Fünf

Wie lange sitzen wir hier schon?«

»Fünfzehn Minuten.«

»Fühlt sich wie Stunden an.«

»Die Uhr sagt fünfzehn Minuten.«

»Vielleicht läuft die Uhr nicht mit Normalzeit.«

»Möglich, aber unwahrscheinlich.« Ich stand auf und ließ meinen halb gegessenen Donut auf dem Tisch liegen.

Quentin furchte die Brauen. »Wohin gehst du?«

»Raus. Das ist unannehmbar. Die können uns doch hier nicht so sitzen lassen.«

»Er sagte, wir sollen warten …«

»Und wir haben gewartet. Jetzt gehe ich.« Ich drückte die Klinke runter und zog an der Tür. Nichts rührte sich. »Na wunderbar. Haben die uns eingesperrt?«

»Versuch’s mit Drücken.« Quentin erhob sich und stellte sich neben mich.

Ich sah ihn strafend an und drückte gegen die Tür. Sie schwang einige Zentimeter auf, bevor sie wieder zufiel. Quentin versuchte ein Grinsen zu unterdrücken. Es gelang ihm nicht besonders gut.

»Sehr komisch«, sagte ich und stieß mit aller Kraft gegen die Tür. Im nächsten Augenblick vernahm ich einen entsetzten Japser, begleitet von dem dumpfen Geräusch, mit dem Holz auf Fleisch trifft. Die Tür prallte ab, und man hörte einen lauten Plumps – wer immer da draußen war, ich hatte ihn offenbar niedergestreckt.

Eine tolle Art, jemanden kennenzulernen. Bestürzt eilte ich hinaus und entschuldigte mich schon im Gehen. »Es tut mir so leid! Ich wusste nicht, dass da jemand ist. Ich …«

»Schon gut«, sagte der Mann auf dem Boden und ließ ein Lächeln aufblitzen, bei dessen Anblick mein Magen spontan einen trägen Salto hinlegte. Ich erkannte den blonden Surfertyp aus dem ersten Gebäude. Allerdings fehlte mir der Name zu diesem unbestreitbar anziehenden Gesicht. »Man sollte ein Warnschild an diese Tür machen – unmarkiertes Verkehrsrisiko oder so –, allerdings wäre sie dann ja ein markiertes Verkehrsrisiko, also wozu das Ganze?«

»Da haben Sie sicher recht«, sagte ich und erwiderte das Lächeln. »Ich bin …« Ich brach ab, als Quentin aus der Cafeteria geschossen kam. »Sieh mal. Anscheinend bin ich auf einen Einwohner gestoßen.«

Statt der erwarteten Begrüßung runzelte Quentin die Stirn und sagte: »Ach. Sie schon wieder.«

»Quentin!« Ich starrte ihn verblüfft an. »Sei nicht so ungehobelt.« Ungehobelt und gar nicht typisch für ihn.

»Schon gut, lassen Sie ihn«, sagte der Mann und hob lachend die Hände. »Ich bin daran gewöhnt. Ich hab so ein Gesicht, das manche Leute einfach nur sauer macht.«

»Mich macht es keineswegs sauer«, beteuerte ich und warf Quentin einen mahnenden Blick zu, bevor ich mich dem Mann auf dem Boden zuwandte. »Ganz im Gegenteil. Kann ich Ihnen hochhelfen?«

»Das wäre nett, zumal Sie ja der Grund sind, weshalb ich hier unten bin.« Er streckte die Arme aus, und ich packte seine Hände. Sein Griff war angenehm, nicht zu locker, aber auch nicht zu fest. Eindeutig ein Mann, der nicht das Gefühl hatte, etwas beweisen zu müssen.

Unwillkürlich lächelte ich ihn erneut an. »Das war keineswegs meine Absicht!«

Quentin verdrehte die Augen. »Oh, Mann.« Damit drehte er sich um und stapfte zurück in die Cafeteria.

Verwundert sah ich ihm nach, doch das Lachen des Mannes neben mir lenkte mich ab. Es klang so rückhaltlos fröhlich, dass es mich bis in die Zehenspitzen erwärmte.

»Moment mal – Sie meinen, das war nicht vorsätzlich? Ich war bloß ein zufälliges Opfer? Das verletzt mich zutiefst.« Er legte eine Hand auf die Brust und versuchte gekränkt auszusehen. »Da komme ich nichtsahnend den Gang entlang, um brav meine Pflicht zu tun, und aus heiterem Himmel versucht eine Wahnsinnige, mich mit einer Tür umzubringen.«

»Hören Sie schon auf«, sagte ich. Es fiel mir schwer, missmutig zu bleiben, solange ein namenloser, über eins achtzig großer Surfer mit mir flirtete und putzige Grimassen schnitt – selbst wenn mein sogenannter Assistent sich unerklärlich schmollend verdrückt hatte. Nebenbei war es ein wirklich schnuckeliger Surfer – nicht direkt hübsch, aber schnuckelig, mit einem ausdrucksvollen Gesicht und Sommersprossen um die Nase. Sein sonnengebleichtes Haar war gerade lang genug, um salopp zu wirken, und eine dichte Strähne hing ihm keck in die Augen. Über eine Wange zog sich eine kleine Narbe. Ein Gesicht, wie man es nicht in der Hauptrolle von Filmen sieht, aber ein Kerl, den man bedenkenlos seiner Mutter vorstellen würde. Und ganz entschieden nicht das, was ich mir spontan unter einem Computerprogrammierer vorgestellt hätte.

»Warum?«, fragte er und lächelte noch breiter. Er hatte ein tolles Lächeln. Ich revidierte meine Einschätzung von ›schnuckelig‹ auf ›extrem süß‹. »Also jedenfalls, ich bin Alex. Alex Olsen.« Er streckte mir eine Hand entgegen, während er sich mit der anderen die Strähne aus den Augen strich. Seine Hände schienen nie stillzuhalten. Es war, als könnten sie jeden Augenblick unserer Unterhaltung überdrüssig werden und mit der Aufführung einer Arie in Zeichensprache beginnen. »Wie schön, Sie endlich kennenzulernen.«

»Endlich?« Ich zog eine Braue hoch und schüttelte ihm die Hand. »Ich saß bis eben in Ihrer Cafeteria.« Er war fast einen ganzen Kopf größer als ich und hatte diesen behaglich-kräftigen Körperbau, den man nur durch jahrelangen Sport und gelegentliches Eisenstemmen erreicht. Seine Kleidung war lässig, Jeans und ein T-Shirt mit der hellroten Aufschrift Nichts ist unmöglich.

Alex lachte wieder. »Ich meinte das eigentlich wesentlich langfristiger. Seit ich die ersten Geschichten über die Wechselbalgfrau gehört habe, die von den Toten auferstanden ist und San Francisco aufmischt, habe ich oft gedacht: Also die Lady würde ich zu gern kennenlernen.«

»Interessantes Kriterium für die Wahl Ihrer Bekanntschaften.«

»Da weiß man wenigstens, dass es nicht langweilig wird.«

»Auch wieder wahr.« Ich entzog ihm meine Hand und strich mir damit die Haare hinter die Ohren. »Allerdings überrascht es mich, dass Sie von alldem gehört haben.«

»Neuigkeiten verbreiten sich heutzutage schnell. Es gibt da diese erstaunliche Erfindung namens Internet – kennen Sie das? Wir benutzen es, um einander allerlei mitzuteilen.« Ich zog die Nase kraus, und er schüttelte den Kopf. »Ach, kommen Sie. Wir stecken hier zwischen zwei großen Herzogtümern wie die Gurke im Sandwich. Wie sollten wir da nicht die beste Gerüchteküche des ganzen Königreichs haben?«

Da war etwas dran. Als ich 1995 verschwand, stand das Herzogtum Traumglas bereits in dem Ruf, sonderbar zu sein. Es gehört einiges dazu, bei einem Volk als absonderlich zu gelten, das mit Vorliebe seine Feinde in Rehe verwandelt und durch die City von Oakland jagt. Wie ich hörte, wurde das Herzogtum noch wunderlicher, als seine Regentin Herzogin Riordan eine Paranoia in Bezug auf Revolten entwickelte. Am Ende wurde es zu viel, eins der größeren Lehen spaltete sich ab, erklärte seine Unabhängigkeit und gründete die Grafschaft Zahmblitz.

Die Politik ergibt einen gewissen Sinn, was ich vom technologischen Fortschritt dahinter kaum sagen kann. Faerie wagte damals zaghafte erste Vorstöße in die Welt der Computerwissenschaft und des Internets, und Zahmblitz wollte die Autonomie unter anderem wegen der Freiheit, diese Grenzen ungehindert zu erweitern. Ich verstehe das nicht. Die Welt, an die ich gewöhnt bin, war viel einfacher als die, in der ich lebe. Heutzutage gibt es zu viel Stahl und Silizium, und ich bin immer noch nicht sicher, ob das wirklich besser ist als Eisen. Ich komme kaum mit meinem Anrufbeantworter zurecht, ganz zu schweigen von all den eigenartigen neuen Möglichkeiten, miteinander in Kontakt zu bleiben. Die Technologie, die in den Kinderschuhen steckte, als ich verschwand, war bei meiner Rückkehr zu einem verwöhnten Teenager herangewachsen, der jedermanns Leben verkomplizierte und Konsumenten in den Wahnsinn trieb.

»Nicht dass sich jemand die Mühe gemacht hätte, uns mitzuteilen, dass Sie kommen«, plauderte Alex weiter. »Hätten wir kein Bild von Ihnen in der Datenbank, wüssten wir immer noch nicht, wer Sie sind.« Nach einer kurzen Pause fragte er ernst: »Wo sind Sie?«

»Was?« Jäh kehrte ich in die Gegenwart zurück. »Ich bin hier.«

»Gerade eben waren Sie das nicht.«

»Oh. Tut mir leid.« Nun, da ich ihm wieder Aufmerksamkeit schenkte, tat es mir wirklich leid. Ich hatte nicht vorgehabt, ihn auszublenden. »Ich schätze, ich war nicht darauf gefasst, dass mich hier irgendjemand kennt.«

»Sie können wohl kaum erwarten, nicht aufzufallen, wenn Sie die halbe Aristokratie des Königreichs vor den Kopf stoßen«, entgegnete er, jetzt wieder unbeschwert. »Ich schwöre, der Tumult, den Sie mit dieser Goldengrün-Angelegenheit verursacht haben, hat Jannie mehr aufgewühlt als die Einführung des Glasfaserkabels für Internetverbindungen. Und das will etwas heißen.«

»Augenblick mal – Jannie?«

»Ja, Jannie. Die Frau, in deren Firma Sie sich hier befinden.«

»Sie meinen die Gräfin Torquill?« Vielleicht konnte mich diese orangeäugige Ken-Puppe zu Sylvesters Nichte führen.

»Wen?«

Nun ja, vielleicht auch nicht. »Reden Sie von Gräfin January Torquill?«

»Was?« Seine Augen weiteten sich, dann stimmte er das volltönende, fröhliche Lachen eines Mannes an, dem etwas wirklich Lustiges passiert ist. »O Mann. Das ist stark. Darf ich ihr erzählen, dass Sie sie so genannt haben? Da wird sie glatt der Schlag treffen.« Selbst unter günstigsten Umständen mag ich es nicht, wenn man mich auslacht. Dies waren definitiv nicht die günstigsten Umstände. Ich starrte ihn finster an. Er hörte auf zu lachen. »Was ist los?«

»Würden Sie mir bitte verraten, von wem Sie reden?«, verlangte ich tadelnd. »Wir sind im Auftrag des Herzogs von Schattenhügel hergekommen, und ich wüsste allmählich wirklich gern, was hier vor sich geht.«

Alex legte den Kopf schief. »Sylvester schickt Sie?«

»Er macht sich Sorgen um January, deshalb hat er mich beauftragt, nach ihr zu sehen.«

»Bitte seien Sie nicht sauer auf mich, wenn ich das frage, aber … haben Sie Beweise?«

»Was?« Ich blinzelte.

Alex machte ein verlegenes Gesicht und zuckte mit den Schultern. »Beweise. Haben Sie irgendwas, was beweist, dass Sylvester Sie hergeschickt hat?«

»Nur das hier.« Ich hielt ihm den Hefter hin, den ich immer noch bei mir trug. »Eine echt miese Wegbeschreibung nach Fremont, unsere Hotelreservierung und einige Anweisungen, aus denen hervorgeht, über wessen Zaun ich lieber nicht klettern soll.«

Alex schlug den Hefter auf und warf einen Blick auf den Inhalt, dann nickte er flüchtig. »In Ordnung, das genügt mir. Ich schätze mal, wenn Sie so dumm wären, das alles zu fälschen, hätten Sie ein Problem, denn die echte Toby Daye würde sehr bald auftauchen und Ihnen die Fresse polieren. Kommen Sie, ich bringe Sie zu January.«

»Lassen Sie mich kurz Quentin Bescheid sagen.« Ich nahm den Hefter wieder an mich, ging zur Cafeteria und steckte den Kopf zur Tür hinein. Quentin saß an dem Tisch, an dem wir uns vorhin niedergelassen hatten, und riss eine Serviette in lange, schmale Streifen. »Hey.«

»Was?«, fragte er, ohne aufzuschauen.

»Ich treffe gleich Sylvesters Nichte. Willst du mitkommen?«

»Ist er dabei?«

»Du meinst Alex?« Er nickte und zerfledderte weiter seine Serviette. »Ja.«

»Dann bleibe ich lieber hier.«

Ich stutzte. »Alles in Ordnung?«

»Es geht mir gut.« Quentin hob den Kopf und sah mich kurz an, bevor er ihn wieder senkte. »Ich mag ihn bloß nicht, das ist alles.«

»So schnell?«

Achselzucken.

»Bist du sicher, dass du allein hierbleiben willst?«

»Ich bin ein großer Junge«, erwiderte er. »Ich glaube, in einer großen, gut beleuchteten Cafeteria kann ich mich schon durchschlagen.«

»Wie du meinst.« Ich trat zurück und ließ die Tür zuschwingen. Wenn er sich unbedingt so aufführen wollte, würde ich ihn nicht davon abhalten.

Alex wartete dort, wo ich ihn verlassen hatte. »Und?«

»Er geht nicht mit.«

»Selbst schuld. Kommen Sie.« Er warf sich die Haare aus den Augen, drehte sich um und strebte den Gang hinunter. Seine Beine waren lang und legten eine erschreckende Geschwindigkeit vor, ich musste mich anstrengen, um Schritt zu halten. Wenigstens blieben wir anscheinend im selben Gebäude.

»Alle kommen und gehen hier in einem Höllentempo«, murmelte ich. Ich bin es nicht gewöhnt, Leute zu begleiten, die aus einem normalen Gang von Ort zu Ort stillschweigend ein Wettrennen machen.

»Wir haben Streichhölzer gezogen, um festzulegen, wer sich mit Ihnen abgeben muss«, erklärte er unterwegs. »Gordan hat verloren, aber ich schuldete ihr noch einen Gefallen, also haben wir getauscht. Sie meinte wahrhaftig, sie wollte unbedingt heute noch was schaffen. Glück muss man haben. Ich hätte glatt dafür bezahlt, dass sie Sie mir überlässt.«

»Tatsächlich?« Ich holte ihn ein und warf einen Blick auf seine Ohren, wenn auch möglichst unauffällig. Für gewöhnlich gibt die Form der Ohren einen Hinweis auf das Fae-Erbe, mit dem man es zu tun hat, und ich weiß gern, woran ich bin. Wäre meine Mutter keine Daoine Sidhe – die begabten Blutwirker einer ohnehin von Blut geradezu besessenen Kultur –, wäre ich vielleicht nicht dermaßen auf Blutlinien fixiert. Aber in vielerlei Hinsicht bin ich ganz die Tochter meiner Mutter.

Er war ein Halbblut, so viel konnte ich erkennen; der menschliche Aspekt in ihm war zu ausgeprägt, um ihn zu übersehen, außerdem bekommen Fae meist keine Sommersprossen. Doch die Form seiner Ohren war mir nicht vertraut. Für einen Daoine Sidhe waren sie zu spitz, für einen Tylwyth Teg zu zierlich, für einen Tuatha de Dannan nicht lang genug. Ich öffnete die Lippen und ›schmeckte‹ die Luft. Manchmal gelingt es mir, die Zusammensetzung des Blutes mit der Zunge zu erfassen und so jemandes Fae-Erbe zu entschlüsseln. Selbst unter den Daoine Sidhe ist das keine sehr verbreitete Gabe, und die meisten Leute wissen überhaupt nichts davon.

Darum war ich überrascht, als sich Alex umdrehte und mahnend einen Finger hob. »Nein, nein. Wenn Sie von allein draufkommen, geht das in Ordnung, aber keine Tricks bitte.«

Ich machte den Mund zu und blinzelte. Es gilt im Allgemeinen nicht als Affront, die Zusammensetzung von Blut zu erschmecken, allerdings mag das daran liegen, dass so wenige von uns dazu fähig sind: So hatte es kaum Gelegenheit, gesellschaftlich geächtet zu werden. »Wissen Sie, Sie könnten es mir auch einfach sagen.«

»Wo bleibt denn dann der Spaß?« Alex blieb stehen. Sein Haar fiel ihm wieder über ein Auge, wodurch er für den Moment etwas unausgeglichen wirkte. »Ich wette, wir finden unterhaltsamere Bedingungen für Ihren Versuch dahinterzukommen.«

»Ach ja? Dachten Sie an etwas Bestimmtes?«

Er grinste. »Wie wäre es denn mit Frühstück?«

»Die meisten Männer fangen mit Abendessen an.«

»Ich kann es mir leisten, anders zu sein.«

»Bis jetzt sehe ich keinen großen Unterschied.«

»Ist das eine Herausforderung?«

»Vielleicht.«

Mit siegessicherem Grinsen neigte Alex den Kopf und küsste mich.

Seine Lippen schmeckten nach Kaffee und Klee. Ich stutzte kurz, dann lehnte ich mich ihm entgegen und erwiderte den Kuss. Er legte eine Hand auf meine Schulter, zog mich in einen günstigeren Winkel und küsste mich so stürmisch und so lange, bis sich in meinem Kopf alles drehte. Dann ließ er mich los, trat zurück und fragte: »Anders?«

»Anders«, gab ich zu und spürte, wie mir die Röte bis in die Ohrenspitzen stieg.

»Also bleibt es bei Frühstück.« Mit einem Zwinkern drehte er sich um und öffnete die Tür hinter sich. »Ladies first.«

Lachend versuchte ich meine aufgewühlten Gefühle unter Kontrolle zu bringen, dann schob ich mich an ihm vorbei und betrat den architektonisch unmöglichsten Flur, den ich je gesehen hatte. Echte Winkel krümmen sich nicht auf solche Weise. Ich sah mich nach Alex um. Seine Miene verriet erwartungsvolle Belustigung, auch wenn er es zu verbergen versuchte.

So also lief das Spiel, ja? Ich setzte meine beste Unschuldsmiene auf und fragte nonchalant: »Und wann wolltet ihr uns sagen, dass wir uns im Mugel befinden?«

Alex’ Belustigung wich leichter Überraschung. »Das wussten Sie?«

»Kurzmeldungen. Erstens: Spitzentraumblumen wachsen gewöhnlich nicht auf den Wiesen der Sterblichen. Und: Der Himmel hat die falsche Farbe für Silicon Valley.« Ich zuckte die Achseln. »Ich nehme an, wir sind übergetreten, als wir durch die Vordertür reinkamen.«

Er blieb stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Schön, wie sind Sie dahintergekommen?«

»Die Klimaanlage ist zu hoch eingestellt. Das Erste, was auffällt, ist die Kälte, und das hält davon ab, den Übergang zu bemerken. Ein Anwesen?«

»Eine Seichtung.«

»Das passt auch besser. Ich vermute, die irdischen Gebäude überlagern den Mugel, richtig?«

»So in etwa.«

Es gibt zwei Arten von Mugeln. Manche, wie Schattenhügel, sind richtiggehende Anwesen der Sommerlande. Sie sind mit der sterblichen Welt durch Pforten verbunden, welche die Mauern der Wirklichkeit durchbrechen. Nichts zwingt diese Anwesen, sich nach der irdischen Geografie zu richten, und meist tun sie es auch nicht. Die Sommerlandseite des Torquill-Anwesens besteht ganz aus jungfräulichem Wald und kultiviertem Ackerland und sieht völlig anders aus als die Umgebung der Stadt Pleasant Hill. Seichtungen hingegen sind kleine, aus dem Raum zwischen den Welten gehöhlte Taschen, die weder da noch dort ganz existieren. Da sie nicht völlig in Faerie verankert sind, beruhen sie weit stärker auf der Landschaft beider Wirklichkeiten. Seit Oberons Verschwinden sind wir aus allen Ländern Faeries außer den Sommerlanden verbannt, und je knapper Grundbesitz wird, desto häufiger findet man Seichtungen.

»Und was, wenn ihr menschliche Besucher empfangt?« In gewisser Weise war das eine andere Variation der Frage, die ich Quentin gestellt hatte: Bist du auch vorsichtig?

»Nun ja, wir beschränken sie auf das Mindestmaß, aber wenn wir mal Menschen hereinlassen müssen, kommen sie mit einem anderen Code durch das Tor, und am Parkplatz erwartet sie jemand. Sie werden zur irdischen Seite der Cafeteria oder zu den Serverräumen geführt. Deshalb sind die Gebäude intern nicht verbunden. Wer nicht die Vordertür passiert, gelangt nicht in den Mugel und kann auch nichts und niemanden in dessen Innern sehen.«

Das Konzept war etwas schräg, aber einleuchtend. Jedenfalls auch nicht schlimmer als das Ringelreihen um die Gifteiche, das man veranstalten musste, um in den Mugel von Schattenhügel zu gelangen. »Hat es denn noch nie Pannen gegeben?«

»Doch, ein paarmal schon.« Er öffnete eine Tür. Der Gang dahinter war mit giftgrünem Teppich ausgelegt, und Korktafeln bedeckten die Wände, übersät mit Kartoons und Memos. Ein Blick aus dem Fenster zeigte, dass wir irgendwie im ersten Stock gelandet waren, ohne eine Treppe zu benutzen – nett. »Aber nichts Schlimmes, und wir konnten alles ohne bleibende Schäden beheben.«

»Nämlich wie?«

»Bis vor Kurzem hatten wir eine Kitsune in der Belegschaft.« Alex’ Lächeln wich einem Gesichtsausdruck, den ich nicht recht zu deuten wusste. »Sie hat dafür gesorgt, dass sich die Leute an nichts erinnerten.«

Nicht alle Kitsune können das Gedächtnis manipulieren, aber wenn sie es können, sind sie in der Regel verdammt gut darin. Fast widerwillig nickte ich. »Guter Ansatz.«

»Dachten wir auch.« Der Gesichtsausdruck, aus dem ich nicht schlau wurde, verflog so rasch, wie er gekommen war. »Sie haben kein Telefon, oder?«

»Was?«

»Ein Mobiltelefon.« Er hob die Hand und tat, als spreche er in einen kleinen Hörer. »Falls doch, ist es innerhalb des Mugels nutzlos. Wenn Sie wollen, kann ich es modifizieren lassen.«

»Modifizieren?«

»Gordan ersetzt den Akku durch eine ihrer Spezialbatterien, wirkt ein wenig Voodoo und sorgt dafür, dass die Schaltkreise sich neu ausrichten. Sie ist unsere Hardwarekünstlerin.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich benutze bloß das Spielzeug, das sie anfertigt.«

»Interessant.«

»Das sind Sie auch, das können Sie mir glauben, aber wir sind am Ziel.« Er zeigte auf eine Tür. »Das ist Jans Büro. Seien Sie freundlich. Eigentlich ist sie ganz umgänglich, aber die letzten Wochen waren hart, und sie ist ein wenig launisch. Es wäre ein Jammer, wenn Ihnen Ihr hübscher Kopf abgebissen würde.«

»Ich bin so freundlich, wie sie es mir ermöglicht«, gab ich zurück und wandte mich der Tür zu.

Meine Hand war bereits zum Klopfen erhoben, als er sagte: »Toby?«

»Ja?«

»Es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen.«

Das trug ihm ein Lächeln ein. »Gleichfalls«, erwiderte ich und klopfte an.

Der Klang meiner Knöchel auf dem Holz war laut und leicht hohl, ein Hinweis darauf, dass der Raum dahinter in Wirklichkeit nicht mit dem Türrahmen verbunden war. Physische Bezugspunkte spielen in Faerie keine große Rolle: Jans Büro konnte sich so ziemlich überall im Mugel befinden und trotzdem mit dieser Tür verknüpft sein.

Eine Stimme rief: »Herein!« Kopfschüttelnd drückte ich die Klinke runter und folgte der Aufforderung. Es gibt für alles ein erstes Mal.