FLORENZ, OKTOBER 1966

Im Halbschlaf streckte er einen Arm aus, um nach Elviras warmem Körper zu tasten, aber seine Finger fanden nur den rauen Leinenstoff des Lakens, und da erinnerte er sich, dass sie gegangen war. Er drehte sich auf den Rücken und starrte in die Dunkelheit. Wieder einmal war eine Frau in sein Leben getreten und so schnell wieder daraus verschwunden, wie eine Kugel einen Körper durchschlägt. Vielleicht würde die Frau, die für ihn geschaffen war, erst in hundert Jahren zur Welt kommen, oder vielleicht war sie schon geboren worden und bereits wieder gestorben. Auf jeden Fall würde er sie niemals kennenlernen.

Jedes Mal, wenn er wieder allein war, tat sich vor ihm eine unbekannte Welt auf, die er sich erst zu eigen machen musste. Das war ein wenig wie eine Wiedergeburt, und bei allem Unbehagen spürte er auch ein Gefühl von Freiheit.

Wie spät war es? Er sah zu den Fensterläden hinüber, zwischen den Holzlatten schimmerte noch kein Tageslicht hindurch. Er fühlte sich erschöpft. Mit jedem Tag wurde die Hoffnung geringer, dass der Junge doch noch lebend gefunden würde. Der kleine Giacomo war vor fünf Tagen spurlos verschwunden. Knapp dreizehn Jahre alt, kastanienbraune Haare, braune Augen, ein Meter siebenundvierzig groß. Ein ruhiges Kind, fleißig und gehorsam. Was, wenn er doch nur ein kleiner Ausreißer war? Mit dreizehn begeht man schon einmal so eine Dummheit.

Casini hätte alles dafür gegeben, dass es tatsächlich so wäre, aber er glaubte eigentlich nicht daran. Er sprach häufig mit Piras, seinem jungen Assistenten, über diese Möglichkeit, aber auch der Sarde war pessimistisch. Bislang waren sie keinen Schritt vorangekommen, hatten nicht den geringsten Anhaltspunkt.

Als es klingelte, schreckte er hoch, und da erinnerte er sich wieder an Botta. Es war Montag. Sein Freund, der ehemalige Sträfling, hatte ihm das Versprechen abgerungen, mit ihm in den Hügeln oberhalb von Poggio alla Croce Pilze sammeln zu gehen. Das wäre genau die richtige Zeit, hatte Botta gesagt.

Nach vielen Tagen Regen war die Sonne endlich ein wenig herausgekommen, und es war etwas wärmer geworden. Montag wäre der beste Tag, hatte Botta erklärt, keine Familien auf Sonntagsspaziergang und wenig Jäger. Casini interessierte sich nicht für Pilze, er verstand nichts davon und hatte noch nie welche gesammelt. Aber eine kleine Wanderung durch die Wälder würde ihm guttun. Wenn er immer nur über den Jungen nachdachte, zermürbte ihn das bloß.

Er rollte sich aus dem Bett und trat ans Fenster, spürte die kühle Luft auf der Haut. Der Himmel war noch tiefdunkel, und auf dem Bürgersteig konnte er nur gerade so eine Silhouette erkennen.

»Ennio, bist du das?«, fragte er leise.

»Nein, der Weihnachtsmann …«

»Komm rauf, dann trinken wir noch einen Kaffee.« Er versuchte, die Fensterflügel möglichst leise zu schließen, und ging dann barfuß in den Flur, um Ennio die Tür zu öffnen. Er zog sich noch schnell Hosen an und wusch sich mit kaltem Wasser das Gesicht, um wach zu werden. Als Botta ihn im Unterhemd vorfand, breitete er entsetzt die Arme aus.

»Commissario, sagen Sie mir jetzt nicht, dass Sie noch geschlafen haben … Es ist schon halb sechs.«

»Setz schon mal den Kaffee auf, ich bin gleich fertig.« Er zog sich vollständig an, holte ein Paar alter, fester Schuhe aus dem Schrank und ging dann zu Botta in die Küche. Sie tranken schnell ihren Kaffee, verließen das Haus und nahmen Casinis Wagen. In der Stille über San Frediano rasselte der Motor des Käfers unerträglich laut. An der Piazza Tasso bogen sie links ab. Unter dem schwarzen Nachthimmel lag der Viale Petrarca verlassen da. Als sie die Porta Romana erreichten, nahmen sie die Straße nach Poggio Imperiale. Bergauf dröhnte der Käfer wie ein Panzer.

»Versprich mir eines, Ennio.«

»Mal sehen …«

»Fang bitte nicht zu flennen an, wenn wir keine Pilze finden.«

»Was sagen Sie da, Commissario. Kann gar nicht passieren. Wir werden so viele finden, dass wir welche stehen lassen müssen.«

»Bist du dir da sicher?«

»Machen Sie Ihre Arbeit, darin sind Sie richtig gut … Aber lassen Sie die Finger von Dingen, von denen Sie nichts verstehen.«

»Ich wäre gern so optimistisch wie du.« Er dachte an den vermissten Jungen und spürte beinahe Gewissensbisse, weil er seine Zeit mit Pilzesammeln vergeudete. Aber was konnte er sonst tun? Etwa im Büro sitzen und sich verrückt machen, während er das Bild des kleinen Giacomo anstarrte? Was sollte das nützen?

»Wir müssen aus den Steinpilzen unbedingt ein leckeres Abendessen kochen«, sagte Botta. Der Kommissar antwortete nicht. Ihm war nicht nach einem Abendessen mit Freunden zumute, er wollte vor allem Giacomo Pellissari wiederfinden. Nun musste er aber aufhören, ständig an ihn zu denken. Sich immer nur im Kreis zu drehen war wesentlich ermüdender als die gezielte Jagd nach einem Täter.

Als sie Poggio alla Croce erreichten, parkten sie mit eingeschalteten Scheinwerfern auf dem feuchten Gras. Doch bald würde die Sonne aufgehen. Die Himmelskuppel schimmerte bereits gebrochen weiß wie eine riesige Eierschale. Casini wechselte die Schuhe, und dann begannen sie ihren Anstieg durch die kalte Morgenluft. Der Pfad führte steil nach oben und war voller Steine und rutschig vom Schlamm. Botta ging voran, der Korb für die Pilze baumelte an seiner Seite. Schon nach einer Minute keuchten beide, und aus ihren Mündern stiegen Dampfwölkchen auf.

Hinter den Hügeln färbte sich der Himmel grünlich, und die Vögel des Waldes zwitscherten wie wild. In der Luft stand noch ein leichter Nebel, der nach vermoderndem Laub roch. Casini sah im Zwielicht ein feines, mit winzigen Tautropfen besetztes Spinnennetz glitzern, das ihn an einen frühen Morgen im Jahr 1944 erinnerte, als er mit sechs Mann aus seiner Einheit von einem Patrouillengang zurückgekehrt war. In der Dunkelheit hatte er damals genau solche Tröpfchen an einem haarfeinen Faden funkeln sehen, der zwischen zwei Bäumen gespannt war. Aber das war kein Faden eines Spinnennetzes gewesen, sondern ein Draht. Wenn man an ihm zog, löste er eine Springmine aus, eine Antipersonenmine, die vor der Explosion nach oben auf Bauchhöhe schnellt. Er hatte mehrere Kameraden sterben sehen, denen die Splitter den Unterleib aufgerissen hatten.

»Hier entlang, Commissario«, flüsterte Botta, als könnte sie jemand belauschen. Sie verließen den Pfad und drangen in den Wald vor. Während sie den steilen Hügel hinaufkletterten, stützten sie sich an dünneren Bäumen ab. Casini betrachtete durch die Baumwipfel der hohen Kastanien den Himmel. Beim Anblick der Morgendämmerung überkam ihn ohne besonderen Grund stets tiefe Schwermut. Im Krieg hatte er fast jeden Tag den Morgen anbrechen sehen, und jedes Mal hatte er dabei gedacht, es könnte das letzte Mal sein.

Der Himmel färbte sich violett, danach orange, und kurz darauf war es Tag geworden. Botta hielt den Blick aufmerksam auf den Boden gesenkt und bog öfter abrupt ab, als folgte er einem unsichtbaren Pfad. Plötzlich blieb er stehen und zeigte auf etwas. Zwischen den Nebelschwaden flüchteten einige Wildschweine geräuschlos den Hügel hinauf, von ihrem dichten Pelz stieg Dunst auf. Für jemanden, der öfter in den Wäldern unterwegs war, war das bestimmt nichts Besonderes, doch der Kommissar spürte, wie ihn eine beinahe kindliche Begeisterung packte. Nur auf seinen Patrouillengängen durch die Hügel hatte er manchmal ein Wildtier zwischen den Bäumen davonrennen sehen, und jedes Mal hatte es ihm einen Stich ins Herz versetzt, wenn er mit dem Maschinengewehr darauf zielte. Jetzt konnte er das Schauspiel einfach nur genießen.

Sie stiegen weiter hinauf. Botta wurde nicht langsamer, manchmal schien er das Tempo sogar noch anzuziehen. Casini fühlte, wie sein Herz heftig pumpte, und seine Beine waren schon müde. Seine sechsundfünfzig Jahre und die vielen Zigaretten machten sich bemerkbar. Meine Güte, damals, zu den Zeiten der Legion San Marco, hatte er fünfundzwanzig Kilometer am Tag geschafft, und das mit vollem Rucksack auf dem Buckel und der gesamten Waffenausrüstung … Warum musste er nur immer an diesen dreckigen Krieg denken? Konnte er nicht einfach den Spaziergang genießen?

Manchmal kniete sich Botta hin, um seltsame Pilze zu betrachten – einige waren dünn und schimmerten weißlich, andere dunkel und knollig, und wieder andere wirkten so brüchig, als würden sie bei der geringsten Berührung zerfallen –, dabei runzelte er die Stirn und murmelte die lateinischen oder umgangssprachlichen Namen. Aber stets ließ er sie stehen und stieg weiter den Hügel hinauf.

»Warum nimmst du den nicht mit? Ist der giftig?«, fragte Casini, der ihm hinterherlief. Botta schüttelte den Kopf.

»Steinpilze oder gar nichts«, verkündete er feierlich und verstummte wieder. Plötzlich blieb er abrupt stehen und riss die Augen auf.

»Was ist los?«, fragte Casini beunruhigt. Botta sah ihn mit großen Augen an.

»Sie werden es nicht glauben, Commissario, aber ich kann Steinpilze riechen, da brauche ich gar nicht jeden Winkel des Waldes zu durchsuchen.«

»Mach dir keine Sorgen, ich kenne einen ausgezeichneten Psychiater«, sagte Casini trocken.

»Sie glauben mir nicht, was?«

»Ich gebe mir alle Mühe.«

»Da …«, meinte Botta verklärt.

»Was ist los?«

»Die Pilze sind dort drüben.« Er zeigte nach oben, und im selben Augenblick war er auch schon davongerannt. Der Kommissar konnte nicht mit ihm Schritt halten, seine Beine waren noch schwer von dem Essen am Vorabend in Cesares Trattoria: Pappardelle mit Hasenragout, danach Schweinerücken mit Kartoffeln und dazu Totòs Wein aus Apulien. Casini sah, wie Botta hinter dunklen Kastanienstämmen verschwand, und stieg mit schweißbedeckter Stirn weiter bergan. Nach einer Viertelstunde kam er an einem breiten Weg heraus und blieb stehen.

»Ennio … bist du da?«

»Ich bin hier drüben, Commissario«, hörte er Bottas Stimme. Casini entdeckte ihn fünfzig Meter weiter oben zwischen den Bäumen. Er setzte sich wieder in Bewegung und ging zu ihm.

»Passen Sie auf, dass Sie sie nicht zertrampeln«, sagte Botta besorgt. Er kniete auf dem Boden und säuberte mit einem ganz normalen Borstenpinsel behutsam dicke Steinpilze. In seiner Nähe gab es die dutzendweise.

»Dann kannst du sie also wirklich riechen.« Casini war ehrlich überrascht.

»Habe ich jemals dummes Zeug erzählt, Commissario?« Ennio war ernst und konzentriert. Er bürstete weiter die Pilze ab und wirkte dabei wie der Hohepriester eines archaischen Kultes. Casini blieb nichts übrig, als zu warten, bis er seine Arbeit beendet hatte, daher setzte er sich auf einen Stein. Er ließ seinen Blick zwischen den Baumstämmen umherschweifen und bemühte sich, noch ein Tier auszumachen. Doch das Einzige, was sich bewegte, waren die Blätter, die von oben herabfielen. Sie lösten sich unvermittelt und segelten zu Boden. In dieser friedlichen Stille kehrten die Gedanken des Kommissars wieder zu Giacomo Pellissari zurück, zu seinen verzweifelten Eltern, den langen Gesprächen mit Piras … Konnte ein Junge einfach spurlos verschwinden?

»Das werden mindestens zwei Kilo sein«, meinte Botta, während er prüfend den Korb hochhob. Er lächelte, als hätte er gerade eine ruhmreiche Schlacht gewonnen.

»Meine aufrichtige Bewunderung.« Casini seufzte und stand wieder auf.

»Gehen wir noch ein Stück.« Als sie weiter hinaufstiegen, versanken sie mit den Füßen in welken Blättern, während Amseln aufgeregt zwischen den Bäumen hin und her schwirrten. Sie gingen langsam einer hinter dem anderen. Botta schritt natürlich voran.

»Ennio, kann ich dich etwas fragen?«

»Kommt drauf an …«

»Was machst du denn jetzt so, wovon lebst du?«

»Rede ich jetzt mit dem Commissario oder mit dem Menschen Casini?«

»Mit dem Menschen.«

»Ich mache das, was ich schon immer gemacht habe.«

»Also Einbrüche und Trickbetrügereien?«

»Was für hässliche Worte …«

»Ich kenne keine anderen.«

»Sagen wir doch einfach, dass ich eine Art Umverteilung von Besitz betreibe, solange es keine gerechteren Gesetze gibt.«

»Mir kommen die Tränen.«

»Hier oben können Sie weinen, so viel Sie wollen, ich werde es niemandem erzählen«, sagte Botta und suchte weiter mit den Augen den Boden ab.

»Warum nimmst du keine normale Arbeit an, Ennio? Ich meine es doch nur gut. Als Gesetzesbrecher hast du nur Pech gehabt, am Ende geht es immer schief.«

»Ich gehe nie mehr in den Knast, Commissario.«

»Du könntest doch Koch werden.«

»Na ja, ich will nicht ausschließen, dass ich früher oder später eine Trattoria aufmache.«

»Von welchem Geld?«

»Wenn mir das nächste Ding gelingt …« Plötzlich verstummte Ennio, gab einen tiefen Seufzer von sich und breitete verklärt die Arme aus.

»Geht es dir nicht gut?«, fragte Casini.

»Schauen Sie doch mal dort, Commissario. Der erste Kaiserling der Saison.« Botta war sichtlich ergriffen. Eine Art orangefarbene Kugel schaute aus dem Laub hervor.

»Ich bemühe mich, vor Freude nicht laut aufzuschreien«, meinte Casini.

»Sie können das nicht verstehen, Commissario. Das ist, als würde man das allererste Mal eine Frau küssen.«

»Du weißt ja nicht, wovon du redest …«

»Was für ein Prachtstück«, flüsterte Ennio beeindruckt und drehte den Pilz vorsichtig ab.

»Wolltest du nicht bloß Steinpilze mitnehmen?«

»Hier muss es noch mehr davon geben.« Botta ignorierte ihn völlig. Er wickelte den Kaiserling in ein Taschentuch, das er einsteckte. Danach suchte er die Umgebung ab und fand noch sechs weitere Exemplare. Er wirkte hochzufrieden.

»Für heute reicht das, man darf nicht gierig werden«, sagte er. Casini sah auf die Uhr, es war noch nicht einmal neun.

»Hier oben lässt es sich aushalten, es ist wirklich wunderbar.« Er seufzte und schaute sich um. Unmittelbar danach stolperte er über einen großen Stein und saß plötzlich auf dem Hosenboden. Mit schmerzverzerrtem Gesicht stand er wieder auf und versuchte Bottas Gelächter zu überhören. Seine Hose war schlammverschmiert, und seine Ohren klingelten von der Erschütterung.

»Verdammt …«, sagte er und klopfte sich die nassen Blätter von der Hose.

»Sie dürfen nie laut sagen, dass Sie sich wohlfühlen, Commissario. Der Teufel kann zwar keine Gedanken lesen, aber Worte versteht er sehr gut.«

»Haben dir das die Nonnen beigebracht?«

»Sa va san dir, Commissario«, meinte Botta, der im Gefängnis von Marseille ein paar Brocken Französisch aufgeschnappt hatte.

Gemeinsam wanderten sie weiter zwischen Kastanien und Eichen hindurch, begleitet von seltsamen Vogellauten und dem Rauschen des Windes, der immer wieder in Böen durch die Äste fuhr. Sie sahen noch mehr Tiere, die vor ihnen ins Gebüsch flüchteten, hin und wieder kamen sie an einem alten Kohlenmeiler vorbei, um den die Erde schwarz und verbrannt war. Casini schwirrten in wildem Durcheinander alte Erinnerungen durch den Kopf. An seine Kindheit, an den Krieg, an ehemalige Freundinnen, deren Gesichter er inzwischen vergessen hatte. Aber hinter jedem dieser Gedanken kam immer wieder das Rätsel um den vermissten Jungen zum Vorschein. Casini begann langsam zu glauben, dass dieser von Marsmenschen entführt worden war …

Casini brachte Botta zu seiner Souterrainwohnung in der Via del Campuccio zurück und fuhr dann zu Hause vorbei, um die Kleidung zu wechseln. Inzwischen war es halb elf. Nach einer langen, heißen Dusche zog er sich in aller Ruhe an. Er hatte zwar noch die dunklen Baumstämme vor Augen, den leichten Nebelschleier, die Wildschweine … aber mit den Gedanken war er längst woanders. Zum wiederholten Mal ging er im Geist die Protokolle im Vermisstenfall Giacomo Pellissari durch in der absurden Hoffnung, endlich auf das Detail zu stoßen, das ihn auf irgendeine Spur führen würde.

Der Junge war am Mittwochmittag verschwunden, als er während eines wolkenbruchartigen Regens das Collegio alle Querce verlassen hatte. Um acht Uhr fünfundzwanzig hatte ihn sein Vater wie immer zur Schule gebracht. Nach dem Unterricht holte ihn regelmäßig ein Elternteil ab. Um Viertel nach zwölf war Giacomos Mutter in die Garage gegangen, doch ihr Fiat 600 sprang nicht an. Daraufhin hatte sie ihren Mann im Büro angerufen, und der hatte sich sofort ins Auto gesetzt, um zum Collegio zu fahren. Weil sich aufgrund des heftigen Regens ein Unfall auf den Alleen ereignet hatte, war er erst mit einer Stunde Verspätung eingetroffen. Unter dem Schutz seines Schirms war er zur Schule geeilt, in der festen Überzeugung, seinen Sohn anzutreffen, doch Giacomo war nicht mehr dort. Der Hausmeister hatte resigniert die Arme ausgebreitet: Der Junge hatte bis nach eins gewartet, sogar zu Hause angerufen, aber da war besetzt gewesen … Schließlich war er in den Regen hinausgerannt und hatte sich nicht aufhalten lassen.

Casini zündete sich eine Zigarette an und rekonstruierte die Ereignisse noch einmal bis in jede Einzelheit. Mittlerweile kam es ihm vor, als sehe er einen Film. Er kannte die Gegend rund um das Collegio alla Querce bis zum Haus der Pellissaris in der Via di Barbacane sehr genau. In diesem Viertel war er zur Welt gekommen und aufgewachsen.

Rechtsanwalt Pellissari hatte den Hausmeister gefragt, ob er seine Frau anrufen dürfe, aber noch immer war dort besetzt gewesen. Dann hatte er sich wieder ins Auto gesetzt und war den Weg nach Hause gefahren: Via della Piazzuola, Viale Volta, Via di Barbacane. Als er zu Hause ankam, war Giacomo immer noch nicht da. Seine Frau machte sich zwar Sorgen, aber sie war nicht allzu beunruhigt. Vielleicht hatte sich Giacomo ja irgendwo untergestellt, um sich vor dem Regen zu schützen …

Der Rechtsanwalt war zum Telefon im Flur gegangen und hatte festgestellt, dass der Hörer nicht richtig auflag. Er hatte mit seiner Frau geschimpft, die sich doch langsam Sorgen machte. Pellissari war wieder in seinen Alfa gestiegen und hatte im Regen das gesamte Viertel abgesucht. Mehrmals war er die Via Aldini entlanggefahren, eine kleine, wenig belebte Straße, die vom Viale Volta bis zum Anfang der Via di Barbacane führte. Giacomo kannte sie sehr gut. Sein Zuhause lag gleich um die Ecke, und er fuhr hier oft mit seinen Freunden Fahrrad.

Um drei beschloss der Rechtsanwalt, die Polizei anzurufen. Zwei Streifenbeamte waren zum Collegio alla Querce gegangen und hatten den Hausmeister der Schule befragt, Oreste, einen untersetzten kleinen Mann mit schütterem Haar und geröteten Wangen, der bei der Nachricht ganz blass geworden war. Die Beamten hatten ihn gebeten zu erzählen, wie sich alles abgespielt hatte, und Oreste war in seiner Beschreibung sehr genau gewesen: Nach dem üblichen Durcheinander bei Schulschluss war er vor die Tür gegangen, um nach dem Regen zu schauen. Unter dem Torbogen des Eingangsportals war er auf den Jungen gestoßen, der mit dem Ranzen zwischen den Füßen erwartungsvoll auf die abfallende Via della Piazzuola starrte. Er hatte ihn gefragt, ob er nicht seine Mutter anrufen wollte. Giacomo hatte zugestimmt und war dem Hausmeister bis zur Pförtnerloge gefolgt. Er hatte mehrmals die Nummer von zu Hause gewählt, aber dort war immer besetzt gewesen. Der Junge hatte verängstigt gewirkt, und Oreste hatte versucht, ihn zu beruhigen. Bald würde jemand kommen, um ihn abzuholen, er solle sich keine Sorgen machen, daran sei bestimmt dieser Wolkenbruch schuld. Der Junge war wieder nach draußen gegangen, um auf der Straße nachzusehen, und Oreste war ihm gefolgt. Kaum eine Minute später war Giacomo in den Regen hinausgerannt, er war aus dem Mantel geschlüpft und hatte ihn über den Kopf gezogen. Der Ranzen hüpfte auf seinem Rücken auf und ab. Oreste hatte ihm nachgerufen, dass er doch warten solle, er würde ihn nach Hause fahren, aber der Junge hatte nicht auf ihn gehört und war einfach weitergerannt. Der Hausmeister hatte noch einmal versucht, bei Giacomos Eltern anzurufen, aber da war immer noch besetzt gewesen. Schließlich hatte er sich gesagt, dass er sich keine Sorgen machen brauche, und nicht mehr daran gedacht.

Eine Einheit Polizeibeamte hatte die Einwohner befragt, die auf dem Weg von der Schule bis zum Haus der Pellissaris lebten, und auch die Via Aldini miteinbezogen. Nur eine alte Frau hatte von ihrem Fenster aus einen Jungen gesehen, der an der Ecke Viale Volta und Via della Piazzuola durch den Regen rannte, das war so gegen Viertel nach eins gewesen. Die Kleidung, die Farbe des Ranzens und die Uhrzeit ließen keine Zweifel: Bei dem Jungen handelte es sich um Giacomo Pellissari. Die alte Frau war die Letzte, die ihn gesehen hatte, und ihre Aussage hatte jeden Zweifel an der Aufrichtigkeit des Hausmeisters beseitigt. Mehr hatten sie nicht herausgefunden, aber das war zu erwarten gewesen. Als Giacomo die Schule verlassen hatte, war es Mittagszeit, es regnete in Strömen, und jeder kümmerte sich nur um seine eigenen Angelegenheiten.

Die Fotos des Jungen waren in den Zeitungen veröffentlicht und auch in den Fernsehnachrichten gezeigt worden, aber bisher hatte sich niemand darauf gemeldet. Konnte ein Junge einfach so verschwinden?

Als er im Hof des Präsidiums parkte, war es beinahe elf. Mugnai trat aus der Pförtnerloge heraus und lief ihm mit Leichenbittermiene entgegen.

»Guten Morgen, Commissario.«

»Hallo Mugnai, warum bist du denn so gut gelaunt?«

»Mit allem Verlaub, der Polizeipräsident ist stinksauer.«

»Das ist doch nichts Neues«, meinte Casini.

»Er hat mich wie einen Trottel behandelt. Aber was habe ich denn damit zu tun, dass der Junge nicht wieder auftaucht?« Der Beamte war tief gekränkt.

»Nimm es dir doch nicht so zu Herzen, Mugnai«, sagte Casini.

»Der Dottore hat gesagt, dass er Sie sofort sehen möchte.«

»Oje …« Der Kommissar seufzte.

»Machen Sie sich auf etwas gefasst, heute ist er wirklich geladen.«

»Das tut mir leid für ihn. Such doch bitte Piras und sag ihm, dass er zu mir ins Büro kommen soll.« Er winkte Mugnai zum Abschied und ging hinauf in den zweiten Stock, die Zigarette in seinem Mund hatte er dabei nicht angezündet und sich geschworen, dass er sie vor zwölf nicht rauchen würde. Er klopfte an Inzipones Tür und trat ein, ohne ein »Herein« abzuwarten. Als der Polizeipräsident ihn sah, sprang er auf. Seine dunklen Augen glühten wie zwei geröstete Kastanien.

»Sie müssen dieses Kind finden, Commissario!«, brüllte er und fuchtelte mit den Händen durch die Luft.

»Nichts würde ich lieber tun, Dottore«, sagte Casini ruhig.

»Und warum verschwenden Sie dann Ihre Zeit? Haben Sie die Zeitungen gelesen? Polizei unfähig! Das Präsidium schläft.« Er ging auf Casini zu und wedelte dabei mit einer Ausgabe von »La Nazione« durch die Luft.

»Wir tun unser Möglichstes.«

»Nichts als Worte! Jetzt kommen Sie endlich in die Gänge, Teufel noch mal!«

»Er ist spurlos verschwunden«, sagte Casini und hatte auf einmal große Lust, sich die Zigarette, die er zwischen seinen Fingern hielt, doch anzuzünden.

»Niemand verschwindet spurlos.« Inzipone warf die Zeitung fort und setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch. Casini kam näher, blieb aber stehen.

»Wir werden ihn finden«, sagte er mehr zu sich als zum Polizeipräsidenten.

»Das hoffe ich für Sie, Commissario. Heute Morgen hat mich in aller Herrgottsfrühe der stellvertretende Verkehrsminister angerufen. Avvocato Pellissari und er sind eng befreundet.«

»Ach, das wusste ich nicht. Das ändert natürlich alles, Sie werden sehen, dass wir den Jungen noch heute wiederfinden.«

»Werden Sie nicht unverschämt, Commissario«, sagte der Polizeipräsident und schob bedrohlich das Kinn vor. Casini steckte sich die Zigarette in den Mund und zündete sie an.

»Dann werde ich mich mal klarer ausdrücken. Es kümmert mich herzlich wenig, wessen Sohn das ist.«

»Und glauben Sie etwa, bei mir ist das anders?«, fragte Inzipone, erbost über diese Unterstellung.

»Ich spreche nie für andere, Dottore.« Casini grüßte mit einem leichten Kopfnicken und wandte sich zur Tür. Er hörte, wie der Polizeipräsident wieder aufstand und dabei seinen Sessel quietschend nach hinten schob.

»Ihre Art gefällt mir nicht, Commissario.«

»Ich bin untröstlich«, sagte Casini, ohne sich umzudrehen.

»Und Sie wissen sehr gut, dass ich mit dieser Meinung nicht allein dastehe.«

»Ich empfehle mich, Dottore.«

»Es wird schon seine Gründe haben, dass Sie in Ihrem Alter nur Commissario Capo sind …«, stieß der Polizeipräsident leise zwischen den Zähnen hervor, aber Casini hörte es trotzdem. Er verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich. Am liebsten wäre er jetzt mit Botta in den nebelverhangenen Hügeln herumgelaufen, um zwischen verwelktem Laub nach Pilzen zu suchen. Als er sein Büro betrat, saß Piras bereits vor seinem Schreibtisch und wartete auf ihn.

»Bleib sitzen …«, sagte er, doch der Sarde war bereits aufgestanden. Der Mann humpelte noch, weil ihm ein Jahr zuvor mehrere Kugeln ein Bein zertrümmert hatten. Piras war gerade mal zweiundzwanzig, aber seine herausragenden Fähigkeiten hatten Casini so überzeugt, dass er ihn bei jeder Ermittlung an seiner Seite haben wollte. Außerdem war er der Sohn von Gavino Piras, seinem ehemaligen Waffengefährten, und ihm deshalb noch mehr ans Herz gewachsen. Gavino hatte im Krieg einen Arm verloren, aber er arbeitete immer noch als Bauer. Im Grunde hatte auch er unglaubliches Glück gehabt … Casini erinnerte sich noch daran, wie Gavino eine Handgranate an der Brust getroffen hatte, die aber nicht explodiert war. Sie war an seiner Uniform abgeprallt und dann wie ein Stein zu Boden gefallen. In der Eile hatte der Nazi vergessen, den Sicherungsstift zu ziehen, und Gavino hatte ihn mit seinem Maschinengewehr erledigen können.

»Selbst die Handgranaten haben Angst vor den Sarden, Comandante«, hatte Gavino danach mit einem begeisterten Funkeln in den Augen Casini zugeflüstert. Dass er überlebt hatte, war ein reines Wunder, das wusste er sehr genau.

»Commissario, Sie wollten mich sprechen?«, fragte der junge Piras.

»Ich wollte meinen Ärger mit dir teilen.«

»Denken Sie das, was ich denke?«

»Leider ja.« Sie mussten nicht aussprechen, dass sie mittlerweile beide davon überzeugt waren, der Junge sei tot. Keine Lösegeldforderung, keine Anrufe.

»Hoffen wir, dass wir uns irren, Dottore«, sagte Piras, der inzwischen wieder Platz genommen hatte. Casini trat ans Fenster und schaute hinaus. Zur Abwechslung regnete es wieder, nachdem es gerade mal für zwei Tage trocken geblieben war.

»Was machen wir jetzt, Piras? Sollen wir noch einmal die Protokolle lesen? Sollen wir sie aufessen? Oder Boccia spielen gehen? Was zum Teufel sollen wir tun?«

»Wenn ich ehrlich sein darf …«

»Sag schon.«

»Uns bleibt nur die Hoffnung, dass wir die Leiche finden.«

»Verfluchter Regen«, zischte Casini und starrte auf die großen Tropfen, die auf den Asphalt prasselten. Niedergeschlagen zündete er sich eine Zigarette an. Ein schlecht aufgelegter Telefonhörer, strömender Regen, Signora Pellisaris Wagen, der nicht ansprang … Eine Verkettung unglücklicher Umstände? War es eine geplante Entführung, oder hatte dabei nur das Schicksal seine Hand im Spiel gehabt?

Das Telefon klingelte. Es war der Funkraum. Wenige Hundert Meter hinter dem Kloster von Montesenario hatte man ein Auto mit zwei Leichen gefunden. Ein Mann und eine Frau. Auf den ersten Blick sah es nach einem Doppelselbstmord aus.

»Ja, ich komme. Sagen Sie Diotivede und dem Staatsanwalt Bescheid«, sagte Casini ruhig und legte auf.

»Was ist passiert?« Piras war schon auf den Beinen.

»Das erzähle ich dir auf der Treppe«, erwiderte der Kommissar leise und zog heftig an seiner Zigarette. Er versuchte sein Möglichstes, um weniger zu rauchen, aber bei all den Frauengeschichten und Leichen war das nicht so leicht.

»Warten Sie auf mich, Dottore.« Piras humpelte hinter ihm her.

»Entschuldige, das vergesse ich immer.« Casini passte sein Tempo dem des Sarden an, und gemeinsam gingen sie in den Hof hinunter. Es schüttete wie aus Eimern. Mugnai sah sie und eilte mit einem großen grünen Schirm herbei, der sie alle drei vor dem Regen schützen sollte. Während er sie zum Käfer begleitete, fragte er sie, was Der Hügel, der Leopardi immer am Herzen lag sein könnte, ein Wort mit vier Buchstaben.

»Ermo«, antworteten Piras und Casini im Chor. Sie stiegen in den Wagen, fuhren los und ließen Mugnai nachdenklich zurück.

Als sie über die Piazza delle Cure fuhren, hatte der Regen ein wenig nachgelassen, doch der Himmel war immer noch dunkel. Der Kommissar empfand es fast als Erleichterung, dass er sich um einen handfesten Fall kümmern konnte, obwohl es dabei um zwei Tote ging.

Nach einer halben Stunde waren sie in Montesenario. Vor Ort trafen sie auf ein paar Streifenwagen und einige Schaulustige. Es nieselte immer noch mit einer Monotonie, die an den Nerven zerrte. Casini näherte sich dem Fiat 600 und schaute hinein. Er sah einen Mann um die vierzig mit einem Loch in der linken Schläfe und eine etwa dreißigjährige Frau, deren Hände auf ihrem blutüberströmten Bauch lagen, beide mit geöffnetem Mund. Auf dem Rücksitz stapelten sich zahlreiche Stoffmusterkataloge.

»Sorgen Sie dafür, dass die Leute zurückbleiben«, sagte Casini zu einem Beamten. Er versuchte die Tür auf der Fahrerseite zu öffnen. Sie war nicht verriegelt. Er steckte den Kopf in den Wagen, um die Leichen und die Einschusswunden aufmerksam zu betrachten. Die Frau war in den Bauch getroffen worden. Im Unterschied zu ihren standen die Augen des Mannes weit offen. Der Kommissar durchsuchte die Taschen des Mannes und die Handtasche der Frau nach Dokumenten und trat dann beiseite, um Piras Platz zu machen. Er war sich beinahe sicher, dass er wusste, was sich hier ereignet hatte, und wollte sehen, ob der Sarde zu demselben Schluss kam. Deshalb wartete er geduldig ab, bis Piras fertig war.

»Was sagst du dazu?«, fragte er ihn.

»Das war nicht geplant«, sagte der Sarde.

»Weiter …«

»Ein heimliches Liebespaar. Sie streiten, er bedroht sie mit der Waffe, sie macht sich vielleicht über ihn lustig und sagt, dass die Pistole nicht geladen sei. Dann zieht er den Sicherungshebel nach hinten und lässt ihn los, ohne zu wissen, dass so schon ein Schuss ausgelöst wird. Nachdem er sie aus Versehen getötet hat, verliert er den Kopf und erschießt sich.«

»Das passt genau«, sagte Casini und reichte ihm die Papiere der beiden Unglücklichen. Sie waren verheiratet, aber nicht miteinander.

In diesem Augenblick kam der Alfa Romeo 1100 von Diotivede, schwarz glänzend wie der Schuh eines Ministers, um die Ecke gerollt. Der alte Gerichtsarzt stieg mit seiner selbstverständlich ebenfalls schwarzen Tasche in der Hand aus. Seine weißen Haare leuchteten im hellen Morgenlicht. Nachdem er mit einem fast unmerklichen Heben des Kinns gegrüßt hatte, kam er auf das Auto des Liebespaares zu. Diotivede hatte fast immer einen schmollenden Gesichtsausdruck, wie ein Kind, das man gerade geweckt hatte, weil es zur Schule muss. Er öffnete seine Tasche, langte mit beiden Händen hinein, und als er sie wieder hervorzog, steckten sie bereits in Latexhandschuhen. Darauf beugte er sich in den Innenraum, um die Leichen zu untersuchen. Es verging nicht einmal eine Minute, da richtete er sich wieder auf und zog sich die Handschuhe aus.

»Die Frau ist zwei Stunden nach dem Mann gestorben, vielleicht auch zweieinhalb«, sagte er und schrieb sich erste Stichpunkte in sein Notizbuch.

»Bist du dir sicher?«, fragte Casini.

»Nein, ich mache Witze«, blaffte Diotivede, während er weiterschrieb.

»Das war eigentlich keine Frage …«

»Ich muss gehen, ich habe ein Rendezvous mit einer alten Dame.« Der Arzt steckte sein Notizbuch weg.

»Tot oder lebendig?«

»Wo ist da der Unterschied?«, fragte Diotivede lächelnd und ging zu seinem Auto zurück; die Tasche baumelte an seiner Seite. Ein Kind mit weißen Haaren, dachte Casini und musste lächeln. Der Arzt wendete und fuhr davon.

Piras und Casini folgten ihm wenig später und fuhren schweigend die gewundene Straße von Montesenario hinab. Diesen tragischen Vorfall umgab kein Geheimnis, nichts, was man erst herausfinden musste. Es hatte also kaum Sinn, auf den stellvertretenden Staatsanwalt zu warten. Außerdem war Dottor Cangiani kein besonders angenehmer Zeitgenosse.

Der Kommissar beschäftigte sich schon wieder mit dem vermissten Jungen, und es war offensichtlich, dass auch Piras über ihn nachdachte. Für sie beide war der Fall zu einer Obsession geworden. Es war das erste Mal, dass Casini so im Dunklen tappte, und das gefiel ihm gar nicht. Als sie die Piazza delle Cure erreichten, schüttelte Piras den Kopf.

»Verflucht, Commissario …«

»Was ist, Piras?«

»Ich ertrage das nicht, so untätig herumsitzen zu müssen.«

»Wir können nichts anderes tun.« Casini zündete sich eine Zigarette an. Piras kurbelte das Seitenfenster hinunter und steckte den Kopf beinahe ganz hinaus, als hätte er Angst zu ersticken. Er hasste Zigarettenrauch und verstand nicht, wie ein intelligenter Mensch seine Zeit mit etwas so Sinnlosem wie dem Rauchen vergeuden konnte. Ein kalter Wind drang in den Wagen und fuhr unter ihre Kleidung.

»Wenn du möchtest, kann ich sie auch wegwerfen«, sagte der Kommissar.

»Wenn es Ihnen lieber ist, kann ich auch zu Fuß gehen«, sagte der Sarde gekränkt. Casini zog hastig zwei-, dreimal hintereinander und warf dann die Zigarette fort, woraufhin Piras das Fenster wieder schloss. Nach einer Minute sardischen Schweigens erzählte er die Geschichte, wie man in seinem Dorf ein Mädchen ermordet hatte, als er ungefähr zehn Jahre alt war. Man hatte sie vergewaltigt und erwürgt. In allen Dörfern der Gegend sprach man von nichts anderem. Es dauerte mehrere Monate, bis man den Täter gefunden hatte, und das durch puren Zufall. Während der Messe war dem Priester eines Nachbardorfes ein gelbes Baumwollband aus der Tasche gefallen. Eine Frau, die die Familie des Mädchens kannte, war sich beinahe sicher, das Bändchen wiedererkannt zu haben, und war daher nach der Messe zu den Carabinieri gegangen. Das Mädchen hatte immer einen Pferdeschwanz getragen, und seine Mutter band ihm stets mit einem solchen gelben Band eine Schleife. Der Priester wurde daraufhin verhört. Anfangs gab er sich völlig ahnungslos, aber man konnte sehen, dass er nervös war. Schließlich gestand er. Nach einer Stunde in Haft hatte er sich an den Gitterstäben seiner Zelle erhängt. Er hatte sein Hemd in Streifen gerissen und sich daraus eine Art Strick gedreht …

»Es ist doch immer wieder ein Vergnügen, solch heitere Geschichten aus deiner Kindheit zu hören.« Casini lächelte bitter.

»Na ja, zumindest hat man den Mörder gefasst …«

»Wir sollten nicht so voreilig sein. Es ist nicht gesagt, dass der Junge wirklich ermordet wurde«, sagte der Kommissar gegen seine Überzeugung.

»Mit dreizehn läuft man noch nicht mit einer Freundin davon«, knurrte Piras.

»Warten wir es ab. Man kann nie wissen.«

Sie waren am Präsidium angekommen. Casini ließ den Käfer im Hof stehen, verabschiedete sich von Piras und ging dann zu Fuß in die Trattoria Da Cesare auf dem Viale Lavagnini. Er begrüßte den Besitzer und die Kellner und schritt wie immer direkt in die Küche, wo der apulische Koch Totò seine täglichen Schlachten mit Töpfen und Dunstwolken schlug. Dort nahm der Kommissar seit mittlerweile vielen Jahren seine Mahlzeiten ein.

Totò war in Hochform, wie eigentlich immer. Ein Meter fünfzig überquellende Leibesfülle und schwarze Haare, die überall hervorsprossen. Er begrüßte den Kommissar und empfahl ihm Schweinerippchen mit Augenbohnen, eine toskanische Spezialität. Casini nickte ergeben. Er war schon viele Male mit dem Vorsatz in die Küche gekommen, weniger zu essen, doch nur selten hatte er sich daran gehalten. Vielleicht auch nie. Er setzte sich und wartete, dass Totò ihm seine Köstlichkeiten präsentierte.

»Riechen Sie nur, Commissario. Ich kann einem Florentiner beibringen, wie man so etwas macht …«

»Danke, Totò, das brauche ich jetzt.«

»Immer noch dieser Junge, oder?«

»Tust du mir einen Gefallen und sprichst nicht darüber?«

»Aber sicher, Commissario.« Totò war immer mit etwas beschäftigt, aber er hörte nie mit dem Reden auf. Auch er erzählte einige Geschichten von ermordeten Kindern, unten im Salento, und schilderte dabei die Einzelheiten so, als würde er beschreiben, wie man Spaghetti Carbonara zubereitet. Casini hörte schweigend zu und spülte das Fleisch mit einem unglaublich kräftigen Rotwein hinunter.

Nach seinen erbaulichen Geschichten vom Land kam Totò auf die langhaarigen Gammler zu sprechen. Mittlerweile sah man sie ziemlich oft. Es wurden immer mehr. Irgendwie fand er sie ja ganz nett, so wie manche kleine Hunde. Aber er verstand immer noch nicht, wie ein Mann lange Haare wie eine Frau tragen konnte, ohne sich dabei in Grund und Boden zu schämen.

»Zu anderen Zeiten war das völlig normal«, meinte Casini.

»Sie möchte ich mal sehen, so mit langen Weiberhaaren.« Lachend wendete Totò ein riesiges Steak. Er goss einen Topf Nudeln ab, und eine Minute später stellte er sechs tiefe Teller in die Durchreiche. Mit einem Lächeln auf den Lippen servierte er dem Kommissar ein Stück Apfelkuchen und dazu ein Gläschen Vin Santo.

Als Casini aus der Trattoria kam, hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er der Versuchung nicht widerstanden hatte. Er zündete sich eine Zigarette an, dann schlenderte er in aller Ruhe zum Polizeipräsidium und dachte an den langen Nachmittag, der noch vor ihm lag.

Als ein schönes Mädchen mit einem sehr kurzen Rock an ihm vorüberging, drehte er sich um und schaute ihm nach. Beinahe wäre er in eine Lambretta gelaufen, die auf dem Bürgersteig parkte. Er errötete fast bei dem Gedanken, dass er der Vater der jungen Frau – wenn nicht gar ihr Großvater – sein könnte. Trotzdem drehte er sich noch einmal nach ihr um. War ihr denn nicht kalt, dachte er, mit diesen nackten Beinen? Er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, Frauen in so kurzen Röcken zu sehen, und war nach wie vor jedes Mal schwer beeindruckt …

Casini musste an Elvira denken, an ihre letzte gemeinsame Nacht. Eine Nacht wie jede andere, aber am nächsten Tag hatte sie durch einen kurzen Anruf mit ihm Schluss gemacht. Elvira war sehr hübsch. Sie hatte ein Muttermal über der Lippe und ein weiteres auf der linken Brust.

»Also bist du jetzt wieder ganz allein, mein armer, großer Bär«, sagte Rosa, während sie ihm mit Schere und Feile die Nägel kürzte. Casini lag ohne Schuhe auf der Couch und balancierte ein Glas Schnaps auf der Brust. Hin und wieder hob er den Kopf und trank einen Schluck. Leise erfüllten die romantischen Schlager von Tony Dallara den Raum.

Rosa hatte ihren Spaß daran, ihren Freund, den Kommissar, zu umsorgen, vor allem, wenn er so niedergeschlagen war. Dann reinigte sie sein Gesicht mit Creme, pflegte seine Hände, massierte ihm die Schultern … Seit sie ihren Beruf aufgegeben hatte, war sie ein wenig melancholisch, aber auch sanfter geworden. Eine zärtliche Hure im Ruhestand mit der Seele eines Kindes. Ihr riesiger weißer Kater Gedeone schlief auf einem Stuhl.

»Bei mir geht immer alles schief, genau wie bei diesem Küken Calimero«, sagte Casini.

»Du läufst ja auch nur jungen Frauen hinterher …«

»Das stimmt nicht.«

»Und ob das stimmt.« Ein trauriges kleines Lächeln umspielte ihre Lippen.

»In meinem Alter würde ich gern eine schöne, liebenswerte Frau finden, die mich bis ans Lebensende begleitet«, sagte Casini melodramatisch. Wie gut, dass wenigstens Rosa nicht auf den vermissten Jungen zu sprechen kam.

»Ich weiß genau, was für eine Frau zu dir passen würde.«

»Ich liebe es, wenn du mich bemutterst.«

»Ich meine das ganz ernst.«

»Und was für eine Frau wäre das?«

»Ich habe festgestellt, dass dir Frauen mit langen schwarzen und glatten Haare gefallen. Jung, schlank, mit dunklen Augen und einem geheimnisvollen Blick …«

»Wem würde so eine Frau nicht gefallen?«

»Aber diese Frauen passen eben nicht zu dir.«

»Ach wirklich?«

»Ich kann mir dich gut mit einer etwas molligeren Blondine um die vierzig vorstellen, die gern lacht. Sobald du nach Hause kommst, wirft sie dir die Arme um den Hals und zieht dich aufs Bett.«

»Allein bei der Vorstellung bekomme ich Bauchschmerzen.« Casini stöhnte.

»Das war jetzt aber gar nicht nett von dir, schließlich sehe ich doch mehr oder weniger so aus«, sagte Rosa und spielte die Beleidigte. Immerhin feilte sie weiter seine Nägel.

»Du bist doch überhaupt nicht mollig«, sagte Casini, um seinen Schnitzer wiedergutzumachen.

»Meinst du?«

»Darauf würde ich einen Eid schwören.«

»Na ja, ein Hungerhaken bin ich nicht gerade … Aber vielleicht hast du recht, mollig bin ich auch nicht.«

»Du bist nur ein wenig …«

»Ein wenig?«

»Ich komme jetzt nicht auf das Wort, aber ich bin mir sicher, du hast schon verstanden«, meinte Casini, um nichts Falsches zu sagen. Rosa war mit seiner einen Hand fertig und nahm sich nun die andere vor.

»Na ja, ein wenig Speck auf den Rippen kann wohl nicht schaden«, meinte sie schließlich lachend. Nach einem für sie langen Schweigen, das etwa eine Minute dauerte, begann sie von ihrer Freundin Tecla zu erzählen, die auf der Treppe gestürzt war. Sie war auf den Mund gefallen und hatte sich einen Zahn, genauer gesagt einen Schneidezahn abgebrochen … Ihre Lippe war geschwollen, und sie war am ganzen Leib grün und blau. Dabei hatte sie noch Glück gehabt, sie hätte sich auch das Genick brechen können.

»Dieser Freund von dir hat schon recht, wir sind alle wie Blätter an einem Baum, wenn der Wind geht …«

»Das hat nicht mein Freund gesagt, sondern ein großer Dichter.«

»Habe ich dir jemals von meinem Onkel Costante erzählt?«, wechselte Rosa das Thema. »Er schrieb auch Gedichte. Der Ärmste ist in Russland umgekommen … Ach, und habe ich dir schon gesagt, dass ich mit meinen Freundinnen wieder ein Theaterstück vorbereite?«

»Ich glaube nicht …«

»Wir wollen es am Dreikönigstag aufführen. Dieses Mal musst du unbedingt kommen.«

»Ich werde mein Möglichstes versuchen«, meinte Casini und wusste genau, dass er sich wie immer eine Ausrede ausdenken würde, um nicht kommen zu müssen.

»Ich habe es selbst geschrieben«, sagte Rosa ganz aufgeregt.

»Das war mir klar.«

»Soll ich dir etwas daraus vorlesen?«

»Ich möchte mich lieber überraschen lassen …«

»Es ist eine zu Herzen gehende Geschichte, aber auch ziemlich unterhaltsam. Es geht um die Freundschaft zwischen einer Nonne und einer Hure, die am Ende ihre Berufe tauschen.«

»Interessant.«

»Es beginnt mit Schwester Celestina, die mitten in der Nacht in der Kirche betet. Sie ist gerade aus dem Zimmer einer Novizin gekommen, besser gesagt aus ihrem Bett. Sie weiß, dass sie gesündigt hat, und betet nun bei der Madonna um Vergebung …« Da ertönte das leise Dingdong der Türklingel, und Rosa sprang wie von der Tarantel gestochen auf.

»Bleib sitzen, um diese Uhrzeit kann es doch bloß ein Spaßvogel sein«, sagte Casini und hielt ihre Hand fest.

»Ich weiß ganz genau, wer das ist.« Sie versuchte sich loszumachen.

»Erwartest du um elf Uhr abends noch Besuch?«

»Das ist eine kleine Überraschung für dich.«

»Eine junge Frau mit schwarzen Haaren und einem geheimnisvollen Blick?«

»Jetzt red nicht solchen Schwachsinn«, sagte Rosa. Sobald Casini ihre Hand losließ, hüpfte sie zur Tür, gefolgt von Gedeone.

»Also, wer ist es denn jetzt?«, rief ihr Casini hinterher. Sie antwortete nicht und verschwand auf dem Treppenabsatz. Casini setzte sich auf, schlüpfte schnell wieder in die Schuhe und ordnete sein Haar und seine Kleidung. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wer das sein könnte.

Kurz darauf kehrte Rosa mit einer Frau zurück, die auf den ersten Blick um die fünfzig zu sein schien. Sie war ganz in einen knöchellangen schwarzen Mantel gehüllt. Casini stand auf.

»Das ist Amelia«, stellte Rosa vor.

»Sehr angenehm.« Casini deutete eine Verbeugung an. Die Frau antwortete mit einem ernsten Lächeln. Sie hatte einen kleinen Kopf, ihre Augen lagen tief in den Höhlen und wirkten unendlich traurig. Rosa half ihr aus dem Mantel, und sofort sah Amelia zehn Jahre jünger aus.

»Amelia liest aus den Tarotkarten, sie ist sehr gut darin.«

»Ach so …«, sagte Casini.

»Sie ist deinetwegen hier«, flüsterte Rosa.

»Meinetwegen?«

»Freust du dich denn nicht?«

»Aber sicher …« Er wollte Amelia nicht beleidigen.

»Möchtest du etwas trinken, Amelia?«, fragte Rosa. Die Frau verneinte mit einem leichten Kopfschütteln. Rosa räumte den Tisch frei, rückte der Kartenlegerin einen Stuhl zurecht und dämpfte dann das Licht im Zimmer.

»Alles bereit«, sagte Rosa und kicherte wie ein kleines Mädchen. Amelia setzte sich und legte die Tarotkarten auf dem Tisch aus. Sie trug eine zweimal um den Hals geschlungene Jadekette, und im schummrigen Licht sahen die Steine schwarz aus.

Casini versuchte, ernst zu bleiben.

»Was möchten Sie wissen?«, fragte ihn die Wahrsagerin leise. Casini schaute sie ein wenig verlegen an, er hatte nie an so einen Humbug geglaubt.

»Ich weiß nicht …«

»Zuerst die Liebe«, antwortete Rosa für ihn, und Casini warf ihr einen besorgten Blick zu. Amelia begann die Karten umzudrehen und studierte sie dann aufmerksam. Im Dämmerlicht wirkte ihre lange, schmale Nase beinahe boshaft. Als alle Karten umgedreht waren, hob sie den Kopf und starrte Casini in die Augen. Sie hatte einen wachen Blick, aus dem nun alle Traurigkeit verschwunden war.

»Eine blonde Frau, schön, um die fünfunddreißig … Sie hat die Beziehung plötzlich beendet, vor kurzem erst.«

»Das stimmt«, flüsterte Casini und versuchte, nicht allzu sarkastisch zu klingen. Sicher hatte Rosa die Kartenlegerin vorab informiert.

»Das war nicht die richtige Frau für Sie«, sagte Amelia finster. Rosa musste lächeln.

»Siehst du, dass ich recht hatte?«, sagte sie hochbefriedigt. Die Wahrsagerin warf einen weiteren Blick in die Karten.

»Sie werden bald eine schöne dunkelhaarige Signorina kennenlernen … eine leidenschaftliche Liebe, die aber nicht lange halten wird … Ein schlimmes Ereignis wird Sie auseinanderbringen … Auch sie ist nicht die Frau Ihres Lebens …«

»Werde ich diese Frau denn irgendwann finden?«, fragte Casini interessiert, um die beiden Frauen nicht zu enttäuschen. Er konnte es nicht erwarten, sich endlich wieder auf der Couch ausstrecken zu dürfen. Amelia konsultierte lange ihre Karten und fand schließlich etwas.

»In ein paar Jahren … Eine wunderschöne Frau, eine Ausländerin … sehr reich … geschieden … mit zwei Kindern …«

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, knurrte der Kommissar.

»Ich weiß nicht, ob es für immer halten wird, aber das ist bestimmt die größte Liebe Ihres Lebens«, meinte Amelia abschließend und schaute wieder auf.

»Sind Sie sich sicher?«, fragte Casini und heuchelte Interesse.

»Die Karten lügen nie.« Die Wahrsagerin sammelte in Ruhe ihre Tarotkarten ein und legte alle auf einen Stapel.

»Jetzt die Gesundheit«, sagte Rosa.

»Nein, bitte nicht … Ich möchte nichts darüber wissen«, sagte Casini schnell, denn darin war er abergläubisch. Die Kartenlegerin schaute ihn an und wartete darauf, dass er sie noch etwas fragte. Rosa mischte sich schon wieder ein.

»Sag ihm doch etwas zu seiner Arbeit, Amelia. Der Commissario versucht, diesen vermissten Jungen zu finden.«

»Rosa, lass das bitte«, sagte Casini. Doch die Kartenlegerin breitete schon die Karten auf dem Tisch aus – ein Teufel, ein Totenschädel, eine Sonne und andere Bilder, die der Kommissar gleichgültig betrachtete. Gedeone war in den hintersten Winkel des Wohnzimmers geflüchtet, und seine grünen Augen leuchteten im Dunkeln. Plötzlich zuckte Amelia zusammen und schlug die Hände vor den Mund.

»Was ist los?«, fragte Rosa ängstlich. Die Wahrsagerin bedeutete ihr zu schweigen, und konsultierte immer besorgter die Karten. Casini suchte nach einer Zigarette und zündete sie sich an. Unwillkürlich war ihm ein Schauder über den Rücken gelaufen, und das hatte ihn überrascht. Er starrte die Frau an und wartete darauf, dass sie etwas sagte.

»Morgen früh …«, stammelte Amelia, doch mehr brachte sie nicht heraus.

»Morgen früh passiert was?«, fragte Casini, der mittlerweile doch gefesselt war. Um den kleinen Giacomo zu finden, würde er jeder Spur nachgehen, und sei sie auch noch so absurd. Doch die Wahrsagerin antwortete nicht. Sie sammelte ihre Karten ein und stand dann hastig auf.

»Amelia, was ist denn los?«, fragte Rosa schuldbewusst. Schließlich hatte sie die Idee gehabt, die Karten zu dem vermissten Jungen zu befragen. Wortlos schlüpfte die Kartenlegerin in ihren Mantel. Sie bedeutete Rosa, dass sie aufbrechen wollte, und ging zur Tür. Casini verspürte den Wunsch, sie zurückzuhalten und zu fragen, was sie gesehen hatte, doch ihm fehlte der Mut. War er so stark zu beeinflussen, dass er an so ein dummes Zeug glaubte? Wie konnten Karten etwas über das Schicksal der Menschen wissen?

Rosa begleitete die Kartenlegerin vor die Tür und blieb dort einige Minuten stehen. Als sie zu Casini zurückkehrte, lag er schon wieder ausgestreckt und ohne Schuhe auf der Couch und hielt ein volles Glas Grappa in der Hand. Sie setzte sich neben ihn auf die Sofakante, ohne die große Deckenlampe wieder anzuschalten.

»Amelia wollte mir nichts sagen«, flüsterte sie dramatisch.

»Würdest du mir bitte mit deinen kleinen Goldhändchen den Rücken massieren?«, fragte Casini, der inzwischen wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgekehrt war.

»Sicher, mein Schatz. Zieh schon mal dein Hemd aus, ich hole inzwischen die Creme.« Rosa trabte hüftschwingend ins Bad. Um ihre Laune zu heben, brauchte es nicht viel. Casini drückte die Zigarette aus, zog das Hemd aus und legte sich auf den Bauch. Rosa kam mit einer großen Dose Niveacreme zurück und verteilte eine reichliche Menge davon auf ihre Hände. Dann setzte sie sich rittlings auf ihn und begann mit der Massage.

»Du hast zugenommen«, sagte sie.

»Das bildest du dir bloß ein.«

»Also hör mal, davon verstehe ich was …« Sie kicherte. Casini stöhnte vor Vergnügen. Draußen begann es wieder zu schütten. Wind kam auf, und man hörte, wie irgendwo ein Fensterladen klapperte. Ein Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür jagte. Gedeone war das egal. Er war auf die Anrichte geklettert und dort eingeschlafen.

»Rosa, glaubst du wirklich an solche Sachen?«

»Was für Sachen?«

»Tarotkarten, Wahrsager …«

»Natürlich glaube ich daran. Meine Freundin Asmara hat mir gesagt, dass Amelia ihr schon oft die Karten gelegt hat, und sie hat jedes Mal ins Schwarze getroffen, was die Vergangenheit oder die Zukunft betraf.«

»Zum Beispiel?«

»Na ja, sie hat ihr gesagt, dass ihr Vater sie verlassen hat, als sie noch ein kleines Mädchen war, dass ihre Mutter gestorben ist, als sie sechs war …«

»Und für die Zukunft?«

»Im letzten Jahr hat sie ihr vorhergesagt, dass sie dieses Jahr im Januar einen kleinen Unfall haben würde, und das ist wirklich passiert. Sie hat sich den kleinen Zeh gebrochen.«

»Und sonst?« Er hörte Rosa gerne reden.

»Sie hat ihr vorhergesagt, dass sie am Blinddarm operiert werden würde, und so kam es. Sie hat ihr gesagt, dass sie eine kleine Erbschaft von einer weit entfernten Verwandten machen würde, die sie noch nicht einmal kannte, und auch das stimmte. Sie hat ihr gesagt, dass ein Freier sich in sie verlieben und ihr einen wunderschönen Ring schenken würde … Also, es hat sich wirklich alles erfüllt, von Anfang bis Ende.«

»Zufälle.«

»Dir hat sie gesagt, dass dich gerade erst eine blonde Frau verlassen hat … Was sagst du dazu?«

»Das wird ihr wohl ein Vögelchen gezwitschert haben.«

»Also, ich habe ihr gar nichts verraten«, sagte Rosa leicht gekränkt.

»Hat Amelia auch dir die Karten gelegt?«

»Oh nein, ich will gar nicht wissen, was mir noch bevorsteht.«

»Deshalb hast du es für eine gute Idee gehalten, dass sie sie für mich legt.«

»Was ist denn so Schlimmes daran?«, fragte Rosa und knetete kräftig um seine Wirbelsäule herum. Casini überließ sich diesem Vergnügen und lauschte dem Regen. Er versuchte, nicht daran zu denken, dass er irgendwann wieder nach Hause gehen müsste. Rosa seufzte tief.

»Also, was habe ich dir noch mal erzählt? Schwester Celestina betete gerade mitten in der Nacht, als es plötzlich an die Tür des Klosters klopfte …«

Casini wurde bei Tagesanbruch vom Klingeln des Telefons geweckt und sprang aus dem Bett. Noch ehe er den Hörer in der Hand hatte, wusste er, was passiert war.

»Ja?«

»Dottore, ich bin’s, Rinaldi. Ein Jäger hat im Wald eine verscharrte Leiche gefunden, und der Fuß, der aus dem Erdreich hervorschaut, scheint zu einem Jungen zu gehören.«

»Wo?«

»Nahe der Ortschaft La Panca. Ein Wagen ist bereits unterwegs dorthin«, sagte Rinaldi. Der Kommissar musste an die letzten Worte Amelias denken: Morgen früh …

»Wo genau liegt denn dieses La Panca?«

»Hinter Strada in Chianti muss man nach links auf die Straße nach Cintoia abbiegen und dann sechs oder sieben Kilometer geradeaus fahren. Um an den Fundort der Leiche zu gelangen, geht es dann einen Weg entlang, der nach oben in den Wald in Richtung Monte Scalari führt.«

»Ich hole Piras ab und fahre dann selbst hin. Rufen Sie Diotivede an.«

»Und was ist mit dem Staatsanwalt?«

»Dem sagen Sie erst in ein paar Stunden Bescheid. Ich habe keine Lust, ihm zu begegnen.«

»Ja, Dottore.«

»Funken Sie die Streife an, niemand darf etwas anrühren, bis ich dort bin.«

»Ja, Dottore.« Gleich nachdem Rinaldi aufgelegt hatte, rief Casini Piras an.

»Ich komme in zehn Minuten vorbei, man hat einen Jungen im Wald verscharrt gefunden.«

»Verdammt, das ist er …«

»Warte vor der Haustür auf mich.« Casini zog sich hastig an und trank nicht einmal einen Kaffee, bevor er aus dem Haus ging. Nach einer durchregneten Nacht war der Himmel jetzt klar und leuchtete in einem intensiven Azurblau. San Frediano erwachte allmählich zum Leben, und an dem einen oder anderen Geschäft war das Rollgitter schon halb hochgeschoben.

Casini trat aufs Gas und war in wenigen Minuten in der Via Gioberti. Piras stand bereits mit dunkel umränderten Augen auf dem Bürgersteig. Niedergeschlagen stieg er ins Auto, und nach einem kurzen Kopfnicken zur Begrüßung fuhr Casini weiter. Keinem von beiden war nach Reden zumute. Der dröhnende Motorenlärm des Käfers hallte in den menschenleeren Straßen wider. Ab und zu kam ihnen eine Vespa, eine Lambretta oder ein Wagen entgegen. Sie verließen die Stadt und durchquerten Grassina. Die Chiantigiana füllte sich allmählich mit Lastwagen und knatternden dreirädrigen Lieferwagen, die mit Gemüse beladen waren. Auf den Feldern konnte man Bauern bei der Arbeit sehen, hinter Ochsengespannen oder hoch oben auf einem modernen Traktor. Die Stadt lag gleich um die Ecke, aber hier schien sie weiter entfernt als der Mond. Die mehr oder weniger elegante, laute, vergnügungssüchtige Jugend, die sich jeden Abend in das Zentrum von Florenz ergoss, hatte nichts mit den zerfurchten Gesichtern und den düsteren Blicken dieser Menschen gemein, die sich auf ihrem Stück Land den Buckel krumm arbeiteten.

Sie fuhren durch Strada in Chianti und bogen dann nach Cintoia ab. Nach einigen Kilometern war die Straße nicht mehr geteert, und der Käfer begann hin und her zu schaukeln. Links von ihnen sah man waldbedeckte Hügel, die sich gegen einen grünlichen Himmel abzeichneten. Hinter Cintoia Bassa wurden die Kurven immer enger, und sie mussten langsamer fahren. Eine dreirädrige Ape tuckerte, dichte Qualmwolken ausstoßend, bergan, doch es war nicht leicht, sie zu überholen.

Schließlich kamen sie nach La Panca – vier Häuser an einer Wegbiegung. Sie fragten eine alte Bäuerin, wo es nach Monte Scalari ging, und fuhren daraufhin auf einen steil nach oben führenden Schotterweg voller Steine, auf dem das Auto auf und ab hüpfte. Zwischen den Baumstämmen am Straßenrand hing hin und wieder ein Nebelstreif. Nach zwei-, dreihundert Metern machte der Hauptweg eine scharfe Kurve nach rechts und führte dann weiter aufwärts bis nach Cintoia Alta, doch sie folgten den Anweisungen der Bäuerin und fuhren geradeaus auf einem kleineren Pfad mitten durch den Wald. Dort trafen sie auf ein paar Schaulustige, die Casini unerbittlich weggeschickt hatte. Sie fuhren über den Schlamm rutschend noch ein paar Kilometer weiter. Nach einer Wegbiegung entdeckten sie endlich den Streifenwagen des Polizeipräsidiums, der an einer breiteren Stelle parkte. Daneben stand der Beamte Tapinassi und wartete auf sie. Er ging dem Kommissar entgegen und nahm Haltung an.

»Wo ist der Junge?«, fragte Casini.

»Dort drüben entlang, Dottore.« Der Beamte grüßte Piras mit einem Kopfnicken und führte sie zum Fundort.

»Habt ihr einen Spaten?«, fragte der Kommissar.

»Der ist schon an Ort und Stelle«, antwortete Tapinassi. Sie folgten dem Waldweg noch etwa dreißig Meter, dann bogen sie ab und stiegen den Hügel hinauf, wobei sie zwischen den Bäumen nur mühsam vorwärtskamen. Ab und zu frischte der Wind auf. Wo der Blätterteppich etwas dünner wurde, heftete sich sofort Schlamm an ihre Schuhe. Die Stille war wunderbar und erinnerte Casini an seine gemeinsame Wanderung mit Botta.

»Tapinassi, kennst du dich in dieser Gegend gut aus?«

»Nein, Dottore. Ich bin nicht von hier, ich bin in Rufina geboren.« Nach einer Weile sahen sie in der Ferne den anderen Streifenbeamten, Calosi. Neben ihm stand ein etwa fünfzigjähriger Mann, der eine Doppelflinte umgehängt hatte und einen Irish Setter an der Leine führte.

»Lauf zurück und warte auf Diotivede«, sagte Casini zu Tapinassi.

»Ja, Dottore.« Der Polizist kehrte um und ging zum Wagen zurück. Als Piras und der Kommissar am Fundort eintrafen, nahm Calosi Haltung an und salutierte. Casini beachtete ihn nicht einmal. Mit dem Sarden trat er an das frisch ausgehobene Loch heran, aus dem ein halb verwester nackter Fuß hervorschaute. Man konnte sehen, dass ihn ein Tier angenagt hatte.

»Wildschweine«, murmelte Casini. Der ekelerregende Leichengestank überdeckte beinahe den durchdringenden Geruch des Unterholzes.

»Das muss er sein«, sagte Piras und hielt sich die Nase zu.

»Wir werden es gleich wissen … Calosi, habt ihr schon Fotos gemacht?«

»Ja, Dottore.«

»Dann gib mir mal den Spaten.« Casini begann möglichst vorsichtig zu graben. Der Jäger beobachtete alles mit halb geöffnetem Mund. Erst kam ein Unterschenkel, dann ein Oberschenkel zum Vorschein, der Po, der Rücken und schließlich der Kopf. Der Körper war vollständig nackt. Es stank unerträglich, und Calosi entfernte sich schnell, während er seinen Brechreiz unterdrückte. Der Junge lag mit dem Gesicht nach unten. Mit Hilfe des Spatens drehte Casini ihn auf den Rücken, und Piras verzog angewidert das Gesicht. Die Augenhöhlen waren voller Würmer. Das Gesicht des Jungen war erdverkrustet und seine Züge kaum noch zu erkennen. Auf einen dumpfen Schlag hin drehten sie sich um. Der Jäger war ohnmächtig geworden, sein Hund begann zu bellen.

»Kümmere du dich um ihn, Calosi.« Casini zog ein Taschentuch aus seiner Jackentasche und säuberte ganz sanft das bleiche Gesicht des Jungen, dabei gab er Acht, dass er ihn nicht mit den Fingern berührte. Er musste sich immer wieder abwenden, um Atem zu holen. Im Krieg hatte er viele Tote gesehen. Auch Kinder waren darunter gewesen, sogar Säuglinge.

»Das ist er«, sagte Piras mit versteinertem Gesicht.

»Ja, das ist er«, knurrte der Kommissar und warf das schmutzige Taschentuch fort. Er hatte nur ein paar Fotos gesehen, aber trotzdem war der Junge unschwer zu erkennen. Endlich hatten sie Giacomo Pellissari gefunden. Da lag er, nackt, dreckverschmiert, tot. Die Vorstellung, den Eltern diese Nachricht überbringen zu müssen, schnürte ihm die Kehle zu. Der Jäger hatte sich in der Zwischenzeit erholt, auch wenn er auf dem Boden sitzen geblieben war. Casini ging zu ihm.

»Kommen Sie hier häufiger vorbei?«, fragte er.

»Ja, ich wohne in Pescina, dort hinten Richtung Lucolena«, sagte der Jäger und vermied es, zur Leiche des Jungen hinüberzublicken. Er hatte ein eingefallenes Gesicht und sonnengegerbte Haut, die von vielen Falten durchzogen war. Wahrscheinlich war er Bauer und vermutlich nicht älter als vierzig.

»Kennen Sie die Gegend gut?«, fragte der Kommissar.

»Wie meine Westentasche.«

»Führen außer dem Weg bei La Panca noch andere hier hinauf?«

»Es gibt noch ein paar. Von Figline aus, von Poggio alla Croce und von Ponte agli Stolli, wenn man von Celle kommt, aber die sind alle drei ziemlich holprig.«

»Kommt man mit dem Auto durch?«

»Nein, da sind viel zu viele Steine und Schlaglöcher. Da reißt es einem ja die Ölwanne weg, und man verliert …«

»Und zu Fuß?«

»Zu Fuß ist es etwas anderes.«

»Ist es sehr weit nach Poggio alla Croce?«

»Nicht sehr. Weiter oben kommt man zur Gabelung an der Cappella de Boschi, und wenn man den linken Weg nimmt, braucht man etwa ein Stündchen.«

»Und nach rechts?«

»Da kommt man nach Pian d’Albero, wo man die Partisanen von Potente umgebracht hat. Auch von dort kommt man nach Poggio. Aber immer zu Fuß. Die Wege sind sehr schlecht.«

»Danke.« Casini zündete sich eine Zigarette an und dachte wieder an seine Wanderung mit Botta. Ohne es zu wissen, waren sie ganz nahe an der Leiche des Jungen vorbeigelaufen, aber sie hatten nur Pilze gefunden.

»Kann ich jetzt gehen?«, fragte der Jäger.

»Haben Sie noch etwas Geduld, Sie müssen noch aufs Präsidium, um das Protokoll zu unterschreiben«, sagte der Kommissar. Die Sonne drang nun durch die Baumkronen und verbreitete ihren goldenen Schein zwischen den dunklen Stämmen. Ein Pfiff des Sarden ließ Casini zu ihm hinüberblicken, und Piras machte ihn auf zwei Männer aufmerksam, die zwischen den Bäumen näher kamen. Tapinassi und Diotivede.

Der Gerichtsarzt grüßte sie mit einem leichten Heben des Kinns und eilte direkt zur Leiche des Kindes. Sobald Topinassi den toten Jungen sah, blieb er wie angewurzelt stehen, sein Gesicht war bleich wie ein Laken. Er verharrte ein paar Sekunden mit offenem Mund, dann wandte er sich ab.

Diotivede öffnete seine Tasche, holte ein Handtuch hervor und breitete es neben der Leiche aus. Er zog sehr sorgfältig Latexhandschuhe über, kniete sich auf das Handtuch und beugte sich dann über den Jungen, um ihn zu untersuchen; dabei berührte er ihn an mehreren Stellen. Nichts an seinem Gesichtsausdruck ließ erkennen, dass nur wenige Zentimeter unter seiner Nase ein schier unerträglicher Gestank aufstieg. Er drehte den Körper auf den Rücken und tastete ihn weiter ab, wobei er ihn aufmerksam musterte. Piras und der Kommissar standen ein paar Schritte neben ihm und warteten ungeduldig darauf, etwas zu erfahren.

Kurz darauf stand der Arzt wieder auf. Er legte die Handschuhe und das Handtuch in eine Plastiktüte und steckte sie in seine Tasche. Plötzlich hatte er sein schwarzes Notizbuch in der Hand. Er schrieb etwas hinein und ließ es dann wieder in seiner Tasche verschwinden. Casini ging zu ihm.

»Erwürgt?«

»Nicht nur das …«

»Wie meinst du das?«

»Zuerst wurde er missbraucht«, sagte der Arzt. Casini sah zu Piras hinüber.

»Seit wie vielen Tagen ist er tot?«, fragte er.

»Auf den ersten Blick drei oder vier.«

»Ich hoffe, du irrst dich. Ich will mir nicht vorstellen, dass er die ganze Zeit in den Händen eines Ungeheuers gewesen ist.«

»Wer weiß, was er alles durchgemacht hat«, sagte der Gerichtsmediziner finster. Er wäre auch gleichmütig geblieben, wenn er an sich selbst eine Autopsie durchgeführt hätte, aber tote Kinder schlugen ihm aufs Gemüt. Casini zündete sich eine Zigarette an.

»Kannst du mir noch etwas sagen?«

»Du musst die Autopsie abwarten.«

»Gehst du gleich wieder?«

»Ich bleibe noch einen Moment … Gib mir mal eine Zigarette«, sagte Diotivede. Der Kommissar hatte ihn nur bei ganz seltenen Gelegenheiten rauchen gesehen, und jedes Mal kam es ihm irgendwie merkwürdig vor. Er hielt ihm das Päckchen hin und gab ihm Feuer. Der Arzt nahm einen tiefen Zug und stieg nachdenklich weiter den Hügel hinauf, während die Tasche an seiner Seite baumelte. Casini ging zu Calosi und Tapinassi, die bleicher waren als der tote Junge.

»Ruft im Leichenschauhaus an, sie sollen einen Wagen schicken, und nehmt den armen Kerl hier gleich mit«, sagte er und deutete auf den Jäger.

»Und der Hund?«, fragte Tapinassi.

»Den nehmt ihr auch mit, das ist am einfachsten.«

»Ja, Dottore.« Calosi und Tapinassi gaben dem Jäger ein Zeichen und machten sich dann, gefolgt von dem Hund, an den Abstieg.

Piras hatte sich den Fotoapparat geben lassen. Nachdem er noch ein paar Aufnahmen gemacht hatte, blieb er stehen und starrte die Leiche des Jungen an, mit einem Blick, der einer sardischen Blutfehde würdig gewesen wäre. Die Stadt war weit weg. Die Stadt, aus der der Junge spurlos verschwunden war. Endlich waren sie einen Schritt weiter: Sie hatten die Leiche gefunden, aber wenn sich jetzt nicht Neues ergab, waren sie erneut an einem toten Punkt angelangt.

Der Kommissar schaute sich nach Diotivede um. Er sah ihn etwa fünfzig Meter weiter oben reglos zwischen den Bäumen stehen, wo er mit vor der Brust verschränkten Armen und der Tasche in der Hand ins Leere starrte. Er stand da, als würde er für einen Bildhauer posieren. Langsam ging der Kommissar zu ihm.

»Jetzt brauchen wir ein Quäntchen Glück«, sagte er.

»Hoffen wir, dass nicht dasselbe passiert wie vor zwei Jahren …«, meinte der Arzt leise. Im Frühling 1964 waren vier Mädchen umgebracht worden, ehe man den Täter dingfest machen konnte. Diese Monate waren die Hölle gewesen.

Hoch oben in den Bäumen hörte man einen Vogel krächzen, und alle sahen hinauf, um ihn zu entdecken.

»Gib mir noch eine Zigarette«, grummelte Diotivede. Der Kommissar zündete sich auch noch eine an und ließ das Streichholz auf den Boden fallen. Zwischen den Blättern schaute ein großer Pilz hervor. Vielleicht war es ja ein Steinpilz.

Nachdem er sich gemeinsam mit Inzipone den Journalisten gestellt hatte, zog sich Casini mit Piras in sein Büro zurück. Es war schon fast vier Uhr, und sie hatten noch nichts gegessen.

Casini fuhr sich langsam mit der Hand über das Gesicht, in dem schon wieder die Bartstoppeln sprossen, und dachte darüber nach, was für einen Vormittag er hinter sich hatte. Gegen elf war er in die Via Barbacane aufgebrochen, um mit den Eltern des Jungen zu sprechen. Er hatte allein dorthin gewollt. Er hatte gesehen, wie Giacomos Mutter wie ein leerer Sack in sich zusammenfiel, und war ihr mit ihrem Mann zu Hilfe gekommen. Die Vergewaltigung hatte er nicht erwähnt, das war nicht nötig. Er war eine gute halbe Stunde bei den Pellissaris geblieben. Bevor er aufgebrochen war, hatte er ihnen noch ganz banal geschworen, dass er den Mörder fassen würde, um den beiden unglücklichen Menschen etwas zu geben, woran sie sich klammern konnten. Aber als er die Via Barbacane wieder hinunterging, war er sich wie ein Lügner vorgekommen.

Der Polizeipräsident hatte Gift und Galle gespuckt und Casini unter vier Augen zusammengestaucht, er solle sich gefälligst anstrengen. Als ob er bislang nur Däumchen gedreht hätte, verdammt noch mal. Er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Giacomo war hastig in einer nicht besonders tiefen Mulde verscharrt worden. Wer das getan hatte, hatte nicht darauf gehofft, die Leiche für immer verschwinden zu lassen, er wollte sie bloß loswerden. Vielleicht war es besser, dass der Junge tot war. Was wäre das denn für ein Leben gewesen, nach so einer traumatischen Erfahrung?

Am Fundort hatte der Kommissar lange mit Piras in einem Umkreis von etwa fünfzig Metern rund um die Leiche nach irgendwelchen Spuren gesucht, aber bis auf ein paar leere Patronenhülsen hatten sie nichts gefunden. Zu allem Unglück hatte es beinahe die ganze Woche geregnet, und die dicke Schicht welker Blätter erleichterte die Suche auch nicht gerade.

Schon vor einer Weile hatte Casini einige Streifenwagen nach La Panca geschickt, um die Einwohner zu befragen und um zu überprüfen, ob man die anderen Wege wirklich nicht befahren konnte. Vielleicht hatte der Jäger ja übertrieben.

Er hoffte, dass irgendein Zeuge etwas Wichtiges gesehen hatte oder dass Diotivede etwas finden würde, was eine Wende in dem Fall brächte. Er hoffte es, aber im Grunde glaubte er nicht daran.

»Lass mich eine rauchen, Piras.«

»Kann ich ein Fenster aufmachen?«

»Mach, was du willst, aber lass mich jetzt rauchen.« Er zündete sich eine Zigarette an, während der Sarde die Fensterflügel weit aufriss, als ob es Juli wäre. Es hatte wieder angefangen zu regnen.

»Wir werden das schon hinkriegen, Commissario.«

»Nicht einmal in deinem Alter war ich so optimistisch.«

»Ich habe das im Gefühl …«

»Wir bräuchten einen Wahrsager«, sagte der Kommissar, und bei diesen Worten kam ihm wieder Amelia in den Sinn. Morgen früh … hatte die Kartenlegerin gesagt, ehe sie in Schweigen versank. Um sich abzulenken, erzählte er seinem Assistenten das Erlebnis mit den Tarotkarten, und Piras gestattete sich ein Lächeln.

»Als ich ein kleiner Junge war, gab es in Bonarcado eine Art Hexe. Man erzählte sich, dass sie jemanden aus großer Entfernung töten konnte, und wenn ich sie auf der Straße sah, bekam ich weiche Knie.«

Durch das offene Fenster kamen immer wieder feuchte Windböen herein.

»Ich würde gern etwas versuchen, Piras.«

»Was denn?«

»Erzählst du es auch bestimmt nicht weiter?«

»Ich schwöre es, Dottore.«

»Ich möchte mich noch einmal mit dieser Wahrsagerin unterhalten«, sagte Casini.

»In unserer Lage ist es jeden Versuch wert …«

»Vielen Dank für dein Verständnis.« Der Kommissar nahm den Telefonhörer ab und wählte Rosas Nummer in der Hoffnung, sie zu Hause anzutreffen.

»Hallo?«, antwortete Rosa nach dem zehnten Klingeln.

»Hallo Rosa, ich bin’s.«

»Oh, heilige Jungfrau Maria, ich habe das mit dem Kind im Radio gehört … Was für eine schlimme Geschichte!«

»Rosa, wie kann ich Amelia finden?«, unterbrach Casini sie.

»Sie hatte es vorhergesehen. Erinnerst du dich, was sie gesagt hat?«

»Wie kann ich sie finden, Rosa?«

»O Gott, ich kann gar nicht klar denken … der arme kleine Giacomo.«

»Rosa, sag mir jetzt bitte, wo ich Signora Amelia finden kann.«

»Wer kann nur so etwas Schreckliches getan haben?«

»Rosa, hörst du mich?« Endlich gelang es ihm, doch zu ihr durchzudringen, und er wiederholte, dass er so schnell wie möglich mit Amelia sprechen wollte.

»Ich kann versuchen, sie anzurufen«, sagte Rosa und legte auf. Casini und der Sarde warteten schweigend, nur ab und zu schauten sie einander an. Als das Telefon klingelte, schreckten sie beide zusammen. Es war Diotivede.

»Ich kann dir alles bestätigen: Der Verwesungsprozess hat höchstens vor drei Tagen eingesetzt. Tod durch Erwürgen, und davor wurde er missbraucht … Aber es war nicht nur ein Täter«, sagte der Arzt. Casini spürte einen Stich in der Magengegend.

»Wie viele?«, fragte er und versuchte, ruhig zu bleiben.

»Es waren mindestens drei. Und frag nicht, ob ich mir da sicher bin.«

»Warum sagst du mindestens? Normalerweise bist du genauer.« Casini sah zu Piras hinüber. Der Gerichtsarzt seufzte laut, bevor er ihm antwortete.

»Wenn man die Spermaspuren untersucht, kann man die Blutgruppe bestimmen, und im Darmtrakt des Opfers habe ich drei verschiedene entnehmen können. Aber wenn ihn zehn Männer mit derselben Blutgruppe vergewaltigt hätten, würde man auch nur eine einzige feststellen können. Deswegen habe ich mindestens gesagt …«

»Mindestens drei haben ihn vergewaltigt«, sagte Casini zu Piras und bedeckte dabei kurz die Sprechmuschel. Der Sarde schüttelte angewidert den Kopf.

»Noch etwas?«, fragte der Kommissar Diotivede.

»Eine Abschürfung an der Stirn, ein Hämatom am Knie, eine tiefe Wunde am rechten Schenkel, die ihm nach dem Tod beigebracht wurde und sicher von dem Spaten stammt, mit dem man ihn begraben hat. Unter den Fingernägeln habe ich Teppichfasern und eine beträchtliche Menge Verputz gefunden, als ob er mit den Händen an einer Mauer gekratzt hätte.«

»Kann das nicht bei ihm zu Hause passiert sein?«

»Sicher … wenn sein Vater ein Werwolf ist.«

»Was willst du damit sagen?«

»Nur große Angst kann solche Spuren erklären. Seine Fingernägel waren gesplittert.«

»Wie in den Gaskammern …«, meinte Casini leise. Er erinnerte sich noch an die Filme von Auschwitz, wo man an der geschwärzten Mauer die Kratzspuren der sterbenden Juden sehen konnte.

»Das Beste kommt noch.« Diotivede seufzte.

»Sag schon.«

»Er hat deutliche Spuren von Morphin im Blut.«

»Sie haben ihn unter Drogen gesetzt …«

»Das habe ich gerade gesagt.«

»Entschuldige, ich habe mit Piras gesprochen.«

»Das war alles«, sagte der Arzt.

»Wenn wir wenigstens wüssten, in welchem Haus wir nach Kratzspuren suchen sollen …«

»Ich schicke dir den Bericht noch im Lauf des Tages vorbei.«

»Wir sollten davon besser nichts gegenüber der Presse oder irgendjemand anderem verlauten lassen.«

»Von hier erfährt niemand etwas, es sei denn, die Toten fangen plötzlich zu reden an«, sagte der Arzt. Sie verabschiedeten sich mit einer Art Grunzen, und Casini ließ den Hörer auf die Gabel fallen.

»So ein verdammter Mist …«, flüsterte er und presste die Hände auf die Augen. Er wiederholte Piras alles, was er von dem Gerichtsmediziner erfahren hatte, einschließlich der Sache mit der Samenflüssigkeit und den Blutgruppen.

»Eine Bande von Perversen«, stieß der Sarde nachdenklich zwischen den Zähnen hervor. War es einfacher, einen verrückten Einzeltäter zu finden oder eine Gruppe von Wüstlingen? Er wusste es nicht. Der Kommissar drückte seine Kippe im Aschenbecher aus, er war enttäuscht.

»Das alles bringt doch nichts, wenn wir keinen Verdächtigen haben.«

»Vielleicht finden wir ihn ja«, sagte Piras, um sich selbst Mut zuzusprechen.

»Mach bitte das Fenster zu.« Casini ertrug es nicht mehr, wie ihm die feuchte Luft unter die Kleider fuhr. Der Sarde stand auf, und in dem Moment klingelte erneut das Telefon. Seufzend hob der Kommissar ab.

»Ja?«

»Bei dir war immer besetzt«, sagte Rosa.

»Hast du mit Amelia gesprochen?«

»Sie will dich auf keinen Fall sehen, aber ich konnte sie überreden, mit dir zu telefonieren.« Sie diktierte ihm die Nummer. Den ersten beiden Zahlen nach musste Amelia in der Gegend von San Gervasio wohnen. Der Kommissar dankte Rosa und legte auf. Obwohl er inzwischen keine Lust mehr dazu hatte, rief er Amelia sofort an. Er sagte ihr, dass der Junge tot aufgefunden worden war, und hörte sie aufseufzen.

»War es das, was Sie in den Karten gesehen haben?«

»Ja …«, sagte Amelia eingeschüchtert. Etwas verlegen fragte Casini sie, ob sie bereit wäre, in dieser Sache noch einmal die Karten zu befragen, um zu sehen, ob sich dabei etwas Nützliches für die Ermittlungen zeigen würde.

»Dottore, entschuldigen Sie bitte, aber vielleicht haben Sie nicht verstanden, was Tarot eigentlich ist«, sagte die Wahrsagerin mit matter Stimme.

»Es war ja nur ein Versuch …«

»Die Karten können nicht den Namen des Mörders verraten. Sie sehen nur das, was demjenigen zustoßen wird, der direkt vor mir sitzt.«

»Vielleicht könnte ich ja erfahren, ob es mir gelingt, den Schuldigen zu verhaften«, sagte Casini verlegen, weil Piras ihn beobachtete.

»Was geschehen soll, wird geschehen«, meinte die Wahrsagerin leise.

»Eben, vielleicht könnten Sie …«

»Ich bitte Sie, Dottore«, unterbrach ihn Amelia fast unhörbar.

»Wie Sie wollen, entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie belästigt habe.«

»Ich kann Ihnen nicht helfen, glauben Sie mir.«

»Trotzdem vielen Dank.« Casini legte auf und lehnte sich zurück. In wenigen Worten schilderte er dem Sarden, was Amelia ihm gesagt hatte. Er fühlte sich erleichtert. Auch wenn er einen Moment lang der Versuchung nachgegeben hatte, konnte er immer noch nicht so recht an die Weissagungen von Tarotkarten glauben.

»Hoffen wir, dass in La Panca etwas herauskommt«, sagte er, ohne wirklich daran zu glauben. Genau in diesem Augenblick klopfte es an der Tür. Es war Rinaldi mit den ersten Ergebnissen. Die Waldwege waren sorgfältig untersucht worden: Wenn man mit dem Auto nach Monte Scalari gelangen wollte, musste man auf jeden Fall über La Panca fahren. Auf den anderen Wegen gab es große Gesteinsbrocken, tiefe Löcher, zu scharfe Kurven und andere Hindernisse, so dass man selbst mit einem Jeep aus dem Krieg Schwierigkeiten hätte durchzukommen.

»Und sonst?«

»Nichts Neues, Dottore«, sagte Rinaldi so betrübt, als ob es seine Schuld wäre.

»Du kannst gehen, danke.« Der Kommissar seufzte. Rinaldi salutierte zum Abschied. Es wurde schon Abend, und von draußen hörte man wieder das Rauschen eines Platzregens.

»Und was zum Henker sollen wir jetzt tun?« Casini zog sich nervös am Ohrläppchen.

Am nächsten Morgen verließ Casini das Haus vor acht Uhr, um nach La Panca zu fahren. Er hatte das dringende Bedürfnis, noch einmal dorthin zurückzukehren, selbst wenn er sicher war, dass es nichts bringen würde. Er ertrug es nicht, untätig hinter einem Schreibtisch zu sitzen und die Wand anzustarren, diese Ohnmacht lastete auf ihm wie eine große Schuld.

Der Kommissar machte an der Porta Romana Halt, um sich eine Ausgabe von »La Nazione« zu kaufen.

MISSBRAUCHT UND ERWÜRGT

Kleiner Giacomo tot aufgefunden

Er warf die Zeitung auf den Beifahrersitz, fuhr weiter und ging in Gedanken noch einmal die Protokolle der Streifenbeamten durch, die die Einwohner von La Panca, Cintoia Alto und Monte Scalari befragt hatten. Sie lauteten alle in etwa gleich: Keiner hatte etwas Auffälliges bemerkt. Außerdem gab es oben auf dem Hügel mehrere bewohnte Häuser, darunter auch die Abtei, und die Wälder dieser Gegend wurden auch gern von Jägern und Pilzsammlern aufgesucht. Es war daher völlig normal, dass man zu jeder Tages- und Nachtzeit Autos vorbeifahren hörte, keiner achtete mehr darauf. Die einzig neuen Informationen kamen von Diotivede, und die waren im Moment nutzlos.

Als er in La Panca ankam, war seine Stimmung im Keller. Während er mit dem Auto den Weg hinauffuhr, bemerkte er, dass er keine Zigaretten mehr hatte, und knurrte mit zusammengebissenen Zähnen einen Fluch. Nach einigen Kurven parkte er den Käfer an derselben breiten Stelle wie am Vortag. Er öffnete das Handschuhfach, um nachzusehen, ob dort nicht zufällig noch eine Zigarette läge, aber er fand bloß eine kleine Dose Tabù, und als er mit dem Finger draufklopfte, fielen ihm noch ein paar Krümelchen Lakritzbonbon in den Mund.

Er zog wieder seine festen Schuhe an und machte sich langsam auf den Weg zum Fundort der Leiche, wobei ihm völlig bewusst war, dass er dabei nur seine Zeit verschwendete. Vom regennassen Boden stieg ein penetranter Modergeruch auf, und ein feuchter Windhauch strich ihm über das Gesicht. In der Stille des Waldes hörte man nichts als das Zwitschern der Vögel, das Geräusch seiner Schritte und ab und zu weit entfernt einen Schuss. Hoch oben zeichneten sich die Äste der Bäume vor einem verwaschenen, bleichen Himmel ab, und die Sonne malte Lichtflecke auf den Teppich aus moderndem Laub.

Keuchend ging er vorwärts und stellte sich vor, dass jeden Moment hinter einem Baumstamm ein Deutscher hervorspringen und auf ihn schießen könnte. Das war ihm in den Wäldern der Abruzzen tatsächlich passiert, als er nordwärts durch Italien zog, um die Nazis in den Hintern zu treten. Und als er wieder in den Kampf zog, hatte er in den Schaft seines Gewehrs die elfte Kerbe geschnitzt. Da wusste er noch nicht, dass er in den folgenden Monaten weitere sechzehn anbringen würde. Er bereute nicht, dass er getötet hatte, in diesen Momenten konnte er gar nicht anders handeln. Aber es waren dennoch keine angenehmen Erinnerungen. Da kam ihm in den Sinn, wie traurig ein Kamerad von der Legion San Marco gewesen war, der es sich nicht verzeihen konnte, grundlos einen Nazi umgebracht zu haben. Bei einem recht heftigen Feuergefecht hatte er diesen großen Deutschen bemerkt, der auf ihn zukam, und instinktiv hatte er ihn mit einer Salve niedergemäht. Einen Moment später erkannte er, dass er gerade einen verwundeten Mann durchlöchert hatte. Das ließ ihm keine Ruhe mehr, als ob er einen Unschuldigen getötet hätte …

Schon aus der Ferne erkannte Casini die Mulde, in der der Junge verscharrt worden war, und er presste die Zähne zusammen. Er erreichte den Fundort und blieb vor der umgegrabenen Erde stehen. Er hatte noch den nackten kleinen Fuß vor Augen, der aus dem Erdreich ragte, die schlammverkrustete Leiche, die Würmer, die sich in den leeren Augenhöhlen wanden. Etwas weiter weg hörte er einen Baumstamm im Wind knarren, und in diesem Moment kam es ihm wie das traurigste Geräusch auf der ganzen Welt vor. Casini machte sich daran, den Boden abzusuchen, und schob mit den Füßen das Laub beiseite, um doch noch irgendetwas zu finden. Er sah allerdings nur die üblichen Patronenhülsen und einige kümmerliche Pilze. Hier vergeudete er nur nutzlos seine Zeit, aber was konnte er sonst tun? Sich in seinem Büro den Hintern platt sitzen?

Er entfernte sich in immer größeren Kreisen von der Mulde und untersuchte aufmerksam jede Handbreit Boden. Trotz allem hoffte er immer noch. Es war eine vollkommen unlogische Illusion, aber ihm blieb nichts anderes. Im Grunde verlangte er doch nicht viel, verflucht noch mal. Ein Knopf, eine Zigarettenkippe, ein abgebranntes Streichholz würde ihm schon genügen …

Nach einer Stunde hörte er auf, rund um die Mulde seine Bahnen zu ziehen, und drang weiter in den Wald vor. Seine Hoffnung war verflogen, und seine Suche war zu einer einsamen Wanderung geworden. Er wollte nur noch ein wenig die friedliche Stille genießen. Während er vorwärtslief, nahmen seine Augen die Schönheit in sich auf. Er hatte nicht einmal mehr das Verlangen nach einer Zigarette. Im Wald fühlte er sich wohl. Das war ihm erst während des Pilzesammelns mit Botta klar geworden. Er sollte öfter mal eine Wanderung in die Hügel machen. Das schönste Gefühl dabei war, wie die Gedanken ungewohnte Wege beschritten oder man sogar ganz aufhörte zu denken. Er sah, wie zwischen den dunklen Baumstämmen ein dicker Hase blitzschnell auftauchte und ins dichte Unterholz flüchtete. Für den Moment war das Tier gerettet, aber bald würde ein Jäger es erschießen und es würde im Kochtopf enden, damit man aus ihm ein leckeres Nudelgericht mit Pappardelle zaubern konnte.

Er lief weiter, atmete tief durch und verlor sich in Erinnerungen. Hin und wieder hörte er einen Schuss aus dem fernen Tal. Als er den Abhang hinunterlief, traf er auf einmal wieder auf den Waldweg. Er war sich ziemlich sicher, dass er zurück zu seinem Auto kam, wenn er dem Pfad nach rechts folgte, daher wählte er die entgegengesetzte Richtung. Die erdverkrusteten Schuhe erinnerten ihn an die Märsche, als er mit der Legion San Marco unterwegs war, an die schmerzenden Blasen von damals und an den Schweiß, der die Uniform durchtränkte. Er hatte das Gefühl, er könnte noch die deftigen Flüche von Mosti hören, einem Mann wie ein Kleiderschrank aus Massa, der die ganze Marschiererei hasste. Wenn Casini ihn dann erinnerte, dass er ohne den Krieg noch im Gefängnis schmoren würde, grinste der Riese nur.

Er kam zu einer kleinen Kapelle, die an einer Weggabelung errichtet worden war. Das musste die Abzweigung sein, von der der Jäger gesprochen hatte: Links ging es nach Poggio alla Croce, rechts nach Pian d’Albero. Er entschied sich für rechts und lief langsam weiter, den Kopf voll weit zurückliegender Erinnerungen. Ein leichter Wind fuhr durch die Zweige und ließ sie hin und her wogen, dass die Blätter herunterfielen, und erfüllte die Luft mit einem friedvollen Geruch nach Tod. Hin und wieder zweigte jetzt ein kleiner Pfad ab, der sich zwischen den Bäumen verlor.

Auf dem Hügel vor ihm konnte er hinter dem dichten Pflanzenwuchs ein verlassenes Haus mit zerbrochenen Fensterläden und halb eingestürztem Dach erkennen. Im Chianti-Gebiet gab es inzwischen immer mehr davon. Das Grauen vor dem Landleben trieb die jungen Leute in die Stadt, wo sie nach einem weniger mühevollen und abwechslungsreicheren Dasein suchten.

Plötzlich fand er sich auf einem steilen Pfad, auf dem in unregelmäßigen Abständen große Gesteinsbrocken lagen. Der Jäger hatte recht: Wenn man hier mit einem Auto entlangfuhr, würde es einem die Ölwanne abreißen. Rechts von ihm öffnete sich auf einmal die Aussicht auf ein weites Tal, und er blieb stehen, um sie zu bewundern. Wolken türmten sich über der dunklen Silhouette der Hügel wie ein Wall auf und bedeckten den Himmel. Fasziniert verfolgte Casini einen Falken, der in weiten Kreisen flog, ehe er herabstürzte und verschwand.

Wie lange man wohl bis nach Pian d’Albero brauchte? Casini kannte die Geschichte von den Nazis, die im Juni 1944 dort Partisanen und unschuldige Zivilisten niedergemetzelt hatten, aber er hatte noch nie den Schauplatz dieses Massakers gesehen. Er folgte dem Pfad noch ein paar Kilometer, dann beschloss er umzukehren. Nach Pian d’Albero würde er ein anderes Mal gehen, wenn er mehr Zeit hatte.

Gemächlich lief er vorwärts und genoss diese Momente der Einsamkeit. Wieder kam er an der kleinen Kapelle vorbei und folgte dem Pfad, der nach La Panca führte. Die keineswegs leblose Stille des Waldes entspannte ihn. Dies war nicht der Wald voller tödlicher Hinterhalte aus dem Krieg.

Ein kurzes Stück ging es auf einem mit alten Steinen gepflasterten Weg wieder nach oben, und nach einer Biegung entdeckte er hinter dichtem Gestrüpp die Ecke eines alten Steingebäudes. Das musste die Abtei Monte Scalari sein. Als er den Pfad weiterlief, verschwand die Abtei wieder hinter den Bäumen, und nach etwa hundert Schritten tauchte vor ihm ein Tabernakel aus grauem Sandstein auf, dessen Nische leer war. Die Amseln flatterten von den Brombeerbüschen auf, verbargen sich im Unterholz und stießen Warnrufe aus.

Casini blieb vor dem Tabernakel stehen. Links von ihm fiel ein schmaler und steiniger Pfad steil nach unten ins Tal ab. Wie viel Elend mochte sich in diesen Wäldern abgespielt haben? Auf dem grauen Sandstein des Tabernakels war oben eine Inschrift eingraviert: Omne Movet Urna Nomen Orat. Er versuchte, sie zu übersetzen, und kramte dafür sein altes Schullatein hervor. Jeder. Bewegt. Gefäß. Namen. Bete. Was zum Teufel sollte das heißen? Er gab es auf, den Sinn des Satzes zu verstehen, und lief weiter. Nach ein paar Schritten stand er vor der Abtei, einem riesigen Bau, der schwer an der Last der Jahrhunderte trug. Hier und da klafften Scharten, die man in den Sandstein geschlagen hatte, und eine Art kleiner Turm erhob sich auf der Mauer beim Hauptportal. Er stellte sich große Säle vor, in denen Geister spukten, riesige Kamine und Fresken mit Heiligenlegenden. An einer breiteren Stelle des Weges parkte ein dicker Peugeot mit schlammverkrusteten Kotflügeln. Wer wohl an einem so einsam gelegenen Ort lebte? Doch wer auch immer es war, Casini beneidete ihn. Ihm hätte es gefallen, in einer solchen Festung zu leben, weit weg von der Stadt und den Menschen. Vielleicht zusammen mit einer liebenden Frau, ganz gleich, ob sie nun blond oder dunkelhaarig war.

Nun sollte er aber mit der Tagträumerei aufhören und mit beiden Beinen auf den Boden der Tatsachen zurückkehren. Wie viele Jahre spielte er schon mit dem Gedanken, eines Tages aufs Land zu ziehen? Er musste sich nur entscheiden. Viel fehlte nicht mehr bis zu seiner Pensionierung, und er wollte seine letzten Lebensjahre gern damit verbringen, einen Gemüsegarten zu pflegen und Oliven zu ernten. Ein verlassenes Haus mit einem kleinen Stück Land sollte nicht die Welt kosten. Wenn er seine Wohnung im Viertel San Frediano verkaufen würde, könnte er sich leicht eines leisten und es wieder herrichten. Während er weiterlief, versprach er sich: Wenn er die Mörder von Giacomo Pellissari gefunden hatte, würde er sich auf die Suche nach einem alten Landhaus machen.

In diese Gedanken versunken suchte er wieder mit den Augen den Boden ab. Jetzt hätte er gern eine geraucht. Da bemerkte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung, drehte sich um und sah gerade noch, wie ein Kopf hinter dem Hochplateau verschwand. Wer zum Teufel konnte das sein? Er lief so schnell den Hang hinauf, dass er seinen Herzschlag in den Ohren dröhnen hörte. Oben entdeckte er einen buckligen Mann, der sich schnell zwischen den Bäumen entfernte. Er lief ihm hinterher und rief dabei, er solle stehen bleiben. Zunächst beschleunigte der Mann seinen Schritt, als ob er flüchten wollte, doch nach einem weiteren Ruf des Kommissars blieb er stehen und drehte sich um. Als Casini ihn erreichte, sah er einen alten Mann mit einem Korb voller Pilze in der Hand, der ihn misstrauisch anstarrte.

»Polizei …«, keuchte der Kommissar und legte sich eine Hand an die Brust. Der Alte starrte ihn immer noch an. Er hatte ein langgezogenes, eingefallenes Gesicht, in das sich tiefe Furchen der Erschöpfung gegraben hatten, und strohiges Haar.

»Warum sind Sie nicht stehen geblieben?«, fragte Casini und wusste, dass dies eine dumme Frage war. Der Alte zuckte mit den Schultern.

»Wer in die Pilze geht, muss schweigen können«, sagte der Mann todernst.

»Ich wollte Sie bloß fragen, ob Sie eine Zigarette hätten.«

»Ich rauche nicht. Kann ich jetzt gehen?«

»Sicher, entschuldigen Sie bitte …«, murmelte Casini. Der Alte drehte sich um und ging. Casini sah ihm nach, bis er hinter den Kastanienbäumen verschwand. Einen Moment später wirkte es so, als hätte es ihn nie gegeben.

Der Kommissar kehrte entmutigt auf den Weg zurück. Er bat im Geiste Gott oder den Zufall, ihn etwas finden zu lassen, und gab sogar ein Versprechen ab: Wenn er etwas fand, und sei es auch nur eine Wäscheklammer oder ein Knopf, würde er weniger rauchen. Er vermied die Option, komplett aufhören zu müssen, aus Angst, dass er dann sein Versprechen nicht halten könnte. Aber schon weniger zu rauchen war für ihn eine große Sache: In der ersten Woche würde er nur zehn pro Tag rauchen, in der nächsten dann nur noch fünf … Er vergnügte sich mit diesen Gedankenspielen wie ein kleiner Junge und schämte sich ein wenig dafür.

Casini lief unter den dicken Zweigen einer mächtigen Eiche hindurch – um ihren Stamm zu umfassen, hätte man mindestens drei Mann gebraucht. Darunter hatte jemand aus Fels- und Ziegelsteinen eine winzige Kapelle errichtet, und er fragte sich, warum. Als er hineinsah, entdeckte er eine kleine Madonna mit sieben Schwertern in der Brust, die von Laienhand gemalt worden war. Er lief den Weg weiter nach unten, und kurz hinter einer Kurve tauchte sein Käfer vor ihm auf. Seine Waldwanderung war zu Ende. Der Spaziergang hatte nichts erbracht, also konnte er weiter so viel rauchen, wie er wollte. Er hatte schon den Schlüssel in die Wagentür gesteckt, um wegzufahren, als er es sich plötzlich anders überlegte. Von einer letzten Hoffnung getrieben, lief er zu Fuß nach La Panca und kam sich dabei vor wie ein Schiffbrüchiger, der in der Hoffnung auf irgendein Lebenszeichen zum wiederholten Mal die einsame Insel absuchte, auf die es ihn verschlagen hatte. Im Grunde war es nur eine Ausrede, um noch nicht in sein Büro zurückkehren zu müssen, wo er sich nur wie ein Raubtier in einem Käfig vorkommen würde.

Häufig verließ er den Weg, drang zwischen die Bäume vor und ließ den Blick über das Blättermeer schweifen. Patronenhülsen, nichts als Patronenhülsen. Manchmal ein undeutlicher Schuhabdruck oder verwischte Reifenspuren im Schlamm. Spuren, die ihn jedoch nicht weiterbrachten. Es gab viele Leute, die hier in die Wälder gingen.

Nach einem kurzen Anstieg gelangte er auf eine große Ebene, wo hohe Pinien wuchsen. Er blieb ein paar Minuten stehen und schaute sich um, verzaubert von dem Frieden dort, dann beschloss er, dass es endgültig Zeit war umzukehren. Mit hängenden Schultern ging er zum Käfer zurück, als er auf einmal ein leises Wimmern hörte. Er blieb stehen, um herauszufinden, woher es kam. Anscheinend von dort hinter den Brombeerbüschen am Wegrand. Als er sich über die Büsche beugte, blieb seine Kleidung an den Dornen hängen, aber er konnte ein kleines schwarz-weißes Tier erkennen, das unsicher durch das Farnkraut tapste und wie ein Vögelchen piepste. Im ersten Augenblick dachte er an ein Elsterküken, das aus dem Nest geflogen war, auch wenn jetzt nicht die passende Jahreszeit dafür war … Dann erkannte er, dass es ein winziges Kätzchen war, nass und schlammverschmiert. Es miaute verzweifelt. Vielleicht war es zu früh nach dem letzten Säugen aufgewacht und hatte den sicheren Schlupfwinkel verlassen, ehe seine Mutter zurückgekehrt war. Er betrachtete einen Moment lang die kleine Fellkugel, die jammerte und auf ihren Pfötchen hin und her schwankte, und überlegte, was er tun sollte. Schließlich ging er um den Brombeerbusch herum auf das Tierchen zu, während er sich umsah, ob nicht irgendwo die Katzenmutter zu sehen war. Beinahe wäre er auf die toten Körper von drei weiteren Kätzchen getreten. Sie wiesen keine Verletzungen auf, also waren sie wohl verhungert. Vor noch nicht allzu langer Zeit, höchstens einem Tag.

Er bückte sich gerade nach dem lebenden Kätzchen, als er etwas weiter entfernt ein zusammengefaltetes Stück Papier entdeckte, das unter den Blättern hervorsah. Er rannte darauf zu, als hätte er einen Klumpen Gold gefunden. Es war eine vom Regen durchnässte und schon halb verblasste Telefonrechnung. Doch man konnte, wenn auch mit Mühe, noch die Anschrift lesen: Metzgerei Panerai, Livio Panerai, Viale dei Mille 11/r Florenz. Die Rechnung war sieben Tage zuvor bezahlt worden. Er biss sich auf die Lippen. Der Viale dei Mille war in der Nähe der Gegend, in der man den Jungen zum letzten Mal gesehen hatte. Nur ein Zufall? Er musste die Ruhe bewahren, dieses Stückchen Papier bedeutete noch gar nichts. Jemand hatte eine Rechnung im Wald verloren, es hatte keinen Sinn, ihr zu viel Bedeutung beizumessen … Doch er hatte wieder Hoffnung geschöpft.

Casini steckte die Rechnung ein und kehrte zu dem Kätzchen zurück, das immer noch jammerte. Als er es aufhob, beruhigte es sich sofort und schlief beinahe in seiner wärmenden Hand ein.

Dann ging er zu seinem Wagen und trocknete dort das Kätzchen mit einem Taschentuch ab. Er faltete die Zeitung zu einer Art Korb zusammen und legte es dort hinein. Er hatte den Motor noch nicht gestartet, als es wieder zu maunzen anfing, wenn auch nicht mehr so verzweifelt wie vorher. Das Kätzchen schien deutlich ruhiger geworden zu sein. Dafür war nun Casini in Aufregung. Er wendete und fuhr nach La Panca zurück. Dabei schaute er immer wieder zur Seite, aus Sorge, das Kätzchen könne vom Sitz fallen.

»Krümelchen!« Rosa stieß einen spitzen Schrei aus, als sie das Kätzchen sah.

»Du hast schon einen Namen gefunden?«, fragte Casini und reichte ihr das Tierchen.

»Siehst du denn nicht, dass die Kleine ein Gesicht hat wie ein Krümelchen?«

»Vielleicht ist es ja ein Kater?«

»Von Katzen verstehst du noch weniger als von Frauen … Du bist ein kleines Mädchen, stimmt’s, Krümelchen?«, meinte Rosa, hielt das Kätzchen in den Händen und strich mit ihrer Nase über das Köpfchen.

»Frauen verstehen nichts von Männern, so ist das«, brummte Casini und folgte Rosa in die Küche.

»Die Ärmste, sie hat ein entzündetes Auge.«

»Ist bestimmt von einem Dorn. Ich habe sie mitten im Brombeergestrüpp gefunden.«

»Gedeone, schau mal, wer hier ist«, sagte Rosa und setzte das Kätzchen auf dem Boden vor dem fetten weißen Kater ab. Gedeone beschnupperte den Eindringling verblüfft einige Sekunden lang. Er lief um das kleine Ding herum, das sich kaum auf den Beinen halten konnte, und versetzte ihm einen Pfotenhieb, dass es über den Boden rollte.

»Was machst du denn da, Gedeone! Böser Kater!«, schrie Rosa und nahm das Kätzchen hoch.

»Er hat begriffen, dass er jetzt nicht mehr das Lieblingsschmusetier im Haus sein wird.«

»Armes Krümelchen, wer weiß, wie lange es nichts mehr gefressen hat … Ich muss sofort den Tierarzt anrufen! Wenn sie so klein sind, kommen sie oft nicht durch«, sagte Rosa und ging Richtung Flur.

»Ich lasse sie in guten Händen«, meinte der Kommissar und folgte ihr. Rosa fand die Nummer im Telefonverzeichnis. Bevor der Tierarzt sich meldete, verabschiedete sich Casini, indem er ihr einen Luftkuss zuwarf, und verließ die Wohnung.

Während er die Treppe hinunterging, holte er die Telefonrechnung aus der Tasche, die er im Wald gefunden hatte. Wäre dieses kläglich miauende Kätzchen nicht gewesen, hätte er den Zettel nie entdeckt, und er hoffte, dass dies ein Wink des Schicksals war. Wieder las er den Namen des Teilnehmers: Metzgerei Panerai. Anrufe für 3.235 Lire. Ihm lief ein Schauer über den Rücken, als er die Rechnung in die Tasche zurücksteckte, obwohl der Metzger sie auch bei der Jagd oder beim Pilzesammeln verloren haben konnte. Das war kein konkreter Beweis, aber in dieser absoluten Dunkelheit zumindest ein Hoffnungsschimmer.

Casini kehrte ins Präsidium zurück in dem Wissen, dass er mit beinahe leeren Händen kam, aber trotzdem gelang es ihm nicht, seine Aufregung zu dämpfen. Er sagte Mugnai, er solle sofort Piras für ihn suchen, und ging hinauf in sein Büro. Dort ließ er sich auf seinen Stuhl fallen, zündete sich eine Zigarette an und versuchte, sich auf diese Weise zu beruhigen. Er starrte die Telefonrechnung an, als sähe er sie zum ersten Mal. Sie war vor sieben Tagen bezahlt worden, aber wer weiß, wann sie jemand verloren hatte. Das ließ sich nur schwer herausfinden. Und dann war es auch nicht gesagt, dass Livio Panerai sie persönlich bezahlt hatte. Vielleicht war ja sein Schwiegervater aufs Postamt gegangen, ein Freund oder ein Lehrling. Und wenn wirklich er selbst das Kind verscharrt hatte? Vielleicht hatte er die Rechnung verloren, als er ein Taschentuch herausholte, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, und der Wind hatte sie fortgeweht …

Er hörte, wie ein Auto mit quietschenden Reifen und heulender Sirene losfuhr, doch es interessierte ihn nicht, was vorgefallen war. Er konzentrierte sich auf die Telefonrechnung, untersuchte sie aufmerksam, als stünde irgendwo als Geheimcode der Name des Mörders darauf.

Schließlich schaute er auf und betrachtete durch das Fenster den Himmel. In Ermangelung echter Beweise hatte er nun mindestens drei Möglichkeiten: den Frontalangriff, das Spinnennetz und das Schlüsselloch. Aber was war die beste Strategie? Der Frontalangriff hatte einen großen Vorteil: den Überraschungseffekt. Man nagelte den mutmaßlichen Täter mit präzisen Beschuldigungen fest und hoffte, dass er zusammenbrach. Also ein Bluff nach allen Regeln der Kunst, aber wenn er schiefging, war es wie beim Pokern: Man verlor alles. Das Spinnennetz war eine Fleißarbeit, bei der man versuchte, den Verdächtigen mit ständigen vagen Unterstellungen weichzukochen. Natürlich funktionierte das nicht immer und hing allein vom Nervenkostüm des Verdächtigen ab. Man durfte es dabei nicht eilig haben und musste vor allem ein guter Schauspieler sein. Das Schlüsselloch war ebenfalls eine langwierige Operation, die Geduld und Geschicklichkeit erforderte. Überwachung, Beschattung, ständige Kontrollen. Und wenn man die richtige Person im Visier hatte, kam früher oder später etwas ans Licht. Das war die aufwendigste Methode, aber auch die sicherste. Man lauerte im Verborgenen, bis der Betreffende einen falschen Schritt machte …

Als es an der Tür klopfte, schreckte Casini zusammen. Es war der Sarde, seine Augen waren von Müdigkeit umschattet. Er humpelte zu einem Stuhl und rümpfte die Nase über den stinkenden Qualm, der sich im Raum staute. Casini bemerkte es, ging aber nicht darauf ein. Er zeigte Piras die Telefonrechnung. Dann erzählte er ihm von seinem Spaziergang im Wald, dem Kätzchen und alles Übrige. Schließlich legte er Piras die drei Möglichkeiten dar, die ihnen jetzt blieben.

»Was würdest du tun?«, fragte er, obwohl er schon eine klare Vorstellung im Kopf hatte. Der Sarde biss sich auf die Lippe, bevor er etwas sagte.

»Die Wahrscheinlichkeit, dass der Mörder diese Telefonrechnung verloren hat, ist sehr gering, nein, sogar verschwindend gering. Aber es ist nicht unmöglich, außerdem ist es das Einzige, was wir haben. Das Beste ist, wir wählen die Methode Schlüsselloch und hoffen auf Glück.«

»Ich bin deiner Meinung«, sagte Casini und qualmte aus dem Mund wie Godzilla. Der Sarde wedelte mit einer Hand in der Luft, um den Rauch zu vertreiben, dann ging er, ohne um Erlaubnis gefragt zu haben, zum Fenster und öffnete es.

»Wollten Sie nicht mit dem Rauchen aufhören, Commissario?«

»Das will ich schon, seitdem ich damit angefangen habe, Piras.«

»Aber jetzt zwingen Sie mich mitzurauchen.«

»Ich möchte sehen, was er für ein Typ ist.« Casini stand auf.

»Wer?«

»Der Metzger.«

»Ich begleite Sie, wenn Sie gestatten«, sagte der Sarde und humpelte in Richtung Tür. Wer weiß, wie lange er noch so laufen musste. Aber im Grunde hatte er Glück gehabt, denn die Räuber hatten auf ihn geschossen, um ihn zu töten.

Sie stiegen in Casinis Käfer und fuhren los. Es war gerade mal elf Uhr, und auf der Straße sah man fast ausschließlich Frauen, die zum Einkaufen unterwegs waren. Hinter der Cavalcavia delle Cure bogen sie in den Viale delle Mille ein. Der Kommissar hatte sich eine nicht angezündete Zigarette zwischen die Lippen geklemmt und zog daran, als würde sie brennen. Ganz in der Nähe, im Viale Volta, stand das Haus, in dem er aufgewachsen war. Die Metzgerei Panerai kannte er nicht. Vielleicht hatte es sie zu seiner Zeit dort noch nicht gegeben, oder sie war ihm einfach nie aufgefallen. Seine Mutter hatte das Fleisch immer in der Via Passavanti gekauft.

Sie fuhren beinahe den ganzen Viale entlang und behielten die Hausnummern im Auge. Als sie fast schon das Fußballstadion erreicht hatten, entdeckten sie endlich Nummer 11/r. Metzgerei Panerai – Geflügel, Kaninchen, Wild. Sie fuhren daran vorbei und parkten vor Scheggi, dem bekanntesten Feinkostladen im Viertel.

»Wollen wir uns danach ein belegtes Brötchen kaufen?«, fragte Casini.

»Warum nicht«, antwortete der Sarde.

»Warte hier auf mich.« Der Kommissar stieg aus dem Wagen und lief auf die Metzgerei zu. Auf dem Bürgersteig begegnete er einer hübschen jungen Frau mit kastanienbraunen Haaren und einem wirklich kurzen Rock, ihr Gesichtsausdruck schwankte zwischen Sanftheit und Arroganz. Er ermahnte sich, sich nicht nach ihr umzudrehen, denn es schien ihm nicht der passende Zeitpunkt. Doch der Ruf der Natur war stärker, und schließlich drehte er sich doch für einen kurzen Moment um … und der genügte, um ihn zum Seufzen zu bringen. Er verscheuchte das Bild vor seinen Augen und betrat die Metzgerei. Ein heller, sauberer Laden, in dem ein Kruzifix an der Wand hing und eine Menge schönes, blutiges Fleisch. Der Metzger musste um die vierzig sein. Er war fett, hatte einen kantigen Schädel, helle Augen und das typische Lächeln eines Kaufmanns. Sein Kopf war glänzend und kahl bis auf zwei Haarbüschel an den Schläfen, und der Mann fuhr sich ständig mit der Zunge über die Lippen. Der Kommissar empfand eine instinktive Abneigung gegen diesen Fettwanst, der wie ein Aufschneider wirkte, aber das war noch lange kein Schuldbeweis. Im Gegenteil, er hatte nicht selten höchst sympathische Mörder kennengelernt und Unschuldige, die völlig unerträglich waren.

Zwei Kunden waren im Laden, eine reiche Signora im Pelzmantel mit zahllosen Armreifen und ein kräftiger Mann mit einer Riesennase und tiefliegenden Augen. Die Frau war ebenso anspruchsvoll wie unentschlossen. Sie brauchte eine Menge Zeit, um die Ware auszuwählen. Der Metzger bewies eine Eselsgeduld und ließ sich keine Gelegenheit für eine zweideutige Bemerkung entgehen, woraufhin die Signora zwar mit gutbürgerlicher Reserviertheit, aber dennoch sichtlich amüsiert lächelte.

Der Kommissar beobachtete den Metzger und versuchte herauszufinden, wem er ähnlich sah. Schließlich kam er darauf: Der Metzger glich Göring. Wäre er nicht kahl gewesen, hätte er dessen Zwillingsbruder sein können. Casini beobachtete Panerais Bewegungen, den Blick, sein Mienenspiel … Der Mann wirkte wie der perfekte Triebtäter auf ihn, fähig zu vergewaltigen und zu töten. Aber er kannte nur zu gut die Macht der Einbildung. Um sich von jedem Vorurteil zu lösen, versuchte er sich vorzustellen, irgendeine Autoritätsperson hätte ihm gesagt, Panerai sei Wissenschaftler. Und schon sah er ihn genau so. Er stellte sich vor, dass jemand den Mann als geisteskrank beschrieb, und der Metzger verwandelte sich in einen Verrückten, der ungelenke Bewegungen ausführte. Casini fuhr mit dem Gedankenspiel fort und stellte sich den Metzger als Mäzen, Wucherer, Buchhalter vor und als Dirigenten … Ein sinnloser Zeitvertreib, den er ewig hätte fortsetzen können.

Die Frau im Pelz gab schließlich ihre Unentschlossenheit auf und verkündete, was sie wollte. Daraufhin warf der Metzger ein großes Stück Fleisch auf das Brett, als wäre es ein eben getöteter Feind, und bearbeitete es mit dem Messer.

»Liebe, die den Geliebten zwingt zu lieben …«, deklamierte er Dante und spitzte die Lippen. Die Signora zitterte ergriffen. Ohne mit der Wimper zu zucken, bezahlte sie eine stolze Summe und ging, wobei sie fast angewidert das Päckchen mit dem Fleisch trug.

»Was darf’s denn für Sie sein?«, fragte der Metzger und sah Casini an.

»War der Herr nicht vor mir?«, fragte der Kommissar und deutete auf den Kunden neben ihm.

»Bitte sehr, ich habe es nicht eilig«, sagte der Mann.

»Sehr freundlich. Ich möchte ein schönes Steak für den Rost«, meinte Casini zu Panerai und betrachtete die in der Kühltheke ausgebreiteten Fleischstücke. Er dachte schon daran, wie er das Steak zu Totò bringen und es dort am Abend essen würde.

»Das da ist Chianina-Rind«, erklärte der Metzger und legte einen wunderbaren Fleischbrocken auf das Hackbrett. Er nahm zwei große Messer, rieb sie mit geübten Gesten aneinander und versenkte dann die Klinge des einen im Fleisch.

»Es ist Pilzzeit«, warf der Kommissar ein, wie man sich unterhält, wenn man im Laden warten muss. Er wollte herausfinden, ob der Metzger noch aus anderen Gründen in die Hügel ging, außer um eine Leiche zu verscharren.

»Für den, der sie zu finden weiß«, sagte der Metzger und nahm das Beil, um den Knochen durchzuhacken. Im gleichen Moment tauchte aus dem rückwärtigen Teil des Ladens ein beinahe durchsichtiges altes Männchen auf, das mit einem Bein schon im Grab zu stehen schien. Es wirkte unterwürfig und so sanft wie ein Großvater aus dem Märchen, was nicht zu seinem blutbefleckten Kittel passen wollte. Der Metzger warf ihm einen harten Blick zu.

»Bist du schon fertig?«

»Ja«, flüsterte der Alte verschüchtert.

»Dann steh hier nicht herum und leg die Hände in den Schoß, kümmere dich lieber um das Schwein … Bist du immer noch hier?«, sagte er, stolz auf seine Machtposition.

Der Alte verschwand, ohne aufzumucken. Casini konnte sich sehr gut vorstellen, was für ein erbärmliches Leben er führte. All die Zeit, die er damit verbrachte, mit blutverschmierten Händen tote Tiere zu zerteilen, und ihn erfüllte tiefes Mitleid.

»Vor ein paar Tagen habe ich in Poggio alla Croce eine Menge Steinpilze gefunden«, prahlte er, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen.

»Entweder sind Sie kein Pilzsammler oder Sie tischen mir hier Märchen auf«, meinte der Metzger nun wieder lächelnd und ließ das Hackbeil auf den Knochen niedersausen, den er beim ersten Hieb spaltete. Er konnte mit Messern eindeutig gut umgehen.

»Ich schwöre, dass ich welche gefunden habe«, beharrte Casini, um ihn aus der Reserve zu locken.

»Wer Pilze findet, erzählt nie, wo er sie gefunden hat«, sagte der Metzger und schüttelte freundlich den Kopf.

»Es waren so viele, dass ich mich entschlossen habe, großzügig zu sein«, rechtfertigte sich der Kommissar, da er begriff, dass er einen Fauxpas begangen hatte.

»Es sind nie genug«, brummte der Metzger.

»Haben Sie denn welche gefunden?«

»Ganz wenige.«

»Und wo?«

»Dort oben im Wald«, sagte der Metzger mit einem kleinen Lächeln und warf dem Kunden, der es nicht eilig hatte, einen kurzen Blick zu.

»Ich habe meine Lektion gelernt, von jetzt an werde ich mein Geheimnis für mich behalten«, sagte Casini und breitete die Arme aus.

»Weise Worte …«, meinte der Metzger. Er sammelte zweifellos Pilze, daher war es völlig normal, dass er in den Wäldern unterwegs war. Er konnte die Telefonrechnung verloren haben, während er sich bückte, um einen Steinpilz aufzuheben.

»Sehen Sie, was für ein Prachtstück!«, sagte der Metzger, hob das Steak hoch und ließ es auf die Waage fallen.

»Wie viel macht das?«

»Machen wir es rund: Tausendsiebenhundert …«, antwortete Panerai und wickelte das Fleisch ein. Casini zahlte und ging zum Wagen zurück.

»Magst du immer noch ein Brötchen essen, Piras?«

»Was für ein Typ ist der Metzger?«, fragte ihn der Sarde.

»Ein Fettwanst mit Glatze, der wie Göring aussieht«, sagte der Kommissar und warf das Steak auf den Rücksitz.

»Klingt sympathisch«, meinte Piras.

»Ein Pilzsammler …« Enttäuscht schüttelte der Kommissar den Kopf. Sie betraten das Feinkostgeschäft Scheggi. Dort hatte sich eine kleine Schlange gebildet, und sie mussten warten. Als sie an die Reihe kamen, bestellten sie zwei belegte Brötchen, Casini eins mit Fenchelsalami und Piras mit Mortadella. Sie bissen sofort mit sichtlichem Genuss hinein. Als sie wieder in Casinis Käfer saßen, bemerkte der Kommissar auf dem Bürgersteig den Kunden, der ihn in der Metzgerei vorgelassen hatte. Er hinkte ein wenig und zuckte bei jedem zweiten Schritt mit dem Kopf. Casini folgte ihm zerstreut mit den Augen, und ihn beschlich dabei das vage Gefühl, dass er etwas übersah.

»Was ist los, Commissario?«, fragte ihn der Sarde.

»Nichts …«

»Sagen Sie mir nicht, dass ich so hinke wie der da.«

»Aber nein, im Vergleich zu dem bewegst du dich wie ein Tänzer«, meinte Casini und ließ den Motor an.

Giacomos Leiche war der Familie übergeben worden, und die Trauerfeier war für den folgenden Morgen in der Kirche von Fiesole angesetzt. Casini hatte mit dem Gedanken gespielt hinzugehen, doch dann war er zu dem Schluss gekommen, dass das keine gute Idee war. Er rief Signora Pellissinari an, um ihr noch einmal sein Beileid auszusprechen, aber vor allem, um sich zu erkundigen, in welcher Metzgerei sie einkaufte. Sie antwortete brav, dass sie zu Manzoni an der Piazza Edison ging, ein wenig verblüfft über diese seltsame Frage. Casini versicherte ihr, dass die Ermittlungen weitergeführt würden, und überließ sie ihrer Trauer.

Der Metzger wurde jetzt rund um die Uhr beschattet. Er konnte keinen Schritt unbeobachtet tun. Die Beamten im Funkraum hatten alle Telefonnummern, unter denen sie den Kommissar erreichen konnten: Wohnung, Trattoria, Rosa. Sie hatten den Befehl, ihn bei wichtigen Neuigkeiten zu jeder Tages- und Nachtzeit anzurufen. Man brachte ihm nach jeder Schicht einen detaillierten Bericht über Panerais Tagesablauf. Der Kommissar ließ keine Gelegenheit aus, um den Polizisten einzubläuen, sie sollten sehr vorsichtig sein, öfter den Wagen wechseln und nie zu nahe an den Metzger herankommen. Der durfte nichts merken, selbst wenn dies bedeutete, dass man ihn während der Beschattung aus den Augen verlieren würde.

Es gab nicht viele Informationen über Livio Panerai. Er war vierundvierzig Jahre alt, Sohn von Oreste Panerai, einem unbescholtenen Metzger, der sieben Jahre zuvor gestorben war, und von Adelina Cianfi, die noch lebte und in der Via del Ponte alle Riffe wohnte. Er hatte eine ganz normale Vergangenheit: faschistische Jugendorganisation, später Anhänger der Italienischen Sozialrepublik, aber anscheinend mit ziemlich reiner Weste. Seit Kriegsende gab es keine Anzeichen für politische Aktivitäten. Er war mit der Metzgerei zu Wohlstand gekommen. Vor fünf Jahren hatte er sich eine Erdgeschosswohnung in einem dreistöckigen Wohnhaus in der Via del Palmerino gekauft. 1948 hatte er Cesira Batacchi geheiratet, und sie hatten eine siebzehnjährige Tochter, Fiorenza, die das Liceo Dante besuchte. Keine Vorstrafen. Ein arbeitsamer Mensch. Ein ordentlicher Waffenschein für Jagdwaffen. Ein dunkelgrauer Lancia Flavia und ein cremefarbener Fiat 850, mit dem er zur Arbeit fuhr. Sein Tagesablauf war unauffällig. Er teilte sein Leben zwischen Zuhause und Geschäft auf. Nur ab und zu gab es eine kleine Änderung im Plan. Eines Morgens war er vor Öffnung des Ladens zum Postamt gegangen, um eine Rechnung zu bezahlen. Bis zum Beweis des Gegenteils hatte also wirklich er die Telefonrechnung verloren. An einem Nachmittag hatte er seinen Laden zehn Minuten früher geschlossen, um in der Waffenhandlung in Ponte di Pino einige Schachteln Munition zu kaufen. Am Sonntag war er mit der ganzen Familie bei seiner Mutter zum Mittagessen gewesen. Nach dem Abendessen blieb er fast immer zu Hause, allerdings lud der ständige Regen auch nicht gerade zum Ausgehen ein. In einer Woche war er nur einmal abends mit seiner Frau ins Cinema Aurora gegangen, um sich dort »Die unglaublichen Abenteuer des hochwohllöblichen Ritters Branca Leone« anzusehen. Das war alles.

Also ein gutmütiger Kerl, der perfekte Unschuldige. Doch Casini wollte nicht auf die einzige Spur verzichten, die er hatte, und ließ ihn weiter überwachen. Er hatte nicht einmal versucht, die Erlaubnis zum Abhören seines Telefons zu erhalten, denn er wusste, dass Dottore Ginzillo dies nie genehmigen würde: Commissario Casini, erklären Sie mir das bitte, damit ich es verstehe! Sie möchten die Privatsphäre eines freien Bürgers der Republik Italien verletzen, und das wegen einer Telefonrechnung? Die Sie wo gefunden haben? Zweihundert Meter vom Fundort der Leiche entfernt! Was soll ich sagen, sind Sie verrückt geworden? Dafür würde man ganz andere Beweise brauchen, mein lieber Commissario … So ungefähr hätte dieses Rattengesicht sich ausgedrückt. Nicht aus Überzeugung, nur aus Angst vor Schwierigkeiten.

Inzipone wurde immer nervöser und gab sich keine Mühe, es zu verbergen. Er plagte Casini mit sinnlosen Anrufen, sagte ständig das Gleiche. Haben Sie die Zeitungen gelesen? Worauf zum Teufel warten Sie noch? Warum schlafen Sie?

Der Kommissar wartete geduldig, dass sich bei den Beschattungen etwas Neues ergeben würde, doch je mehr Tage und Stunden vergingen, desto mehr schwand seine Hoffnung. Auch Jack the Ripper hatte man nie gefunden und mit ihm viele andere. Und wenn diese Monster wieder zuschlagen würden?

Während der langen Zeit des Wartens musste sich Casini eines Morgens mit einem neuen Selbstmord beschäftigen. Ein junges Mädchen aus einfachen Verhältnissen hatte sich mit dem Gürtel ihres Morgenrocks in einem Luxusapartment, das ihr gehörte, im Zentrum aufgehängt. Die Putzfrau hatte ihre Leiche am Morgen nach ihrem Tod gefunden. Die Mutter des Mädchens sagte weinend, Matilde hätte sich niemals umgebracht, sie müsse ganz sicher ermordet worden sein. Sie war aus allen Wolken gefallen, hatte nichts von der Wohnung gewusst und fragte sich, wie ihre Tochter sich diese mit dem Geld, das sie als Verkäuferin im Kaufhaus UPIM verdiente, hatte leisten können. Nicht einmal Casini blickte da durch, und er machte sich an die Arbeit. Doch dann hatte er ziemlich leicht herausgefunden, was passiert war. Das Mädchen hatte drei Monate zuvor gekündigt und war die Geliebte eines sechzigjährigen Unternehmers aus Prato geworden. Casini suchte ihn auf, und der Mann gab sein Verhältnis mit dem Mädchen sofort zu. Er erklärte, er sei zutiefst betrübt. Und er machte kein Geheimnis daraus, wie viel Geld er für die junge Frau ausgegeben hatte. Er hatte ihr die Wohnung geschenkt und bezahlte sogar eine Putzfrau. Der Unternehmer appellierte an Casinis Solidarität unter Männern und bat ihn, die Sache nicht an die Presse zu geben. Der Kommissar konnte förmlich riechen, dass da etwas nicht stimmte. Er forderte den Mann auf, ihn aufs Präsidium zu begleiten, und setzte ihn dort unter Druck. Nach einer knappen Stunde Verhör legte der Unternehmer ein Geständnis ab: Während eines heftigen Streits mit dem Mädchen war es zu Handgreiflichkeiten gekommen. Die junge Frau war gestürzt, mit dem Kopf gegen die Tischkante gefallen und gestorben. Panikerfüllt hatte er sie an dem Gürtel aufgehängt, um einen Selbstmord vorzutäuschen. Aber er hatte nicht vorgehabt, sie zu töten, es war ein Unfall gewesen …

»Sie war nicht tot«, sagte Casini.

»Wie?«

»Als sie aufgehängt wurde, war das Mädchen noch am Leben.«

»Das ist nicht wahr … das kann nicht sein …«, stotterte der Unternehmer und schwankte auf seinem Stuhl.

»Lesen Sie den Autopsiebericht.« Casini reichte ihm Diotivedes Bericht: Das Mädchen war erstickt. Der Schlag auf den Kopf war nicht schwer gewesen, er hatte nur eine Bewusstlosigkeit verursacht.

Der Unternehmer blieb einige Momente mit offenem Mund und aufgerissenen Augen sitzen und brach schließlich in Tränen aus. Casini übergab ihn an zwei Polizisten und ließ ihn ins Gefängnis Le Murate überführen. Dort würde er nicht lange bleiben, so viel Geld wie er hatte. Wie auch immer, der Fall war schnell geklärt. Aber der Tod dieses Jungen … Verflucht noch mal.

»Lassen Sie sich verwöhnen, Commissario«, sagte Totò. Lasagne, Bratwürste und Bohnen, die übliche Flasche Rotwein und Gespräche über Gott und die Welt, angefangen von Politik bis hin zu den Frauen. Der Koch erwähnte nur einmal den Fall des ermordeten Jungen, und Casini gelang es, schnell das Thema zu wechseln.

Nach dem Abendessen fuhr er langsam nach Hause zurück, dabei stießen ihm die fetten Bratwürste auf. Er parkte den Käfer, doch sobald er den Schlüssel ins Schloss der Haustür steckte, hielt er inne. Die Vorstellung, allein vor dem Fernseher zu sitzen, zu rauchen und zu trinken, machte ihn melancholisch, und er überlegte, ob er nicht lieber ins Zentrum laufen und sich einen Film ansehen sollte. Bis zur Spätvorstellung blieb ihm noch eine halbe Stunde. Er machte sich, eine Zigarette zwischen die Lippen geklemmt, auf den Weg und war entschlossen, sie nicht anzuzünden. Um sich vor dem unangenehmen Nieselregen zu schützen, der weiterhin ohne Unterlass fiel, hielt er sich dicht an den Hauswänden. Von den dunklen Fassaden hoben sich die Fenster als leuchtende Rechtecke ab, hinter denen das zuckende bläuliche Licht der Fernseher zu erkennen war. Hin und wieder kam ein dunkler Schatten auf dem Bürgersteig an ihm vorbei, und zwei Augen funkelten in der Dunkelheit.

Im Cinema Eolo wurde »Drei Bruchpiloten in Paris« gezeigt, aber an diesem Abend mochte er keine Komödie sehen. Er kam an der Bar von Gusmano vorbei, wie immer war sie gefüllt mit alten Männern, die Karten spielten, eine Korbflasche auf dem Tisch. Einige trugen noch ihre Arbeitskleidung. Ein paar Jungs standen um einen Flipperautomaten herum und verfolgten gebannt die Sprünge der kleinen Stahlkugel.

Als Casini in die Via di Santo Spirito einbog, tauchte in seiner Erinnerung eine Frau auf, Milena, eine wunderschöne junge Jüdin, die ihn um den Verstand gebracht hatte. Sie war Mitglied der Weißen Taube, einer Organisation, die Jagd auf ehemalige Nazis machte, die den Nürnberger Prozessen entkommen waren, und hatte ihn verlassen, um ihre Arbeit fortzusetzen. Er hatte keine Ahnung, wo sie sich jetzt aufhielt, was sie gerade tat und ob sie manchmal an den alten Kommissar dachte, der ihretwegen den Kopf verloren hatte. Ohne es zu bemerken, zündete er sich nun doch die Zigarette an und sog ihren Rauch tief ein. Er wollte nicht an die Frauen denken, die er verloren hatte, sondern an die, die noch kommen sollten … Falls dies geschehen würde. In seinem Alter war es nicht mehr so leicht, eine Frau für sich zu interessieren. Es war sein Unglück, dass er 1910 geboren war. In seiner Jugend hatte man es nicht leicht gehabt, eine echte Beziehung zu führen, solange man keine freizügige Frau fand oder heiratete, und jetzt, da wesentlich mehr sexuelle Freiheit herrschte, hatte er fast zweimal dreißig Jahre auf dem Buckel.

Oben aus einem Wohnhaus ertönte krächzend die Melodie eines alten Tangos. Casini krampfte es das Herz zusammen. Das erste Mal hatte er dieses Lied zu Zeiten des Duce gehört, und das schien ihm jetzt hundert Jahre her zu sein. In diesem Augenblick wirkte der Krieg genauso weit entfernt, fast wie ein Traum. Andere Male fühlte er ihn auf sich lasten, als wäre seither nur ein Tag vergangen. Doch jetzt wollte er nicht an den Krieg denken …

Er überquerte den Ponte Santa Trinita, in der Hoffnung, einen Film zu finden, der zu seiner Stimmung passte. Im Zentrum war viel los. Fußgänger, Radfahrer, Leute auf Motorrollern, in Autos, Gruppen von jungen Leuten, Pärchen, Ehepaare – alle in der guten Stube der Stadt unterwegs. In der Via degli Strozzi staute sich der Verkehr. Die Autoschlange kam nur im Schritttempo vorwärts, und die Luft stank nach Abgasen. Die vielen Menschen stimmten ihn nicht fröhlich, im Gegenteil, sie erinnerten ihn an seine Einsamkeit. Doch es steckte mehr dahinter, er konnte sich selbst nicht belügen: Ihm gefiel dieses Italien nicht. Er liebte es irgendwie, aber es gefiel ihm nicht. Er liebte es trotz allem, aber es gefiel ihm nicht. Dieses verdorbene Italien von vor dem Krieg und das Nachkriegsitalien mit seinen Träumen vom Wohlstand. Das Italien mit seinen Menschenmassen, die auf der Piazza Venezia den Reden Mussolinis frenetisch zugejubelt hatten und auf dem Piazzale Loreto den Duce und seine Geliebte Clara Petacchi an den Füßen aufgehängt und bestialisch zugerichtet hatten. Vielleicht waren das ja nur die trüben Gedanken eines verbitterten alten Mannes, dachte er und warf seufzend die Kippe weg.

Nun war er auf der Piazza della Repubblica mit ihren protzigen Gebäuden angelangt. Der Platz war voller Autos, elegant gekleideter Männer und Frauen mit kleinen Hüten. Er sah nach, was in den beiden Kinos unter den Arkaden auf dem Programm stand. Im Edison gab es »Schlacht um Algier« und im Gambrinus »Zwei glorreiche Halunken«. Da er dringend Entspannung brauchte, entschied er sich für den Western. Bevor er das Kino betrat, ging er ins Cafè Giubbe Rosse, um im Präsidium anzurufen, und nutzte die Gelegenheit, um vorher noch einen Espresso zu trinken. Dann fragte er Tapinassi, ob es etwas Neues über Panerai gab.

Keine Auffälligkeiten, der Metzger war um acht Uhr vierzig nach Hause gekommen und hatte die Wohnung nicht mehr verlassen.

Während Casini auf das Kino zuging, spielte er mit dem Päckchen Zigaretten in seiner Tasche. Als er die Mitte des Platzes erreicht hatte, kam ihm wie ein Traumbild eine alte Liebe entgegen. Das Ganze war mindestens zehn Jahre her, aber sie sah immer noch wie ein junges Mädchen aus. Sie ging Arm in Arm mit einem hochgewachsenen, vornehm wirkenden, blassen Herrn und kicherte. Ihre Blicke begegneten einander kurz, ihre Pupillen weiteten sich ein wenig, dann ging sie weiter und tat so, als hätte sie ihn nicht gesehen. Casini drehte sich um, um ihr nachzusehen, und mit einem unerwarteten Anflug von Eifersucht fragte er sich, wie eine Frau sich nur so unterschiedliche Männer aussuchen konnte.

Er betrat das Kino und ging zum Rang hinauf, weil er hoffte, dort weniger Leute anzutreffen. Das Licht im Saal war gerade erloschen, und er musste sich anstrengen, in der Dunkelheit einen freien Sitz zu finden, auf den er sich dann keuchend fallen ließ. Ein Frauenparfüm stieg ihm in die Nase, und im Halbdunkel erkannte er das schöne Profil eines jungen Mädchens neben ihm. Das sollte er lieber vergessen, wenn er den Film genießen wollte.

Dann begann die Wochenschau: die neuen Modelle im Autosalon von Turin, lächelnde Filmschauspieler, Motorradrennen, der wirtschaftliche Aufschwung, das schöne Italien, das nach vorn schaute und in einem Wohlstand schwelgte, den es nicht besaß. Auch die Werbung zeigte heile Welten, in denen das Leben bequem und fröhlich war, alle Frauen wunderschön waren und alle Familien glücklich. So musste man ein armes Land regieren, indem man es zum Träumen brachte.

Schließlich begann der Film, und bei den Zweikämpfen und Schießereien gelang es Casini endlich abzuschalten. Dann endete der erste Teil. Sobald die Lichter angingen, erhob sich im Kino ein gedämpftes Gemurmel. Der Kommissar wandte sich dem jungen Mädchen zu. Es war schön, hatte dunkle Haare und ein hübsches kleines Näschen, was ihn automatisch an die Worte der Wahrsagerin Amelia erinnerte: »Sehr bald werden Sie eine junge dunkelhaarige Signorina kennenlernen …«

Neben ihr saß noch eine junge Frau mit kastanienbraunen Locken. Beide trugen schwindelerregend kurze Miniröcke. Casini betrachtete weiter verstohlen die Dunkelhaarige, deren kokettes Gesicht ihn anzog. Plötzlich drehte sie sich um und sah ihn einen Moment an. Ihre Augen waren wunderschön, und in ihnen brannte ein boshaftes, kindliches Feuer. Dann wandte das Mädchen den Blick ab und flüsterte seiner Freundin etwas ins Ohr. Er sah, wie sie kicherten, und errötete bei dem Gedanken, sie könnten sich über ihn lustig machen. Als der Eisverkäufer, ein kleines Männchen mit einem Bauchladen, erschien, war das für Casini eine Erleichterung. Er kaufte eine Waffel mit Schokoladeneis, biss genussvoll hinein, als wäre er noch ein kleiner Junge, und versuchte, nicht auf die beiden Mädchen zu achten. Doch ab und zu fiel sein Blick auf ihre nackten Beine, und dann verzehrte er sich in unmöglichen Traumvorstellungen. Er war machtlos dagegen, weibliche Beine hatten immer eine große Wirkung auf ihn ausgeübt. Selbst Fesseln und Füße hatten ihn angezogen. Oft hatte er nach dem Liebesakt bewundernd einen kleinen Fuß beobachtet, der zwischen den Laken hervorsah, bezaubert, als hätte er eine geheimnisvolle archaische Statue vor sich. Manchmal bemerkte es eine Frau, und wenn sie ihn fragte, was er denn betrachtete, wechselte er schnell das Thema, weil er nicht den Mut hatte, ihr die Wahrheit zu gestehen …

Die beiden Mädchen neben ihm mussten reizende kleine Füße haben, wenn er von ihren Händen und den schmalen Fesseln ausging. Am besten dachte er nicht darüber nach. Und um ihn herum saßen noch viele andere Mädchen. Fast alle waren in Begleitung, und man sah leidenschaftliche Küsse. Plötzlich wurde es wieder dunkel, und der zweite Teil begann. Der Film war spannend, und es wurde so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Als der Gute, der auch der Schöne war, in einer Großaufnahme zu sehen war, ging ein Raunen weiblicher Stimmen durch den Raum. Casini sah auf die Leinwand, aber es gelang ihm nicht, das dunkelhaarige Mädchen neben ihm ganz zu vergessen. Er hörte die junge Frau atmen, spürte, wie sie sich leicht in ihrem Sitz bewegte, und manchmal erahnte er unter dem Parfüm den Duft ihres Körpers. Das Mädchen lächelte, und Casini sah seine blendend weißen Zähne in der Dunkelheit aufblitzen. Unvernünftig wie ein kleiner Junge hoffte er, dass die Wahrsagerin recht hatte und sie wirklich die dunkelhaarige Signorina wäre, die ihm das Tarot prophezeit hatte. Verdammt, er schien schon verliebt zu sein. Das geschah immer, wenn er wieder allein war. Er konnte sich in zwei leicht geöffnete Lippen verlieben, in einen Augenaufschlag, in eine nackte Schulter, die er auf der Straße sah. Vielleicht war das sein Geheimrezept, damit er sich nicht so einsam fühlte und nicht aufhörte zu träumen.

Er dachte nicht mehr an die Prophezeiungen der Wahrsagerin und konzentrierte sich auf den Film. Der letzte Zweikampf hielt den ganzen Kinosaal in Atem, obwohl alle erwarteten, dass der Schöne gewinnen würde – und so geschah es auch. Selbst die letzte Szene dominierte er. Er ritt auf seinem Pferd davon, allein, wie Helden es eben sein müssen, mit viel Geld in der Tasche, siegreich und neuen Abenteuern entgegen …

Als das Licht im Saal anging, standen die beiden Mädchen als Erste auf. Casini blieb noch sitzen. Er war enttäuscht. Obwohl er es nicht zugeben wollte, hatte er doch gehofft, dass die beiden Freundinnen nach dem Film sagen würden, er sei ein wunderbarer Mann, und ihn einladen würden, etwas mit ihnen zu trinken. Er war doch nur ein dummer alter Knacker. Seufzend stand er auf und folgte der Menge die Treppen hinunter. Von weitem sah er die beiden Mädchen und versuchte sich seinen Weg durch die Leute zu bahnen, um sie zu erreichen. Er stellte sich vor, wie er sie ansprach, seinen Namen sagte und sie einlud, etwas mit ihm im Giubbe Rosse oder bei Gilli zu trinken.

Als er endlich draußen war, sah er sie gemächlich unter den Arkaden vorwärtsschlendern. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er sie eingeholt hatte. Er drehte sich um, um ihnen ins Gesicht zu sehen, öffnete sogar den Mund, um etwas zu sagen. Doch die Mädchen sahen ihn so verblüfft an, dass er es lieber ließ. Dann entfernte er sich mit langen Schritten und redete sich ein, dass die beiden doch nicht so schön waren. »Der Fuchs und die sauren Trauben« war wirklich eine lehrreiche Fabel.

Es gab Schlimmeres im Leben, sagte er sich immer wieder auf dem Heimweg. Es gab Schlimmeres, als ein Mädchen zu sehen und es ohne Hoffnung zu begehren. Er zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in den Himmel hinauf. Dann überquerte er den Ponte alla Carraia und bog in den Borgo San Frediano ein. Auf der anderen Seite der Straße lehnte der alte Nappa an der Mauer und hustete, spuckte Teile seiner Lunge aus und fluchte mit dem Rest Luft, die ihm blieb. Casini hob nur ein wenig das Kinn, um ihn zu grüßen, und ging weiter. Auf dem Dach eines Fiat 500 kauerte ein riesiger roter Kater, der faul in die Dunkelheit starrte. Das erinnerte ihn an das Kätzchen mit dem schlimmen Auge. Ob es Rosa gelingen würde, es zu retten?

An einer Ecke der Piazza del Carmine diskutierten zwei betrunkene Männer über die wichtigen Themen des Lebens, während sie sich kaum noch aufrecht halten konnten. Casini drehte sich kurz, um von weitem das Haus zu betrachten, in dem vor knapp einem Jahr jemand einen Wucherer getötet hatte, indem er ihm eine Schere in den Hals gerammt hatte. Und in diesem Fall hatte sich Casini leicht in den Mörder hineinversetzen können …

Schließlich war er zu Hause. Dort stellte er sich unter die heiße Dusche und hatte den Eindruck, dass unter dem Wasserstrahl eine Tonne Traurigkeit von ihm abfiel. Er ging zu Bett und löschte das Licht. Obwohl er todmüde war, konnte er nicht schlafen. Wirre Erinnerungen fluteten sanft seinen Kopf und nahmen ihn mit sich auf eine nostalgische Reise in die Vergangenheit. Langsam erhob sich aus diesem ganzen Sumpf ein klares Bild, das wie ein Ungeheuer aus den ruhigen Wassern eines Sees auftauchte …

Eines Tages waren er und Molin gemeinsam in den Abruzzen auf Patrouille gegangen. Um sie herrschte Stille, die gleiche Stille wie in vielen anderen kleinen Dörfern, durch die sie nach dem Waffenstillstand gezogen waren, wenn sie hinter geschlossenen Fensterläden die misstrauischen Blicke der Frauen und der alten Leute spürten, die von allen genug hatten, egal ob Italiener, Amerikaner oder Deutsche, und sich nur noch wünschten, dass wer auch kam, möglichst schnell wieder verschwand.

Sie gingen zu Fuß bis nach Torricella Peligna hinauf, einem kleinen Weiler aus einigen Steinhäusern auf einem Gipfel gegenüber dem Majellamassiv. Molin kam aus dem Veneto und war ein riesiger Kerl, eigentlich herzensgut, aber sein Anblick konnte einem Angst einflößen. Sein breites, flaches Gesicht war alles andere als vertrauenerweckend. Wenn er einen Bauernhof betrat und nach einem Stück Speck und ein wenig Käse fragte, schrien die Frauen auf und versteckten sich eilig.

Es war Anfang Juni. Sie hatten gerade den Widerstand am Monte Cassino überwunden und einen hohen Preis dafür bezahlt; es hatte Zehntausende Tote gegeben. In dieser Höhe war die Luft frisch und kühl, doch der Aufstieg brachte ihr Blut in Wallung. Sie waren nassgeschwitzt und stanken. Der größte Teil der Wehrmacht stand nicht weit entfernt, und die Gassen zu beiden Seiten der Hauptstraße waren ein verworrenes Labyrinth, wie gemacht zum Versteckspielen. Mit schussbereitem Gewehr gingen sie langsam durch die menschenleeren Gassen vorwärts, schauten hinter jede Ecke und behielten die Fenster im Auge. Im Weiler schien alles ruhig zu sein, doch der äußere Schein trog meistens. Plötzlich flogen vier Stukas laut knatternd im Tiefflug über das Dorf. Casini und Molin drückten sich gegen eine Hauswand. Mit der Luftwaffe war nicht zu spaßen. Sie liefen erst weiter, als die Flugzeuge verschwunden waren, doch der plötzliche Lärm hatte sie nervös gemacht.

Sie gingen gerade durch ein verwinkeltes Sträßchen, als es plötzlich nach Essen roch. Beide wechselten einen vielsagenden Blick. Sie hatten Hunger. Nicht nur einfach Hunger. Es war dieser Wunsch, endlich etwas anderes auf der Zunge zu schmecken als Schiffszwieback und Dosenfleisch. Sie hätten eine Hand für eine gekochte Kartoffel oder ein Spiegelei gegeben und ein Auge für eine Bratwurst. Molin war der geborene Flucher. Von drei Worten, die aus seinem Mund kamen, waren zwei Schimpfwörter. Manchmal war es nicht leicht, ihm zu folgen, denn wenn er sich krampfhaft bemühte, die Flüche aus seinen Reden zu verbannen, verlor er den Faden. Und an diesem Tag regte er sich über den Hunger auf.

»Ich krieg diesen Dreck von den Alliierten nicht mehr runter, Heiliger Duce. Für eine Schweineschwarte würde ich sogar dieses alte Schwein Badoglio auf den Mund küssen! Und wenn ich eine Henne sehe, dann mach ich sie mit dem Maschinengewehr nieder, verfluchte Faschisten!« Casini gab ihm ein Zeichen, er solle leiser reden, und Molin senkte seine Stimme. Es war niemand auf der Straße. Die einzigen Geräusche kamen von den Riegeln und den Fenstern, die sich schlossen, wenn sie vorbeikamen.

»Für wen führen wir eigentlich diesen Krieg, Molin?«, meinte Casini niedergeschlagen. Der Mann aus dem Veneto spuckte auf den Boden und wischte sich den Mund mit der Hand ab. Er schwieg etwa eine Minute, dann zählte er unter einer Unmenge Flüchen die einzelnen Teile des Schweins auf. Jedes Stück, das er nannte, übertrug er in alle ihm bekannten Dialekte. Er war gerade bei der Haxe angekommen, als er ruckartig stehen blieb, die Augen schloss und die Luft tief in sich einsog.

»Heiliger Duce, Comandante, riechen Sie das auch? Das ist gebratenes Fleisch, Himmel, Arsch und Zwirn! Das ist Schweinefleisch …« Casini packte ihn am Arm und wollte ihn weiterziehen, doch dieser Riesenkerl blieb einfach stur stehen wie ein Maulesel. Er atmete die Luft tief durch die Nase ein, so heftig, als sollte seine Lunge platzen, als würde so früher oder später auch das Fleisch in seinen Mund wandern. Auf einmal riss er die Augen auf und brüllte:

»Ich schwöre Ihnen, das ist Schweinefleisch, Nazipack!« Im gleichen Augenblick bemerkte Casini etwa fünfzig Schritt vor ihnen zwei angelehnte Fensterläden, rechts und links, beide im ersten Stock. Zwischen tausend fest verrammelten Fenstern erregten diese beiden, die nur angelehnt waren, sein Misstrauen. Doch ihm blieb nicht mehr die Zeit, etwas zu sagen. Die Fensterläden sprangen auf, und ein Kugelhagel prasselte auf sie ein. Eine Salve schlug knapp oberhalb ihrer Köpfe an die Steinwand. Eine Sekunde später lag Casini schon mit dem Bauch auf dem Boden. Er feuerte eine Salve auf den rechten Fensterladen und sah, wie dessen Latten zu Kleinholz zersplitterten. Die Schüsse hörten auf. Als Casini sich zu Molin umwandte, sah er, dass der immer noch dastand und die kräftig nach Schwein riechende Luft einsog.

»Auf den Boden!«, brüllte er ihn an.

»Das ist Schweinefleisch, Comandante!« Aus beiden Fenstern wurde wieder gefeuert, und zwar heftiger als vorher. Kaum hörte der Beschuss auf, warf sich Casini auf Molin und riss ihn mit sich zu Boden, nur eine Sekunde bevor eine Garbe Kugeln die Brust dieses Gorillas durchschlagen konnte. Dann standen sie auf und rannten so schnell sie konnten talabwärts. Die Geschosse der Deutschen donnerten gegen den Stein der Hauswände wie Spitzhackenschläge und prallten überall ab. In der Luft blieb eine staubige Rauchwolke zurück.

Als sie das Ende des Tals erreichten, dröhnten die Herzschläge in den Ohren, während sie von oben klare, knappe Flüche der Nazis verfolgten. Sobald sie sich im Wald in Sicherheit gebracht hatten, tastete Casini sich ab. An einer Seite tat ihm etwas weh, und er sah einen nassen Fleck auf seiner Uniform. Er strich mit dem Finger darüber und roch an ihm. Das war kein Blut. Der Nazi hatte seine Feldflasche mit Wein getroffen, und das Geschoss war nicht auf der anderen Seite herausgekommen.

»Wenn du so was noch einmal machst, Molin, knalle ich dich höchstpersönlich ab, habe ich mich klar ausgedrückt?«

»Das war Schwein, Comandante, wir müssen dahin zurück.«

»Du bist hier das Schwein«, sagte Casini und gab ihm einen Klaps auf die Schulter.

Molin hatte den Krieg überlebt, doch danach hatte Casini nichts mehr von ihm gehört. Höchstwahrscheinlich war er in sein Dorf zurückgekehrt und wieder Bauer geworden. Wer weiß, ob er sich ebenfalls noch an jenen Morgen in Torricella Peligna erinnerte, an den Duft von Schweinefleisch vom Rost, der ihn beinahe das Leben gekostet hätte.

Es war ein weiterer langer Vormittag, und zumindest in Bezug auf den Metzger gab es nichts Neues. Während der Nacht hatte es natürlich Diebstähle, Raufereien, Familienstreitigkeiten gegeben … die üblichen Vorfälle. In den Büros klapperten die Schreibmaschinen, und es wurde geraucht. Hin und wieder brauste ein Streifenwagen mit quietschenden Reifen vom Hof des Präsidiums. Piras hatte die Nacht bis zum Anbruch des Morgens Panerais Wohnung überwacht und lag jetzt in seinem Bett und schlief. Sein Bericht enthielt nur drei Worte: keine besonderen Vorkommnisse.

Konnte es Ende Oktober wirklich noch dicke Brummer geben? Ein riesiges Exemplar flog müde von einer Seite des Zimmers zur anderen und klang dabei so angeschlagen wie ein vom Feind getroffener Doppeldecker. Casini folgte ihm mit dem Blick, glücklich, dass er sich seinetwegen nicht konzentrieren konnte. Er wollte sich gerade eine seiner zahllosen Zigaretten anzünden, doch dann ließ er sie mitsamt den Streichhölzern auf die Schreibtischplatte fallen. Er würde sie erst nach dem Mittagessen rauchen. Es war fast eins. Casini nahm den Telefonhörer ab und wählte die Nummer von Diotivedes Labor.

»Ich wette mal, du hältst gerade eine Leber in der Hand«, sagte er, sobald er hörte, dass jemand den Hörer abnahm.

»Mit wem spreche ich?«, fragte eine junge Männerstimme.

»Verzeihen Sie, ich habe mich wohl verwählt.«

»Wen wollten Sie sprechen?«

»Die Gerichtsmedizin …«

»Bitte … wen wollen Sie sprechen?«

»Dottore Diotivede.«

»Warten Sie, ich frage, ob der Professore ans Telefon kommen kann«, sagte der junge Mann. Casini blieb der Mund offen stehen. Er hörte durch den Hörer, wie sich Schritte entfernten und nach langem Schweigen wieder näher kamen.

»Ja?« Diesmal war es Diotivede.

»Seit wann hast du einen Sekretär?«, fragte Casini.

»Der kostet kaum etwas, ich gebe ihm die Abfälle von der Autopsie zu essen.«

»Dann ist er wohl der glücklichste Mensch auf der Welt.«

»Ich hoffe, das ist nicht wieder einer deiner überflüssigen Anrufe.« Der Arzt seufzte.

»Ich wollte bloß wissen, ob du mit mir mittagessen möchtest.«

»Fühlst du dich einsam?«

»Ein hübscher Brummer leistet mir Gesellschaft, aber der redet nicht viel.«

»Ich brauche hier noch eine halbe Stunde.«

»Ich warte geduldig.«

»Na gut, bis nachher«, sagte Diotivede und legte auf. Der Kommissar stand langsam auf, verabschiedete sich von dem Brummer und ging in den Hof hinunter. Es begann zu regnen. Als er mit seinem Käfer hinausfuhr, hob er eine Hand, um Mugnai zu grüßen, doch da sah er, dass dieser aus der Pförtnerloge herauskam und ihm winkte. Er öffnete das Seitenfenster.

»Was ist los?«

»Dottore, darf ich Sie um einen riesigen Gefallen bitten?«

»Sag schon …«

»Können Sie mir eine ›Rätselwoche‹ mitbringen?« Er legte ihm ein Hundertlirestück in die Hand.

»Mugnai, sag mir eins: Hast du schon je ein Kreuzworträtsel ganz gelöst?«

»Aber natürlich, Dottore …«, sagte Mugnai gekränkt. Casini klopfte ihm mit einer Hand auf den Bauch und fuhr los, während die Scheibenwischer auf dem Glas quietschten. Viele Autos verstopften die breiten Straßen. Am Steuer saßen vor allem Mütter, die ihre Kinder von der Schule abholten. Die Bürgersteige waren ein einziges wogendes Meer von Regenschirmen. Er hielt am Kiosk an der Piazza della Libertà an, um dort eine »La Nazione« für sich und die »Rätselwoche« für Mugnai zu kaufen.

Als er den Viale Pieraccini erreichte, regnete es in Strömen. Diesen Oktober konnte man wirklich vergessen. Casini parkte vor der Treppe, die zur Gerichtsmedizin führte, und während er wartete, blätterte er die Zeitung durch.

Schließlich sah er Diotivede unter einem großen schwarzen Schirm auftauchen. Geschmeidig wie ein junger Mann eilte er die Stufen herab und stieg in Casinis Käfer.

»Wer ist denn der junge Mann, den ich am Telefon hatte?«, fragte Casini, während er losfuhr.

»Eine Leiche, die wieder aufgewacht ist.«

»Du hättest ihn auch einladen können.«

»Ich habe ihn bei seiner Arbeit gelassen. Ein junger Mann, der gerade sein Studium abgeschlossen hat und nun die Kunst der Autopsie zu seinem Spezialgebiet erklärt hat.«

»Da wird seine Mutter aber glücklich sein.«

»Hör mit diesem Unsinn auf, das ist ein wunderbarer Beruf.« Diotivede meinte es ernst.

»Das Gleiche habe ich auch schon einen Totengräber sagen hören«, sagte Casini lachend. Der Arzt stieß einen langen, gekränkten Seufzer aus, ging aber nicht weiter auf die Bemerkung ein.

»Wo wollen wir essen?«, fragte Casini.

»Wie wäre es mit Da Armando?«

»Sehr gut.«

»Donnerstags gibt es dort Stockfisch.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass du Stockfisch so magst.«

»Ich habe vor kurzem welchen im Magen einer Leiche gefunden, und da habe ich Appetit darauf bekommen«, meinte Diotivede. »Immer noch nichts Neues über den Jungen?«, wechselte er dann das Thema.

»Immer noch nichts.«

»Diese Dreckskerle …«, zischte der Arzt durch die Zähne hindurch.

Casini war verblüfft. So etwas hatte er noch nie von ihm gehört. Es wurde still im Käfer. Draußen regnete es weiter, und auf den Straßen herrschte dichter Verkehr.

Schließlich kamen sie nach San Lorenzo. In der Trattoria Da Armando gab es nur wenige Tische, und die waren alle besetzt. Bis auf zwei alte Amerikanerinnen saßen dort ausschließlich Männer. Diotivede und Casini mussten eine Viertelstunde am Tresen warten und ständig ausweichen, um die Kellner vorbeizulassen. Die Leute redeten laut miteinander. Es ging um die Jagd, Pilze und Fußball.

Endlich wurde ein Tisch frei, und sie setzten sich. Beide bestellten Stockfisch in Tomatensoße und einen Liter Wein dazu.

»Bist du je durch den Wald gewandert?«, fragte Casini.

»Schon immer, und ich tue es noch heute«, erwiderte Diotivede.

»Ach, das wusste ich ja gar nicht …«

»Wann warst du das letzte Mal pinkeln?«

»Heute morgen im Präsidium. Warum?«

»Ach, das wusste ich ja gar nicht«, meinte der Arzt und lächelte kühl.

»Jetzt weißt du es und kannst ruhig schlafen«, sagte Casini und füllte ihre Gläser. Er wollte das Mittagessen genießen, ohne daran denken zu müssen, dass er danach wieder ins Büro fahren und dort auf eine Nachricht warten würde, die vielleicht niemals kam.

»Ich habe eine Freundin«, sagte Diotivede unvermittelt. Casini hörte auf zu kauen.

»Ach, das wusste ich ja gar nicht … Und seit wann?« Er war ehrlich erstaunt. Der Arzt hatte noch nie so etwas Privates erzählt.

»Fragst du mich nicht, wie alt sie ist?« Diotivedes Augen funkelten.

»Wie alt ist sie?«

»Zweiundvierzig, aber sie sieht aus wie fünfunddreißig.«

»Dann pass auf, die muss verrückt sein.«

»Geniale Menschen sind immer verrückt.«

»Hast du ihr erzählt, dass du zwischen Leichen lebst?«

»Genau deswegen hat es gefunkt«, sagte Diotivede und lächelte wieder kühl.

»Wie heißt sie?«

»Marianna.«

»Du musst mich mit ihr bekannt machen«, sagte Casini.

»Lieber nicht. Das sage ich deinetwegen.«

»Wie meinst du das?«

»Du könntest vor Neid tot umfallen.«

»Ist sie so schön?«

»Wunderschön«, schwärmte Diotivede und nahm einen großen Schluck Wein.

»Bist du dir sicher, dass sie ganz richtig im Kopf ist?«, zog ihn Casini auf.

»Ganz sicher, sie hat mir nämlich gesagt, sie kann Commissarios nicht leiden.«

»Na ja, sie hat mich noch nicht kennengelernt.«

»Ich möchte ihr lieber verheimlichen, dass ich einen so schlechten Umgang habe.«

»Ich hab verstanden, du bist eifersüchtig«, sagte der Kommissar und verspürte selbst einen Stich Eifersucht.

»Na, das sagt der Richtige. In zwanzig Jahren habe ich keine einzige deiner Freundinnen kennengelernt.«

»Ich schaffe es auch nie, sie wirklich kennenzulernen, bevor es wieder vorbei ist.«

»Vielleicht solltest du mal das Aftershave wechseln«, sagte Diotivede und kaute mit Genuss einen großen Bissen Stockfisch.

Als Casini den Käfer wieder im Hof des Präsidiums parkte, war es nach halb vier. Es regnete immer noch leicht, und Mugnai lief ihm mit einem Schirm entgegen.

»Commissario, Piras sucht Sie schon seit einer Stunde.«

»Hier«, sagte Casini und reichte ihm die »Rätselwoche«.

»Danke, Dottore.«

»Wo ist Piras?«

»Ich glaube, im Funkraum«, sagte Mugnai und sah verstohlen auf das Titelblatt der »Rätselwoche«. Casini ging direkt dorthin, und Piras kam ihm schon mit ausgebreiteten Armen entgegen.

»Verdammt, Commissario …«

»Was ist passiert?«

»Nach dem Mittagessen hat Panerai sein Haus eine Stunde früher als sonst verlassen, unsere Leute sind ihm bis zur Piazza Alberti gefolgt, und dort haben sie ihn verloren.«

»So was kann vorkommen.« Casini unterdrückte einen Fluch.

»Sie suchen alle Straßen der Umgebung nach ihm ab, aber bisher haben sie ihn noch nicht gefunden.«

»Sucht weiter.«

»Ich bleibe hier, Dottore, und sage Bescheid, sobald sie ihn haben.«

»Wann öffnet die Metzgerei?«

»Um vier Uhr.«

»Ich gehe rauf.« Als er sein Büro betrat, hörte er ein ersterbendes Summen über seinem Kopf und begriff, dass der Brummer es nicht mehr lange machen würde. Er steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Ihm ging ein Lied von Little Tony durch den Kopf, und er summte es leise mit geschlossenem Mund vor sich hin.

Es wurde ein ebenso langer wie langweiliger Nachmittag, an dem es nur eine einzige Neuigkeit zu vermelden gab: Der Brummer hatte sich zum Sterben ausgerechnet einen Platz auf Casinis Schreibtisch ausgesucht, genau neben der Akte Giacomo Pellissari. Der Kommissar nahm das tote Tier an einem Flügel hoch und warf es in den Papierkorb.

Um acht Uhr ging er zu Totò in die Küche eine Kleinigkeit essen, und als er die Trattoria verließ, hatte er das Bedürfnis, sich von Rosa verwöhnen zu lassen. Tatsächlich hatte er nicht nur eine Kleinigkeit gegessen. Er hatte sich mit Nudeln und Fleisch vollgestopft und beinahe eine ganze Korbflasche Wein ausgetrunken. Nicht dass er sich betrunken fühlte. Er hatte Alkohol immer gut vertragen. Bei Kriegsende hatte er einmal eine Waggonladung Cognac, der für Deutschland bestimmt war, beschlagnahmt, und selbst als er tassenweise davon trank, hatte er sich nur leicht beschwingt gefühlt. Doch an diesem Abend hatte er definitiv zu viel gegessen, und es würde ihm nicht schaden, sich ein wenig die Beine zu vertreten. Er ließ den Käfer vor der Haustür stehen und lief in Richtung Via dei Neri los, eine Zigarette im Mund, die er nicht anzündete, und einen wasserabweisenden Hut zusammengerollt in der Tasche. Der Himmel war mit stürmischen Wolken überzogen, doch momentan regnete es nicht.

In seiner Kindheit waren Kutschen, Fahrräder und nur ganz selten ein Auto über diese Straßen gefahren, die meisten Leute waren auf Schusters Rappen unterwegs gewesen. Jetzt hatte sich alles verändert. Es gab ständig mehr Autos und Motorroller, und am Steuer saßen immer jüngere Fahrer. Viele von ihnen zogen sich merkwürdig an, so ganz anders als die jungen Leute zu seiner Zeit, als man mit zwanzig schon ein richtiger Mann war und mit vierzig alt. Jetzt wirkte es so, als wollten diese Jungs nie erwachsen werden, und das gefiel Casini. Es schien ihm, als würde etwas von dieser Jugendlichkeit auf ihn abfärben, zumindest solange er nicht sein Spiegelbild in einer Schaufensterscheibe sah.

Als er am Arno entlangging, fuhr ein wild hupender Spider an ihm vorbei, hinter dessen Scheiben er gerade noch die blonden Mähnen einiger Mädchen entdecken konnte – falls es keine langhaarigen Männer waren, die man auch immer häufiger sah. Er hatte schon fünf an einem Tag gesehen. Und es passierte ihm immer öfter, dass er diese Kerle mit Frauen verwechselte. Er sah lange Haare, drehte sich, um eine schöne Frau anzusehen, und dann war es ein Mann mit Bart. Was für eine Enttäuschung.

Während er über den Ponte alle Grazie ging, fiel ihm auf, dass der Arno angeschwollen war, und fasziniert von den dunklen Wassermassen, die schweigend dahinglitten und die Stadt durchteilten, lief er langsamer.

Kurz darauf klingelte er bei Rosa und musste fast eine Minute warten, ehe sie den Türöffner drückte. Er stieg die Stufen hinauf und bemerkte dann ein wenig erstaunt, dass sie ihn nicht auf dem Treppenabsatz erwartete. Die Tür war angelehnt, und er schlüpfte hindurch. Rosa saß im Wohnzimmer in einem Sessel. Sie gab dem Kätzchen mit dem schlimmen Auge durch eine nadellose Spritze Milch, während Gedeone das Ganze von der Anrichte aus beobachtete.

»Schau, wie niedlich sie ist … Sie säuft wie ein Ochse, jetzt ist sie über den Berg«, sagte Rosa.

»Ich erkenne sie nicht mehr wieder.« Casini setzte sich auf das Sofa. Das Kätzchen hatte wirklich zugenommen und ein glänzendes Fell bekommen. Mit seinen kleinen Pfoten krallte es sich an der Spritze fest, als hätte es Angst, man könnte sie ihm wegnehmen. Das Tierchen wirkte quicklebendig.

»Wenn du etwas trinken willst, bedien dich selbst.«

»Vielleicht später …«

»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viele Schwierigkeiten ich am ersten Tag hatte, die Kleine dazu zu bringen, Aa zu machen.«

»Machen sie das nicht von selbst?«

»Nicht, wenn sie so klein sind. Und wenn sie es nicht tun, verschließt sich der Darm, und das war’s dann. Ich habe ihr kleines Hinterteil mit Watte massieren müssen, so wie die Katzenmama es mit ihrer Zunge macht. Ich habe mindestens eine Viertelstunde massiert. Aber schließlich ist etwas Winziges, Steinhartes herausgekommen … Ich habe vor Freude geheult.«

»Du bist eine gute Mama«, erklärte Casini.

»Na, war das ein feines Fresschen?«, sagte Rosa zu dem Kätzchen, küsste es auf den Kopf und setzte es auf dem Teppich ab. Gedeone sprang kampfbereit von der Anrichte. Das Katzenmädchen rannte ihm entgegen, ging auf ihn los und versuchte, ihn in die Nase zu beißen. Obwohl es nur ein intaktes Auge hatte, schien es ausgezeichnet zu sehen. Gedeone legte sich hin und schleuderte es mit Pfotenhieben hin und her, als spielte er mit einer Maus.

»Sie haben sich schon angefreundet«, sagte Rosa gerührt. Nach zwanzig Jahren in Bordellen konnte sie immer noch rot werden und sentimental sein wie eine Internatsschülerin aus Poggio Imperiale.

Die Katzen spielten weiter miteinander: Krümelchen griff an, und Gedeone verteidigte sich. Ganz plötzlich hörte das Kätzchen auf, lief mit zitterndem Köpfchen zwei Schritte hin und her und brach auf dem Teppich zusammen.

»Geht es ihr schlecht?«, fragte der Kommissar beunruhigt.

»Aber nein, das macht sie immer so. Sie spielt wie eine Verrückte und schläft dann urplötzlich ein.«

»Ich würde gern so schlafen können.« Er sah Krümelchen an und musste daran denken, dass sie das Schicksal ihrer Geschwister geteilt hätte, wäre er nicht an diesem Dornengebüsch vorbeigekommen. Es war ein Zufall gewesen, dass er sie gerettet hatte, oder auch Schicksal. Und er hoffte, dass Zufall oder Schicksal sich vielleicht auch einmal herabließen, einem Kommissar zu helfen.

»Magst du jetzt ein Glas Grappa?«, fragte Rosa und rettete ihn aus seinen Überlegungen.

»Du bist ein Schatz. Ich hätte auch ein Wehwehchen am Nacken«, sagte Casini todernst. Rosa ging zu ihm und zog ihn an der Nasenspitze, wie man es mit Kindern macht.

»Lauf ruhig tausend Röcken hinterher, aber eine, die dich verhätschelt wie deine Rosina, findest du nicht noch einmal.« Sie kicherte. Dann hob sie das Kätzchen vom Teppich hoch und legte es, ohne es zu wecken, in einen Karton, den sie mit einem alten Pullover ausgelegt hatte.

»Die Kleine schläft wie ein Stein.« Rosa füllte zwei Grappagläser, streifte die violetten Pantoletten mit den Pfennigabsätzen ab und sagte ihrem großen Bären, er solle sich hinlegen. Sie setzte sich rittlings auf seinen Hintern und massierte mit sanften, aber entschiedenen Handgriffen seinen Nacken, wobei sie über sein wohliges Stöhnen lachte. Doch er genoss nicht nur die körperliche Entspannung. Rosas kleine Massagen bewirkten stets, dass sich sein Kopf leerte und er sein Urteil über die Welt aussetzte, was äußerst erholsam war.

»Ich muss zugeben, du bist wirklich geschickt mit deinen Händen«, stieß er zwischen zwei Seufzern hervor.

»Wenn du wüsstest, wie viele große Jungs ich schon massiert habe, während sie sich bei mir über ihre boshaften Ehefrauen und Schwiegermütter beklagten …«

»Ich bin kein großer Junge«, murrte er.

»Du bist der größte Junge von allen.« Sie lachte und langte kräftiger zu.

»Wenigstens habe ich weder Ehefrauen noch Schwiegermütter …« Von draußen hörte man das kräftige Rauschen des Regens, und Casini erinnerte sich, dass er ohne den Wagen gekommen war.

»Du musst mir einen Schirm leihen, ich bin zu Fuß hier.«

»Zu Fuß?«, fragte Rosa erstaunt.

»Es ist doch gleich um die Ecke.«

»Warum schläfst du nicht hier bei mir? Hör mal, was das für ein Dreckwetter ist …«

»Halb so schlimm, wenn ich nass werde. Sobald ich zu Hause bin, nehme ich eine schöne heiße Dusche.«

»Jedenfalls habe ich so viele Schirme, wie du willst«, sagte Rosa ein wenig enttäuscht. Doch zum Glück hörte sie nicht auf, ihn zu massieren.

»Warum erzählst du mir nicht eine alte Geschichte von deiner Familie?«, brummte der Kommissar. Er hörte unglaublich gern, wenn sie von vergangenen Zeiten sprach. Rosa konnte ausgezeichnet erzählen, und sie liebte es beinahe so sehr, wie Schuhe und verführerische Dessous zu kaufen.

»Habe ich dir je erzählt, wie sich Tante Asmara in den Pfarrer verliebte?«

»Ich glaube nicht«, log Casini, zufrieden, dass er zum x-ten Male an Tante Asmaras pikanten Erlebnissen teilhaben durfte, die für die Betreffende sicher schmerzlich gewesen sein mussten, nun aber äußerst amüsant für den Zuhörer waren.

»Tante Asmara war die jüngere Schwester meiner Mutter. Mit zwanzig war sie das schönste Mädchen in Cerbaia, und alle Männer der Gegend hätten eine Hand dafür hergegeben, sie zu besitzen. Und nicht nur die jungen, sondern auch die alten Kerle. Doch sie verliebte sich in den jungen Priester, der gerade aus Bologna gekommen war, und besuchte jede Messe, um ihn zu sehen.«

Nach zwei Stunden sintflutartiger Niederschläge fiel nur noch ein ständiger leichter Regen, und von den Bürgersteigen rann schmutziges Wasser in kleinen Bächen. Mitternacht war lange vorbei. Abgesehen von ein paar vorüberfahrenden Autos war die Straße leer. Casini hielt sich beim Gehen dicht an den Hauswänden und schützte sich mit dem kleinen rosafarbenen Schirm, den ihm Rosa geliehen hatte. Unter ihren wundertätigen Händen war er beinahe eingeschlafen und hatte sich nur mit Mühe wieder aufrappeln können.

Um nicht den gleichen Weg zweimal zu nehmen, ging er diesmal unter den Arkaden der Uffizien hindurch. Seine Füße waren inzwischen kalt und nass geworden. Er ließ den Ponte Vecchio links liegen und lief weiter am Arno entlang. Der Regen nahm von Minute zu Minute ab, trotzdem brauchte man noch einen Schirm. Ohne stehen zu bleiben, spähte er über die Brüstung. Der Arno schwoll immer mehr an, Schlamm spritzte auf seiner Oberfläche, und er floss schnell und düster rauschend dahin. Es war bestimmt nicht witzig, wenn man jetzt dort hineinfiel. Als Casini die Kreuzung zur Via de’ Tornabuoni erreichte, hörte der Regen schlagartig auf, und er schloss mit einer gewissen Erleichterung den geschmacklosen Schirm. Der Mond war beinahe hinter einer dichten Wolkendecke verschwunden, er wirkte wie eine Taschenlampe, die versuchte, sich mit ihrem Strahl durch den Nebel zu arbeiten.

Als Casini den Ponte Santa Trinita überquerte, fielen ihm auf der anderen Flussseite ein paar junge Männer mit Vespas und Lambrettas auf, die langsam am Bürgersteig der Via Maggio entlangfuhren und ihre Hände drohend gegen einen Mann erhoben, der dort ruhig entlangging. Er sah, wie sie ihre Motorroller abstellten und den Mann einkreisten. Casini ging schneller, und während er näher kam, hörte er, wie die jungen Männer sich über den Mann lustig machten. Sie waren zu fünft, alle so um die zwanzig.

»Schwuchtel … Das hättest du gern, wie?« Einer der jungen Männer bewegte eine Hand über dem Reißverschluss seiner Hose auf und ab.

»Hinten rein, hinten rein, hinten rein«, skandierte ein anderer.

»Wann hat man es dir das letzte Mal von hinten besorgt?«

»Du stehst wohl auf kleine Jungs, was? Du perverses Schwein!«, sagte der vermutliche Anführer der Gruppe und versetzte dem Mann eine Ohrfeige, die durch die Stille der Straße hallte. Nun schlugen die anderen vier ebenfalls mit der offenen Hand auf den Mann ein, und der arme Kerl fiel zu Boden. Die Angriffe wurden immer härter, jetzt traten sie ihm sogar ins Gesicht. Und sie bemerkten den leicht untersetzten Mann nicht einmal, der mit großen Schritten näher kam.

»He, Bürschchen …«, sagte Casini und blieb hinter ihnen stehen. Sie drehten sich alle gleichzeitig zu ihm um, ein stumpfsinniges Grinsen im Gesicht.

»Was für ein hübscher Schirm«, spottete der Anführer.

»Eine Schwuchtel zieht die andere an«, sagte ein anderer, und es gab Gelächter.

»Da ist noch genug für dich übrig, Opa.«

»Zeigt uns mal, wie ihr es euch gegenseitig besorgt«, sagte der Anführer und ging forsch auf Casini zu. Der Opa ließ den Regenschirm fallen und rammte ihm die Faust direkt ins Gesicht, so dass der junge Mann über den Boden rollte. Die übrigen vier zögerten wuterfüllt. Casini sah ihnen der Reihe nach in die Augen. Sie waren gut gekleidet, ihre Gesichter sauber. Söhne reicher Eltern.

Der Anführer stand langsam auf. Er zitterte, seine Jacke war mit Blut befleckt, und er hielt sich mit einer Hand die Lippe. Der Kommissar steckte selbstsicher die Hände in die Taschen. Er fühlte sich wie der Schöne aus dem Film, den er im Gambrinus gesehen hatte. Natürlich wusste er genau, dass er keine Chance hätte, wenn sie sich gleichzeitig auf ihn stürzten. Er musste auf ihre Angst setzen, aber er wollte auch nicht seinen Polizeiausweis zücken.

»Ich gebe euch zwei Sekunden, um von hier zu verschwinden, sonst könnt ihr eure Zähne einzeln zählen«, drohte er und holte plötzlich die Fäuste aus den Taschen. Er sah, wie sie zusammenzuckten und Blicke wechselten. Er musste nur einen Schritt vorgehen, und die jungen Männer sprangen auf ihre Roller, gaben Vollgas und verschwanden unter Beleidigungen und Gelächter.

Schließlich kam der Kommissar dem Verletzten zu Hilfe, der auf dem Boden sitzen geblieben war und das Ganze beobachtet hatte. Sein Gesicht blutete, und er atmete keuchend. Casini hatte ihn ab und zu durch das Viertel laufen sehen und sofort gemerkt, dass er nicht auf Frauen stand.

»Alles in Ordnung?«

»Ehrlich gesagt ging es mir vorher besser«, brummte der Mann und dehnte die Worte ein wenig. Er brachte sogar ein Lächeln zustande. Er musste ungefähr im gleichen Alter sein wie der Kommissar. Ein dünner Mann mit einem langen, eingefallenen Gesicht und zwei wässrigen Augen, aus denen er wie ein geprügelter Hund blickte. Der orangefarbene Schal um seinen Hals war blutgetränkt ebenso wie sein Hemd und seine Jacke.

»Soll ich Sie zur Notaufnahme begleiten?«

»Casini, erkennst du mich wirklich nicht?«, fragte der Mann. Daraufhin betrachtete Casini ihn genauer, und plötzlich erinnerte er sich.

»Sag mir nicht, du … bist Poggiali …«

»Das, was von ihm übrig ist«, sagte Poggiali lächelnd. Casini half ihm auf die Beine, und der andere stützte sich an der Mauer ab, um nicht hinzufallen.

»In der Schule war es genauso, weißt du noch?« Poggiali befühlte seine Zähne, um zu sehen, ob noch alle an ihrem Platz saßen.

»Ich erinnere mich vage«, sagte der Kommissar und zuckte die Achseln. Ehrlich gesagt erinnerte er sich noch genau an die Schulzeit, als der Faschismus das Bild vom dominanten Mann glorifizierte, der sich die Frauen mit seiner Potenz gefügig machte. Schon in der Mittelstufe zogen die Jungen über Schwule her und verprügelten sie manchmal auch, obwohl zahlreiche Schüler ihnen dann auf die Toiletten folgten, wo sie sich für ein paar Münzen einen runterholen ließen.

»Du teilst kräftig mit den Händen aus«, sagte Poggiali.

»Als Junge habe ich ein bisschen Faustkampf betrieben.«

»Gott segne das Boxen.«

»Ich wohne dort hinten. Komm mit, da kannst du dich ein wenig säubern«, sagte Casini und hob Rosas kleinen Schirm auf.

»Ich wohne auch in der Nähe, warum kommst du nicht mit zu mir?«

»Wie du willst«, sagte der Kommissar, der neugierig auf Poggialis Wohnung war. Sie gingen Seite an Seite die Via Maggio entlang. Poggiali wischte sich fortwährend das Blut aus dem Gesicht und hinkte fast so stark wie Piras.

»Nur du und ein paar andere Mitschüler haben mich in Ruhe gelassen.«

»Ich muss dir gestehen, damals empfand ich keine Sympathien für Leute wie dich.«

»Und heute?«

»Gute Frage …«

»Was stört dich denn genau an uns Schwuchteln?«, fragte Poggiali so geradeheraus, dass Casini schmunzeln musste.

»Das ist für Leute unserer Generation kein einfaches Thema«, räumte der Kommissar ein.

»Auch für junge Männer von heute nicht, wie du siehst.«

»Idioten gab es schon immer und wird es auch immer geben.«

»Eigentlich müsstet ihr glücklich sein, nicht? So habt ihr weniger Konkurrenten, die Jagd auf kleine Mäuschen machen.«

»So habe ich das noch nie gesehen.«

»Also, was schert es euch, dass wir Männer mögen?«, fragte Poggiali und bog in den Sdrucciolo de’ Pitti ein. Casini wusste nicht, was er ihm antworten sollte, und sein früherer Mitschüler lächelte.

»Wenn ihr einen Schwulen seht, denkt ihr sofort an etwas Perverses, Sexuelles. Ihr stellt euch vor, wie zwei Männer bumsen, und das verstört euch.«

»Vielleicht hast du recht«, sagte der Kommissar.

»Und ich kann dir versichern, auch wir vom anderen Ufer haben eine gewisse Bandbreite von Gefühlen, genau wie ihr normalen Menschen«, sagte Poggiali heiter ironisch. Er drückte eine abgeblätterte Haustür auf, und sie stiegen eine steile Treppe bis zum vierten Stock hinauf. Poggialis Wohnung war nicht sehr groß, doch der Flur strahlte eine extravagante Eleganz aus. Sie betraten ein kleines Wohnzimmer, das mit kleinen Statuen, Theatermasken, Keramikgefäßen, verrückten Bildern, Tierfiguren aus Ton, Büsten von Heerführern und zarten Knaben sowie Sträußen getrockneter Rosen vollgestopft war. Zwei Wände waren bis zur Decke mit Büchern zugestellt. Poggiali öffnete einen innen verspiegelten Barschrank.

»Bedien dich nur, ich gehe ins Bad, um mich in Ordnung zu bringen«, sagte er und verließ den Raum. Casini suchte in Ruhe unter den Flaschen. Er fand einen französischen Cognac und schenkte sich ein kleines Glas bis zum Rand voll ein. Dann ließ er sich auf eines der beiden mit künstlichem Tigerfell bezogenen Sofas fallen. So einen Raum hatte er noch nie gesehen, und sein Blick blieb an tausend Gegenständen hängen, die sich gegenseitig den Platz streitig machten. Es gab eine Menge Schildkröten jeder Beschaffenheit und Größe. Eine stand auf dem Boden und war mindestens einen Meter lang, die kleinste hockte lächerlicherweise auf einem Fez aus den zwanziger Jahren. Ein seltsames Miniaturmuseum, wo ein ganzer Nachmittag nicht ausgereicht hätte, um sich jedes Stück anzusehen, und das genaue Gegenteil zu seiner kahlen, unordentlichen Wohnung, die in gewisser Weise düster wirkte.

»Jetzt fühle ich mich wie ein neuer Mensch«, sagte Poggiali, der einen flatternden purpurfarbenen Morgenrock trug und Pantoffeln an den Füßen. Trotz der geschwollenen Lippe und dem Schnitt an der Wange wirkte er gelassen.

»Du magst Schildkröten«, sagte Casini.

»Das ist eine Frage der Gemeinsamkeiten. Wenn Gefahr droht, ziehen sie sich in ihren Panzer zurück, genau wie ich.« Er goss sich einen Martini ein und setzte sich seinem Gast gegenüber auf das andere Sofa. Umgeben von seinen leblosen Besitztümern wirkte er wie der König aus einem gruseligen Märchen.

Casini bemerkte, dass er schon eine Weile gegen unangenehme Gedanken ankämpfte, die genau auf den Vorurteilen gründeten, von denen Poggiali gesprochen hatte. Ihm war sogar die Idee gekommen, das Schicksal hätte ihn einem von Giacomo Pellissaris Mördern begegnen lassen, und das nur, weil Poggiali schwul war.

»Wie geht es dir?«, fragte er, um nicht weiter darüber nachzudenken.

»Mir fehlt nichts. Ich bin Rentner, und mir gehört noch eine Wohnung, die ich vermiete.« Poggiali erzählte, dass er verschiedene Berufe ausgeübt hatte, vom Arbeiter bis zum Postboten, und nach dem Tod seiner Eltern die beiden Wohnungen geerbt hatte.

»Meine Eltern sind auch gestorben«, sagte Casini leise. Er wusste, früher oder später würde er Poggiali fragen, was er über den Fall des ermordeten Jungen dachte, doch er wartete noch auf den richtigen Moment.

»Ab und zu lese ich deinen Namen in der ›La Nazione‹ … Commissario Casini hier, Commissario Casini da.«

»Alles in Ordnung, solange es kein Nachruf ist.« Casini schenkte sich noch einmal nach und fragte Poggiali, wo er im Krieg gewesen war.

»Ich war nicht im Krieg, man hat mich nicht genommen. Offiziell wegen Atembeschwerden, aber den wahren Grund kannst du dir ja denken. Ich bin die ganze Zeit über in Florenz geblieben und habe mich vom faschistischen Abschaum ferngehalten.«

»Und nach dem Waffenstillstand am achten September?«

»Bin ich über die Hügel geflohen und beinahe zufällig bei Potentes Leuten gelandet. Ich habe genug Tote gesehen, mein lieber Casini. Ein paarmal habe ich auch geschossen, aber das war nichts für mich. Selbst unter den guten Jungs gab es einige, die mich nicht in der Nähe haben wollten, doch mit anderen von ihnen habe ich ziemlich aufregende Nächte verbracht«, sagte Poggiali mit einem Lächeln, das zwischen Anzüglichkeit und Nostalgie schwankte.

»Verrat das nie den Kommunisten, die verbrennen dich sonst bei lebendigem Leibe.«

»Ich werde bitten, dass man mich erst aufhängt wie Savonarola.«

»Hast du diese schlimme Geschichte über den kleinen Jungen gelesen, der vergewaltigt wurde?«, fragte Casini, der das Thema nicht länger aufschieben konnte.

»Der Ärmste.«

»Darf ich dir eine Frage stellen?«

»Auch zwei.«

»Nur aus Neugier … da du dich ja damit auskennst … Also … Ich frage mich, ob Leute wie du …«

»Du kannst ruhig Schwule sagen, ich bin daran gewöhnt.«

»Also … ich will sagen … Ist es normal, dass ein Homosexueller sich von kleinen Jungen sexuell angezogen fühlt?«

»Sicher, genauso normal, wie alle Juden Wucherer sind, alle Leute aus Neapel Pizzabäcker und alle Frauen Huren.«

»Ich wollte dich nicht beleidigen.«

»Ich bin nicht beleidigt, denn ich weiß genau, dass ihr Normalen so denkt. Ich habe ein dickes Fell, mein Lieber.«

»Ich kann dir nicht widersprechen, aber vielleicht ist das nicht nur unsere Schuld.«

»Sag mal, gehst du mit zehnjährigen Mädchen ins Bett?«, fragte Poggiali und setzte sich gerade hin.

»Muss ich dir darauf antworten?«

»Genau das meine ich. Ich mag auch junge Körper, wie alle. Aber was haben Kinder damit zu tun?«

»Kennst du jemanden, der anders darüber denkt?«

»Ich kenne alle möglichen Leute, schwul oder nicht. Da gibt es welche, die genießen es, anderen beim Vögeln zuzusehen, andere lieben es, sich ins Gesicht pinkeln zu lassen, jemand holt sich einen runter, während er an einem Frauenstrumpf leckt, andere paaren sich mit Tieren … Es ist mir völlig gleichgültig, was Leute tun, um Lust zu empfinden, solange niemand darunter leiden muss.«

»Ich will doch nur begreifen, wie jemand ist, der ein Kind vergewaltigt.«

»Erwarte nicht, dass diese Leute grauenerregend aussehen wie die Menschenfresser in den Märchen. Wer so was tut, ist krank im Kopf, aber er kann sehr gut dein freundlicher Zahnarzt oder der Bäcker aus der Nachbarschaft sein. Also jemand, der ein ganz alltägliches Leben führt. Die schlimmsten Perversen, die ich kennengelernt habe, waren reiche Bürger mit einem tadellosen Ruf«, erklärte Poggiali und leerte sein Glas in einem Zug.

»Danke für den Cognac.« Casini seufzte und stand auf.

»Gehst du schon zu Bett?«

»Es ist spät …«

»Hast du Angst, dass ich dir an die Wäsche gehe?«, fragte Poggiali mit künstlich hoher Stimme. Der Kommissar lächelte.

»Weißt du, was ich immer gedacht habe? Selbst wenn ich als Frau geboren worden wäre, würden mir Frauen gefallen.«

»Du bist ein unheilbarer Chauvinist, doch das ist immer noch besser, als Bulle zu sein«, meinte Poggiali lachend. Er brachte Casini zur Tür, und sie gaben einander die Hand.

»Viel Glück, Commissario.«

»Danke. Bis bald, Poggiali.«

»Leb wohl«, meinte Poggiali realistischer. Der Kommissar ging langsam die Stufen hinunter, und als er das Haus verlassen hatte, zündete er sich eine Zigarette an. Casini wusste selbst, dass sie einander kaum wiedersehen würden. Er konnte sich nicht vorstellen, Poggiali zum Abendessen einzuladen oder mit ihm durch die Straßen des Stadtzentrums zu schlendern, obwohl er wusste, dass sie eigentlich Freunde hätten werden können. Dieser schwule Poggiali schien ein anständiger Kerl zu sein.

In der Nacht hatte es wieder heftig zu regnen begonnen, und es sah nicht danach aus, als würde es so bald wieder aufhören. Als Casini im Hof des Polizeipräsidiums parkte, war es nach neun Uhr. Er hatte mehr als eine halbe Stunde im Stau gestanden. Beim Aussteigen zog er sich den Mantel über den Kopf und hastete zur Eingangstür, doch als er das Gebäude betrat, war er bereits tropfnass. Rinaldi kam ihm mit dunkel geränderten Augen und blassem Gesicht entgegen und brachte ihn auf den neuesten Stand. Panerai war um zehn vor acht mit dem Lancia Flavia von zu Hause losgefahren, hatte aber nicht den Weg zur Metzgerei eingeschlagen. Er hatte in der Via Lungo l’Affrico auf Höhe der Via D’Annunzio kurz angehalten, um drei Männer aufzunehmen, die unter ihren Regenschirmen dort auf ihn gewartet hatten. Dann hatte der Lancia die Stadt Richtung Süden verlassen, hatte Pontassieve, Rufina, San Godenzo hinter sich gelassen und war geradewegs auf die Straße zum Muraglione gefahren.

»Wer ist im Wagen?«, fragte der Kommissar, während er zusammen mit Rinaldi zum Funkraum ging.

»Piras und Tapinassi«, sagte Rinaldi und versuchte vergeblich, ein heftiges Gähnen zu unterdrücken.

»Leg dich doch etwas hin.« Casini gab ihm einen Klaps auf die Schulter.

»Ich bin doch nicht müde.« Der Wachmann zuckte die Achseln. Als sie den Funkraum erreichten, nahm Casini sofort Kontakt zu Piras auf. Die Verbindung war so schlecht, dass der Sarde seine Sätze mehrfach wiederholen musste, bis man ihn verstand. Auch wo der Kollege war, regnete es. Der Metzger und seine Freunde fuhren in gemäßigtem Tempo. Sie hatten nur einmal kurz vor San Godenzo eine Rast eingelegt, um zu tanken und zu frühstücken

»Versuch, an ihm dranzubleiben«, meinte Casini. Als Antwort kam nur ein langes Rauschen, in dem Piras’ metallisch verzerrte Stimme kaum mehr wahrzunehmen war. Kurz darauf brach die Verbindung ganz ab. Das lag an den Bergen des Apennins.

»Ruft mich, sobald er sich wieder meldet.« Der Kommissar ging hoch in sein Büro, zog sich den nassen Mantel aus und öffnete ein Fenster, um zu lüften. Er zündete sich eine Zigarette an und rauchte, die Ellenbogen aufs Fensterbrett gestützt. Draußen regnete es in Strömen, so als würde es nie wieder aufhören. Vorüberfahrende Autos zogen lange Bugwellen hinter sich her.

Piras konnte die Verbindung erst eine Stunde später wiederherstellen, und Casini eilte in den Funkraum. Jetzt war die Stimme des Sarden klar und deutlich zu verstehen. Er nannte die Namen der Orte entlang der Straße: Il Poggio, Il Bagno, Bocconi, San Benedetto, Rocca San Casciano, Dovadola, Pieve Salutare … Der Lancia fuhr zielstrebig, als ob der Metzger oder einer der anderen Mitfahrer den Weg genau kennen würden.

»Wo zum Teufel wollen die denn bei dem Regen hin?«, murmelte Casini und fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht.

»Jetzt sind sie rechts abgebogen«, sagte Piras. Als das Zivilfahrzeug zur Kreuzung kam, las der Sarde das Straßenschild: Fiumana, Trivella und schließlich Predappio. Dort lag also ihr Ziel.

»Heute ist der achtundzwanzigste Oktober, Commissario.« Piras Stimme drang krächzend durch den Äther.

»Die Katze lässt das Mausen nicht«, sagte Casini enttäuscht. Also schwelgten Panerai und seine Kameraden am Jahrestag des Marsches auf Rom in Erinnerungen an die glorreiche Zeit des Faschismus, aber was hatte das mit dem Mord an Giacomo Pellissari zu tun?

»Was soll ich tun, Commissario?«, fragte der Sarde. Ihm war anzuhören, dass er ähnlich verbittert war wie Casini.

»Folg ihm weiter.« Casini ließ sich gegen die Rückenlehne des Stuhls fallen und zündete sich noch eine Zigarette an, während Piras mit seinem Fahrtbericht weitermachte. Nach einer Reihe Übelkeit erregender Spitzkehren führte die Straße wieder geradeaus, und bei San Lorenzo in Noceto bog der Metzger rechts ab. Piumana, Trivella und dann Predappio.

Der Kommissar rieb sich die Augen und seufzte. Er wusste genau, dass er auch hier auf dem Präsidium ständig mit Beamten zu tun hatte, die sich nach der Zeit des Faschismus zurücksehnten, nicht zuletzt der Polizeipräsident selbst. Niedergeschlagen überlegte Casini, ob er nicht doch Carlino, dem ehemaligen Partisanen, der die Bar unten in Rosas Haus betrieb, zustimmen musste: Im Grunde ihres Herzens waren alle Italiener unverbesserliche Faschisten. Kinder, die nach einer autoritären Vaterfigur verlangten, um sich beschützt zu fühlen, und damit jemand zu ihnen sagte: »Du kannst ruhig schlafen, ich kümmere mich um alles.« Was wirklich zählte, war schlafen und essen, ohne sich dafür allzu sehr anstrengen zu müssen, große Reden zu schwingen und genügend Geld zu haben, um im Sommer ans Meer zu fahren. Ein Volk von armen Würstchen, das seine Erlösung in Allmachtsfantasien suchte. Ein Italien wie das, für das Franco Casini gegen die Nazis gekämpft hatte, wollte niemand von ihnen.

Piras kehrte am späten Nachmittag ins Präsidium zurück, nachdem er dem Lancia Flavia des Metzgers bis nach Hause gefolgt war, wo ihn eine andere Zivilstreife abgelöst und die Überwachung übernommen hatte. Im Präsidium humpelte er zu Casinis Büro und ließ sich dort auf einen Stuhl fallen. Er erzählte von der fröhlichen Landpartie nach Predappio, die allerdings ziemlich ins Wasser gefallen war. In den Schaufenstern einiger Geschäfte waren Büsten des Duce aufgestellt, faschistische Rutenbündel, Totenschädel der Zehnten Infanteriedivision der Flotte und schwarze T-Shirts mit der Aufschrift Me ne frego! – Mir doch egal!

Auf dem protzigen Platz, den Mussolini vor seinem bescheidenen Geburtshaus hatte anlegen lassen, hatten sich etliche Hundert Menschen versammelt, überwiegend Männer. Nicht nur solche, die die Herrschaft des Faschismus noch erlebt hatten, auch junge Leute, die ihn nur aus Erzählungen kannten. Tapinassi und er hatten sich unter die Menge gemischt, ohne dabei den Metzger und seine Freunde aus den Augen zu verlieren.

Faschistische Lieder, aufpeitschende Kriegsrufe, wehmütige Tränen, Fahnen und Wimpel, Sprechchöre … nichts fehlte. Gegen Mittag war die ganze Versammlung zum Friedhof von San Cassiano weitergezogen, um dem heiligen Grab des Duce in der Familienkapelle einen Besuch abzustatten.

»Kerle jünger als ich knieten mit Tränen in den Augen nieder wie dankbare Gläubige nach ihrer Wunderheilung vor einem Marienbildnis«, erzählte der Sarde, und seine Mundwinkel zuckten leicht.

»Mussolini hat die Italiener weit mehr zum Träumen gebracht als die Madonna. Casini stand auf und lief mit den Händen in den Hosentaschen auf und ab, während er auf die Fortsetzung des Berichts wartete.

»Kurz darauf siegte der Hunger über jede vaterländische Begeisterung«, fuhr Piras fort, der diese ganze sentimentale Versammlung nicht ernst nehmen konnte. Eine Blechkarawane hatte sich nach Forlì geschoben, und dort wurden alle Lokale gestürmt. Tapinassi und er konnten einen freien Tisch in der mit Mussolinipilgern dicht gefüllten Trattoria ergattern, wo Panerai und seine Kameraden zu Mittag aßen. Gnocchi, Tortellini, Lasagne, Tagliatelle, Strozzapreti, Schweine- und Rinderbraten, dazu literweise Lambrusco, Gelächter und Lieder aus der guten alten Zeit. Um nicht aufzufallen, hatten Tapinassi und er mit eingestimmt und so getan, als könnten sie die Texte. Der Wirt hatte zufrieden grinsend dabeigestanden und wohl nur an die Einnahmen gedacht. Zur Feier des Tages hatte er gut sichtbar eine Bronzebüste des Duce mit einem echten Fez auf den Tresen gestellt. Als man zum Hochprozentigen überging, war dann ein kleiner, halb betrunkener Mann um die fünfzig aufgestanden und hatte eine Rede gehalten, eine wirre Lobeshymne auf den Duce und seine edlen Heldentaten. Zum Abschluss hatte er kämpferisch gerufen: »Boia chi molla!« – »Wer aufgibt, ist ein Verräter!« Darauf gab es donnernden Applaus und noch mehr Lieder.

»Ein wahrhaft unvergesslicher Tag«, meinte der Sarde. Gegen vier Uhr hatten sich der Metzger und seine Kumpanen im sturzbachähnlichen Regen auf den Rückweg gemacht. In Florenz hatte Panerai wieder in der Via Lungo l’Affrico gehalten, um seine Freunde hinauszulassen, dann war er nach Hause gefahren. Die Metzgerei war den ganzen Tag geschlossen geblieben. Auf dem Rollgitter hing ein Zettel: »Aus familiären Gründen geschlossen«.

»Was Verehrung doch alles bewirken kann«, sagte Casini, denn er dachte daran, dass der Metzger auf die Einnahmen eines ganzen Tages verzichtet hatte. Dem alten Gesellen hatte Panerai den Laden wohl nicht anvertrauen wollen.

»Eigentlich hätte er gleich schreiben können: Wegen Nationalfeiertag geschlossen!«, sagte Piras und stand auf. Am nächsten Morgen musste er in aller Herrgottsfrühe raus, um Panerai zu beschatten. Er verabschiedete sich vom Kommissar und ging nach Hause, um zu schlafen.

Casini zündete sich endlich eine Zigarette an, lief wieder im Zimmer auf und ab und starrte die Wände an. Immer mal wieder schaute er zum Fenster hinüber, aber da war nichts außer Regen zu sehen. Der Metzger trauerte also dem Duce nach … Und wenn schon. Viele Italiener taten das, und Casini fürchtete sie weniger als die, die sich nach außen antifaschistisch gaben, doch tief im Inneren immer noch eine kohlrabenschwarze Gesinnung hatten. Vor allem aber gab es keinen objektiven Zusammenhang zwischen dem Ausflug nach Predappio und dem Mord an dem kleinen Pellissari. Noch ein Fehlschlag. Er vergeudete nur seine Zeit damit, Hirngespinsten nachzujagen. Vielleicht sollte er sich damit abfinden, dass der Metzger nichts mit dem Mord zu tun hatte. Casini würde noch eine Woche warten und dann die Überwachung abbrechen. Schluss mit den falschen Hoffnungen.

Erschöpft ließ er sich auf den Stuhl fallen. Jetzt wäre er gern an einem anderen Ort, am liebsten sogar ein ganz anderer Mensch. Zum ersten Mal in zwanzig Dienstjahren wusste er nicht weiter, und die Vorstellung, er könnte versagen, zermürbte ihn. Aber es nützte nichts, sich den Kopf zu zerbrechen, er konnte nichts anderes tun als abwarten und hoffen, wie die schöne Abessinierin aus dem Lied des Afrikakorps.

Er versuchte, an etwas anderes zu denken. Nur noch vier Jahre bis zu seiner Pensionierung. Er hatte keine Kinder, ja nicht einmal eine Frau. Er aß zu viel, er trank zu viel, er rauchte zu viel. Er musste sein Leben ändern, ein Haus auf dem Land kaufen, mit dem Rauchen aufhören, eine schöne Frau heiraten und sich um den Garten kümmern. Sein Vetter Rodrigo, dieser Sturkopf, hatte keine Zeit verloren. Im Februar hatte er seine Wohnung im Viale Gramsci für etliche Millionen Lire verkauft und sich zu einem Spottpreis einen alten Bauernhof mit zwei Hektar Land gekauft oberhalb von Bagno a Ripoli, und selbst nach der Instandsetzung hatte er noch reichlich Geld übrig behalten. Dort lebte er nun zusammen mit einer Frau, nach der er völlig verrückt war, und plante im zarten Alter von vierundfünfzig Jahren, mit ihr mindestens drei Kinder in die Welt zu setzen. Das hatte Casini alles von seiner Tante Camilla, Rodrigos Mutter, erfahren. Er hatte schon seit Ewigkeiten nichts mehr von Rodrigo gehört, überlegte er und hob den Telefonhörer ab, um ihn anzurufen. Ein Gespräch mit seinem Vetter war jetzt genau das Richtige, um sich abzulenken. Er und Rodrigo waren grundverschieden und kamen am besten miteinander aus, wenn sie einander ignorierten. Aber genau aus diesem Grund wollte er jetzt mit ihm sprechen, um sich über die ständigen Missverständnisse amüsieren zu können, die sich bei ihren surrealen Unterhaltungen ergaben. Er wählte die Nummer, aber nachdem es ein Dutzend Mal geklingelt hatte, ohne dass jemand abhob, legte er auf. Schade, er hatte sich schon gefreut.

Es regnete immer heftiger. Das Rauschen hörte sich an, als ob etwas in einer riesigen Bratpfanne vor sich hin brutzelte. Casini zündete sich wieder eine Zigarette an und verließ das Büro. Pflichtschuldig schaute er noch im Funkraum vorbei, um sich nach dem Metzger zu erkundigen. Alles normal, nichts Neues.

Auf dem Nachhauseweg fluchte er auf diesen verdammten Herbst und ließ seine berufliche Anspannung am Wetter aus. Um sich zu beruhigen, blieb er lange unter der heißen Dusche stehen und sang leise alte Schlager aus seiner Jugend. Mamma son tanto feliceee, perché ritorno da teee … Er durfte nicht immer an den ermordeten Jungen denken … La mia canzone ti diceee, ch’è il più bel sogno per meee … Er würde es schaffen, die Mörder zu überführen, er musste es schaffen … Mamma son tanto feliceee, viver lontano perchéé …

Während er weiter vor sich hin brummte, schlüpfte er in den Bademantel und ging in die Küche, um zu sehen, was er sich zu essen machen konnte. Die Auswahl war nicht groß. Nach Bottas Rezept machte er sich einen Teller Nudeln mit Tomatensoße. Damit und mit einem Glas Wein setzte er sich vor den Fernseher. Es lief eine Wissenschaftssendung, aber er konnte ihr nicht folgen. Seine Gedanken kreisten wie eine hängende Schallplatte immer um dasselbe Thema.

Er beendete sein Mahl und machte dem Koch ein Kompliment. Trotz allem hatte er die Penne mit Tomatensoße genossen. Er leerte das Glas und zündete sich eine Zigarette an. Tief aufseufzend wie eine verdammte Seele im Fegefeuer blies er den Rauch in die Luft. Jetzt, da er seinen Hunger gestillt hatte, schlich sich eine leise Angst in seine Gedanken. Er kam sich alt vor. Ein armer, alter Trottel, der an allen Fronten nur Niederlagen erlebte. Er sah sich schon als Tattergreis, der in schlaflosen Nächten das Kleingeld in seiner Börse zählte, wie er es bei seinem Großvater beobachtet hatte. Süppchen, Wärmflasche und viel, viel Ruhe … Eines schönen Tages würde er dann einfach sanft entschlummern und Amen, das war’s dann.

Es war kurz nach zehn. Casini hatte keine Lust, den ganzen Abend vor dem Fernseher zu verbringen und sich solch heiteren Überlegungen über den Sinn des Lebens hinzugeben. Er verspürte das dringende Bedürfnis, aus dem Haus zu gehen und auf andere Gedanken zu kommen, sich mit jemandem angenehm zu unterhalten. Er dachte an Dante, den halbverrückten Erfinder, der in einem alten Haus in Mezzomonte lebte und den man zu jeder Zeit besuchen konnte. Ein großer Mann voller Energie, dessen weißes Haar ihm in alle Richtungen vom Kopf abstand. Casini hatte ihn im Sommer 1963 kennengelernt, während der Ermittlungen zum Tod seiner Schwester Rebecca. Sie hatten sich angefreundet, obwohl sie sich nur selten sahen und immer noch siezten. Dante war eine Nachteule, und um diese Uhrzeit war er wahrscheinlich gerade in sein Kellerlaboratorium hinabgestiegen.

Der Kommissar drückte die Kippe energisch im Aschenbecher aus und ging in den Flur, um ihn anzurufen. Er ließ es lange klingeln, und schließlich kam jemand an den Apparat.

»Hier Dante. Wer spricht dort?«, sagte der Wissenschaftler mit seinem tiefen Brummbass.

»Guten Abend, Dottor Pedretti. Störe ich?«

»Ach, Casini … Wie geht es Ihnen?«

»Das würde ich auch gern wissen. Und selbst?«

»Ich bin immer noch neugierig auf diese Welt.«

»Das wäre ich auch gern.«

»Sie sind auch ein neugieriger Mensch, sonst wären Sie nicht bei der Kriminalpolizei.«

»Vielleicht haben Sie recht.«

»Warum besuchen Sie mich nicht, Commissario?«

»Genau deswegen rufe ich an.«

»Ich erwarte Sie.«

»In einer halben Stunde bin ich bei Ihnen …«

Als er aus dem Wagen stieg, hielt er sich den Schirm über den Kopf und beeilte sich, durch die Eingangstür von Dantes großem Haus zu schlüpfen. Im schwachen Lichtschein eines Streichholzes fand er die Treppe zu dem großen Kellerlaboratorium, das sich unter der gesamten Grundfläche des Hauses erstreckte.

Casini durchschritt den stillen großen Raum, den Dunkelheit beherrschte. Nur ein paar Kerzen verbreiteten ein mondähnliches Licht. Auf den ersten Blick wirkte der Raum wie eine dunkle Kirche, in der nur der Altar von Kerzen erhellt wurde, und die alten, übervollen Bücherregale an den Wänden bildeten die Tabernakel dazu. Dantes Altar war ein großer Arbeitstisch, der wie immer unter aufgeschlagenen Büchern, zur Hälfte mit bunten Flüssigkeiten gefüllten Flaschen, verschiedenen Werkzeugen und Apparaturen ohne erkennbaren Zweck verschwand. Der Erfinder stand mit aufgestützten Ellbogen davor. Er schrieb etwas in ein Heft mit rotem Rand, wie man es in der Grundschule verwendet.

»Salve, Commissario«, sagte er, als er hörte, wie Casini im Halbdunkel näher kam. Er hob nicht einmal den Kopf und wirkte hoch konzentriert.

»Entschuldigung, ich wollte Sie nicht bei der Arbeit stören.«

»Ich habe nur herumgespielt.« Dante ließ den Füller auf die Werkbank fallen. Sie schüttelten einander die Hand. Dantes Händedruck war kräftig, fast schon brutal.

»Grappa, Commissario?«

»Deswegen bin ich hier …«

»Ich muss sie hier irgendwo hingestellt haben«, murmelte Dante halblaut vor sich hin und suchte zwischen den Flaschen auf dem Arbeitstisch. Casini warf verstohlen einen Blick in das aufgeschlagene Heft des Tüftlers und sah, dass eine ganze Seite mit mathematischen Formeln vollgeschrieben war. Dantes Spielerei. Der Erfinder hob eine große, halbgefüllte Flasche ohne Etikett hoch.

»Da ist sie ja«, sagte er und fischte aus der schrecklichen Unordnung vor sich zwei Gläser, die erstaunlicherweise zueinander passten. Die Männer machten es sich in den beiden einzigen Sesseln bequem, die Flasche ließen sie in Reichweite stehen. Dante zündete seine Zigarre wieder an, die er im Mund hatte, und blies einen Rauchkringel zur Decke. Beim ersten Schluck Grappa merkte der Kommissar, wie seine Beine sich entspannten.

»Kommt die Schleiereule Sie eigentlich immer noch besuchen?«, fragte er.

»Hin und wieder. Sie taucht plötzlich auf, um dann wieder für einen Monat zu verschwinden … So wie manche Frauen.«

»Vielleicht entschließt sie sich ja eines Tages zu bleiben.«

»Das glaube ich nicht, ich kenne die Frauen«, meinte Dante und lachte laut.

»Ich würde mir gerne hier in der Nähe ein altes Bauernhaus kaufen.« Casini seufzte und träumte von dem Frieden, der in diesem Haus herrschen würde.

»Davon gibt es so viele Sie wollen. Die Leute fürchten sich noch immer vor dem Land.«

»Das kann ich verstehen …«

»Wenn Sie das allen Ernstes vorhaben, beeilen Sie sich. Bald werden diese alten, verlassenen Häuser ein Vermögen kosten.«

»Glauben Sie wirklich? Dann werde ich bald mit der Suche beginnen, aber erst muss ich noch einen Fall lösen.«

»Der ermordete Junge?«, fragte Dante. Der Kommissar nickte finster. Sie schwiegen eine Weile und hingen ihren Gedanken nach. Nur das leise Ticken einer Standuhr war zu hören. Ob es immer noch regnete? Irgendwann stand der Erfinder ruhig auf und baute sich, umgeben von dichtem Qualm, vor Casini auf.

»Für den primitiven Menschen war Gewalt gleichbedeutend mit Überleben. Die Menschen heutzutage müssen nicht mehr für ihr Essen auf die Jagd gehen, sie betreten einen Supermarkt und laden sich dort den Wagen voll. Dieser mächtige animalische Trieb, der sie über Jahrtausende beherrscht hat, sitzt jetzt mit vor dem Fernseher, rasiert sich mit dem neuesten Gerät von Philips, macht am Sonntag einen Ausflug mit der Familie … Doch ab und zu fordert diese Bestie in uns ihren Tribut.«

»Wenn es bei ab und zu bliebe.«

»Das menschliche Bewusstsein ist die verheerendste Krankheit der Natur«, dozierte Dante, während er ins Leere starrte.

»Das ist sehr ermutigend.«

»Nietzsche, dieser Verrückte, forderte den Menschen auf – den vernunftbegabten, denkenden Menschen, der sich seiner selbst bewusst ist –, diese unverzeihliche Krankheit der Natur zu kurieren, indem er aus freien Stücken in seiner Art aufgeht. Er forderte das Bewusstsein auf, sich in den Dienst der Natur zu stellen, um der menschlichen Rasse die Kraft und die Reinheit des Raubtiers wiederzugeben. Der Instinkt zwingt Tiere zum Kampf untereinander, damit nur der Beste das Weibchen begatten darf, und nach Nietzsche müsste der Mensch dasselbe durch eine Kopfentscheidung erreichen. Absurder geht es nicht, obwohl es ein äußerst faszinierender Gedanke ist. Doch Nietzsche hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht, mehr oder weniger wie Marx … Und beide haben Ungeheuer hervorgebracht.«

»Uns bleibt immer noch die Democrazia Cristiana«, sagte Casini.

»Halleluja …«, brummte Dante und setzte sich wieder. Er zog zwei, drei Mal an seiner Zigarre, und sein Gesicht verschwand wieder in einer dichten Rauchwolke. Als er langsam wieder daraus auftauchte, umspielte ein ironisches Lächeln seine Lippen. Casini goss sich noch einmal nach.

»Bosheit kann ich ja noch verstehen, aber für Grausamkeit fehlt mir jegliches Verständnis«, sagte er melancholisch. Ihn überkam ein höchst unangenehmer Anfall von Selbstmitleid, weil er nicht in der Lage war, seine schmutzige Arbeit als Bulle zu erledigen. Er leerte sein Glas in einem Zug und füllte es gleich wieder. Dantes Stimme schien von weit her, wie vom Grund eines Brunnens zu kommen.

»Die Tiere, die wir Raubtiere nennen, haben gar keine Möglichkeit, bewusst grausam oder böse zu sein«, sagte Dante und verfolgte mit den Augen die trägen Rauchschwaden, die zur Decke stiegen.

»Ab und zu gibt es auch einen rechtschaffenen Menschen.«

»Eine verschwindend kleine Minderheit, wie ein Tropfen Seife in einer Jauchegrube.«

»Ihr Optimismus rührt mich«, sagte der Kommissar, der im Grunde seines Herzens nicht viel anders dachte. Der Wissenschaftler lächelte.

»Ich würde Ihnen gerne eine Fabel erzählen …«

»Bitte sehr.« Casini suchte nach seinen Zigaretten. Er konnte sich nichts Besseres wünschen, um sich von den Gedanken abzulenken, die ihn beherrschten. Mit einer Hand fegte Dante den Rauch fort und ahmte dabei ungewollt die segnenden Bewegungen eines Priesters nach.

»Es war einmal eine sehr intelligente Maus, die eines schönen Tages beschloss, eine wichtige Abhandlung zu schreiben: Sie wollte Sitten und Gebräuche der Menschen ganz genau darstellen. Tagsüber kam sie also aus ihrem Loch, wanderte hierhin und dorthin, um das Leben der Menschen heimlich zu beobachten, in der Nacht kehrte sie in ihren Bau zurück und schrieb bei Kerzenschein geduldig nieder, was sie gesehen hatte. Es war eine sehr sensible und aufmerksame Maus. Nichts entging ihr, sie erfasste jedes Detail und konnte auch hinter die äußere Fassade sehen. Nach einem Jahr war das Buch fertig, es umfasste ungefähr tausend Seiten. Durch einen merkwürdigen Zufall landete es in den Händen eines Gelehrten, der es unbedingt übersetzen wollte. Lange Jahre musste er mühsam forschen, ehe er die Mäusesprache entziffern konnte, doch dann fand er den richtigen Schlüssel dazu. Er übersetzte also die Abhandlung und konnte es kaum glauben: Die Maus hatte das Leben der menschlichen Rasse besser beschrieben als jeder Mensch. Nun wollte er unbedingt diese scharfsinnige Maus kennenlernen, die in der Lage war, auch die feinsten Mechanismen, nach denen die menschliche Gesellschaft funktioniert, zu erkennen. Er zog in die weite Welt und suchte überall nach ihr, denn er wollte ihr Pfötchen schütteln und sich vor ihrer Weisheit verneigen. Doch als er schließlich entdeckte, wo die Maus lebte, erfasste ihn unsägliche Trauer. Raten Sie mal, warum?«

»Die Maus hatte sich in einen Menschen verwandelt?«

»Viel einfacher: Die Maus hatte ihr Loch in einem Vernichtungslager«, erklärte Dante majestätisch lächelnd.

»Solche Fabeln müsste man den Kindern erzählen …«

Als Casini am Samstagmorgen ins Büro kam, war seine Stimmung auf dem Tiefpunkt. Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen und zündete sich eine Zigarette an, während er seinen Blick über die Gegenstände und Akten auf seinem Schreibtisch gleiten ließ. Es hatte die ganze Nacht durchgeregnet und immer noch nicht aufgehört. Das monotone Rauschen des Wassers war der passende Hintergrund für seinen Gemütszustand. Die Zeit schien stehenzubleiben, und das Warten begann unerträglich zu werden. Giacomo Pellissaris Akte lag vor ihm, mittlerweile kannte er sie auswendig. Worauf hoffte er eigentlich noch? Der Metzger führte ein völlig normales, ja geradezu banales Leben. Er war ein Faschist, mehr nicht. Casini hörte es klopfen, die Tür öffnete sich leicht, und Rinaldi steckte seinen Kopf ins Zimmer.

»Es ist wieder so weit, Dottore«, sagte er leise, und seine Augen blickten düster.

»Was meinst du damit?«

»Commissario Gorghi … Er verhört wieder einen Jungen auf seine Art.«

»Verdammt.« Casini stand seufzend auf, und als er Rinaldi folgte, spürte er, wie es ihn in den Fingern juckte. Langsam gingen sie die Treppe ins Erdgeschoss hinunter.

»Wer ist der Junge?«, fragte Casini.

»Ein Student.«

»Was hat er getan?«

»Commissario Gorghi hat anarchistische Flugblätter bei ihm gefunden.«

»Dieser Unmensch wird noch aus ihm herauszupressen versuchen, dass er höchstpersönlich Jesus Christus gekreuzigt hat.« Casini hasste Gorghi seit ihrer ersten Begegnung und versuchte ihm so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen.

Als sie den Flur erreichten, in dem Gorghi sein Büro hatte, hörten sie schon den jungen Mann stöhnen. Casini bat Rinaldi, im Funkraum zu warten, und betrat das Zimmer, ohne anzuklopfen. Gorghi stand mit erhobener Faust da, bereit, erneut zuzuschlagen. Der Junge hatte eine aufgeplatzte Lippe, seine Brille lag zertreten auf dem Fußboden.

»Casini, ich freue mich, dich zu sehen«, sagte Gorghi mit einem verlegenen Grinsen und ließ die Faust sinken. Der junge Mann sah verängstigt in Casinis zorniges Gesicht. Er fürchtete, dass beide das Verhör jetzt mit vereinten Kräften fortführen würden.

»Was hat dieser Mensch Furchtbares verbrochen?«, fragte Casini so heftig, dass sein Untergebener zusammenzuckte.

»Das ermitteln wir noch«, sagte Gorghi provozierend. Casini verschlug es die Sprache, und er spürte das dringende Bedürfnis, seine Fäuste sprechen zu lassen. Ohne Vorwarnung verpasste er Gorghi einen Schlag mitten ins Gesicht und sah, wie der nach hinten fiel. Der Polizist prallte mit dem Rücken gegen den Schreibtisch, und unter den ungläubigen Blicken des Studenten flogen Stifte und Akten durch den Raum. Als Gorghi den Kopf wieder hob, tropfte Blut aus seiner Nase. Er hielt sich ein Taschentuch darunter, das sich sofort rot färbte. Der junge Mann wusste nicht, wohin er schauen sollte, aber um seine geschwollenen Lippen zuckte ein leichtes Lächeln. Gorghi starrte Casini hasserfüllt an und fluchte unterdrückt. Der Kommissar ignorierte ihn jedoch völlig und summte mit geschlossenen Lippen ein Lied vor sich hin. Er rief im Funkraum an.

»Schick sofort Rinaldi zu mir, ich bin in Gorghis Büro«, sagte er und legte auf. Gorghi stöhnte auf, sein Gesicht war vor Zorn und Scham rot angelaufen. Er konnte nicht ertragen, dass man ihn vor diesem kleinen Arschloch, das nichts als Scheiße im Kopf hatte, lächerlich gemacht hatte. Er schwor stumm Rache, aber für den Moment wagte er nicht zu widersprechen. Casini hob in aller Seelenruhe die zerbrochene Brille des jungen Mannes auf und drückte sie ihm in die Hand.

»Ich lasse dich nach Hause bringen.«

»Können Sie mir erklären, was hier vor sich geht?« Der junge Mann stand auf.

»Nur eine kleine Meinungsverschiedenheit«, meinte Casini lächelnd.

»Sind Sie … auch hier vom Präsidium?«

»Nein, ich bin der Bäcker von gegenüber.« Sie hörten Schritte, und dann stürzte Rinaldi atemlos ins Zimmer.

»Zur Stelle, Commissario.«

»Bringen Sie den Herrn nach Hause.«

»Sofort, Commissario.«

»Also muss ich mich jetzt bei einem Commissario bedanken …«

»Es gibt Schlimmeres im Leben.« Unter dem grimmigen Blick Gorghis schüttelten sie sich die Hände. Der junge Mann schaute noch einmal voller Verachtung zu seinem Peiniger hinüber, dann verließ er, gefolgt von Rinaldi, das Zimmer.

»Das hättest du nicht tun dürfen«, stammelte Gorghi totenbleich.

»Wenn du noch mal so einen Mist baust, lasse ich dich versetzen«, sagte Casini und verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzusehen. Oben in seinem Büro zündete er sich eine Zigarette an. Er starrte auf die Regentropfen, die in langen Bahnen an den Fensterscheiben hinabliefen. Ihm war leicht übel. Er war kein gewalttätiger Mensch, aber bei Idioten wie Gorghi konnte er sich nicht zurückhalten. Doch es lohnte sich nicht, sich länger mit solchen Leuten zu beschäftigen, und eine Minute später hatte Casini den Vorfall bereits vergessen.

Aus einer Laune heraus entschloss sich Casini, Panerai aufzusuchen. Es war kurz vor sieben. Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, und während er durch die Tür ging, unterdrückte er den Wunsch, sich sofort eine neue anzuzünden. Ruhig stieg er die Treppen hinunter. In der Eingangshalle griff er sich irgendeinen Regenschirm, verließ das Präsidium und stieg in seinen Käfer. Die Scheibenwischer waren schon alt und hinterließen Schlieren auf der Windschutzscheibe. Jetzt wusste er es: Er wollte den Metzger noch einmal treffen. Er wollte ihm direkt ins Gesicht sehen und kurz mit ihm reden. Was erhoffte er sich davon? Dass er in seinen Augen las, dass Panerai wirklich der Mörder war?

Zehn Minuten später stellte er sein Auto im Viale dei Mille ab. Er schaute sich um und suchte nach dem Zivilfahrzeug mit Piras und Tapinassi, und als er es ausfindig gemacht hatte, grüßte er mit einem leichten Kopfnicken. Triefnass betrat er die Metzgerei, und Panerei begrüßte ihn wie einen Stammkunden. Vor der Theke wartete nur eine verhuscht wirkende Frau, die unscheinbar gekleidet war und ein dickes Portemonnaie in der Hand hielt. Ganz sicher ein Dienstmädchen, das für die Herrschaft einkaufen ging. Bei näherem Hinsehen war sie eigentlich ganz hübsch, und Panerai zog sie mit anzüglichen Bemerkungen auf. Die junge Frau kicherte und wippte auf ihren Füßen. Dies waren wohl die vergnüglichsten Momente in ihrem freudlosen Dasein. Panerai hielt beim Zerlegen eines Kaninchens inne und starrte dem Mädchen mit erhobenem Messer in die Augen.

»Am Leben liebe ich am meisten, durch einen finstren Wald zu streifen …«, flüsterte er mehr als zweideutig und zwinkerte Casini zu. Geschmeichelt über dieses derbe Kompliment, errrötete die junge Frau und versuchte, nicht laut herauszuplatzen.

»Schauen Sie mich doch nicht so an«, sagte sie. So wie sie die Vokale dehnte, musste sie aus Sizilien stammen. Der Metzger hatte das Kaninchen zerlegt und wickelte es in Papier.

»Das macht achthundert Lire, meine schöne kleine Sizilianerin«, sagte er und fuhr sich genießerisch mit der Zunge über die Lippen. Die junge Frau bezahlte hastig und verschwand, die Hand verschämt auf den Mund gelegt. Panerai sah ihr grinsend nach.

»Diese Sizilianerin macht mich richtig heiß«, sagte er, ohne einen Zweifel, dass Casini sich mit ihm in männlicher Solidarität verbünden würde.

»Sie ist wirklich hübsch.«

»Darüber sollte ich lieber nicht nachdenken … Wie war das Steak?«

»Ausgezeichnet, so eins möchte ich noch mal haben.«

»Wer einmal bei Panerai war, kommt immer wieder«, sagte der Metzger und nahm das Stück für die Steaks vom Haken. Er ließ es mit einem dumpfen Knall auf das Schneidbrett fallen, nahm zwei große scharfe Messer und wetzte sie wie üblich aneinander. Casini sang leise ein altes Lied aus den zwanziger Jahren, an dessen Text er sich nicht mehr richtig erinnern konnte. Panerai hielt inne, und sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. Er stimmte laut ein und schwang dazu die Messerspitze.

»… nella parte dei violini, mine magnetiche e sottomarini, ed al posto delle trombe, bombe bombe bombe … bumm, bumm, bumm … Ach, das waren noch herrliche Zeiten …«

»Sie sagen es«, meinte Casini und zwang sich, überzeugend zu klingen.

»Keinen größ’ren Schmerz kenn ich, als mich an die glücklichen Tage zu erinnern …«, deklamierte der Metzger und wiegte melancholisch seinen Kopf dazu.

»Wir werden zurückkehren«, sagte Casini, um ihn zum Reden zu bringen. Panerai senkte die Stimme.

»Gestern bin ich zum Duce gefahren. Ich besuche ihn zweimal im Jahr, einmal zu seinem Geburtstag und dann zum Jahrestag des Marsches auf Rom.«

»Bitte sagen Sie das nicht. Ich konnte leider nicht fort wegen der Arbeit.«

»Er war der Mann, der Italien die Einheit gebracht hat, nicht Garibaldi.«

»Ganz genau.«

»Warum unternimmt eigentlich keiner was gegen diese Juden mit den Ringellöckchen, die sich gegen den Staat verschwören?«, fragte der Metzger und trieb das Messer mit Wucht ins Fleisch.

»Man muss den richtigen Zeitpunkt abwarten.« Casini seufzte. Zum ersten Mal gab er sich als Anhänger längst vergangener Zeiten aus, und das kostete ihn einige Überwindung.

»Wenn es nach mir ginge …« Der Metzger konnte seinen Satz nicht beenden, weil im gleichen Moment eine Frau mit einem Kind an der Hand den Laden betrat. Stumm fuhr er mit der Arbeit fort und zwinkerte Casini verschwörerisch zu. Er wollte ihm das Steak sogar schenken, und der Kommissar musste darauf bestehen, es zu bezahlen. Zum Abschied deuteten sie den römischen Gruß an, und Casini verließ erleichtert den Laden, wobei er den Schirm aufspannte. Es regnete immer noch heftig, aber nun war er fast froh darüber. Das Wasser schien den Dreck der Welt fortzuwaschen. Er hatte keine Lust, noch einmal ins Präsidium zu fahren. Deshalb entschloss er sich, das Steak im Auto zu lassen, und nach einem weiteren Blick zur Zivilstreife hinüber ging er auf dem Viale in Richtung Le Cure. Ein kurzer Spaziergang im Regen würde ihm guttun. Er fühlte sich vollkommen entmutigt. Panerai war ein Jäger, ein Pilzsammler und ein glühender Faschist, der seinen Kundinnen schöne Augen machte. Er war ein Weiberheld, einer, der die Frauen benutzte und wegwarf, ganz wie sein großes Vorbild, der Duce. Casini konnte sich nicht vorstellen, dass er bestimmte Dinge mit kleinen Jungs anstellte. Warum konnte er sich dennoch nicht entschließen, die Überwachung abzubrechen? Weil er nicht die einzige Spur, die er hatte, aufgeben wollte? Damit er nicht wieder nur in seinem Büro saß und Däumchen drehte? Oder hoffte er wirklich noch, dass etwas dabei herumkam? Er konnte sich keinen Reim darauf machen, und für den Augenblick dachte er besser nicht mehr darüber nach.

Mit durchnässten Schuhen bog er in die Via Pacinotti ab. Das Wasser floss schnell den Rinnstein entlang. Im strömenden Regen sah die Neonreklame des Aurora-Kinos unglaublich trist aus. Ohne besonderes Interesse sah er sich die Schaufensterauslagen an. Es drängte ihn weiterzulaufen, sich zu bewegen. Als er an einem Bekleidungsgeschäft vorüberkam, raubte ihm der Anblick den Atem: Eine wunderschöne junge Frau, sie war dunkelhaarig, dekorierte barfuß das Schaufenster um.

Casini ging weiter und atmete mit offenem Mund tief durch. Nach einem Dutzend Schritten blieb er mit klopfendem Herzen stehen. Jetzt würde er sich gleich umdrehen, um sie noch einmal zu betrachten. Ganz ruhig. Das war nur eine schöne junge Frau mit einem Pagenkopf, und er war ein Mann in reifem Alter mit einiger Erfahrung … Doch sein Herz wollte nichts davon wissen, sich zu beruhigen. Das passierte ihm immer, wenn er eine Frau sah, die ihm ernsthaft gefiel. Während er langsam zu dem Laden zurückging, erinnerte er sich an Amelias Prophezeiung. Casini hätte eine Hand dafür geopfert, damit die Dekorateurin die dunkelhaarige Signorina aus den Tarotkarten wäre. Er nahm all seinen Mut zusammen, stellte sich vor das Schaufenster und sah die junge Frau ernst an. Sie streifte ihn nur mit einem Seitenblick und fuhr mit ihrer Arbeit fort. Dabei bewegte sie sich mit angeborener Eleganz. Sie trug ein enganliegendes Minikleid und hatte Nadeln zwischen den Lippen, um damit die Kleider abzustecken. Wunderschön, zierlich, dunkel, aber auch strahlend … Casini erkannte, dass er im Begriff war, sich zu verlieben wie ein Pennäler, der sich in die Schulschönheit verknallt. Doch er konnte seine Augen nicht von ihr abwenden. Er folgte mit dem Blick den eleganten Bewegungen ihrer Arme, den schmalen Füßen, die zärtlich über den Trittschemel zu gleiten schienen, den wallenden Haaren …

Die junge Frau zog das letzte Kleid zurecht, dann wandte sie sich dem seltsamen Herrn zu, der sie die ganze Zeit über beobachtete, ohne sich vom Regen stören zu lassen. Casini nahm wieder all seinen Mut zusammen und nickte ihr zu, als wolle er ihr zu verstehen geben, dass das Schaufenster perfekt war. Die dunkelhaarige Schönheit stieg von ihrem Schemel und schlüpfte in ihre Schuhe. Sie kam aus dem Laden heraus und stellte sich mit unter seinen Regenschirm, um das Ergebnis der eigenen Arbeit zu begutachten. Der Kommissar wagte es nicht, ihr den Kopf zuzudrehen, aber er beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Er spürte, wie sein Ellbogen ihren streifte, und sog verstohlen den Duft ein, der von ihr ausging. Jetzt hätte er gern etwas gesagt, doch er hatte Angst, dass seine Stimme zittern würde. Konnte man in seinem Alter noch so unbeholfen sein? Ein Satz genügte, nur um das Eis zu brechen. Zwei lächerliche kleine Worte oder vielleicht auch nur ein einziges … aber welches? Er war kurz davor, den Mund zu öffnen, da drehte sich die junge Frau wieder um und ging wortlos in den Laden zurück. Sie stellte sich hinter die Verkaufstheke und blätterte ohne besonderes Interesse in einer Illustrierten. Casini beobachtete sie weiter durch das Schaufenster. Das Herz in seiner Brust klopfte wie wild. Gleich würde er hineingehen. Es war nur ein hübsches Mädchen, wiederholte er sich. Oder sollte er besser Frau sagen? Wie alt mochte sie sein? Sechsundzwanzig? Siebenundzwanzig? Hätten Amelias Karten nicht von der Ankunft einer schönen, dunkelhaarigen Signorina gesprochen, wäre er jetzt gegangen. Da war er sich fast sicher. Der Spruch der Tarotkarten lenkte seinen Willen, als ob die Vergangenheit die Zukunft beeinflussen könnte. Er atmete einmal tief durch und betrat den Laden, seinen Schirm ließ er draußen vor der Tür stehen.

»Buonasera«, sagte die junge Frau und blickte von ihrer Zeitschrift auf.

»Falls Sie mich nicht wiedererkennen, ich bin Ihr Regenschirm.« Casini kam es so vor, als hätte er auch seine Verlegenheit draußen gelassen.

»Entschuldigen Sie, ich habe mich gar nicht bedankt.« Was für eine schöne Stimme sie hatte.

»Ich muss Ihnen danken.«

»Wofür denn?«, fragte sie ehrlich verblüfft.

»Für ein so hübsches Schaufenster …« Verwundert bemerkte er, dass er richtig verwegen wurde. Hier hatte wohl wirklich das Schicksal seine Hand im Spiel. Das Mädchen sah ihn mit einem leicht geheimnisvollen Lächeln an, wie einige Engel auf Gemälden von Correggio. Aus der Nähe betrachtet war sie noch attraktiver … Aber warum sagte sie denn nichts? Nach einigen Sekunden des Schweigens, die sich endlos zogen, spürte Casini, wie die Unsicherheit wieder von ihm Besitz ergriff.

»Ich suche ein Hemd … Welche Farbe, weiß ich noch nicht«, stammelte er.

»Es tut mir leid, aber wir führen nur Damenbekleidung«, sagte sie sichtlich amüsiert über den armen, unbeholfenen Mann vor ihr.

»Aber sicher, ich meinte eine Damenbluse«, versuchte Casini, seinen Fehler wiedergutzumachen.

»Was hätten Sie denn gern? Etwas Elegantes? Oder lieber etwas Schlichtes? Aus Baumwolle oder Seide?«

»Können Sie mich beraten?«

»Soll es etwas für einen besonderen Anlass sein oder für den Alltag?«

»Für den Alltag.«

»Alter?«

»Fünfundzwanzig.«

»Größe?«

»Ungefähr Ihre«, sagte Casini. Er bemerkte, dass er schwitzte. Das Mädchen holte einige Blusen aus den Regalen und breitete sie vor ihm auf der Theke aus.

»Die hier ist aus Baumwolle, enganliegend, sehr schlicht. Die hier dagegen ist aus Seide …« Vorsichtig faltete sie die Bluse auseinander und forderte ihn auf, mit den Fingern über den Stoff zu fahren. Casini gehorchte und gab sich äußerst interessiert.

»Und die hier?«, fragte er und deutete auf eine weiße Bluse. Dabei zwang er sich, die junge Frau nicht anzustarren.

»Aus Flanell, fühlen Sie nur, wie weich sie ist«, sagte sie. Der Kommissar nahm einen Zipfel zwischen die Finger und nickte scheinbar überzeugt.

»In Ordnung, die hier nehme ich.« Er wollte nicht für einen dieser lästigen Kunden gehalten werden, die das ganze Geschäft auf den Kopf stellen und dann gehen, ohne etwas zu kaufen.

»Ein ausgezeichnete Wahl«, sagte das Mädchen und legte die Bluse zusammen.

»Wie viel kostet sie?«

»Viertausendneunhundert. Soll ich sie als Geschenk verpacken?«

»Ja, bitte.« Das war aber teuer, Himmel noch eins. Doch er wollte nicht als Geizhals gelten und zückte betont gelassen sein Portemonnaie. Die Komödie ging ihrem Ende zu. Nun hatte er keinen Vorwand mehr, länger zu bleiben, es sei denn, er würde weiter Geschenke für eine nicht existierende Frau kaufen. Er wartete, bis die junge Frau die Bluse eingepackt hatte, und ließ sie dabei nicht aus den Augen. Verzweifelt suchte er nach etwas, was er noch sagen konnte, aber in seinem Kopf herrschte nur eine große Leere. Er bezahlte, und nach einem gestotterten Danke ging er, ohne sich umzudrehen. Mit dem Päckchen unter dem Arm trat er auf den Bürgersteig in den Regen hinaus. Er fühlte sich, als würde er in einer Seifenblase laufen, kam sich vor wie der letzte Trottel. Doch mittlerweile kannte er sich nur zu gut: Er würde keinen Frieden finden, bevor er nicht wieder in dieses Geschäft zurückgekehrt war. Es hatte gar keinen Zweck, sich deswegen Vorwürfe zu machen. Casini bog in den Viale dei Mille ein, und diesmal erinnerte er sich nicht einmal, dass nur wenige Schritte von hier das Haus stand, in dem er sprechen und laufen gelernt hatte. Sein Käfer parkte kilometerweit entfernt, und um dorthin zu gelangen, musste er einen Ozean durchqueren.

Er schaute kurz bei Totò vorbei, um ihm das faschistische Steak anzuvertrauen. Er würde es schön abgehangen am nächsten Tag verspeisen. Der Koch fragte ihn, ob er zum Abendessen Würste mit Wachtelbohnen essen wollte oder lieber Stockfisch nach Livorneser Art, doch Casini wollte nicht bleiben.

»Heute Abend gibt es im Fernsehen diese Wörterquizsendung, die will ich nicht verpassen«, sagte er.

»Die können Sie auch hier anschauen, Commissario.« Totò zeigte auf das Zwölf-Zoll-Gerät in dem Regal mit dem eingelegten Gemüse.

»Ich gehe nach Hause, Totò. Ich bin müde.«

»Man hat mir einen Grappa geliefert, mit dem könnte man Tote zum Leben erwecken«, sagte der Koch, um ihn zu überreden, doch noch zu bleiben. Casini dankte ihm, aber an diesem Abend verlangte es ihn wirklich nach ein wenig Ruhe. Er verabschiedete sich und ging nach Hause, fluchte auf den verdammten Regen, der einfach nicht aufhören wollte.

Er bereitete sich einen schönen Teller Penne mit Butter und Parmesankäse und viel Pfeffer zu. Dann ging er ins Wohnzimmer, um den Fernseher einzuschalten, und setzte sich mit dem Teller in der Hand und einer Korbflasche Rotwein in Reichweite aufs Sofa. Ohne großes Interesse verfolgte er das Ende der Nachrichtensendung. Er konnte sich nichts vormachen: Die dunkelhaarige Verkäuferin ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Schön, wunderschön, diese Augen, dieser Mund und erst die Beine … Verflucht, wie viele junge Kerle mochten wohl hinter ihr herscharwenzeln. Sie konnte jeden Mann haben, den sie wollte, sie musste sich nur einen aussuchen. Was sollte sie da mit einem alten Kommissar anfangen, der sich beim Essen den Gürtel weiterschnallen musste? So eine wie sie vergaß er lieber gleich wieder. Und dann war es nun wirklich nicht der beste Moment, einer Frau hinterherzulaufen. Er hatte an anderes zu denken.

Der Meteorologe Colonello Bernacca versprach für den nächsten Tag eine Wetterbesserung, und während er mit einem Filzstift Linien auf die Europakarte malte, erklärte er den Italienern die Wolkenbewegungen.

Casini aß seine Nudeln auf und goss sich noch ein Glas Wein ein. Jetzt begannen die zehn Minuten mit Werbung und Sketchen vor dem eigentlichen Abendprogramm. Nach dem Liedchen für Caffé Paulista kam Nino Benvenuti an die Reihe, der sich als Geheimagent 00sis ausgab. Er tötete seine Feinde, indem er wie ein Gummiball herumhüpfte, und eine Stimme aus dem Off zählte seine außergewöhnlichen Eigenschaften auf: nicht zu greifen, aufregend, unbezähmbar, überraschend, explosiv, unwiderstehlich … Und all das bloß, weil er Brandy der Marke Cavallino Rosso trank. Vielleicht hatte ja Agent 00sis die besten Chancen, die dunkelhaarige Schönheit aus dem Bekleidungsgeschäft zu erobern … Hatte sich Casini nicht gerade vorgenommen, nicht mehr an sie zu denken?

Er zündete sich eine Zigarette an und streckte die Füße unter dem Couchtisch aus. Enrico Maria Salerno empfahl Total-Benzin, um schneller fahren zu können. Nachdem er seinen Alfa Giulietta Sprint mit Super vollgetankt hatte, raste er allen anderen Wagen auf der Autobahn davon und freute sich: »So läuft das wie geschmiert!«. Salerno könnte der Dunkelhaarigen auch gefallen, oder war der auch zu alt? Na ja, es gab alt und alt, das war nun einmal so. Gregory Peck musste auch schon um die fünfzig sein, genau wie Anthony Quinn, Lino Ventura, Yves Montand … und James Stewart, der ging ja schon auf die sechzig zu. Faszinierende reife Männer, für die Frauen auf der ganzen Welt schwärmten. Gut, er sah ja ein wenig wie Lino Ventura aus. Die meisten Frauen hatten ihm das gesagt. Nur dass er kein großer Schauspieler war, sondern ein Commissario Capo, der schon seit längerem Polizeipräsident sein sollte. Wegen seiner eigenwilligen Arbeitsauffassung hatte er keine Karriere gemacht, und vielleicht lag es auch an seinem »übertriebenen Antifaschismus«. Aber ihn interessierte es nicht, Polizeipräsident zu werden. Er wollte nicht hinter einem Schreibtisch verfetten, und auch Macht reizte ihn nicht.

Er füllte wieder sein Glas. Das Vorprogramm war noch nicht vorbei. Nach der neidischen Mariarosa kam der Spot mit dem Gringo, der Montana-Dosenfleisch am Gürtel trug. Casinis Mundwinkel hoben sich zu einem Grinsen. Wenn er diesen Büchsenfraß sah, musste er an den Krieg denken. Die Alliierten hatten tonnenweise Rindfleisch in Dosen mitgebracht, und die italienischen Truppen lernten bald, es zu hassen. Manchmal vergruben sie die verfluchten Konserven in einem tiefen Graben, damit sie sie nicht weiter in ihren Rucksäcken herumschleppen mussten. Da pflückten sie lieber frisches Obst von den Bäumen, auch wenn es noch nicht reif war. Er stellte sich vor, wie er der dunkelhaarigen Schönheit aus dem Laden davon erzählte, und kam sich steinalt vor. Während er den italienischen Stiefel von unten aufgerollt hatte, um den Deutschen in den Arsch zu treten, hatte sie noch ins Bett gemacht.

Jetzt begann Studio Uno. Mina trug ein bodenlanges Abendkleid mit Rückenausschnitt, wie eigentlich fast immer. Sie sang ein schwungvolles Lied und wiegte sich im Takt zur Musik. Casini holte sich einen Grappa und ließ sich dann wieder aufs Sofa fallen, diesmal legte er sich hin. Nach einem Auftritt des Fernsehballetts und noch einem romantischen Schlager hatte endlich Totò seinen Auftritt, für den es donnernden Applaus gab. Er konnte sagen, was er wollte, und die Menge tobte vor Lachen. So ein Gesicht wie er hatte eben sonst keiner.

Völlig zerschlagen wachte Casini auf dem Sofa auf. Es war nach zwei. Er war wie ein Stein eingeschlafen, direkt nach Totò. Das Programm war schon seit einiger Zeit vorbei, und der Fernseher rauschte. Das Geräusch tat in den Ohren weh. Mit einem Stöhnen erhob er sich und schaltete den Apparat aus. Schwankend ging er ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Er wagte es nicht, in den Spiegel zu sehen, sondern blickte lieber der ausgespuckten Zahnpasta nach, wie sie im Abfluss des Waschbeckens verschwand.

Dann zog er sich aus und ging ins Bett. Sobald er das Licht ausgemacht hatte, musste er wieder an das Mädchen mit den dunklen Haaren denken, an ihre schmalen und doch kräftigen Hände, an die Art, wie sie ihre Hüften wiegte … Er musste aufhören, sich wie ein kleiner Junge zu benehmen. Vielleicht erinnerte er sich besser daran, dass er kurz vor der Pensionierung stand. Wie viele Frauen sah er jeden Tag auf der Straße? Einige hinterließen bei ihm einen stärkeren Eindruck, aber letztlich vergaß er alle. Auch die schöne Verkäuferin würde er vergessen. Das war besser für ihn. Welchen Sinn hatte es schon, ständig an ihre nackten Füße zu denken, an ihre Ohren wie Porzellan, an ihren frechen Schmollmund …

Als er die Augen öffnete, brauchte er eine Weile, ehe er begriff, was anders war: Das Rauschen war nicht mehr zu hören, es hatte aufgehört zu regnen. Durch die Ritzen der Fensterläden drang Licht herein, und er konnte die Zeiger der Uhr erkennen. Viertel nach acht. Er stand in aller Ruhe auf, duschte lange und verließ danach das Haus. Ein scharfer Wind fuhr ihm durchs Haar. Bis auf ein paar alte Frauen, die von der Messe nach Hause gingen, waren die Straßen verlassen. Er ging zu Fuß zur Piazza Tasso und betrat dort die Bar von Fosco, eine der wenigen im Viertel, die auch am Sonntag geöffnet hatten. Die Jukebox spielte ein Lied von Adriano Celentano.

»Einen Kaffee, Commissario?«

»Du kannst Gedanken lesen …«

»Alles in Ordnung?«, fragte Fosco, während er an der Kaffeemaschine herumhantierte.

»Wir wollen nicht übertreiben. Und du, wie geht es dir?«

»Man schlägt sich so durch, Commissario. Ich schufte wie ein Tier, und das Geld wandert alles an den Staat.«

»Wir Italiener haben zwar so unsere Schwierigkeiten damit, es zu begreifen, aber der Staat, das sind wir.«

»Wir oder sie, die Kohle ist im Nu weg.« Fosco hatte die Bar vor ein paar Monaten übernommen, das Geld dazu kam aus seinen jahrelangen Schwarzmarktgeschäften und Schmuggeleien, denen er eigentlich noch immer nicht abgeschworen hatte. Jeder im Viertel wusste das. Und alle respektierten ihn. Auf seinem Handrücken hatte er neben dem Daumen eine Tätowierung, einen Würfel, der eine Fünf zeigte. Es war das Zeichen, dass er in der Unterwelt verkehrte oder gesessen hatte. Und doch, wenn man ihn so sah, wirkte er wie ein verbitterter pensionierter Lehrer. Casini kannte ihn noch aus der Zeit vor dem Krieg und hatte ihn Gott sei Dank in all den Jahren nie verhaften müssen.

»Es sieht so aus, als hätte Bernacca für heute mal recht mit seiner Vorhersage«, sagte der Kommissar, um das Thema zu wechseln.

»Hoffen wir, dass es diesmal hält«, grummelte Fosco und stellte die dampfende Tasse auf den Tresen. In einer Ecke döste Stecco vor sich hin, der um diese Uhrzeit schon einige Gläschen Wein intus hatte. Casini grüßte ihn mit einer Handbewegung und trank rasch seinen Kaffee.

»Hast du mal eine Telefonmünze, Fosco?«

»Ruf doch von hier an.« Der Barmann bedeutete ihm, hinter den Tresen zu kommen. Casini rief im Präsidium an, um nach Neuigkeiten zu fragen. Tapinassi übermittelte ihm, was Piras, der mit Rinaldi die Schicht übernommen hatte, über Funk gemeldet hatte: Der Metzger war um halb sieben mit dem Fiat 850 von zu Hause weggefahren und hatte das Jagdgewehr mitgenommen. Sonntags um diese Zeit war kaum jemand unterwegs, daher war es ziemlich schwierig gewesen, ihm unauffällig zu folgen. Panerai war bis Cintoia Bassa ganz in der Nähe von La Panca gefahren. Er hatte das Auto auf einem Seitenweg abgestellt und war dann zu Fuß, mit dem Gewehr über der Schulter, den Hügel hinaufgestiegen. Piras war ihm lieber nicht weiter gefolgt, entweder hätte man ihn gleich bemerkt oder er hätte sich im Gebüsch verstecken müssen und riskiert, angeschossen zu werden. Rinaldi und er waren also die Straße bei Cintoia ein kurzes Stück zurückgefahren und hatten den Wagen an einer Stelle geparkt, von der aus man den Fiat 850 des Metzgers im Blick hatte. Dort standen sie jetzt immer noch, und wahrscheinlich mussten sie noch mehrere Stunden dort ausharren. Casini sagte, dass er später im Büro vorbeischauen würde, und legte auf. Dann ging er wieder auf die andere Seite des Tresens.

»Danke, Fosco.« Er zog sein Portemonnaie heraus.

»Wofür denn?«

»Was hast du Schönes zu Rauchen da?«

»Na, das Übliche, Commissario … Rothmans, Chesterfield, Pall Mall, Stuyvesant, Lucky Strike, Turmac …« Unnötig zu sagen, dass alles Schmuggelware war.

»Ich probier mal die Turmac, die habe ich noch nie geraucht«, sagte Casini und legte tausend Lire auf den Tresen.

»Die roten oder die weißen?«

»Die roten«, meinte Casini auf gut Glück. Fosco verschwand hinter einer kleinen Tür und kehrte dann mit den Zigaretten zurück.

»Der Kaffee geht aufs Haus«, sagte er und gab ihm das Restgeld heraus. Der Kommissar bedankte sich und steckte sich noch im Hinausgehen eine Zigarette an. Niedergeschlagen und in Gedanken versunken lief er vor sich hin. Immer mal wieder wehte der Wind in lauen Böen durch die Straße und brachte von den Hügeln im Umland den zarten Geruch von abgestorbenem Laub mit. Er, Casini, würde Giacomos Mörder nie fassen. Der Metzger hatte die Telefonrechnung beim Pilzesammeln oder auf der Jagd verloren. Das war alles. Es war sinnlos, ihn weiter zu beschatten. Casini hatte sich von der Hoffnung mitreißen lassen und sich an einen dummen Fetzen Papier geklammert. Jetzt tappte er wieder völlig im Dunkeln, war eigentlich nie aus ihm herausgetreten. Wenn ihm jetzt nicht irgendein Heiliger unter die Arme griff, würden die Schweine, die den armen Jungen umgebracht hatten, ungeschoren davonkommen. Damit konnte er sich einfach nicht abfinden.

Er lief an seinem Hauseingang vorbei und dann weiter bis zum Borgo San Frediano. Als jemand seinen Namen rief, schaute er auf. Die kräftige Aneris winkte ihm mit einer Riesenpranke zu, während sie in der anderen ein Brötchen hielt, das ein Maurer kaum geschafft hätte. Casini winkte zurück. Er hatte noch nie ein Wort mit der Frau gewechselt, aber sie grüßten einander immer wie alte Freunde.

Er drückte die Glastür von Santo Novaros Laden auf, einem Barbier, der niemals lachte. Im Viertel hatte man ihm deshalb den Spitznamen »Totengräber« verpasst. Er wusste das und war sogar noch stolz darauf. Obwohl ihn noch nie jemand lachen gesehen hatte, funkelte in seinen Augen die herbe Ironie eines Sizilianers. Er war stolz und elegant und sah aus wie eine Miniaturausgabe des Schauspielers Amedeo Nazzarini in den vierziger Jahren.

»Meine Verehrung, Commissario.« Santo war bereits als kleiner Junge mit seinen Eltern nach Florenz gekommen, aber er machte sich immer noch einen Spaß daraus, den Sizilianer zu spielen.

»Ciao, Santo.« Sie schüttelten einander die Hände. Die von Santo war knochig und hart wie Olivenholz. Es waren keine weiteren Kunden im Laden, und so nahm Casini auf dem Drehstuhl Platz. Der Sizilianer breitete ein hellblaues Tuch über seine Kleidung und stopfte es im Kragen fest. Dann nahm er eine spitze Schere in die Hand.

»Ein bisschen kürzen?«

»Aber nicht zu viel abschneiden.«

»Sie wollen doch nicht etwa einer von diesen langhaarigen Hippies werden, Commissario.« Santo begann zu schneiden.

»Ich muss gestehen, dass ich gar nichts dagegen hätte, wenn ich dreißig Jahre jünger wäre.«

»Männer müssen wie Männer aussehen.«

»In früheren Zeiten trugen auch Männer ihr Haar lang«, sagte Casini und sah Santo im Spiegel an. Der brütete eine Weile schweigend über den Worten des Kommissars, während er sein Werk fortsetzte. Nach jedem kleinen Schnitt schnippte er kurz mehrmals leer in die Luft. Es war ein vertrauter Laut, und Casini entspannte sich langsam. Er schaute in den Spiegel und dachte an die dunkelhaarige Verkäuferin. Wenn er bloß dreißig Jahre jünger wäre …

»Ich weiß viele Dinge, die ich gar nicht wissen möchte«, sagte Santo leise mit ernster Miene.

»Was denn?« Casini schauderte, als ob der Sizilianer ihm jeden Augenblick die Namen von Giacomos Mördern nennen würde.

»Haarwirbel«, sagte Santo, während er weiterschnitt.

»Haarwirbel.«

»Genau, Commissario. Das vererbt sich vom Vater auf den Sohn, wie böse Taten.«

»Das musst du mir jetzt erklären, Santo.«

»Es gibt Väter, die sind gar nicht die Väter ihrer Söhne, und Söhne, die nicht die Söhne ihrer Väter sind. Haarwirbel lügen niemals. Ich muss sie nur sehen und weiß Bescheid.«

»Was weißt du?«

»Ich könnte eine ganze Liste von Kindern im Viertel machen, die Kuckuckskinder sind.«

»Meinst du das ernst?«

»Leider ja, auch wenn ich lieber nichts davon wüsste.«

»Sag mal, ist dir jemals ein Kind von mir untergekommen?«, fragte Casini lächelnd, aber er wartete doch gespannt, was der Sizilianer antworten würde.

»Nur keine Sorge, Commissario, ich werde es niemandem verraten«, meinte der Friseur so ernst wie immer.

»Du machst Witze, nicht wahr?«, fragte Casini leicht beunruhigt nach.

»Selbstverständlich, ich werde es natürlich überall im Viertel herumerzählen.«

»Und welchem angeblichen Vater ist das Kind untergeschoben worden?«, fragte Casini.

»Mir …«, sagte Santo und schwang einen blitzenden Säbel hoch durch die Luft. Ehe der auf seinen Schädel niedersausen konnte, erwachte Casini. Der Sizilianer rüttelte ihn an der Schulter.

»Sie schnarchen wie ein Traktor, Commissario.«

»Häh?«

»Legen Sie den Kopf ans Waschbecken, ich muss Ihnen die Haare waschen.«

»Wie? Ach so …«, stammelte Casini. Er beugte sich vor und fühlte sich dabei, als würde er den Hals auf die Guillotine legen. Santo shampoonierte ihm zweimal energisch den Kopf. Dann griff er zum Föhn, und innerhalb weniger Minuten waren die Haare trocken. Casini schaute sich im Spiegel an. So gekämmt und geschniegelt erkannte er sich kaum wieder. Der Sizilianer nahm das hellblaue Tuch weg und bürstete ihm mit einem breiten Pinsel den Hals ab.

»Sie sehen aus wie ein amerikanischer Filmschauspieler.«

»Hast du mich für heute nicht schon genug aufgezogen?« Casini erhob sich. In diesem Moment kam ein Mann herein, der einen niedergeschlagenen Jungen hinter sich herzog.

»Einmal Scheren für diesen Schafspelz hier«, sagte der Mann finster.

»Die sind doch gar nicht lang«, meinte der Junge verzweifelt und schob die Haare hinter die Ohren, um sie zu verstecken. Santo und Casini verfolgten die Szene schweigend.

»Du siehst aus wie ein Affe«, sagte der Mann empört.

»Die sind nicht lang«, wiederholte der Junge und schnaubte auf.

»Zum Henker mit den Bitels …«

»Es heißt Bitols, nicht Bitels.«

»Ich muss mich wegen dir ja in Grund und Boden schämen.«

»Ich will sie so lang …« Jetzt weinte der Junge fast.

»Aber merkst du denn nicht, dass das grauenhaft aussieht?«

»Mir gefallen sie so«, murmelte der Junge traurig. Sein Vater verpasste ihm einen Klaps in den Nacken.

»Jetzt ist Schluss mit den Flausen, setz dich hier hin und sei still!« Er drückte seinen Sohn ohne weitere Umstände in den Frisierstuhl, wobei ihm ein Seufzer der Erleichterung entfuhr.

»Ein ordentlicher Fassonschnitt, bitte … Zum Henker mit den Bitels.« Dann ließ sich der Mann auf die Bank fallen und schlug die Zeitung auf.

»Der Metzger ist um zwanzig nach zwölf nach Hause zurückgekehrt, mit einem Hasen und zwei Fasanen.« Piras hatte Ringe unter den Augen, auch in seinem Blick konnte man inzwischen lesen, dass er resigniert hatte. Casini fuhr sich enttäuscht mit der Hand übers Gesicht.

»Wir jagen Gespenstern nach, Piras.«

»Aber wir müssen es tun.«

»Wir beschatten tagelang einen armen Idioten, der Steaks klopft, einen Metzger, der auch heute noch faschistische Propagandalieder singt und allen Frauen, die ihm unterkommen, aufdringlich den Hof macht …«

»Wir mussten es tun, Commissario.«

»Meinst du nicht, dass wir endlich damit aufhören sollten?«

»Und was sollen wir dann tun?«

»Jedenfalls nicht weiter unsere Zeit verschwenden.«

»Warten wir noch ein paar Tage, Commissario.«

»Hat das denn noch Sinn?«

»Ich weiß es nicht, aber … Denken Sie doch einmal scharf nach. Was würden Sie machen, wenn Sie ein Kind umgebracht hätten? Sie würden sich doch erst einmal ganz ruhig verhalten, nicht wahr? Falls der Metzger wirklich mit dem Mord zu tun hat, würde er nicht riskieren, dass man ihn in einer verfänglichen Situation erwischt. Selbst wenn er nicht weiß, dass er beobachtet wird.«

»Ach, könnte er das denn?«

»Das weiß man nie, Commissario. Vielleicht hat er ja etwas bemerkt und tut nun so, als wäre nichts. Vielleicht ist er gar nicht so dumm.«

»Wir können nicht ewig so weitermachen, Piras.«

»Noch zehn Tage …«

»Eine Woche und nicht einen Tag länger. Wenn nichts dabei herumkommt, ist Schluss mit dem Metzger. Wir können anderes tun … Die Pädophilenszene durchleuchten, die Stadt mit Fotos des Jungen zupflastern, eine Belohnung aussetzen …« Wie er nur zu gut wusste, würde das alles keinen Erfolg haben. Er musste sich damit abfinden. Keiner würde für den Mord an dem kleinen Giacomo Pellissari büßen. Er steckte sich eine Zigarette in den Mund, bedeutete Piras aber, dass er sie sich nicht anzünden würde. Das Telefon klingelte. Es war Rosa.

»Hallo, mein großer Bär, wie geht es dir? Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie groß Krümelchen geworden ist. Sie ist ein richtiger kleiner Teufel, klettert die Vorhänge hoch, springt auf die Betten, zwängt sich überall hinein … Sie ist ein richtiger Schatz, ein kleiner Teufel. Sogar Gedeone hat Angst vor ihr, und dabei ist der doch so groß und fett … Aber was wollte ich dir eigentlich sagen? Ach ja, ich habe beschlossen, dass du mich heute Abend zum Essen ausführst … Und zwar in ein richtig feines Restaurant, in dem man die Weinflasche am Tisch aufmacht. Hol mich um halb neun ab. Aber bitte pünktlich. Ich hasse es, wenn ich auf die Männer warten muss.«

»Rosa, was fällt dir denn ein?«

»Sag mir nicht, dass du erst um neun kommen willst …«

»Entschuldigung, aber mir ist nicht danach, auswärts zu essen.«

»Falls du Angst hast, es würde zu teuer, dann zahl eben ich, nur keine Bange.«

»Darum geht es nicht.«

»Ach, es gibt eben keine Männer mehr wie früher, heilige Madonna!«

»Rosa, bitte nicht.« Casini seufzte und kaute auf der Zigarette herum. Rosa versuchte es jetzt mit ihrer Kleinmädchenstimme.

»Ach, jetzt komm schon, großer Bär, willst du etwa deine kleine Rosa zu Hause sitzen lassen, die dich immer so schön massiert? Deine liebe kleine Rosa, die so gerne in ein schickes Restaurant ausgehen möchte? Kannst du wirklich so grausam sein, du hässlicher großer Bär?«

»In Ordnung, du hast gewonnen. Um halb neun stehe ich vor deiner Tür. Und lass dir nicht wieder eine Stunde Zeit mit dem Runterkommen. Ich hasse es, wenn ich länger als eine Stunde auf Frauen warten muss …«

»Ich werde absolut pünktlich sein, ciao ciao«, flötete Rosa und legte auf. Während der Kommissar den Hörer auf die Gabel sinken ließ, dachte er im Geiste schon an die hohe Restaurantrechnung. Er schaute resigniert zu Piras hinüber, der sich von seinem Stuhl erhob.

»Ich gehe in den Funkraum, Commissario. Dann können Sie in aller Ruhe rauchen.«

»Stört es dich wirklich so sehr?«

»Ich hoffe, dass es eines Tages auch Sie stört, Dottore«, sagte der Sarde und humpelte davon.

Casini verließ das Präsidium zu Fuß und ging zur Trattoria, um bei Totò in der Küche einen Happen zu essen. Da er wusste, dass er am Abend ins Restaurant gehen würde, verzichtete er auf Panerais Steak, das noch im Kühlschrank lag. Er entschied sich für etwas Leichtes und wehrte mehrfach Totòs Vorschläge ab, der ihn am liebsten gemästet hätte. Es gelang ihm sogar, auf den Grappa zu verzichten, den ihm der Koch vor die Nase gestellt hatte, und schließlich entfloh er diesem Ort der Versuchungen.

Er wollte sich ein wenig die Beine vertreten, und daher kehrte er nicht gleich ins Büro zurück, sondern ging ins Stadtzentrum. Nach einem weiteren Kaffee in San Lorenzo lief er ziellos durch die Straßen. Um diese Zeit herrschte hier reges Treiben. Als er so zwischen den Leuten hindurchlief, schnappte er den Satz eines Mannes auf, der für seinen etwa zehnjährigen Sohn bestimmt war, den er an der Hand hielt. Der Mann war teuer gekleidet, er hatte einen Hut auf dem Kopf und eine dicke goldene Uhr am Handgelenk, seine Schuhe waren blitzblank poliert. Er redete sanft auf sein Kind ein, versuchte, es zu erziehen, und sein Sohn hörte ihm mit halb geöffnetem Mund aufmerksam zu.

»Du darfst dich nicht um Sachen kümmern, die dich nichts angehen. Vergiss die anderen, du darfst nur an dich selbst denken. Verstehst du, was ich meine?«

»Ja, Papa.«

»Die anderen wollen dich bloß betrügen; wenn du zu gutherzig bist, nutzen sie das aus, wenn du ihnen den kleinen Finger reichst, nehmen sie gleich die ganze Hand. Keiner macht etwas umsonst, denk immer daran. Du musst dich um dich kümmern. Nimm auf niemanden Rücksicht, und geh einfach zielstrebig deinen Weg. Verstehst du, was ich sagen will?«

»Ja, Papa … Kaufst du mir kleine Marzipanfrüchte?« Sie bogen in eine Querstraße ein und setzten ihre Lektion fürs Leben fort. Casini schüttelte grimmig lächelnd den Kopf. Wenn er den Worten dieses reichen Familienvaters lauschte, war das wie ein Blick durchs Schlüsselloch direkt in die Seele des italienischen Bürgertums. Diese kleine Episode bestätigte nur seine Meinung. Nichts war verdorbener als die italienische Bourgeoisie, sie hatte bereits unter dem Faschismus vor sich hin gefault, und nun verfaulte sie nach der Befreiung weiter. Das Ganze war schrecklich einfach. Die Reichen dachten nur daran, wie sie noch reicher werden konnten, und was in der Welt vorging, kümmerte sie nicht, solange sie sie ausbeuten und Geld anhäufen konnten. Sie scherten sich einen Dreck um Faschismus oder Demokratie, wollten nichts, als sich in Ruhe zu bereichern. Sie waren geizig, gemein und dumm – beliebte Eigenschaften der Reichen, weil sie ihnen halfen, immer reicher zu werden. Dass sie ihr Ziel erreichen konnten, hatten sie Menschen zu verdanken, die sie im Grunde verachteten. Sie waren verabscheuenswürdig, habgierig, banal, abgestumpft. In ihren feinen Villen zählten sie eifrig ihr Geld und glaubten, dass der Rest der Welt sie nichts anginge, der sich da draußen vor dem Gartenzaun abplagte und nur mit Mühen über die Runden kam. Sie waren überzeugt, dass auch der Tod nicht zu ihnen nach Hause käme, und wenn einer von ihnen starb, schauten sie einander erschrocken an, erschüttert, dass ihnen all ihr Reichtum nicht half.

Beim Gedanken an all die Ölmagnaten, die Notare, die Bankiers, die Industriellen, die Architekten, die die Städte zerstörten, musste er grimmig lachen. All jene Bürger, die sich von Pomp so beeindrucken ließen, sei es die Pracht, die der italienische König entfaltet hatte, der militärische Monumentalismus Mussolinis, der dekadente Schwulst Vittorio D’Annunzios und letzten Endes auch die unterschwelligere, arrogante Aufgeblasenheit der Demokratie. Diese unscheinbaren, mittelmäßigen Spießer, die sich hinter den Regeln und Gewohnheiten ihrer Väter und Großväter versteckten und dabei dachten, diese würden ewig gelten. Sahen sie denn ihren Söhnen und Töchtern nicht in die Augen? Sahen sie denn nicht, dass diese Schlangen an ihrem Busen keine Regeln mehr wollten und ungeduldig darauf warteten, ihren Teil von Macht und Geld abzubekommen? Merkten sie nicht, dass ihre Kinder nur darauf lauerten, ihr Vermögen zu erben, den Reichtum der Väter, und dafür all die faulen Regeln über Bord warfen, die sie für sinnlos befanden? War ihnen nicht bewusst, dass ihre Kinder ihre Autorität untergraben wollten, dass sie keine Herren duldeten, weil sie selbst herrschen wollten? In den Augen dieser jungen Leute, die zwar im Luxus groß geworden waren, aber von eisernen Regeln klein gehalten wurden, stand eine höhnische Wut und allgemeine Verachtung. Sie kannten nur ein Ziel: die Väter vom Thron zu stoßen und deren Platz einzunehmen. Sie waren schlimmer als die Generation ihrer Eltern, wollten noch reicher und mächtiger werden als diese, und ihr oberflächlicher Wunsch nach Freiheit war nichts anderes als die Gier nach Geld und Macht. Aber noch lächerlicher erschien ihm, dass jetzt auch die Arbeiter, die Angestellten, die Beamten so wie die Reichen sein wollten, deren Diener sie immer gewesen waren. Neid hatte ihren Stolz ersetzt. Auch sie wollten reich und mächtig sein, träumten von einer Villa mit Garten, um sich dort abzuschotten und das Elend, das Leid, den Tod auszusperren, so wie man den Abfall draußen vor der Tür lässt.

Gemächlich kehrte er ins Präsidium zurück, die Hände in den Taschen. Er nickte Mugnai zu und ging dann in sein Büro hinauf. Als er sich in seinen Stuhl fallen ließ, fühlte er sich wie der Angeklagte in einem Prozess. Ein Kind war ermordet worden, und er kam keinen Millimeter vorwärts. Stattdessen erging er sich in sinnlosen Reflexionen über die verachtenswerte menschliche Rasse, damit er nicht an das eigene Versagen denken musste. Innerlich beschimpfte er sich als alten Trottel, aber was konnte er machen, wenn er es selbst jetzt nicht schaffte, sich die schöne Verkäuferin aus der Via Pacinotti aus dem Kopf zu schlagen?

Am Spätnachmittag versetzte ein Raub in einem Juweliergeschäft im Zentrum das Präsidium in Alarmbereitschaft. Es gab eine Verfolgungsjagd in der Via Bolognese, und in der Kurve bei Pian di San Bartolo überschlug sich das Auto der Räuber. Zwei von ihnen waren auf der Stelle tot, und der dritte starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Der Schmuck fand sich bis auf den letzten Stein wieder, und alle waren glücklich und zufrieden.

Pünktlich um halb neun klingelte der Kommissar bei Rosa. Nach einer Ewigkeit trat sie an die Brüstung des Balkons und rief zu ihm hinunter, er möge sich noch ein Minütchen gedulden, sie käme gleich.

Als die große Haustür endlich aufging, hatte Casini schon drei Zigaretten geraucht. Rosa stand vor ihm in all ihrer Pracht, balancierte auf roten Lackschuhen mit Pfennigabsätzen. Durch das starke Make-up wirkten ihre Augen unnatürlich groß, und sie hatte sich die Lippen knallrot angemalt. Sie trug einen kurzen scharlachroten Kaschmirmantel mit einem Pelzkragen.

»Aber ja doch, ich bin’s … Jetzt zieh doch nicht so ein Gesicht.«

»Du hast ein sehr persönliches Zeitgefühl, Rosa.«

»Jetzt fang nicht mit den üblichen Männersprüchen an.«

»Es ist zehn nach neun, aber weil ich ein Gentleman bin, weise ich dich nicht darauf hin.«

»Das ist deine eigene Schuld, was kommst du auch immer so pünktlich«, sagte sie allen Ernstes. Casini war einen Moment sprachlos, dann schüttelte er nur stumm den Kopf. Sie stiegen in seinen Käfer, und Rosa sagte, dass sie einen Tisch bei Da Alfredo reserviert habe, im Viale Don Minzoni.

Als sie das Restaurant betraten, verebbte die leise Unterhaltung im Raum. Alle hatten sich umgedreht, um dieses merkwürdige Paar zu betrachten: ein Mann mittleren Alters, der leicht ungepflegt wirkte, und eine auffällige Blondine, die eindeutig zu stark geschminkt war und mit ihren Pfennigabsätzen Löcher in den Boden bohrte. Die Frauen starrten Rosa mit bösen Blicken an, die Männer beobachteten sie verstohlen, während sie Gleichgültigkeit vortäuschten. Casini war es ein wenig peinlich, aber er tat so, als bemerkte er nichts. Rosa überließ ihm die Ehre, ihr den Mantel abzunehmen, und präsentierte nun der Welt ein rotes Minikleid, das eng um ihre Hüften anlag. Sie nahmen an einem ruhig gelegenen Tisch Platz, und erst da setzte die Unterhaltung wieder ein. Casini brauchte nur eine halbe Minute, dann hatte er seine Wahl getroffen, doch er wartete geduldig, bis Rosa sich endlich entschieden hatte. Ein stoischer Kellner mit einem langen, schmalen Gesicht öffnete vor ihren Augen eine Flasche Amarone, füllte die Weingläser und entfernte sich. Rosas schwarzumrandete Augen funkelten vor Freude.

»Worauf stoßen wir an?«, fragte sie und hob ihr Glas.

»Mir ist nicht nach Anstoßen«, meine Casini leise und dachte an den toten Jungen.

»Jetzt weiß ich: auf die Frau, die es schafft, dich vor den Traualtar zu schleppen … Ach, komm schon, jetzt zieh nicht schon wieder so ein Gesicht.«

»Ich glaube, dass ich nicht für die Ehe geschaffen bin, Rosa.«

»Heute Morgen hat Don Mauro so wundervoll über die Ehe gesprochen, da habe ich fast Lust bekommen, selbst zu heiraten.«

»Rosa, du gehst in die Kirche?«, fragte der Kommissar verblüfft.

»Ich gehe immer zur Messe, warum?« Rosa schien ein wenig beleidigt.

»Auch früher, als …«

»Als was?«

»Als du noch in diesem Haus gearbeitet hast?«, flüsterte der Kommissar.

»Ach, du meinst, als ich noch als Hure gearbeitet habe?«

»Sprich doch bitte etwas leiser«, sagte Casini und sah sich besorgt um.

»Was ist? Schämst du dich etwa? Schau mal, sogar Jesus hatte ein Herz für Huren.«

»Trotzdem muss es nicht die ganze Welt wissen.«

»Das wissen alle, es steht im Evangelium.«

»So habe ich es nicht gemeint …«

»Wie auch immer, all meine Freundinnen vom Strich gehen zur Messe und sogar zur Kommunion.«

»Ich wollte dich nicht beleidigen.«

»Im Grunde sind wir alle Heilige. Meinst du etwa, es ist leicht, diese Riesenbabys zu bemuttern, bei denen das Hirn in der Unterhose sitzt?«

»Da muss ich dir wohl recht geben«, meinte Casini. Dann kam der Kellner mit dem ersten Gang, und sie aßen schweigend. Nach einer Weile musste Rosa grinsen und raunte Casini zu, dass sie einen alten Kunden entdeckt hatte.

»Der mit der Brille und den weißen Haaren, der da bei der hässlichen Alten sitzt … wahrscheinlich seine Frau.«

»Jetzt sei nicht gemein.«

»Sie ist eine Schreckschraube, sag bloß, das stimmt nicht.« Sie wartete, bis ihr Blick dem des ehemaligen Freiers begegnete, dann winkte sie ihm schelmisch zu. Der Mann erstarrte, und nach ein paar Minuten begann er heftig auf seine Frau einzureden.

»Du hast ihm den Abend verdorben«, meinte Casini.

»Das ist ein Richter. Er hat immer von mir verlangt, dass ich ihn für schuldig erkläre und ihm dann den Hintern versohle. Nach allem, was ich für ihn getan habe, müsste er eigentlich auf Knien zu mir gekrochen kommen, um mir die Füße zu küssen, stattdessen tut er so, als würde er mich nicht kennen. Ist das nicht komisch?«

»Für ihn nicht.«

»Ich finde es komisch.« Sie winkte wieder zu ihm hinüber, und als sie ihm auch noch zuzwinkerte, wurde der Richter leichenblass.

»Wenn du so weitermachst, wird ihm heute Abend mal seine eigene Frau den Hintern strammziehen«, meinte Casini lächelnd.

»Ich kann nicht anders, ich hab einfach zu viel Spaß dabei. Weißt du eigentlich, wie oft ich ehemalige Freier treffe, wie sie Arm in Arm mit ihrer Frau spazieren gehen? Du kannst dir gar nicht vorstellen, was sie sich alles einfallen lassen, nur damit sie nicht auffliegen. Einer hat mal so getan, als würde er ohnmächtig, ein anderer wäre beinahe von einem Auto überfahren worden, aber die lustigsten sind die, die sich auf einmal auf ihre Gemahlin stürzen und sie leidenschaftlich küssen … Das ist so komisch …«

»Immerhin haben die dir deine Wohnung bezahlt.«

»Für das, was ich getan habe, hätten sie mir eigentlich den Palazzo Pitti kaufen müssen.« Sie wartete, bis der Richter wieder zu ihr hinüberschaute, obwohl das riskant war, dann wedelte sie tadelnd mit ihrem Zeigefinger, so wie man ein kleines Kind ausschimpft. Seine Frau merkte etwas und sah nach, was da vor sich ging. Rosa warf dem Richter mit ihren knallroten Lippen einen feurigen Luftkuss zu und genoss die darauffolgende Szene in all ihren Einzelheiten: Die Frau riss entsetzt die Augen auf und warf ihrem Mann einen empörten Blick zu. Dann stand sie ruhig auf, nahm ihren Mantel und verließ das Restaurant, ohne sich noch einmal umzudrehen. Der Richter war wie gelähmt sitzen geblieben und starrte ins Leere. Im Lokal, wo alle die Szene verfolgten, hatte sich Schweigen ausgebreitet. Ein Kellner kam an den Tisch des Richters, um zu fragen, ob etwas nicht in Ordnung sei. Der Richter antwortete ihm nicht, ließ stumm fünftausend Lire auf dem Tisch zurück und wankte nach draußen. Einige Sekunden später nahmen alle unter ein paar bedeutungsvollen Blicken und leisem Kichern die Gespräche wieder auf.

»Du bist eine Hexe«, raunte der Kommissar und lachte in sich hinein.

»Und du bist ein Schatz, jeder andere Mann wäre wütend geworden.«

»Warum denn?«

»Du isst mit einer Frau zu Abend, die fremden Männern Küsschen zuwirft.«

»Bei dir ist das etwas anderes.«

»Wie süß du bist …«, schnurrte Rosa und streichelte ihm über die Wange.

»Daran ist nur der Amarone schuld«, sagte Casini. Fröhlich gestimmt setzten sie ihr Abendessen fort und tranken dazu eine zweite Flasche Wein. Casini spukte immer noch die hübsche Verkäuferin im Kopf herum, aber er wollte nicht darüber reden. Eigentlich hätte er schon gern über sie gesprochen, ihre Schönheit in allen Einzelheiten beschrieben und ein wenig gejammert, dass er sich wohl keine Hoffnungen machen dürfe, aber er wollte sich nicht sagen lassen, dass er für so eine Frau zu alt wäre, das wusste er selbst am besten.

Sie schlugen sich die Bäuche voll und unterhielten sich über Banalitäten. Unter Reden und einigen Grappas wurde es fast Mitternacht, und plötzlich sprang Rosa wie von der Tarantel gestochen auf.

»Krümelchen! Sie muss ja noch gefüttert werden!«, sagte sie. Casini bat um die Rechnung und bezahlte, ohne mit der Wimper zu zucken, ließ sogar noch ein gutes Trinkgeld da. Diese Ausgabe hatte sich gelohnt, er hatte einen angenehmen Abend verbracht. Für ein paar Stunden war es ihm gelungen, den Kopf frei zu bekommen.

Sie leerten ihre Gläser und standen dann mit leicht wackeligen Beinen auf. Ein junger Kellner half Rosa in ihren Mantel, und sie dankte ihm mit einem knallroten Lächeln. Unter den neugierigen Blicken der wenigen verbliebenen Gäste verließen sie das Lokal.

»Wie schön! Es regnet nicht!«, sagte Rosa.

»Ich sehe aber keine Sterne, also nehme ich an, dass uns morgen wieder das Übliche erwartet!«, sagte der Kommissar, während er merkte, dass ihn schon wieder ein Gefühl von Niedergeschlagenheit überkam. Sie stiegen in seinen Käfer und fuhren los. Es war windig, und in den Straßen wirbelten die Blätter in alle Richtungen. Als sie vor Rosas Haus ankamen, erinnerte sich der Kommissar wieder an die Bluse.

»Ich habe ein Geschenk für dich, Rosa.«

»Oh, wie schön!«

»Nur eine kleine Aufmerksamkeit.« Er suchte auf dem Rücksitz nach der eingepackten Bluse und überreichte sie Rosa.

»Du bist ein Schatz …«, sagte sie und packte das Geschenk ganz aufgeregt aus. Sie zeriss das Papier und hielt die Bluse hoch. Nach einem kurzen Freudenschrei veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, und sie wirkte verärgert.

»Ich bin doch keine zwölf mehr«, brummte sie und betrachtete die Bluse eingehend.

»Was meinst du?«

»Siehst du denn nicht, wie klein sie ist?«

»Möchtest du sie nicht einmal anprobieren?«

»Wie kannst du nur annehmen, dass ich da hineinpasse?«, sagte Rosa und ließ die Bluse in seinen Schoß fallen wie irgendeinen Lumpen.

»Ich habe verstanden, morgen werde ich sie umtauschen«, sagte Casini eilig, hocherfreut, einen Vorwand zu haben, um die schöne Verkäuferin wiederzusehen. Seine Begeisterung machte Rosa stutzig.

»Männer hassen es im Allgemeinen, ihre Zeit damit zu verschwenden, Blusen umzutauschen, es sei denn … Das riecht nach einer Frau«, sagte sie und las auf dem Kärtchen den Namen und die Adresse des Geschäftes. Casini wurde rot.

»Da gibt es keine Frau …«

»Ich kenne doch meine Gockel«, sagte Rosa und lächelte dazu wie eine beschützende Mama.

»Nach welcher Größe soll ich fragen?«, sagte Casini, um das Thema zu wechseln.

»Wie heißt sie?«

»Rosa, da gibt es keine Frau.«

»Lüüüüügner!«

»Gar kein Lügner.«

»Pass auf, dass du mit deiner Nase nicht an die Tür stößt, Pinocchio.«

»Jetzt komm schon, Rosa, sag mir die Größe.«

»Wenn ich wählen dürfte, hätte ich lieber eine rote Bluse.«

»Und die Größe?«

»Sag ich dir nicht für alles Geld der Welt«, meinte Rosa und öffnete die Wagentür.