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Das Erste, was Hackenholt am folgenden Morgen im Büro erledigte, war, das Ermittlungsersuchen für die Kripo Brandenburg fertigzumachen und an die dortigen Kollegen zu faxen. Danach hängte er sich ans Telefon und sprach mit dem zuständigen Sachbearbeiter, der die Durchsuchung leiten würde, um ihn persönlich zu briefen, worauf er achten, und wonach er suchen sollte.
Sobald das erledigt war rief er kurz bei Frau Damps’ Schwester an, um seinen Besuch anzukündigen und machte sich auch sofort zusammen mit Christian Berger auf den Weg.
Frau Damps saß wieder auf dem Sofa, auf dem sie schon bei ihrem ersten Besuch gesessen hatte, war allerdings in keine Decke mehr gehüllt. Sie sah insgesamt bedeutend besser aus: Die Ringe unter ihren Augen waren verschwunden, und ihre Haut hatte nicht mehr den fahlen Teint. Dennoch bestand Hackenholt darauf, dass die Schwester auch diesmal dem Gespräch beiwohnte. Er war zwar bemüht, Frau Damps die Nachricht von Degels Tod so schonend wie möglich beizubringen, aber man konnte ja nie wissen, wie sie darauf reagieren würde. Das Gespräch leitete er so unverfänglich wie möglich ein, indem er nach ihren Wochenendaktivitäten fragte.
»Wir sind zu unserem Bungalow am Starnberger See gefahren. Mein Mann stammt von dort unten«, beantwortete Frau Damps’ Schwester die Frage.
»Von wann bis wann waren Sie denn weg?«
»Wir sind am Samstagvormittag losgefahren und erst Sonntagnacht wieder zurückgekehrt.«
»Und was haben Sie am Samstagabend gemacht?«, forschte Hackenholt weiter.
»Raclette gegessen – mit unseren Nachbarn. Wir waren schon seit langem eingeladen.«
Der Hauptkommissar nickte unbestimmt, bevor er jedoch weiterfragen konnte, mischte sich Frau Damps ins Gespräch.
»Vielleicht sagen Sie uns erst einmal, warum Sie sich so für unsere Wochenendaktivitäten interessieren.«
»Am Samstagabend ist leider wieder etwas passiert.« Er machte eine kleine Pause, um der Frau Zeit zu geben, sich zu wappnen. »Jürgen Degel wurde getötet.«
»Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll«, flüsterte Monika Damps
»Können Sie uns etwas über Herrn Degels Leben und seinen Umgang sagen?«
»Ich kannte ihn kaum, aber ich habe ihn vom ersten Moment an abgrundtief verabscheut. Er war vulgär und hatte keinen Anstand. In meinen Augen war er die Wurzel allen Übels, Peter hat sich unter seinem Einfluss immer völlig verändert.«
»Herr Degel soll sich bei seinen Besuchen in Nürnberg immer ausgelebt haben. Auch in sexueller Hinsicht.«
»Da kann ich Ihnen nicht im Mindesten weiterhelfen. Peter hat mir nie etwas darüber erzählt, was sie zusammen unternahmen.«
»Wir haben bei Herrn Siebert Pornos gefunden. Und zwar solche, die man nicht im Laden kaufen kann. Wussten Sie davon?«
»Nein«, sagte sie leise, »aber inzwischen wundert mich nichts mehr. Er scheint ein völlig anderer gewesen zu sein, als der, für den ich ihn gehalten habe.«
»In unserem letzten Gespräch haben Sie angedeutet, dass sich Herr Siebert möglicherweise wegen einer anderen Frau von Ihnen getrennt hat. Frau Damps, es ist wichtig, dass Sie uns die Wahrheit sagen: Wer hat Ihnen davon erzählt?«
»Das war Jürgen Degel«, sagte sie sichtbar verlegen. »Ich habe ihn auf der Straße getroffen und konnte ihm nicht mehr rechtzeitig ausweichen. Das ist jetzt erst vor zwei oder drei Wochen gewesen. Er hat mich mit einem ganz fiesen Grinsen gefragt, wie es mir geht, und ob ich schon wüsste, dass Peter eine Neue hat, die absolut klasse wäre – nicht nur im Bett, sondern auch putzen und seine Wäsche machen würde. Ich habe ihn stehen gelassen und bin wutentbrannt weitergegangen.«
»Haben Sie eine Idee, wen er damit gemeint haben könnte?«
»Nein. Ich bin mir auch gar nicht sicher, ob er das überhaupt ernst gemeint hat, oder alles in dem Augenblick nur schnell erfand, um mich zu verletzen.«
»Gut, dann habe ich noch eine letzte Frage. Kennen Sie eine Frau, deren Name mit ›C‹ beginnt und die sowohl Herrn Siebert als auch Herrn Degel kannte?«
Frau Damps sah den Hauptkommissar skeptisch an. »Spontan fällt mir da leider überhaupt niemand ein. Haben Sie mal in Peters Adressbuch nachgeschaut?«
Hackenholt nickte.
»Da stand eigentlich jeder drin, den er gekannt hat.«
* * *
Stellfeldt und Wünnenberg klingelten bei Frau Teck in der Meuschelstraße. Als sie sah, wer zu Besuch kam, verzog sie das Gesicht.
»Kommen Sie herein«, sagte sie widerwillig.
Die Ermittler folgten ihr in das Zimmer, in dem sie schon bei ihrer ersten Befragung gesessen hatten.
»Frau Teck, wir suchen gezielt nach einer Frau in Herrn Sieberts Umfeld, deren Name oder Spitzname mit ›C‹ beginnt. Können Sie uns da weiterhelfen?«
»Nein. Wie ich schon sagte, ich habe die Leute nicht gekannt, mit denen Peter etwas zu tun hatte.«
»Am Wochenende ist wieder etwas passiert: Jürgen Degel ist ums Leben gekommen. Kannten Sie ihn?«
Patricia Tecks Augen weiteten sich für Sekundenbruchteile, dann nickte sie. »Ich kann mit dem Namen ein Gesicht verbinden, das ist allerdings auch schon alles, was ich über den Mann weiß.«
»Was haben Sie am Samstagabend gemacht?« Stellfeldt bemühte sich, einen möglichst freundlichen Ton anzuschlagen.
»Ich war mit Sieglinde von Liebscher in Baden-Baden. Wir sind Freitagmittag hingefahren und gestern Abend erst wieder zurückgekommen.« Teck stand auf und ging in den Flur hinaus, um ihre Handtasche zu holen, der sie eine Zugfahrkarte sowie ein Hotelprospekt entnahm.
»Was haben Sie am Samstagabend genau gemacht?«
»Wir waren im Casino – und wir haben gewonnen. Vielleicht erinnert sich einer der Croupiers an uns.«
»Was wollen Sie denn nun schon wieder? Ich konnte vorgestern Nacht ewig nicht mehr einschlafen, nachdem Sie mich wachgeklingelt hatten«, begrüßte Frau Rauch die beiden Beamten wenig enthusiastisch, als sie sie vor ihrer Tür erblickte.
»Genau um die Sache geht es nach wie vor«, erklärte Stellfeldt. »Können Sie uns bitte nochmals beschreiben, wie Ihr Samstagabend abgelaufen ist?«
»Aber das habe ich doch schon«, entgegnete Rauch ungeduldig und zündete sich eine Zigarette an. »Gegen acht ist Carina Jakobi zu mir herübergekommen. Sie hat eine Flasche Rotwein mitgebracht, die wir zusammen niedergemacht haben.«
»Wie lange ist Frau Jakobi bei Ihnen geblieben?«
»Sie ist gegen Mitternacht wieder gegangen. Ich habe auf die Uhr gesehen, als ich die Rotweingläser in die Küche gebracht habe.«
»War Frau Jakobi die ganze Zeit über bei Ihnen, oder ist sie zwischendurch weggegangen?«
»Nein, sie war die ganze Zeit hier.«
»Kann das außer Ihnen noch jemand bezeugen?«
»Nein, natürlich nicht, wir waren doch allein. Im Haus war niemand, deswegen hatten wir ja die Tür abgesperrt, falls Sie sich erinnern.«
»Worüber haben Sie den ganzen Abend lang geredet?«
»Das waren völlig unterschiedliche Dinge. Über ein paar Kinofilme, die wir beide gesehen haben, Carinas neue Ausstellung, die sie für nächstes Jahr plant, aber auch, wie es jetzt hier im Haus weitergehen soll, und natürlich auch die Sache mit Peter Siebert.«
»Ist es früher auch schon vorgekommen, dass Frau Jakobi einfach so am Abend bei Ihnen vor der Tür gestanden ist und mit Ihnen eine Flasche Wein trinken wollte?«
»Nein«, antwortete Frau Rauch zögerlich. »Samstagabend war das erste Mal.«
Carina Jakobis bedachte die Beamten mit einem resignierten Blick und stellte sofort klar, dass sie heute nicht viel Zeit hatte, weil sie in einer halben Stunde Besuch von einem Kunden erwartete.
»Dann kommen wir doch am besten gleich zur Sache«, schlug Stellfeldt forsch vor. »Es geht noch einmal um Samstagabend. Können Sie sich an die Uhrzeit erinnern, bis wann Sie bei Frau Rauch waren?«
»Ich bin gegen acht zu ihr hinüber und erst gegen Mitternacht wieder zurück.«
»Gibt es irgendjemanden außer Frau Rauch, der das bezeugen kann?«
Jakobi sah ihn fassungslos an. »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich etwas mit dem zweiten Mord zu tun habe! Ich habe das Opfer nicht einmal gekannt. Das ist doch völlig abwegig.«
»Nein, das ist es leider nicht, Frau Jakobi. Deswegen sind wir ja auch so bemüht zu überprüfen, wo Sie waren. Es ist also in Ihrem ureigensten Interesse, wenn Sie uns weiterhelfen.«
Frau Jakobi war in sich zusammen gesunken. Ihr schien klar zu werden, dass die Beamten ihren Verdacht ernst meinten. »Es gibt niemanden außer Susanne, aber ich war wirklich den ganzen Abend bei ihr«, beteuerte sie verzweifelt.
* * *
Nach dem Mittagessen hängte Hackenholt seine Jacke im Büro auf und ging zur Toilette, um sich Gesicht und Hände zu waschen. Er hatte Kopfschmerzen. Während Wünnenberg, der soeben erst aus der Meuschelstraße zurückgekommen war, eine frische Kanne Kaffee kochte, suchte der Hauptkommissar nach einer Schachtel Aspirin. Sie warteten auf Berger, der mit Günther Degel ins Leichenschauhaus gefahren war, da der Tote noch offiziell identifiziert werden musste. Danach sollte der junge Kollege den Bruder des Opfers einmal mehr mit ins Kommissariat bringen.
Günther Degel schien den Besuch im Krematorium nicht sonderlich gut verkraftet zu haben: Er war zittrig und verlangte nach einem Glas Wasser. Auf dem Flur berichtete Berger Hackenholt leise, dass Degel sich beim Anblick seines verstorbenen Bruders hatte übergeben müssen.
Obwohl Degel nach wie vor verstört wirkte, zeigte er noch immer keinerlei Bereitschaft, mit den Beamten zu sprechen. Vielmehr gewann der Hauptkommissar den Eindruck, dass er sogar noch einsilbiger geworden war – sofern das überhaupt noch ging. Degel blieb hartnäckig bei seinen früheren Angaben. Er bestritt, dass Peter oder sein Bruder sich irgendetwas zu Schulden hatten kommen lassen. Beide hatten niemals mit irgendwelchen Menschen Probleme gehabt.
Hackenholt begann sich ernsthaft zu fragen, ob Günther Degel tatsächlich diese irrige Meinung hegte oder nur die Augen vor der Realität verschloss. Nach geraumer Zeit beschloss er, dass es die Ermittlungen nicht weiterbrachte, wenn er seine Zeit noch weiter mit dem Mann verschwendete.
»Wie können wir Ihre Frau erreichen, Herr Degel?«, stellte der Hauptkommissar seine abschließende Frage.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen, sie ist seit dem Wochenende nicht mehr nach Hause gekommen.«
»Sie wird doch sicher ihr Handy mitgenommen haben.«
Widerwillig nannte Degel ihm die Nummer.
Während Wünnenberg Degel aus dem Präsidium begleitete, wählte Hackenholt die soeben erhaltene Handynummer. Wie er es befürchtet hatte, ging nach mehrmaligem Klingeln die Mailbox an. Er hinterließ eine Nachricht und seine Rufnummer. Fünf Minuten später klingelte sein Telefon, und Frau Degel meldete sich.
»Sie wollten mich dringend sprechen?«, fragte sie unsicher.
»Ja, Frau Degel. Es geht um den Tag, an dem meine Kollegen bei Ihnen waren. Sie erinnern sich?«
»Natürlich«, sagte sie leise. »Weil ich Ihrem Kollegen das mit dem Sex-Video gesagt habe, habe ich ja jetzt den ganzen Stress mit meinem Mann.«
»Während des Gesprächs ist ihr Schwager in die Wohnung gekommen. Können Sie sich noch erinnern, ob er etwas bei sich hatte?«
Die Frau dachte einen Moment nach. »Er hielt ein Briefkuvert in der Hand. Ich war erstaunt, dass die Post schon dagewesen sein sollte, weil sie meistens erst am Nachmittag gegen zwei kommt.«
»Wissen Sie noch, wie das Kuvert ausgesehen hat?«
»Ich glaube, es war cremefarben.«
Hackenholt nickte befriedigt. »Hat Herr Degel irgendwann im Lauf des Tages etwas über diesen Brief gesagt? Egal was?«
»Nein.«
»Hat er erwähnt, von wem er ihn bekommen hat, oder ob es eine Einladung war?«
»Nein, er hat das Thema überhaupt nicht mehr erwähnt. « Sie stutzte einen Augenblick und schloss die Frage an, ob Jürgen etwas ausgefressen hätte.
Hackenholt mochte sie nicht am Telefon über den Tod ihres Schwagers unterrichten, konnte ihr aber auch schlecht sagen, dass mit Degel alles in Ordnung war. Deshalb bat er sie, mit ihrem Mann in Kontakt zu treten und fügte an, dass er im Moment sicher Beistand nötig habe.
Im Anschluss an die Abendbesprechung, in der sie nur vergleichen konnten, was sie alles nicht weitergebracht hatte, griff Hackenholt zum Telefonhörer und rief Sophie an, um sie zu fragen, ob er sie einladen dürfe, mit ihm essen zu gehen.
»Möchtest du wirklich in ein Restaurant gehen?«, fragte Sophie, als er eine knappe Viertelstunde später vor ihrer Tür stand. »Wollen wir es uns nicht lieber hier gemütlich machen, und ich koche uns etwas Leckeres?«
»Das tun wir ein anderes Mal. An einem Wochenende, wenn ich am nächsten Tag nicht früh aufstehen und arbeiten gehen muss, okay?«
»Ist das der wahre Grund oder hat es vielleicht damit zu tun, dass du nicht hier im Haus sein magst?«, fragte sie leise.
Er wich ihrem fragenden Blick aus, gab es dann aber zu. »Ja, solange die Ermittlungen noch laufen, habe ich einfach ein ungutes Gefühl, zu viel privat hier zu sein. Wenn die Sache abgeschlossen ist, ist es etwas anderes.«
»Aber das ist doch Quatsch, das hat doch nichts miteinander zu tun!«
»Es tut mir leid«, sagte Hackenholt sanft. »Wenn du möchtest, können wir zu mir gehen.« Er nahm sie in den Arm und küsste sie auf die Augenbraue.
Es entstand eine Pause, die schließlich von Sophie gebrochen wurde. »Ich wollte dir noch etwas zeigen.« Sie löste sich von ihm und ging ins Wohnzimmer. Hackenholt folgte ihr. »Ich habe mitbekommen, dass ihr Carina heute in die Mangel genommen habt. Ich weiß, ich muss mich aus deinen Ermittlungen heraushalten, aber ich wollte dir trotzdem etwas zeigen.« Sie hielt ihm ihr Telefon hin. »Auf dem Display wird angezeigt, wer angerufen hat, wenn ich den Anruf nicht annehme. Schau, hier stehen Uhrzeit und Datum und da die Telefonnummer beziehungsweise der Name, wenn ich die Nummer eingespeichert habe.«
Hackenholt nickte, er wusste nicht so genau, worauf Sophie hinauswollte.
»Wie du siehst, hat Carina am Samstagabend drei Mal angerufen, während ich bei dir war: Um einundzwanzig Uhr sieben, um einundzwanzig Uhr achtundfünfzig und schließlich um zweiundzwanzig Uhr dreiunddreißig.«
»Jeder könnte mit ihrem Telefon deine Nummer gewählt haben. Außerdem wäre ihr immer noch genug Zeit geblieben, zur Burg zu gehen. Von hier aus sind das höchstens fünf Minuten«, versuchte Hackenholt möglichst behutsam zu entgegnen.
»Das ist mir schon klar«, seufzte Sophie. »Aber sie hat auch auf meinen Anrufbeantworter gesprochen.« Sophie bückte sich und spulte das Gerät zurück. »Ich habe bewusst keinen Anruf gelöscht.«
Nach einem Pfeifton erklang Carina Jakobis Stimme: »Sophie? Ich sitze gerade mit Susanne bei einem Glas Wein zusammen. Wenn du heimkommst und noch Lust hast, dann komm doch zu uns rauf, wir würden uns freuen.« Nach dem Text folgte die Ansage der Uhrzeit: zweiundzwanzig Uhr dreiunddreißig, und nach einem Pfeifton kam schon die nächste Nachricht. Sophie stellte das Gerät schnell auf lautlos.
»Kannst du nicht über die Telekom nachprüfen, dass sie wirklich zu diesen Uhrzeiten bei mir angerufen hat, oder sonst etwas machen?«
»Wenn sie nichts mit der Sache zu tun hat, werden wir das feststellen«, antwortete er denkbar vage. Im Stillen hasste er sich für diese Floskel.
Sophie warf ihm einen Blick zu, der nicht allzu viel Zuversicht ausdrückte.
»Du musst Vertrauen in unsere Arbeit haben«, beschwor er sie.
Sophies Blick wurde noch zweifelnder.
»Komm, gehen wir zu mir«, schlug Hackenholt vor, um sie abzulenken. »Ich habe ausnahmsweise mal einen vollen Kühlschrank, weil jemand ganz fantastisch für mich eingekauft hat. Und es wäre doch schade, wenn die Sachen verderben.«