Zwölf

Der Mann an der Rezeption unseres Hotels fuhr zusammen, als wir durch die Lobby stürmten. Quentin hatte seine menschliche Tarnung während der Fahrt von ALH zum Hotel gewoben, ich hatte meine rasch noch auf dem Parkplatz angelegt. Sie war nicht besonders haltbar, doch das kümmerte mich nicht. Sie diente nur dazu, dass wir nicht in den Boulevardblättern landeten, sondern unsere Zimmer erreichten und uns holen konnten, was wir brauchten. Colins Seehundfell hing über meinem Arm, so getarnt, dass es wie ein etwas schmuddeliges Handtuch aussah. Ich wollte es in Sicherheit bringen, um es seiner Familie zurückzugeben, wenn alles vorbei war – falls wir überlebten.

Wahrscheinlich wären wir sogar ohne Tarnung ausgekommen. Der Typ an der Rezeption war der einzige Mensch weit und breit, ein blasser, sorgenumwölkter Mann, der uns nie als das erkannt hätte, was wir in Wirklichkeit waren. Ein Kind der modernen Zeit, dazu erzogen, Feen für pastellfarbene Geschöpfe zu halten, die Gewänder aus Blumen trugen und in Mondstrahlen badeten. Wenn er uns ohne Tarnung sah, würde er annehmen, einen Jungen zu sehen, der Star Trek spielte, sowie eine große Tinkerbell-Imitatorin nach Feierabend. Er würde nicht mal verstehen, weshalb er den Drang verspürte wegzurennen. Ich warf ihm im Vorbeilaufen einen Blick zu, und er zuckte leicht zusammen. Kopfschüttelnd wandte ich mich ab. Es wird nicht besser. Ich glaube, das wird es nie.

Ganz gleich, was die Reinblütler behaupten, die Menschen sind nicht dumm, nur blind, und manchmal ist das noch schlimmer. Sie verfrachten ihre Ängste in Geschichten und Lieder, wo sie nicht in Vergessenheit geraten. ›Nicht auf dem hohen Berge, nicht in dem Moor voll Kolk, wage ich zu jagen, aus Furcht vor kleinem Volk.‹ Wir haben ihnen reichlich Grund gegeben, uns zu fürchten. Auch wenn die Menschen es beinahe vergessen haben – auch wenn sie sich nur noch daran erinnern, dass wir wunderschön waren, und nicht, weshalb sie sich fürchteten –, war die Angst vor allem anderen da. Es gab triftige Gründe für die Zeiten der Verbrennungen, es gibt einen Grund, weshalb die Märchen fortbestehen. Und es gibt einen Grund, warum die Welt der Menschen die alten Zeiten nicht noch einmal erleben möchte.

Übrigens gilt das auch für die meisten Fae, mich eingeschlossen. Damals brauchte Faerie keine Wechselbälger als Brücken zwischen den Welten: Die Kinder Faeries beherrschten die Nacht, und sie würden ewig leben. Es war nicht von Dauer – konnte nicht von Dauer sein –, doch das wusste man damals noch nicht. Mit der Zeit wurde Faerie schwächer, während die Menschen stark wurden. Das ist der Grund, weshalb Leute wie ich existieren können. Faerie ist mittlerweile schwach genug, um uns zu brauchen. Also: Nein, ich will die dunklen Jahre nicht zurück. Ich will weder die Nacht beherrschen noch mich in finsteren Winkeln herumdrücken, und eine andere Wahl hätte ich nicht. Allerdings gibt es Zeiten, da möchte ich manchmal die Trugbanne fallen lassen und sagen: ›Seht her, ich bin eine Person wie ihr. Können wir bitte aufhören, uns voreinander zu verstecken? Wir haben doch Besseres zu tun.‹

Das möchte ich. Aber ich werde es nie tun.

In der dritten Etage stiegen Quentin und ich aus dem Aufzug. »Was jetzt?«, fragte er.

»Pack zusammen, was du brauchst – frische Klamotten, alle Waffen, die du hast. Du hast doch Waffen mitgebracht, oder?« Er schüttelte den Kopf. Ich seufzte. »Was bringt man euch eigentlich bei?«

»Etikette, Heraldik, wie man Würdenträger nicht beleidigt, die zu Besuch kommen … so was eben«, sagte er.

»Sofern du nicht vorhast, tagtäglich mit Majestäten zu dinieren, ist das alles lange nicht so wichtig wie etwas Scharfes dabeizuhaben, was du zwischen dich und einen Angreifer bringen kannst, der dich töten will. Verstanden?« Wenn ich damit fertig war, Sylvester zusammenzustauchen, würden wir uns mal über Quentins Ausbildung unterhalten müssen. Schattenhügel verfügte über genug Ritter, einer davon sollte Quentin beibringen, wie man richtig kämpfte. Vielleicht Etienne. Ich würde mit ihm reden – vorausgesetzt, wir schafften es zurück.

»Tut mir leid, Toby.«

Er schaute so reumütig drein, dass ich nicht länger zürnen konnte. Außerdem war es nicht seine Schuld, dass man ihm nichts Vernünftiges beibrachte. Achselzuckend sagte ich: »Hol deine Sachen. Wir treffen uns in zehn Minuten in der Lobby. Mal sehen, was wir tun können, um dir etwas zu beschaffen, das einer Waffe ähnelt.«

»Alles klar.« Munter stapfte er den Flur entlang davon. Kopfschüttelnd sah ich ihm nach. Zur Not konnten wir die Besteckabteilung eines rund um die Uhr geöffneten Ladens plündern. Es gibt immer eine Möglichkeit, wenn man gewillt ist, kreativ zu sein. Als Quentin außer Sicht war, drehte ich mich um und lief das kurze Stück zu meinem Zimmer. Unterwegs kramte ich den Schlüssel aus meiner Tasche.

Das Zimmer war in meiner Abwesenheit aufgeräumt worden. Die nassen Handtücher waren durch frische ersetzt, das Bett war gemacht. Es ist schön, jemanden zu haben, der für mich Heinzelmännchen spielt – in Faerie ist das ein Dienst, auf den Wechselbälger kein Anrecht haben, dabei bräuchte ich ihn dringend. Das Wort ›Chaotin‹ beschrieb mein Geschick in Sachen Haushaltsführung nicht mal annähernd.

Meine Reisetasche stand unausgepackt auf dem Boden des Kleiderschranks. Ich legte das Seehundfell beiseite, hob die Tasche aufs Bett und kramte in meinen verknautschten Klamotten, bis ich unter meiner Ersatzjeans die Samtschatulle fand. Die Schleife fiel ab, als ich sie hervorzog; es spielte keine Rolle. Ich hatte sie nur verwendet, um eine Erinnerung unter Verschluss zu halten. Nun war es an der Zeit, sie zu öffnen.

Wir können die Vergangenheit nicht ändern, nur weil uns nicht gefällt, wie sich die Dinge entwickelt haben. Dare war für mich gestorben. Mein Part war es nun, für sie zu überleben.

Ich nahm das Messer heraus, das sie mir geschenkt hatte, schob es in meinen Gürtel und befestigte den Griff an einer der Schlaufen, bevor ich das Hemd darüberzupfte, um die Waffe zu verbergen. Es war ein gewöhnliches Kampfmesser aus Faerie, gehärtetes Silber mit einer tödlich scharfen Schneide. Nebenbei war es der beste Talisman, den ich hatte. Silber brennt zwar nicht so wie Eisen, aber es kommt dem näher als alles andere.

Der Baseballschläger war unter dem Bett versteckt, damit er das Reinigungspersonal nicht unnötig verstörte. Ich holte ihn hervor, brachte ihn nachdenklich in Anschlag und stieß den Atem aus, den ich unbewusst angehalten gehabt hatte. Bewaffnet zu sein bessert meine Laune immer, vor allem, wenn ständig Leute umgebracht werden. Das Messer eines toten Mädchens und ein Aluminiumprügel waren vielleicht keine ›mächtigen Waffen‹, aber allemal besser als nichts.

Nachdem ich meine Kleider zurück in die Tasche gestopft hatte, griff ich zum Telefon und wählte die Nummer von Schattenhügel. Beim zweiten Läuten ging Melly ran. »Schattenhügel, was kann ich für Sie tun?«

»Ist Sylvester da?«

Eine Pause entstand. »October? Kind, du klingst völlig fertig. Was ist denn los?«

Der Klang ihrer Stimme – jeder Stimme, die die Aussicht verhieß, meinen Lehnsherrn zu erreichen – glich Sonnenlicht, das durch eine Wolkendecke bricht. Ich setzte mich auf die Bettkante und schloss die Augen. »Stell mich einfach zu Sylvester durch, Melly, bitte. Es ist dringend.«

»Alles klar, Liebes, alles klar. Bleib einen Augenblick dran.«

»Mach ich.«

Ein Klicken ertönte, als sie den Anruf in die Warteschleife legte. Keine zehn Sekunden später hob Sylvester ab. Seine Stimme troff vor Besorgnis. »October?«

Ich holte tief Luft und blies sie kräftig aus, bevor ich sagte: »Hallo. Habt Ihr meine Nachricht erhalten?«

»Welche Nachricht?« Er hörte sich aufrichtig verdutzt an. »Ich habe darauf gewartet, dass du anrufst. Ist alles in Ordnung? Was ist denn los?«

»Nein. Gar nichts ist in Ordnung. Nicht mal annähernd. Hört mir zu.« Und ich berichtete ihm, was vor sich ging. Es gab einiges zu erzählen, und er warf immer wieder Fragen ein. Ich bemühte mich, sie bestmöglich zu beantworten. Schließlich herrschte einen Moment Stille, als wir beide darauf warteten, was der andere zu sagen hatte.

Nach einer Weile meinte Sylvester bedrückt: »Ich würde nichts lieber tun, als dich nach Hause zu beordern. Das weißt du, oder?«

»Aber das könnt Ihr nicht. Auch das weiß ich.«

»Richtig, ich kann nicht. Toby …«

»Ich will Quentin zurück nach Schattenhügel schicken. Hier ist es nicht sicher.«

Er zögerte. »Wenn es sich um einen politischen Angriff handelt, wie January deinen Schilderungen zufolge fürchtet, dann ist es auch nicht sicher, ihn allein zurückzuschicken. Ich muss jemanden finden, der ihn abholen kann, ohne Riordan zu verärgern. Kannst du dafür sorgen, dass er bis dahin am Leben bleibt?«

Ich lachte bitter auf. »Ich bin nicht mal sicher, ob ich bis dahin am Leben bleibe, aber ich werd’s versuchen.«

»Tu, was du kannst«, erwiderte er. »Aber sei auf jeden Fall vorsichtig, ja?«

»Mach ich. Und Ihr überprüft Euer Telefon, okay? Ich weiß nicht, warum unsere Nachrichten nicht durchkommen, aber es macht mich noch wahnsinnig.«

»Ich werde Tag und Nacht jemanden neben dem Telefon postieren. Melde dich alle sechs Stunden.«

»Und wenn nicht?«

Er schwieg einen Augenblick. Dann erwiderte er tonlos: »Ich lasse mir etwas einfallen.«

Danach gab es nichts mehr zu sagen. Ich verabschiedete mich, legte auf und verstaute Colins Fell in meiner Tasche, bevor ich das Zimmer verließ. Quentin wartete mit seinem Rucksack über der Schulter in der Lobby, wo er an der Wand neben den Fahrstühlen lehnte.

»Was hat dich so lange aufgehalten?«

»Nichts«, erwiderte ich. »Komm. Wir müssen noch etwas auftreiben, womit du Leute verprügeln kannst.«

»Was denn, wir stehlen mir einen Backstein?«

»Wäre eine Idee.« Ich ging auf die Tür zu. Der Rezeptionsheini zuckte wieder zusammen, als wir an ihm vorbeikamen, unser Anblick hatte sich durch den zusätzlichen Baseballschläger wohl nicht verbessert. Ich war nur froh, dass ich das Messer verborgen hatte – sonst hätte er glatt einen Schlaganfall erlitten. Ich nickte ihm freundlich zu, und er lächelte zittrig. Halb war ich erleichtert, dass wir nicht auschecken wollten. Der Belastung, mit uns reden zu müssen, waren seine Nerven bestimmt nicht gewachsen.

Um zum Auto zu gelangen, mussten wir durch die Garage, wo die flackernde Deckenbeleuchtung zu viele Schatten warf. Ich scheuchte uns in aller Eile zum Wagen. Quentin trat an die Beifahrerseite. Unsere Blicke trafen sich, als wir durch unsere jeweiligen Heckfenster spähten. Es gab Schlimmeres, als dem Jungen ein gesundes Maß an Paranoia einzuimpfen – beispielsweise, ihn in dem Glauben zu lassen, nichts auf der Welt würde ihm wehtun.

Das Auto war sauber. Ich entriegelte meine Tür und beugte mich hinüber, um die Beifahrerseite zu öffnen, bevor ich meine Sachen in den Fond warf. Quentin stieg ein und stellte seinen Rucksack zwischen seine Knie.

»Irgendeine Idee, wo wir dir ein Fleischerbeil oder etwas Ähnliches besorgen können?«

»Gemischtwarenladen?«, schlug er vor.

»Volltreffer.«

Wir fuhren los und steuerten die Hauptstraße der Stadt an. Wenn so spät noch ein Laden offen hatte, dann dort. Im Fahren warf ich einen Seitenblick auf Quentin. Er starrte nachdenklich aus dem Fenster. Kopfschüttelnd richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße.

In diesen Zeiten waren Helden nicht mehr das, was sie früher waren. Einst wäre ein Ritter in schimmernder Rüstung mit wehendem Banner zur Rettung herbeigeeilt. Heutzutage musste man froh sein, wenn man einen angeschlagenen Wechselbalg mit einem minderjährigen, halb ausgebildeten Helfer bekam, und die Prinzessinnen waren verwirrte Technikfreaks in Türmen aus Silizium und Stahl. Die Maßstäbe hatten sich sehr verändert.