Licht und Schatten
Die Erfüllung des göttlichen Geistes, indem
man sich immer wieder mit dem 'Guten', dem Licht, in seinem Leben
verbindet, bedeutete für die Priester-Magier auf Dauer, dem
andauernden Wechsel in der natürlichen Umgebung und im eigenen
Leben vorausschauend gewachsen zu sein.
Auf Licht folgt Schatten und umgekehrt. Wandlung, Veränderung,
Umwandlung, Wiederkehr und Wechsel von z.B. Ebbe und Flut, Sonne
und Mond, Geburt und Tod, Pol und Gegenpol, Freude und Schmerz, Tag
und Nacht, die Metamorphose der Gegensätze in ihr Gegenteil
(Gesetz der Hathor), sind in der Natur
notwendige Durchgänge auf dem Weg des Wachstums, der Entwicklung -
hin zu Frühling und Sommer, hin zu Vollkommenheit und
Fülle.
Wenn man den Wechsel voraussehen kann, kann man die Entwicklung hin
zu einer neuen Qualität beeinflussen. Die Beeinflussung dieser
Entwicklung auf Erden, das Mitschöpfen mit dem Göttlichen, ist
Aufgabe, Wunsch und Absicht der Menschen von Anbeginn. Zu dem Zweck
des Mitschöpfens muss man sich mit der werdenden Kraft (in
der Regel ist das die abwesende Kraft) verbinden und diese im
eigenen Sinne beeinflussen.
Da das Sonnenlicht jede Nacht verschwindet und
jeden Morgen wieder auftaucht und auch das Wasser des Flusses zu
jahreszeitlich bedingten Überschwemmungen neigt, die zum Teil nötig
sind, um die Felder zu bewässern, die aber zu Unzeiten auch
verheerend sein können, ging man im alten Ägypten davon aus, das
der geordneten Welt ein unbegrenztes Chaos gegenüber steht, in dem
Kräfte und Gegenkräfte wirken und in die geordnete Schöpfung
übergreifen. Diese Kräfte versuchte man dadurch in den Griff zu
bekommen, dass man ein ursprüngliches Gleichgewicht der
Schöpfung, das man vom Unbegrenzten her bedroht sah, aktiv zu
bewahren oder wieder neu herzustellen bestrebt war. Dieses
Gleichgewicht des Lebens wurde als Göttin MA’AT verehrt und jeder
Ägypter hatte die Aufgabe, sein Leben so zu gestalten, dass er das
Gleichgewicht der Kräfte bei seinen Handlungen berücksichtigte.
MA’AT verwirklichen hieß: handeln im Einklang mit einer Kraft, die
ausgleicht.
Die Schlüsselbegriffe des alt-ägyptischen Weltverständnis-ses
werden symbolisiert durch:
die Wärme und Helle des Sonnenlichts: RA,
-
welche auch im inneren Menschen erscheint und deshalb gleichbedeutend ist mit Wissen, Bewusstsein: UDJAT-Auge;
-
die in Natur und Welt entgegengesetzten Kräfte: KA und BA;
-
das Gleichgewicht der Kräfte, die Wahrheit, die natürliche Ordnung: MA’AT;
-
das Unbegrenzte, das Jenseits, das Dunkle, das Chaos: NUN;
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das ewige Leben, die Lebensenergie: UROBOROS-Schlange;
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die Existenz des Menschen auf Erden, sein Ich: HERZ;
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das Ungleichgewicht, der die Fahrbahn der Sonnenbarke trockenlegende Chaos-Drache: APOPHIS;
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jene die Gegensätze übergreifende Einheit, die im Verborgenen wirkende Kraft des Ausgleichs, das Verborgene: AMUN;
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der bewusste Zugang zum Verständnis der Schöpfung (Schlüssel): ANCH;
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die gerettete, auferstandene Seele: ACH;
-
die große Fresserin: AMMUT;
-
die 'schwarze Seele', das Finstere: SCHUT.
Da die Sonne jeden Abend mit zunehmender
Dunkelheit im Unsichtbaren, Unbegrenzten verschwindet und an jedem
Morgen wieder am Horizont aufgeht, nahm man an, dass sie sich im
Unbegrenzten regeneriert. Insofern hatte das Chaos, die Finsternis
(NUN) nicht nur etwas Bedrohliches (APOPHIS), sondern auch etwas
Heilendes, Aufbauendes. In der Dunkelheit regenerierte sich das
Licht. Folglich regenerierte sich nach diesem Verständnis im
Jenseits das Diesseits, in der Unterwelt die Lebenskräfte. An ihren
Ursprung zurückgekehrt, regenerierten sich die Kräfte, um wieder
geboren zu werden. Ein Adept hatte die Aufgabe, sich aktiv zu
bemühen, die in seinem Leben wirkenden entgegengesetzten Kräfte ins
Gleichgewicht zu bringen und damit das ursprüngliche Paradies – die
ursprüngliche Harmonie - immer wieder selbst
herzustellen. Dann waren am Ende MA’AT und HERZ auf der Waage
im Gleichgewicht und Auferstehung, Heilung, Wiedergeburt, Rettung
folgte. Und für den Fall, dass am Ende MA'AT und HERZ auf der
Waage nicht im Gleichgewicht waren, kam AMMUT, die große Fresserin
zum Einsatz, um den letzten Rest des Leuchtens der 'schwarzen
Seele' (SCHUT) zu schlucken.
Entsprechend dem Lebenswandel eines Menschen konnte sich die Seele
in vier Seelen-Zuständen befinden: man kannte die BA-Seele, die
KA-Seele, die 'gerettete Seele' (ACH) und die 'schwarze Seele'
(SCHUT). BA- und KA-Seele (das höhere und das niedere Selbst)
gehörten zusammen und trennten sich zum Zwecke der Unsterblichkeit
beim Tode von der Erdenhülle des Menschen, um zu regenerieren. ACH,
die am Ende 'gerettete Seele', war die im Gleichgewicht
befindliche, die auferstandene Seele. Und SCHUT, die 'schwarze
Seele' , war dementsprechend die am Ende auf der Waage der MA'AT im
Ungleichgewicht befindliche Seele, die nicht eingehen konnte ins
Paradies, in die Harmonie, ins Leben.
"... Ptahhotep weiß in seiner Lebenslehre 'Ist das Ende da, dann
bleibt die Maat' (5. Maxime), er geht davon aus, daß sie die
unerschütterliche Basis eines jenseitigen Daseins bildet. 'Es
dauert der Mann, welcher der Maat entspricht' (19. Maxime)
...".2
"Es liegt also kein Segen auf dem, was nicht zur Maat gehört
...".3
"Denn es bewirkt spätestens im Jenseits negative Vergeltung, und
für den Ägypter sind Diesseits und Jenseits ja ein Kontinuum ohne
strikte Grenze ...".4
Das Ringen um das richtige Gleichgewicht
zwischen den Kräften ist demnach im alten Ägypten immer
gegeben.
Bei dieser Aufgabe halfen dem Adepten unter anderem Tarot-Geister
in beratender und helfender Funktion. Diese Fähigkeit der
Tarot-Kräfte, aktiv handelnd zu agieren, ist heute in Vergessenheit
geraten. Wir können sie jedoch wieder entdecken und zur
Problemlösung heranziehen.