu den verbliebenen Kisten. Abermals fürchtete Kriemhild, Jorin könnte entdeckt werden, und ihr Blick huschte aufgeregt zwischen den Kisten und Jodokus hin und her. Doch der Sänger blickte immer noch über die Zinnen hinweg in den Nebel; er schien beinahe darauf zu warten, daß die Prophezeiungen sich endlich bewahrheiteten.

Hinter den Kisten bewegte sich etwas.

»Um Gottes willen«, flüsterte Kriemhild beschwörend, »bleib unten!«

Aber Jorin erhob sich noch im selben Augenblick, stieg unbemerkt über ein Faß hinweg, holte mit beiden Armen aus – und rammte dem Krieger an der Kante die Fäuste ins Kreuz. Völlig überrumpelt stieß der Mann ein erstauntes Keuchen aus, seine Hände wirbelten haltsuchend durch die Luft, dann kippte er vornüber. Kreischend stürzte er in die Tiefe, schlug hart wie ein Stein auf dem Pflaster auf. Reglos blieb er liegen.

Ein Aufschrei der Empörung ging durch die Versammlung der Krieger. Sie alle entdeckten zugleich den kleinen Jungen, der an der Kante stand und unentschlossen auf den Körper unten im Hof blickte. Jorin schien nicht glauben zu können, was er gerade getan hatte.

Auch Jodokus drehte sich um, langsam, wie in Trance. Als er erfaßte, was geschehen war, und sah, daß ein halbes Dutzend Hunnen mit blankgezogenen Schwertern die Treppe heraufstürmte, beschleunigten sich seine Bewegungen. Blitzschnell schob er Jorin mit dem Rücken an die Zinnen und eilte mit zwei weiten Sätzen zu den Kisten. Eine hob er mit beiden Händen empor und schleuderte sie den Kriegern auf der Treppe entgegen. Das hölzerne Geschoß krachte mitten unter sie und brachte die vorderen zu Fall. Brüllend stürzten sie nach hinten, rissen die übrigen mit sich und taumelten haltlos über den Rand der geländerlosen Treppe ins Leere. Fünf der sechs Männer verloren das Gleichgewicht und fielen hinab in den Hof, nur einer prallte der Länge nach auf die Stufen und brach sich an einer Kante den Unterkiefer. Die anderen waren offenbar mit Prellungen und Schmerzen davongekommen, denn die ersten richteten sich bereits wieder auf und setzten mit haßerfüllten Mienen zur Verfolgung des Sängers und des kleinen Jungen an.

Als sie aber hinauf zum Wehrgang schauten, waren die beiden spurlos verschwunden.

Der Priester brüllte Befehle, und ein weiterer Teil der Krieger löste sich aus der Versammlung und lief am Fuß der Mauer entlang nach Osten.

Auch Kriemhild hatte gesehen, wie Jodokus und Jorin den Wehrgang entlang in östliche Richtung gelaufen waren. Augenscheinlich wollten sie die Burg umrunden und an anderer Stelle nach unten steigen, in der Hoffnung, ihren Verfolgern zuvorzukommen.

Hagen riß Kriemhild am Oberarm herum. »Wenn sie klug sind, laufen sie zum Tor. Sie könnten es schaffen, und wir ebenfalls. Komm schon!« Mit diesen Worten warf er sich den reglosen Etzel über die Schulter, als wöge er trotz seines Rüstzeugs nicht mehr als ein junges Rehkitz.

Kriemhild gab schweren Herzens nach und folgte dem Krieger über die Gasse. Als sie im Laufen einen letzten Blick zurück zum Hof warf, sah sie, daß der Priester sie entdeckt hatte. Befehle und Stiefelschritte hallten zwischen den Mauern wider, als sich ein ganzer Trupp von Hunnen in Bewegung setzte und die Verfolgung aufnahm.

»Komm! Schneller!« schrie Hagen ihr über die Schulter zu.

Sie überholte ihn einen Augenblick später. Hagen atmete schwer unter der Last des Prinzen, seine Geschwindigkeit war dennoch erheblich; ob sie aber ausreichen würde, um eine Horde wildgewordener Hunnen abzuschütteln, schien unwahrscheinlich. Schon waren die ersten auf fünfzehn Schritte heran, und ihre Schreie und das Scharren ihrer Sohlen erfüllten den Einschnitt zwischen den Häusern mit ohrenbetäubendem Lärm.

Nach der nächsten Ecke war das Tor vor ihnen zu sehen. Zwischen ihnen und dem Spitzbogenportal lag ein weiterer Hof. Gerade stolperten Jodokus und Jorin eine Treppe hinunter, während aus einer anderen Richtung Gebrüll ertönte. Sowohl auf dem Wehrgang als auch am Fuß der Mauer waren ihnen die Hunnenkrieger dicht auf den Fersen.

Doch es war nicht der Anblick der bedrängten Freunde, der Kriemhild eiskaltes Grauen einflößte.

Jenseits des Tores hatte sich die Welt in weißes Nichts aufgelöst. Der Nebel hatte den Hoch weg verschlungen. Durch den offenen Torbogen quollen wabernde Schwaden.

»Weiter!« rief Hagen unermüdlich. Etzels Körper regte sich noch immer nicht, und das mochte einer der Gründe sein, weshalb keine Bogenschützen auf sie anlegten; Hagen lief genau hinter Kriemhild, und der Prinz auf seiner Schulter war ein hervorragender Schutz vor Pfeilen.

Sie trafen Jorin und Jodokus am Tor, während sich hinter ihnen die Verfolger zu einer tödlichen Meute vereinigten. Jorin war totenblaß, seine Augen weit aufgerissen. Jodokus zog ihn keuchend am Arm hinter sich her. Der Kleine rannte mit all seiner Kraft. Kriemhild ergriff Jorins andere Hand, und gemeinsam gelang es ihnen, den Jungen durch den Torbogen zu ziehen.

Hinein in den Nebel.

Es war, als hätte man sie blitzartig an einen anderen Ort katapultiert. Ein dichter Vorhang trennte sie plötzlich von ihren Verfolgern, ein wattiges Etwas, das den Lärm der Hunnen beinah gänzlich schluckte. Nur ganz dumpf und fern waren noch ihre Schreie, das Rasseln der Rüstungen und Klingen und das Getrappel ihrer Füße zu hören. Hagen stürzte als schwarzer Schemen mit dem Prinz auf seinen Schultern hinter Kriemhild und den anderen her, doch jenseits seiner Fersen endete die Welt. Da war nur geisterhaftes Weiß, das Berenikes Hexenhort allmählich verzehrte.

Doch kaum waren sie weitergelaufen – blindlings tiefer in den Nebel, in der verzweifelten Hoffnung, nicht über die Kanten des Hochwegs in den Abgrund zu stürzen –, als ihr Wunschdenken den Gesetzen der Wirklichkeit nachgab: Die Hunnen folgten ihnen unbeirrt, und das, was die Flüchtenden von ihnen trennte, war nichts als Nebel, der weder vor Klingen noch Pfeilspitzen schützte. Kriemhild konnte die Männer nicht sehen, zu dicht war der naßkalte Dunst, doch sie hörte wohl, daß die Krieger immer noch dicht hinter ihnen waren, denn die Geräusche wurden jetzt wieder lauter, als würden die Verfolger sie in den nächsten Augenblicken einholen.

Kriemhild spürte Jorins Hand kühl in ihrer eigenen, und sie konnte ihn als vagen Umriß neben sich erkennen. Von Jodokus aber war kaum mehr etwas zu sehen. Sie hörte seine Schritte, auch sein gehetztes Keuchen, aber er lief verschleiert hinter einer Wand aus Weiß, obwohl er sich kaum drei Schritte links von ihr befand und immer noch Jorins andere Hand hielt. Einmal blickte sie über die Schulter zurück und sah, daß Hagen allmählich langsamer wurde. Er war ganz nahe hinter ihr, und noch sah sie seine verschwommene Form im Dunst. Doch auch er wurde immer stärker vom Nebel überlagert. Der gerüstete Etzel auf seinen Schultern machte ihm mit jedem Schritt mehr und mehr zu schaffen; selbst Hagens Kräfte waren nicht unerschöpflich.

Auch Kriemhild ging der Atem aus. Daß sie überhaupt noch laufen konnte, hatte sie allein dem Umstand zu verdanken, daß sich ihre Beine scheinbar verselbständigt hatten. Doch nicht einmal das vermochte darüber hinwegzutäuschen, daß dies der Anfang vom Ende war.

Die Hunnenmeute wälzte heran, immer näher und näher, so unsichtbar wie mörderisch.

Die Erkenntnis ihrer Niederlage traf Kriemhild im gleichen Moment, da Jorin plötzlich aufschrie. Sie spürte, wie ihre Hand zurückgerissen wurde, als der Kleine stolperte und zu Boden fiel. Hagen bemerkte es zu spät, versuchte noch auszuweichen, und taumelte seinerseits. Mit einem atemlosen Fluch krachte er auf die Knie, während Etzel von seinen Schultern glitt und mit scheppernder Rüstung auf dem Felsboden aufschlug.

Kriemhild überlegte nicht lange. Statt weiterzulaufen, fuhr sie herum, beugte sich über den bewußtlosen Prinzen und riß sein Schwert aus der Scheide. Mit einem Satz sprang sie über ihn hinweg, an Hagen vorbei und baute sich mit dem Rücken zu den Gefährten vor dem Nebel auf.

Kommt doch! dachte sie verbissen und blinzelte in die Richtung der Hunnen. Ein kurzer Blick über die Schulter zeigte ihr, daß Hagen wieder auf den Beinen war. Statt Etzel aufzuheben, nickte er Kriemhild nur zu, zog seine eigene Klinge und bezog neben ihr Stellung. So beendeten sie ihre Flucht, Seite an Seite, und stellten sich den Feinden zum Kampf.

»Sie kommen!« schrie Jorin.

Es dauerte einen Moment, ehe Kriemhild begriff, daß er nicht die Hunnen meinte.

Es begann zu ihrer Rechten, ein sonderbares Zittern, das den Nebel durchlief wie die Ausläufer einer fernen Flutwelle die Gestade eines Ozeans. Es verursachte kein Geräusch, nicht so wie der Hufschlag, den Kriemhild damals im Hohlweg gehört hatte. Dies hier, was immer es war, bestand nur aus Bewegung, aus Kraft, aus monströser Gewalt. Es raste heran wie ein Wirbelsturm, und einen kurzen Augenblick lang glaubte Kriemhild, jenseits der wirbelden Schwaden etwas zu sehen, irgend etwas Großes, so ungemein Großes! Dann warf die Nebelwelle sie zurück wie ein Orkanstoß, das Schwert entglitt ihren verkrampften Fingern, und sie selbst wurde zu Boden geschleudert, mehrere Schritte nach hinten. Neben ihr, so nah, daß Kriemhild sie ganz genau sehen konnte, klaffte die scharfe Kante des Hochwegs, und jenseits davon der hungrige Abgrund. Ein Beben erfüllte die Luft, den Nebel, ihren eigenen Kopf, und sie wußte, es war hier, ganz nah, direkt vor ihr!

Und dann verschwand es wieder. Von einem Herzschlag zum nächsten war es fort.

Als Kriemhilds Sinne zurückkehrten und sie sich wieder auf etwas anderes konzentrieren konnte als auf ihre eigene Panik, da war auch das Schreien ihrer Verfolger verklungen.

Totengleiche Stille lag über dem Hochweg. Die Hunnen verfolgten sie nicht länger.

Etwas schoß aus der Nebelwand auf Kriemhild zu. Sie schrie auf, wollte sich herumwerfen – zu spät! Jorins Arme schlossen sich um ihren Oberkörper, als er sich angstvoll an ihren Hals warf.

Der Junge! hämmerte sie sich erleichtert ein. Nur der Junge!

Sie erwiderte seine Umarmung einen Moment lang, dann stand sie auf. Die Hand des Kleinen hielt sie fest.

»Hagen?« fragte sie zaghaft ins Leere. »Jodokus? Seid ihr da?«

»Hier!« knurrte eine Stimme. »Wir müssen weiter, bevor es wiederkommt!«

Und Kriemhild rannte, Jorin dicht an ihrer Seite, den Hochweg entlang nach Westen, zurück zum Rand des Tals. Irgendwann ging es plötzlich bergauf, und da erkannte sie, daß der Felspfad hinter ihnen lag und sie die Berge erreicht hatten. Gehetzt lief sie mit Jorin den Weg hinauf. Zu beiden Seiten mußte jetzt Wald sein, völlig vom Nebel verhüllt.

Erst ganz allmählich, als sie sich der Bergkuppe näherten, wurden die Schwaden dünner, um dann völlig abrupt zu enden. Kriemhild und Jorin liefen noch einige Schritte weiter, dann sanken sie auf dem schmalen Waldweg nieder. Hinter ihnen wurden Schritte laut, und als Kriemhild sich umwandte, sah sie Hagen mit Etzel auf seinen Schultern aus dem Nebel stolpern. Unmittelbar vor ihr brach er zusammen.

Das Tal lag da wie eine riesenhafte Milchschüssel. Die Oberfläche des Nebels war vollkommen glatt, nur in der Mitte schauten zwei Spitzen hervor, die Dächer der beiden Türme. Die roten Fahnen hatten aufgehört zu flattern, und auch der Wetterhahn auf dem Nordturm drehte sich nicht mehr. Es war vollkommen windstill.

»Wo ist Jodokus?« Kriemhild blickte sich alarmiert um. »Hagen, hast du Jodokus gesehen?«

Das eine Auge des Kriegers blickte sie müde an. »Ich dachte, er wäre bei dir und dem Jungen.«

Kriemhild sah in einem Anflug von Panik Jorin an, doch der schüttelte nur traurig den Kopf. »Er hat mich losgelassen, als wir alle hinfielen.«

Mit letzter Kraft taumelte sie auf die Füße und näherte sich erneut dem Nebel.

»Nein!« rief Hagen. »Kriemhild, bleib hier!«

»Ich muß ihn suchen«, widersprach sie verzweifelt.

»Wie willst du ihn da drinnen finden?« Hagen deutete über den ohnmächtigen Etzel hinweg ins Tal. »Was immer die Hunnen geholt hat, es ist immer noch irgendwo dort unten.«

»Aber Jodokus hat –«

»Seht!« schrie plötzlich Jorin und zeigte mit ausgestrecktem Arm über den Nebel.

Kriemhild und Hagen folgten seinem Blick zu den beiden Turmspitzen, die wie die Masten eines gesunkenen Seglers aus dem Dunst hervorstachen. Auf dem Dach des Nordturms regte sich etwas. Eine Luke wurde nach außen geklappt, eine Gestalt schob sich hinaus auf die schwarzen Ziegel.

Das Dach war so steil, daß Jodokus Mühe hatte, nicht den Halt zu verlieren. Dennoch beugte er sich noch einmal über den Rand der Luke und half einer Frau in weiten Gewändern ins Freie. Berenikes Bewegungen waren langsam und müde. Dennoch gelang es ihr, mit Hilfe des Sängers aufs Dach zu klettern. Gemeinsam schoben sie sich der Spitze entgegen, bis ihre Hände die Fahnenstange umfaßten.

Tränen verschleierten Kriemhilds Sicht, und sie mußte sich mit dem Ärmel über die Augen reiben, um den Freund ein letztes Mal zu sehen. Viel Zeit blieb ihr nicht, denn der Nebel stieg höher, hier am Hang und rund um die Türme. Schon krochen die Dunstränder an dunklem Schiefer empor, schon verschwanden die Füße und Beine der beiden einsamen Gestalten in wallenden Schwaden.

»Jodokus!« schrie Kriemhild über das Tal hinweg, und vielleicht hörte er sie ja, denn er drehte den Kopf und blickte herüber, und ganz kurz schien es ihr, als hätte sie trotz der Entfernung ein Lächeln auf seinen Zügen gesehen. Ein schwaches, trauriges Lächeln.

Dann schloß sich der Nebel über ihm und der Hexe, und einen Augenblick später waren auch die Fahnen und der Wetterhahn unter der Oberfläche verschwunden.

Hagen stand plötzlich neben Kriemhild und nahm sie in den Arm wie ein Vater die Tochter, sehr vorsichtig, sehr zaghaft. Doch statt Liebe war da Treue, und statt Trost empfand sie nichts als Trauer.