20

 

Der Dienstag verlief genauso wie das Wetter: grau, dunkelgrau, schwarz. Nach der Morgenbesprechung teilten die Beamten sämtliche Einträge in Sieberts Telefonregister untereinander auf und begannen sie abzutelefonieren. Bis sie sich in der jeweiligen Mitte trafen, vergingen einige Stunden. Das erhoffte Ergebnis, ein Hinweis auf eine Frau mit einem C-Namen, blieb jedoch aus.

Gegen Mittag bekam Berger aus heiterem Himmel derart starke Zahnschmerzen, dass Hackenholt ihn zum Arzt und anschließend nach Hause schickte.

Der Nachmittag zog sich sodann mindestens genauso zäh dahin wie der Vormittag, wenn nicht sogar noch schlimmer. Gegen drei Uhr hielt es der Hauptkommissar nicht mehr aus: Er rief seinen Kollegen in Brandenburg an. Leider erreichte er ihn nicht persönlich, sondern nur einen Beamten vom Geschäftszimmer. Der teilte Hackenholt mit, dass der eigentliche Sachbearbeiter mit einer Grippe krank zu Hause lag und die erbetene Hilfsleistung daher erst am nächsten Vormittag stattfinden konnte. Hackenholt schloss sekundenlang die Augen. Das durfte doch nicht wahr sein! Vermaledeite Erkältungszeit! Mit einer Engelsgeduld, für die er sich selbst beglückwünschte, schilderte er dem Kollegen, wie wichtig es für sein Team war, dass Jürgen Degels Wohnung durchsucht wurde – und worauf die ausführenden Beamten achten sollten. Am Ende des Gesprächs warf Hackenholt den Hörer genervt auf die Gabel.

Als nehme das Telefon ihm diesen Angriff übel, begann es sofort wieder zu klingeln. Es war Achim Müller. Der Antiquitätenhändler machte einen verlegenen Eindruck. Überrascht fragte Hackenholt, was er für ihn tun könne.

»Vorhin hat Ihr Kollege, Herr Stellfeldt, bei mir angerufen und noch einmal ganz explizit nach Frauen in Peter Sieberts Leben gefragt. Das hat mich jetzt die ganze Zeit nicht mehr losgelassen, ich habe immer wieder darüber nachdenken müssen.«

Hackenholt merkte, dass sich seine Finger fester um den Telefonhörer schlossen. »Und? Ist Ihnen jemand eingefallen?«

»Es ist vielleicht nicht von Bedeutung, ich dachte aber, dass ich es Ihnen trotzdem besser sage.«

»Ja? An wen haben Sie sich denn erinnert?«, drängte Hackenholt.

»Also, es ist so«, begann Müller. Der Hauptkommissar hätte ihn am liebsten sofort unterbrochen, aber er schaffte es so gerade, seine Ungeduld zu bezähmen. Müller räusperte sich. »Ich habe hier für den Laden eine Putzfrau, und die putzt auch manchmal bei mir in der Wohnung.«

Gott steh mir bei, dachte Hackenholt, wohin sollte das nun führen?!

»Und die hat gerade eben angerufen und gesagt, dass sie krank ist und morgen nicht kommen kann.«

»Soso«, entfuhr es Hackenholt. »Und was hat das mit Herrn Siebert zu tun?«

»Peter hatte seit kurzem ebenfalls eine Putzfrau.«

Eine Putzfrau! Das war nun wirklich das Allerletzte, worauf Hackenholt gehofft hatte. »Wissen Sie, wie sie heißt?«, fragte er schwach.

»Nein, tut mir leid, aber Peter hat davon erzählt, dass sie so toll ist und er sich schon viel früher eine Putzfrau hätte nehmen sollen.«

Hackenholt bedankte sich bei Müller für seinen Anruf, wobei er versuchte, seine Enttäuschung so weit wie möglich aus seiner Stimme zu halten.

 

Nachdem das Gespräch beendet war, saß der Hauptkommissar einen Moment lang da – Gesicht in die Hände gestützt. Siebert hatte eine Putzfrau gehabt. Das hielt er für durchaus möglich, denn die Wohnung war ihm für einen Junggesellen mit Sieberts Hintergrund ziemlich sauber erschienen.

Andererseits war es extrem unwahrscheinlich, dass sich die zwei Opfer gemeinsam Sieberts Putzfrau zum Feind gemacht hatten, vor allem wenn er die Frau noch gar nicht so lange beschäftigte. Und wäre eine Putzfrau nicht einfach nicht mehr wiedergekommen, statt ihren Arbeitgeber und dessen Freund zu ermorden? Nun, das war dann doch etwas weit hergeholt, aber sie konnte immerhin eine wertvolle Zeugin sein.

Hackenholt stand auf und ging ins Nachbarzimmer zu Wünnenberg und Stellfeldt hinüber. Wenn Siebert wirklich eine Putzfrau hatte, dann musste die Nummer irgendwo in dem kleinen Telefonregister zu finden sein.

»Habt ihr schon mit Sieberts Putzfrau gesprochen?«, wollte er von den beiden Kollegen wissen, nachdem sie ihre jeweiligen Telefonate beendet hatten.

»Wie kommst du jetzt darauf? Siebert war arbeitslos, der hatte sicher keine Putzfrau«, war Stellfeldts entgeisterter Kommentar.

Aber Wünnenberg schnippte mit den Fingern und holte Sieberts Telefonregister unter den Kopien hervor, die sie davon gefertigt hatten. Ganz vorne auf der Innenseite des Einbands hatte Siebert das Wort »Putze« notiert, darunter stand eine Handynummer. Der Ermittler zeigte Hackenholt den Einband: »Meinst du die?«

Hackenholt zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Aber Putze ist ja wohl eindeutig, wenngleich es sicher nicht von sonderlicher Wertschätzung für die Dame zeugt.«

»Unter ›P‹ wie Putzfrau ist zumindest kein Eintrag«, vermeldete Stellfeldt, der in seinen Kopien nachgeblättert hatte.

»Und ansonsten hat auch noch keine der Damen, mit denen ihr gesprochen habt, erwähnt, dass sie bei Siebert geputzt hat?«, wollte Hackenholt wissen.

Die beiden Kriminaler schüttelten den Kopf. »Wir haben aber auch nicht ausdrücklich danach gefragt«, gab Stellfeldt zu bedenken.

Hackenholt nickte. »Und was ist mit der Nummer da auf dem Einband? Habt ihr dort schon angerufen?«

Wünnenberg blätterte in einem Aktenordner, in dem sie die Notizen über die ausgeführten Telefonate abhefteten. »Ja, ich habe angerufen, aber es war nur eine Mailboxansage dran.«

Hackenholt besah sich den Eintrag auf der Innenseite des Einbands nochmals genau. Kein Name, keine Adresse, nur die Nummer und das Wort »Putze« darüber.

»Ich möchte, dass ihr es unter der Nummer immer wieder versucht. Vielleicht kann sie uns etwas darüber sagen, ob ihr einmal eine andere Frau in Sieberts Wohnung begegnet ist.«

Als Hackenholt sich schon wieder zum Gehen abwenden wollte, fragte Wünnenberg: »Was ist mit heute Abend, gehen wir zum Squash, oder ... ähm ... hast du etwas anderes vor?«

Hackenholt drehte sich um und grinste Wünnenberg spitzbübisch an. »Klar gehen wir zum Sport, ich muss mich schließlich fithalten.« Dass er mit Sophie ausgemacht hatte, sich danach wieder bei ihm zu treffen, musste er seinem Kollegen ja nicht auf die Nase binden.

 

In seinem Büro setzte sich der Hauptkommissar wieder an den Schreibtisch und zog die dicken Aktenordner heran, welche von den beiden Fällen inzwischen gefüllt wurden. Das Gefühl, etwas übersehen zu haben, wurde wieder stärker. Er schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können, aber der flüchtige Gedanke ließ sich nicht greifen.

Er begann erneut, die Zeugenaussagen durchzuarbeiten. Irgendwo musste der Grund für seine Unruhe versteckt liegen. Bis um halb sechs war ihm nichts ins Auge gesprungen, das er mit seinem Bauchgefühl in Einklang hätte bringen können. Wünnenberg kam herein und sagte, dass er für heute Schluss machte – Stellfeldt war schon vor einer halben Stunde gegangen. Hackenholt nickte geistesabwesend.

»Ich habe noch zweimal die Telefonnummer der Putzfrau angerufen, aber es war immer nur die Mailbox dran.«

Nun blickte Hackenholt doch auf. »Mist. Wir müssen es unbedingt morgen weiter versuchen.«

Wünnenberg nickte. »Also, dann bis um acht. Der Court ist reserviert.«

Hackenholt wälzte noch eine knappe weitere Stunde die Akten, kam aber nicht mehr so richtig voran. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Seine Kopfschmerzen vom Vortag drohten zurückzukehren. Gegen halb sieben löschte auch er das Licht und verließ sein Büro.

 

Zu Hause machte er sich einen Salat – wie immer vor dem Sport. Der Zettel, den er Sophie am Morgen zusammen mit dem Zweitschlüssel für seine Wohnung auf den Küchentisch gelegt hatte, war verschwunden und durch einen neuen ersetzt worden: Ich freue mich auf heute Abend. Nicht mehr und nicht weniger hatte sie geschrieben. Beschwingt packte er seine Sportsachen in die große Tasche. Danach legte er sich aufs Sofa, um noch eine halbe Stunde seinen Gedanken nachzuhängen. Gerade, als er dabei war, seine Schuhe anzuziehen, klingelte das Telefon.

»Gott sei Dank, dass ich dich noch erwische. Ich habe schon gefürchtet, dass du bereits unterwegs bist.« Wünnenberg klang außer Atem. »Ich kann nicht zum Squash. Wir haben einen Rohrbruch im Keller. Mich hat gerade unser Hausmeister rausgeklingelt. Alles steht unter Wasser.«

»Oh nein, so ein Pech«, bemitleidete Hackenholt seinen Kollegen.

»Jetzt warten wir auf die Leute von der EWAG, damit die das Wasser absperren, und dann können wir mit dem Auspumpen beginnen«, fuhr Wünnenberg fort. »Und dabei haben wir noch Glück gehabt. Es ist wohl erst vor einer Stunde passiert. Als der Hausmeister in den Keller kam, stand das Wasser nur zwei Zentimeter hoch. Jetzt ist es schon fast auf Knöchelhöhe angestiegen. Der Hausmeister meinte, es war purer Zufall, dass er ausgerechnet heute Abend außertourlich etwas an der Heizung überprüfen wollte.«

Mehr gab es nicht zu sagen. Hackenholt verabschiedete sich und wanderte wieder auf sein Sofa zurück. Bis Sophie kam, würde es noch dauern. Sie hatte einen Kochauftrag. Ursprünglich hatte sie danach gar nicht mehr zu ihm kommen wollen, aber er hatte sie am vergangenen Abend so inständig darum gebeten, dass sie ihm schließlich doch zugesagt hatte.

Hackenholt überlegte, wie er die Zeit bis dahin nun verbringen wollte und entschied sich, in seinem Nürnberg-Buch zu schmökern. Als er merkte, dass er denselben Absatz zum dritten Mal las, legte er das Buch zur Seite und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Das Gespräch mit Wünnenberg hatte in ihm eine Erinnerung wachgerufen, die er bislang vergessen hatte. Mit geschlossenen Augen ging er das kurze Telefonat nochmals durch. Das Wasser, der Keller, der Hausmeister. Nein, mit Wasser hatte es nichts zu tun. Hausmeister und Keller. Hausmeister. Welcher Hausmeister?

Plötzlich fiel es ihm wieder ein: Ute Jarosch, die junge Bedienung aus dem Stadtparkcafé. Ihr Name hatte sie zu dem Hausmeister in der Düsseldorfer Straße geführt. Der Samstag schien Hackenholt Lichtjahre zurückzuliegen. Am Samstagabend war Degel gestorben. Darüber hatte er völlig vergessen, dass Berger noch hatten herausfinden wollen, wann und woran die junge Frau gestorben war. Hackenholt schrieb sich einen Zettel, damit er morgen nicht wieder vergaß, Berger zu fragen, was seine Recherche ergeben hatte. Danach widmete er sich wieder seinem Buch bis Sophie zu ihm kam und sie es sich zusammen auf dem Sofa gemütlich machten.

 

Am Morgen betrat Hackenholt das Büro in dem Moment, als Wünnenberg für die Kollegen gerade zum Besten gab, wie er und der Hausmeister noch in der Nacht Herr über die vermeintlichen Fluten im Keller geworden waren. Berger und Stellfeldt lachten Tränen. Vor lauter Erzählen fiel es offenbar niemand auf, dass der Hauptkommissar auch an diesem Morgen wieder eine Stunde später dran war als üblich.

»Wie geht es dir, Christian? Bist du wieder fit«, fragte Hackenholt den jungen Streifenbeamten.

»Passt schon. Die Wurzel wollte offenbar nur mal Hallo sagen. Ich fürchte allerdings, dass das ein Vorgeschmack aufs Älterwerden war.« Er schnitt eine Grimasse.

Hackenholt lachte. Dank des Zettels, den er sich am Vorabend geschrieben hatte, und vor allem dank Wünnenbergs neuerlicher Schilderung seines Kampfes mit dem Hochwasser, dachte er daran, Berger zu fragen, was bei seinen Recherchen über Ute Jarosch herausgekommen war.

»Stimmt, das habe ich völlig vergessen, bei der Besprechung zu erwähnen.« Der junge Kollege wurde rot. »Siebert hatte nichts mit Ute Jaroschs Tod zu tun. Sie hat Suizid begangen.«

»Hast du die Akte aus dem Archiv angefordert?«

Berger schüttelte den Kopf. »Ich dachte, das ist nicht nötig.«

»Und wie schaut es mit der Putzfrau aus?«, fragte der Hauptkommissar an Wünnenberg gewandt. »Hast du es heute schon bei ihr probiert?«

»Ja, da schaltet sich aber nach wie vor nur die Mailbox ein.«

Hackenholt seufzte. »Wenn das so weitergeht, müssen wir uns über die Staatsanwaltschaft eine richterliche Anordnung holen, damit der Mobilfunknetzbetreiber uns die Daten der Anschlussinhaberin offenlegt.«

 

Aus einem Impuls heraus ging Hackenholt zurück in sein Büro, setzte sich an den Computer und rief den Sachverhalt bezüglich Ute Jarosch auf. Nach einem Augenblick des Zögerns notierte er das Aktenzeichen auf einem Zettel und ging damit in den Keller, wo sich die interne Aktenverwaltung befand. Der Archivar brauchte nicht lange, um die Unterlagen zu finden. Hackenholt unterzeichnete einen Beleg, der ihm gestattete, die Akte mit in sein Büro zu nehmen.

Schon im Gehen blätterte er die wenigen Seiten durch, die der dünne Aktendeckel enthielt. Es gab einen Bericht von einer Kollegin vom Dauerdienst, dem zu entnehmen war, dass Frau Jaroschs Schwester einen Abschiedsbrief erhalten hatte und daraufhin sofort zu deren Wohnung gefahren war. Zu dem Zeitpunkt war Ute Jarosch jedoch schon knapp zwei Tage lang tot gewesen. Der hinzugezogene Hausarzt hatte die Polizei verständigt, und alles hatte seinen geregelten Lauf genommen. Eine Obduktion war angeordnet worden. Das Ergebnis lautete Tod infolge einer Tablettenintoxikation. Fremdverschulden schied aus. Die Akte war geschlossen worden.

 

Zurück in seinem Büro sah Hackenholt einen Moment lang nachdenklich aus dem Fenster auf den Jakobsplatz, ohne das Geschehen unten in der Fußgängerzone wirklich wahrzunehmen. Schließlich wandte er sich mit einem Seufzen ab und griff zum Telefonhörer, um in Brandenburg anzurufen. Diesmal erwischte er eine der Schreibkräfte des Kommissariats. Sie teilte ihm mit, dass sie das Durchsuchungsprotokoll von Degels Wohnung gerade nach Nürnberg faxte.

Als Hackenholt ins Geschäftszimmer ging, um die Unterlagen abzuholen, zeigte das Gerät an, dass zwanzig Seiten gesendet wurden. Hackenholt war verwundert. Er setzte sich gleich neben dem Faxgerät an einen unbesetzten Schreibtisch und begann zu lesen. Er fragte sich, was das wohl für eine riesige Wohnung war, damit man ein zwanzigseitiges Durchsuchungsprotokoll schreiben konnte. Doch dann bemerkte er, wie haarklein jedes einzelne Zimmer beschrieben wurde. Alles war aufgelistet: jeder Schrank, jede Kommode, jedes Regal. Hackenholt fand das erstaunlich, er hatte erwartet, dass der Beweis- und Dokumentationsbeamte ein Video von der Wohnung drehen würde.

Auf Seite zwanzig angekommen, wusste der Hauptkommissar zwar bis ins letzte Detail, wie Degels Wohnung aussah, und dass dort auch Haschisch gefunden worden war. Aber das, worauf er gehofft hatte, enthielt der Bericht nicht. Von Pornos war weit und breit keine Spur. Nichts wies auf die Anwesenheit einer Frau hin. Auch schien die Wohnung nicht in einem annähernd so gepflegten Zustand wie Sieberts gewesen zu sein. Die Kollegen hatten einen Terminkalender sichergestellt, welcher jedoch nur geschäftliche Besprechungen und Telefonnummern, aber keinerlei private Einträge enthielt, wenn man davon absah, dass manche Wochenenden mit »Nürnberg« oder »Peter« gekennzeichnet waren. Ein Adressbuch war nicht gefunden worden. Allerdings hatte die Kommissarin, welche die Durchsuchung geleitet hatte, nicht gewagt, vor Ort im PC des Verstorbenen zu stöbern, sondern ihn mit zur Dienststelle genommen und dem hausinternen Spezialisten übergeben.

Hackenholt rief noch vom Geschäftszimmer aus die Schreibkraft zurück und bat, Degels Terminkalender so schnell und sicher wie möglich nach Nürnberg zu schicken. Als er in sein Büro zurückkam sah Wünnenberg ihn verwundert an. »Wo bist du denn jetzt so lange gewesen? Wir hatten doch ausgemacht, uns um eins zur Besprechung zu treffen. Christine war schon da, ist aber wieder gegangen. Sie hat gemeint, dass sie im Moment zu viel zu tun hat, als dass sie hier so lange herumsitzen und auf dich warten kann.«

»Entschuldigung, ich habe nicht auf die Uhr gesehen. Das Fax wegen Degels Wohnungsdurchsuchung ist endlich gekommen. Es ist äußerst ausführlich.«

»Und? Gibt es etwas Aufschlussreiches?«

»Wie es im Moment aussieht leider nicht. Degel hatte einen Terminkalender, aber der soll nur Geschäftstermine enthalten. So ein Telefonbüchlein, wie wir es bei Siebert gefunden haben, hatte er wohl nicht. Die Kollegin mutmaßt, dass er seine Adressverwaltung über den Computer erledigt hat.«

Wünnenberg nickte: »Ja, das wäre möglich, so mache ich das auch. Warum haben sie nicht in seinem PC nachgesehen?«

»Das wollte sie nicht selbst vor Ort machen, sondern ihrem Spezialisten überlassen.«

Stellfeldt steckte den Kopf zur Tür herein. »Wollten wir nicht schon vor einer halben Stunde mit der Besprechung anfangen?«

»Ja doch!«, brummte Hackenholt. »Ich muss nur erst noch Christine anrufen und Abbitte leisten. Hoffentlich ist sie gut gelaunt und bemüht sich nochmals zu uns herüber.«

 

Als sie dann endlich alle versammelt waren, legte Mur sofort los: »Das Labor hat Bescheid gegeben: Die DNA-Analyse der im Burggarten sichergestellten Haare hat ergeben, dass es sich um eine Frau handelt. Außerdem gibt es eine Übereinstimmung zwischen den DNA-Spuren im Burggraben und im Treppenhaus. Wir haben es also mit ein und derselben Täterin zu tun.

Darüber hinaus haben die Chemiker vom LKA herausgefunden, dass die Substanz, die auf den Stufen im Burggarten verteilt worden war, in ihrer chemischen Zusammensetzung mit derjenigen, die wir in Sieberts Treppenhaus sichergestellt haben, zu hundert Prozent übereinstimmt.« Mur tippte mit ihrem Stift auf den Notizblock. »Ferner haben wir die eingesammelten Glasscherben überprüft, darauf aber leider nicht einen einzigen Fingerabdruck gefunden. Bei den Scherben handelt es sich um gebrauchte 1-Liter-Weißweinflaschen. Bei allen ist das Etikett abgelöst worden, beziehungsweise es wurden von vornherein nur Bruchstücke ohne Etikett verwendet. Die Täterin muss die Scherben schon als solche mitgebracht haben, da sich keine Flaschenhälse unter den Bruchstücken fanden. Und es wäre wohl auch zu laut und auffällig gewesen wäre, die Flaschen erst im Burggarten zu zerschlagen.

Mit dem Brief und dem Kuvert verhält es sich hinsichtlich etwaiger Fingerabdrücke ganz ähnlich. Wir haben nichts feststellen können. Das Briefpapier ist handelsübliches Büttenpapier, wie man es in jedem gut sortierten Schreibwarenladen beziehungsweise in jeder Papierhandlung bekommt.« Mur machte eine Pause und sah in die Runde. »Das war’s. Wenn ihr keine Fragen habt, gehe ich wieder.« Offenbar hatte es die Kollegin heute wirklich eilig.

Im Anschluss fasste Hackenholt zusammen, was er aus Brandenburg erfahren hatte und beendete seinen Bericht mit den Worten: »Wir werden also darauf warten müssen, dass sie sich Degels Computer vornehmen. Den Kalender müssten wir morgen Vormittag erhalten. Die Schreibkraft wollte sich darum kümmern, dass er heute noch rausgeht.«

»Was machen wir in der Zwischenzeit?«, wollte Stellfeldt wissen.

»Hast du die Putzfrau erreicht?«, gab Hackenholt die Frage zurück.

Stellfeldt schüttelte den Kopf. »Immer nur die Mailbox. Ich versuche es stündlich. Hoffentlich ist sie nicht gerade jetzt verreist.«

»Wer fährt um diese Jahreszeit schon in den Urlaub?«, brummte Wünnenberg missmutig.

»Wir müssen unbedingt versuchen, mit der Frau zu sprechen. Sie kann eine wirklich wertvolle Zeugin sein«, wiederholte Hackenholt mit Nachdruck.

Berger sah ihn erstaunt an. »Wie kommt ihr auf eine Putzfrau?«

Da der junge Kollege wegen seiner Zahnschmerzen beim Arzt gewesen war, hatte er Achim Müllers Anruf am vergangenen Nachmittag nicht mitbekommen. Hackenholt erzählte ihm davon und auch, wie sie in Sieberts Telefonregister die Notiz gefunden hatten. Berger sah einen Moment lang verwirrt drein, dann schlug er sich an die Stirn.

»Du meinst Sieberts neue Freundin, die auch die Wohnung geputzt haben soll?«

Hackenholt sah ihn perplex an.

»Frau Damps hat davon gesprochen«, versuchte Berger dem Hauptkommissar auf die Sprünge zu helfen. »Sie sagte, Jürgen Degel hätte sie vor kurzem auf der Straße angesprochen und ihr erzählt, dass Peter Siebert eine Neue hat, die auch für ihn putzt.«

Hackenholt nickte langsam.

»Mehr weiß sie nicht über die Frau?«, hakte Stellfeldt sofort nach.

»Nein, sie wusste keinen Namen.«

Es entstand ein Moment der Stille. Alle dachten fieberhaft nach, was das bedeuten könnte.

»Dann kommt jetzt also doch wieder die geheimnisvolle Unbekannte ins Spiel, von der wir bisher angenommen haben, dass es Sieglinde von Liebscher ist.«

»Aber die hat ganz sicher nicht bei Siebert geputzt«, meinte Stellfeldt nachdenklich.

Hackenholt seufzte. »Ich glaube, es ist an der Zeit, herauszubekommen, wer sich hinter der Mobilnummer verbirgt. Ich werde bei der Staatsanwaltschaft beantragen, dass uns die Mobilfunkgesellschaft die Daten des Anschlussinhabers offenlegt.«

Alle nickten zustimmend und verabschiedeten sich in den Feierabend.

 

Der Donnerstag begann nicht sonderlich vielversprechend: Die Grippewelle hatte mittlerweile die Reihen der Kollegen der Schutzpolizei stark gelichtet, sodass Christian Berger nicht länger in Hackenholts Team abgestellt werden konnte. Daher teilten die Ermittler die anliegende Arbeit wieder untereinander auf.

Hackenholt wandte seine Aufmerksamkeit Degels am Morgen per Kurier eingetroffenen Terminkalender zu. Er war jedoch in der Tat genauso aussagelos, wie die Kollegin in Brandenburg es angekündigt hatte. Obwohl der Hauptkommissar ihn mit äußerster Sorgfalt durchblätterte, entdeckte er keinen Namen mit »C« und schon gar keinen Frauenname mit dem Anfangsbuchstaben, der als Hinweis dienen konnte. Dafür fand er heraus, dass Jürgen Degel mit großer Regelmäßigkeit nach Nürnberg gekommen war und Siebert ihm seinerseits alle zwei, drei Monate einen Besuch abgestattet hatte. Die Männer hatten sich mindestens einmal im Monat gesehen. So sehr konnte sich Siebert also doch nicht verändert haben, dachte Hackenholt grimmig.

 

Gegen Mittag meldete Stellfeldt, dass er mit den in Sieberts Telefonverzeichnis aufgelisteten Kontakten weitestgehend fertig war. Zwar hatte er noch immer nicht alle Personen erreicht, aber bei jedem eine Nachricht hinterlassen und um Rückruf gebeten.

»Was ist eigentlich bei der Überprüfung des Anschlusses von der Putzfrau herausgekommen? Wolltest du da nicht einen richterlichen Beschluss erwirken?«, fragte Wünnenberg

Hackenholt nickte. Zwar hatte er diesbezüglich mit der Staatsanwaltschaft gesprochen, von der Mobilfunkgesellschaft aber nach wie vor nichts gehört. Rasch griff er zum Telefon und hakte zunächst in der Geschäftsstelle der Anklagebehörde nach, ob die Anfrage tatsächlich am gestrigen Tag per Fax an die zuständige Stelle gegangen war. Sobald er eine Abschrift des Schreibens in den Händen hielt, rief er bei der Mobilfunkfirma an.

Nachdem er fast zehn Minuten in einer Warteschleife verbracht hatte, ohne überhaupt mit jemandem gesprochen zu haben, war seine Laune nicht gerade glänzend, als sich endlich eine Sachbearbeiterin meldete. Sie teilte ihm in mindestens genauso genervtem Ton mit, wie dem, den er selbst angeschlagen hatte, dass ihre Firma seit neun Uhr morgens mit einem Systemabsturz aufgrund eines massiven Stromausfalls zu kämpfen hatte, und sie derzeit überhaupt nichts machen konnte. Die Techniker würden fieberhaft an der Behebung des Problems arbeiten, aber mehr war auch ihr nicht gesagt worden. Alle warteten jede Minute darauf, dass das System endlich wieder arbeiten würde. Immerhin sicherte sie ihm zu, sich mit größter Priorität um sein Anliegen zu kümmern, sobald es eben ging. Hackenholt musste sich wohl oder übel damit zufrieden geben.

Den weiteren Nachmittag nutzte er sodann, um in einer Kalenderübersicht alle Wochenenden schwarz zu umkringeln, an denen Degel in Nürnberg gewesen war. Diejenigen Wochenenden, die Siebert in Brandenburg verbracht hatte, kennzeichnete er grün. Das Muster, das sich ergab, machte nur noch deutlicher, wie regelmäßig sich die beiden Männer getroffen hatten. Mehr vermochte der Hauptkommissar trotz aller Anstrengungen nicht dahinter zu erkennen.

Dann brachte ihm eine der Schreibdamen endlich das ersehnte Fax aus Brandenburg. Der dortige Experte hatte das gesuchte Adressverzeichnis in Degels Computer gefunden und ausgedruckt. Hackenholt überflog die Einträge. Manche Namen glaubte er wiederzuerkennen, andere schienen ihm neu. Am meisten interessierte ihn natürlich die Rubrik der Namen, die mit »C« begannen. Sie enthielt jedoch keinen einzigen Eintrag.

Mit einem Stöhnen stand Hackenholt auf und ging zu Stellfeldts Büro hinüber. Gemeinsam glichen sie die Liste der Namen mit denjenigen ab, die sie in Sieberts Telefonregister gefunden und kontaktiert hatten. Danach war nur noch etwa ein Viertel des sowieso nicht sonderlich umfangreichen Telefonregisters übrig. Die verbliebenen Nummern hatten alle ausnahmslos eine Brandenburger Vorwahl. Obwohl es nicht sonderlich wahrscheinlich war, dass sie so auf eine heiße Spur stießen, bat Hackenholt Stellfeldt, alle zu überprüfen.

Er selbst kehrte wieder in sein Zimmer zurück – und war frustriert. Der Fall schien festzustecken. Um nicht in einer völlig trübseligen Stimmung zu versinken, beschloss er spontan, heute lieber sofort nach Hause zu gehen und sich ein paar freie Stunden zu gönnen, um dann am Freitagmorgen in aller Frühe mit klarem Kopf nochmals alles durchzuarbeiten.

Er ging ein letztes Mal in Stellfeldts Büro und teilte ihm mit, dass er ihn unter seiner Handynummer erreichen konnte, falls bei den Telefonaten etwas Interessantes herauskam. Gerade als er sich verabschieden wollte, rief die Schreibdame nach ihm, die ihm vorhin erst das Fax aus Brandenburg gebracht hatte.

 

Es war Donnerstag, der 17. Oktober, sechzehn Uhr vierzig Uhr.

Die vergessenen Schwestern
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