Zombies!

Leif schritt die Länge des Tisches ab und betrachtete das Sammelsurium an Gegenständen darauf. Küchenmesser, Hackbeile, Tennisschläger, Baseballschläger, Hämmer, Sägen, ein Brecheisen, eine Tasche mit Golfschlägern. Er wandte sich dem stellvertretenden Manager zu, der hinter ihm stand, und deutete auf die Tasche. »Gibt es in Schenkenzell einen Golfplatz?«

Der Manager schüttelte den Kopf. »Es hat den werten Herrn aber nicht davon abgehalten, sie fast überallhin mitzunehmen.«

Leif deutete auf drei schwarz gefärbte Macheten. »Und was hat es damit auf sich?«

»Aus einem mir nicht ersichtlichen Grund ist der Schwarzwald ein beliebtes Ziel für die Enthusiasten des Survivaltrainings. Das gibt sich in den meisten Fällen, nachdem das erste Fingerglied vom Rest des Körpers abgetrennt wurde.«

»Was es nicht alles gibt«, sagte Leif.

Der stellvertretende Manager lächelte dünn. »Ich maße mir kein Urteil über die Spleens unserer Gäste an.«

Ein paar Meter vom Tisch entfernt waren die Sprösslinge der Kowalskis unter Anleitung ihres Vaters damit beschäftigt, Konservendosen in Rucksäcke und Sporttaschen zu packen. Daneben half die älteste Tochter ihrer Mutter, Nägel in das dicke Ende eines Tischbeins zu schlagen.

Andreas kam in den Saal gelaufen. »Die Karren sind soweit alle in Ordnung.« In seiner Stimme schwang der unausgesprochene Vorwurf mit: Wer hat dich eigentlich zum Chef ernannt?

»Soweit? Was heißt hier ›soweit‹?«, fragte Leif.

Andreas machte eine vage Handbewegung. »Na ja, für die nächste TÜV/AU würde ich meine Hand nicht ins Feuer legen, aber die Strecke nach … Wohin wolltet ihr fahren?«

»Frankfurt.«

Svenja und Tessa betraten den Saal. Beide bekamen vollgepackte Rucksäcke und Sporttaschen von den Kowalskis gereicht und schleppten sie davon. Svenja warf Leif und Andreas noch einen vorwurfsvollen Blick zu, während Tessa schon weitaus flinker war.

»Ah. Na, bis dahin dürfte deine Reisschüssel das allemal schaffen.«

Leif lächelte humorlos. »Vielen Dank.«

»Gern geschehen.« Andreas wollte sich gerade abwenden, da hielt er inne. »Ach ja, bevor ich es vergesse. Ich hab dir die Kettensäge in den Hyundai gelegt.«

»Die Kettensäge? Sag mal, geht’s noch?«, fuhr Leif auf.

»Wo ist das Problem?«

Leif rieb sich die Stirn. »Das Teil ist unhandlich und laut. Und wenn das Benzin alle ist, haben wir nur einen großen Haufen Altmetall. Was meinst du eigentlich, warum ich ein Veto eingelegt habe, als ihr das Ding angeschleppt habt?«

Andreas schlug ihm auf die Schulter. »Mach dich mal locker. Du wirst mir noch danken, dass ich es eingepackt habe.«

Gerade als Leif darauf antworten wollte, fiel ein Stapel leerer Konservendosen laut klappernd am anderen Ende des Saales um. Das Geräusch jagte Leif einen regelrechten Stromschlag durch die Knochen.

»Fallen lassen!«, rief er. »Macht euch bereit.« Während die Kowalskis und Andreas über den Tisch mit den Waffen herfielen, packte Leif seinen Zimmermannshammer und rannte aus dem Saal.

Von den Dosen führte eine Schnur hinaus, eine Treppe hoch in eine Lounge im ersten Stock, genau über dem Foyer. Leif folgte ihr.

Die Schnur und die Konservendosen waren Tessas Idee gewesen. Als sie mal wegen einer Angina keine Stimme gehabt hatte, war sie auf den Trichter gekommen, ein Glöckchen im Wohnzimmer anzubringen, von dem eine Schnur in ihr Zimmer führte. Leif wunderte sich, warum er nicht selbst darauf gekommen war.

Ein sehr erregter Ludwig Meier erwartete ihn. »Bernhard, da sind Sie ja endlich. Wir haben ein Problem.« Er deutete aus dem Fenster.

Sie meinen, abgesehen von den Schlurfern? Leif verbiss sich die boshafte Antwort, deren Variation ihm jedes Mal hochkam, wenn er sich mit Herrn Meier unterhielt, und folgte dessen Fingerzeig. Was ihm als Erstes auffiel, war die erhöhte Anzahl an Schlurfern vor dem Hotel und auf der Straße. Gleich darauf hörte er in der Ferne das durchdringende Heulen.

Die Schlurfer hatten ein neues Opfer entdeckt. Und besagtes Opfer näherte sich gerade dem Hotel. Es war ein Mann, soviel konnte Leif erkennen, in den Überresten eines anthrazitfarbenen Geschäftsanzugs. Er wirkte ziemlich abgehetzt, besaß zum Glück aber noch so viel Verstand, nicht geradewegs auf das Gebäude zuzuhalten. Er schlug Haken, hechtete von einer Deckung zur nächsten und bemühte sich nach Kräften, keinem der Schlurfer zu nahe zu kommen, ohne sich dabei vom Hotel zu entfernen. Leider waren diese Versuche nicht immer von Erfolg gekrönt. Wann immer er sich einem Schlurfer auf ungefähr fünf Meter näherte, stieß dieser das charakteristische Geheul aus und setzte sich in Bewegung. Als der Mann das Hotel erreichte, hatte sich eine ziemlich große Traube gebildet, die ihn verfolgte.

Aus der Nähe sah Leif, dass der Mann schätzungsweise Ende vierzig, Anfang fünfzig war. Seine spärlichen dunklen Haare standen in alle Richtungen ab wie Igelstacheln.

Hinter Leif polterte es, als Andreas und Herr Kowalski in die Lounge stürmten. Andreas hielt zwei der schwarz gefärbten Macheten in den Händen und Herr Kowalski schwang das mit Nägeln versehene Tischbein. »Geht’s jetzt los?«, fragte Andreas, für Leifs Geschmack eine Spur zu begierig.

Im gleichen Moment stieß der Mann unten gegen die Eingangstür, die sich nicht öffnete. Er fing an, wie wild dagegenzuschlagen und rief: »Um Gottes willen, Hilfe! Wenn jemand in dem Hotel ist, dann lassen Sie mich bitte rein! Bitte! Sie haben mich gleich!« Er schrie aus Leibeskräften, die Stimme schrill vor Angst.

Selbst durch das geschlossene Fenster konnten sie ihn hören.

»Na dann mal los«, sagte Andreas. »Lassen wir ihn rein!«

»Auf keinen Fall!«, schnappte Leif. »Ihr habt ihn gehört, diese Viecher haben ihn gleich erreicht. Wenn wir ihn reinlassen, dann schwächen wir nur unsere Verteidigung.«

Andreas’ Miene verfinsterte sich prompt. Herr Kowalski riss die Augen auf. »Das meinen Sie nicht ernst, Bernhard. Sie können den armen Mann doch nicht einfach dort draußen zu Tode kommen lassen!«

»Das widerspricht der Pflicht zur Nothilfe«, fügte Herr Meier hinzu und zitierte auch gleich den aller Wahrscheinlichkeit nach richtigen Gesetzestext, was alle anderen geflissentlich ignorierten.

»In Gottes Namen! Sie haben mich gleich! Hilfe!«, rief der Mann.

Leif sah nach draußen. Die Schlurfer waren, grob geschätzt, nur noch fünfzehn Meter entfernt. Er öffnete das Fenster und rief hinaus: »Verschwinden Sie! Sie bringen uns alle nur in Gefahr!«

Der Mann taumelte zurück, als hätte Leif ihn geschlagen. »Sie … Sie können mich doch nicht einfach diesen Teufeln zum Fraß vorwerfen.«

»Das tue ich auch gar nicht«, sagte Leif. »Noch können Sie weglaufen. Also stehen Sie hier nicht herum.«

Anstatt Leifs Rat zu folgen und davonzulaufen, brach der Mann zusammen und ging in die Knie. »Ich … ich kann nicht mehr«, ächzte er heiser. »Ich bin seit Tagen am Weglaufen.« Er senkte den Kopf und faltete die Hände.

Die Schlurfer waren nur noch zehn Meter entfernt.

Leif wollte das Fenster schließen. Er hatte alles richtig gemacht. Das Risiko minimiert, die Gefahr abgewendet. Die harte, aber richtige Entscheidung getroffen. Sich vernünftig verhalten. Und vielleicht war diese Entwicklung für alle im Hotel befindlichen Personen sogar von Vorteil. Wenn die Schlurfer über den Mann herfielen, würden seine Schreie davon ablenken, dass Leifs Leute ihnen gerade davonfuhren.

Seine Schreie …

Leif war kotzübel.

Noch fünf Meter.

»Verdammt«, flüsterte er. Dann packte er seinen Zimmermannshammer fester und rannte aus der Lounge. Mehrere Stufen auf einmal nehmend, sprang Leif die Treppe hinunter und erreichte das Foyer.

Nach den ersten Durchsagen über das Auftauchen und Verhalten der Schlurfer sowie der Aufforderung, in den Häusern zu bleiben und die Eingänge zu verbarrikadieren, hatte Leif zusammen mit Andreas und Herrn Meier eine große Tischplatte quer über die massiven Doppeltüren des Eingangs genagelt und einige Schränke und Kommoden davorgeschoben.

Leif erreichte die Tür, trat die Möbelstücke zur Seite und rammte die Klaue des Zimmermannshammers von unten in die Lücke zwischen Tür und Tischplatte. Mit seinem ganzen Gewicht drückte er auf den Griff. Leifs Muskeln begannen zu brennen. Er spürte die Adern auf seiner Stirn hervortreten.

Dann – nach einer gefühlten Ewigkeit – knackte es im Holz. Die Tischplatte löste sich!

Leif nahm den Hammer weg, griff mit beiden Händen zu und zog. Ein kräftiger Ruck – und die Tischplatte kam ihm entgegen. Im letzten Augenblick konnte er sie zur Seite schieben. Während das Holz laut polternd auf den Teppich im Foyer aufschlug, machte Leif sich an den Schlössern zu schaffen. Zwei Absperrketten und drei Riegel galt es zu öffnen, die offenbar nur alle Jubeljahre mal geölt wurden. Leif zog und zerrte an ihnen wie ein Verrückter, aber endlich hatte er auch den letzten geöffnet. Blieb nur noch das Türschloss übrig. Das natürlich verschlossen war.

Auf der anderen Seite der Tür begann der Mann zu schreien.

In dem Moment kam der stellvertretende Manager in das Foyer gelaufen. »Ja, Herr Bernhard, was machen Sie denn da?«

Im Nu hatte Leif ihn am Kragen gepackt. »Schlüssel her! Jetzt!«

»Äh … wie meinen?«, stotterte der Manager.

»Laber nicht!«, brüllte Leif. »Den Schlüssel! Für die Tür! Jetzt!«

Draußen schrie der Mann immer noch. Hastig fischte der Manager einen Schlüsselbund aus der Hosentasche. Leif entriss ihm den sofort. Auch wenn das Hotel trotz seines rustikalen Äußeren alle modernen Annehmlichkeiten wie Kabelfernsehen und kostenloses Wi-Fi bot, so war die Eingangspforte traditionell geblieben und mit ihr auch das Buntbartschloss. Den dazu passenden Schlüssel zu finden, dauerte keine zwei Sekunden. Leif machte sich am Schloss zu schaffen.

Endlich!

Er riss die Türen auf, hob den Zimmermannshammer und stürmte hinaus. Er erwartete, einen schwer verletzten, halb toten Mann vorzufinden, der von den Schlurfern zerrissen wurde. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sich der Mann rückwärts auf das Podest vor der Eingangspforte zubewegte, die Horde der Schlurfer dicht auf den Fersen, und dass er sich einzelne, vorpreschende Exemplare mit einem großen Schirm vom Leib hielt.

»Hinfort mit euch!«, rief der Mann, mit leicht heiserer Stimme, aber dennoch kraftvoll. »Geht zurück in die Hölle, aus der ihr emporgekrochen seid!« Dann trat der Mann unglücklich auf die Treppenstufe und fiel rücklings auf das Podest. Der Schlurfer, den er gerade mit dem Schirm geschlagen hatte, stürzte sich auf ihn. Der Mann konnte noch den Schirm hochreißen und in die Halsbeuge seines Angreifers rammen.

Das riss Leif aus seiner eigenen Starre. Er überwand den Abstand zu dem Mann und schlug seinen Hammer in den Kopf des Schlurfers. Der Aufprall erzeugte ein nasses Klatschen, ähnlich dem Platzen einer Wassermelone. Der Hammerkopf grub sich zum größten Teil in den Schädel. Prompt erschlaffte der Körper, begrub den Mann unter sich und riss Leif den Hammer fast aus der Hand.

»Aaargh!«, rief der Mann. »Himmelarsch und Zwirn noch eins!«

Weitere Schlurfer näherten sich. Leif packte den Griff mit beiden Händen, stemmte einen Fuß in die Schulter des regungslosen Körpers und zog. Mit einem lauten Schmatzen löste sich der Hammerkopf aus dem Schädel. Es geschah so plötzlich, dass Leif das Gleichgewicht verlor und beinah selbst zu Boden gefallen wäre. Im letzten Moment konnte er sich abfangen.

Da war schon der Nächste heran. Zu Klauen gekrümmte Hände griffen nach Leif, ein blutverschmiertes Maul, aus dem Geifer tropfte, klaffte auf. Ein regelrechter Pesthauch wehte Leif ins Gesicht und durchdringendes Geheul peinigte seine Ohren.

Der Mann war vergessen. Das Hotel war vergessen. Alles war vergessen. Die ganze Welt reduzierte sich nur noch auf Leif und den Schlurfer.

Das machte es einfacher.

Leif schlug zu. Schräg von unten nach oben. Der Hammerkopf traf den Kiefer und zerschmetterte ihn mit dem Geräusch von zerbrechenden Salzstangen.

Aus dem Geheul wurde ein unverständliches Blubbern. Weiter drang der Schlurfer auf Leif ein.

Er holte erneut aus. Doch sein Schlag wurde von den Armen des anderen abgefangen. Unmenschliche Kraft drückte Leif zu Boden. Der Hammer entglitt seinen Händen …

Eine schwarze Machete schnitt in die Halsbeuge des Schlurfers. Die Wucht des Aufpralls riss ihn fast um und Leif gleich mit. Ein weiterer Schlag trennte den Kopf beinahe vollständig ab. Aber das genügte schon. Sein Griff erschlaffte und Leif konnte wieder auf die Beine kommen.

»Bin froh, dass du es dir anders überlegt hast«, sagte Andreas. Ehe Leif reagieren konnte, wirbelte der Vierzigjährige herum, lachte begeistert und hackte mit seinen Macheten auf die nächstbesten Schlurfer ein. Nicht mal zwei Meter neben Leif streckte Herr Kowalski gerade einen mit einem wuchtigen Schlag seiner Tischbein-Nagelkeule nieder. Hinter Leif stand der Mann wieder auf den Füßen und hielt seinen Schirm bereit.

»Bis hierher und nicht weiter! Macht euch vom Acker, ihr Dummschwätzer!«, plärrte Herr Meiers charakteristisch schrille Stimme von oben herab. Im gleichen Augenblick traf ein Aschenbecher aus Marmor einen aus der Meute an der Schulter.

Leif sah zur Straße hin. Ihm blieb fast das Herz stehen. Die Traube aus wandelnden Körpern, die den Mann verfolgt hatte, hatte weitere Schlurfer angelockt. Eine ganze Horde wälzte sich auf das Hotel zu.

Leif hob seinen Hammer auf. »Aufhören!«, schrie er, um das Geheul zu übertönen. »Nichts wie rein! Das sind zu viele!« Zu seiner Erleichterung verstanden Andreas und Herr Kowalski diesen Hinweis ohne längere Diskussion. Auch der Mann reagierte prompt.

Als hätten sie es eingeübt, ließen die Männer gleichzeitig von ihren Gegnern ab und rannten zurück ins Hotel. Leif sprang als Letzter über die Schwelle. Kaum drinnen, wirbelte er herum und warf sich gegen die Türflügel.

Die ersten Schlurfer, das sah Leif noch, hatten bereits das Podest erreicht. Dann fiel die Tür ins Schloss. Den Schlüssel hatte Leif zum Glück stecken gelassen und er drehte ihn prompt herum.

Keine Sekunde zu früh. Schon hämmerten die Schlurfer heulend auf das sieben Zentimeter dicke Eichenholz. Die Türflügel wackelten.

Leif ging auf die Knie. Er atmete schwer. Als sich seine Atmung etwas beruhigt hatte, richtete er sich wieder auf und wandte sich dem Auslöser dieser heftigen Unannehmlichkeiten zu.

Aus der Nähe betrachtet, wirkte der Mann definitiv über fünfzig Jahre alt, mit seinen buschigen Augenbrauen, den Leberflecken und den Krähenfüßen in den Augenwinkeln. Seine vormals wirr abstehenden Haare hatte er sich mit den Fingern mehr schlecht als recht über seinen sonst kahlen Kopf gestrichen.

Nun ging er zu Leif, ergriff dessen freie Hand mit beiden Händen und schüttelte sie ausgiebig. »Gott segne dich, mein Sohn, Gott segne dich! Das war wahrlich Rettung in letzter Sekunde.«

Davon völlig überrumpelt, konnte Leif nur fragen: »Wo hast du denn den Schirm her?«

»Den hat mir dieser freundliche Rentner aus dem Fenster zugeworfen. Noch mal, Gott segne dich, mein Sohn. Gott segne euch alle. Ich verdanke euch mein Leben. Ach ja, wo sind denn meine Manieren. Ich heiße Sebastian Morgenstern, einfach Sebastian für meine Freunde.«

»Geschenkt«, brummte Leif. Andreas’ Brustkorb und Kopf waren ob des Lobes merklich angeschwollen und der Rücken von Herrn Kowalski hatte sich gestrafft. Im Hintergrund kam Herr Meier die Treppe herunter und der Mann namens Sebastian winkte ihm zu, was der Rentner mit einem befremdlich seligen Lächeln erwiderte.

Leif befreite seine Hand aus dem Griff des Mannes. »Okay, ich gebe der Tür noch fünf Minuten. Wir haben die Autos soweit wie möglich beladen. Solange diese Viecher sich daran ihre Köpfe einrennen, versperren sie nicht die Ausfahrt der Tiefgarage. Andreas, du –«

Ein schauriges Jaulen schnitt Leif das Wort ab. Er schluckte und drehte sich um.

Das Klopfen war verstummt, aber das Geheul ging weiter. Immer mehr Stimmen mischten sich darunter.

Entsetzt registrierte Leif, dass sich die Türflügel nach innen wölbten.

Zu früh, dachte er. Das ist viel zu früh.

»Lauft«, flüsterte er.

Dann wirbelte er herum, packte den Nächstbesten, der sich als Sebastian herausstellte, an der Schulter und brüllte: »Lauft!«

Zu spät bemerkte er, dass niemand sich bewegte.

Als Leif den Zugang zum Flur am anderen Ende des Foyers erreicht hatte, barsten die Türflügel – und eine schier endlose Masse aus heulenden Körpern floss wie Wasser aus einem gebrochenen Damm in den Eingangsbereich.

Andreas hob die Macheten und stellte sich ihnen entgegen. Der Fluss aus Körpern riss ihn einfach von den Beinen und begrub ihn zum Teil unter sich.

Meier und Kowalski wollten ihm zu Hilfe eilen, da schrie Andreas auf. Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerzen. Gleichzeitig veränderte sich das Geheul, wurde misstönender, abgehackter.

Meier und Kowalski zuckten zurück. Andreas versuchte sich zu befreien, doch immer mehr Schlurfer quollen durch die Türöffnung. In wenigen Sekunden, die sich für Leif wie Stunden anfühlten, verschwand er komplett.

»Allmächtiger!«, hörte er Sebastian neben sich keuchen.

»Nichts wie weg!«, rief Meier und zerrte an Kowalskis Arm. Kowalski wollte dagegen aufbegehren, doch Meier schnitt ihm das Wort ab. »Der ist eine verlorene Sache. Wir müssen uns retten, und zwar schnell, bevor …«

In dem Moment lösten sich einzelne Schlurfer aus der Masse. Ihre blutverschmierten Mäuler hoben sich fast wie Signalleuchten von ihrer blassen Haut ab. Sie rannten auf Leif und die anderen zu.

»… bevor das passiert«, sagte Meier entsetzt.

Kowalski schickte zwei von ihnen mit kräftigen Schwingern seiner Tischbein-Nagelkeule zu Boden. Doch beim Dritten stockte er. Ließ die Keule sinken und streckte die Hand aus.

Der rennende Schlurfer sprang Kowalski an, umklammerte ihn mit Armen und Beinen wie ein psychotischer Affe und verbiss sich in seinen Hals. Leif hörte Kowalski noch verzweifelt »Tom!« rufen, bevor seine Worte in einem unverständlichen Gurgeln untergingen. Ein Sprühregen aus Blut schoss aus der Bisswunde wie aus einer leckgeschlagenen Spraydose. Kowalski brach zusammen.

Der Schlurfer ließ von ihm ab und rannte auf Leif zu. Aus der Masse lösten sich weitere.

Leif wirbelte herum und zerrte Sebastian mit sich. Meier folgte ihnen dicht auf den Fersen. »Warum sind die auf einmal so schnell?«, stieß Leif hervor.

»Weiß ich nicht«, gab Meier schnaufend zurück. »Aber das passiert immer, sobald sie was zu beißen hatten.«

Auf halbem Weg zum großen Speisesaal kam ihnen Frau Kowalski entgegen. Die jüngste Tochter klammerte sich an ihr Bein. »Herr Bernhard, warum rennen Sie so? Was ist los? Wo ist mein Mann?«

»Weg! Laufen Sie!«, schrie Leif ihr entgegen.

Die jüngste Tochter quietschte erfreut: »Tom! Mama, Tom ist wieder da.«

»Annika, bleib hier«, rief Frau Kowalski noch, da löste sich das Kind von ihr und rannte den Gang entlang. Im Vorbeilaufen griff Leif nach dem Mädchen – doch die Kleine tauchte einfach unter seiner Hand hinweg.

Leif drehte sich um und wünschte sich sofort, er hätte es nicht getan. Ihre drei Verfolger rannten die jüngste Kowalski-Tochter einfach nieder. Einer von ihnen war der älteste Sohn, der seit Tagen vermisst wurde. Er riss das Maul auf und seine Zähne gruben sich in das Gesicht seiner Schwester, rissen Nase, Mund und Teile ihrer Wangen ab. Leif konnte nicht sagen, wer lauter und schriller schrie, die Tochter oder ihre Mutter. »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln«, hörte er Sebastian murmeln.

Er versuchte, Frau Kowalski ebenfalls mitzureißen, aber die schüttelte ihn einfach ab, und brach schluchzend an Ort und Stelle zusammen.

Leif blieb stehen. »Kommen Sie! Sie können ihr nicht mehr helfen.« Die Läufer kamen rasch näher.

Herr Meier legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Gehen sie. Ich bleibe bei ihr.« Der Rentner nahm Sebastian ohne Widerstand den Regenschirm ab.

Leif hatte das dringende Bedürfnis, wütend aufzuschreien. Aber er beherrschte sich, packte Sebastian und zerrte ihn weiter.

Gleich darauf verwandelte sich das Schluchzen hinter ihm in laute Schreie. Herr Meier fluchte und schimpfte, das ging aber abrupt im Geheul unter. Leif rannte weiter. Das Adrenalin wirbelte durch seinen Körper, ließ sein Herz wie verrückt schlagen. Er atmete schnappend, abgehackt.

Der verdammte Flur schien kein Ende nehmen zu wollen. Etwas wischte hinter Leifs Nacken durch die Luft, nahe genug, dass er den Luftzug spürte. Gleich darauf heulte dicht hinter ihnen ein Läufer, abgehackt, meckernd. Als würde die Kreatur ihre Bemühungen verspotten.

Zorn wallte in Leif empor. Mit ihm einher ging ein Kräfteschub. Leifs Schritte beschleunigten sich und aus dem Augenwinkel konnte er sehen, wie sein Verfolger etwas zurückfiel.

Dann erreichten er und Sebastian endlich den Speisesaal.

Und Leif stolperte prompt über die Türschwelle.

Im letzten Moment konnte er sich drehen, so dass er auf der Seite landete und nicht mit dem Gesicht frontal den Teppich küsste. Das war aber auch schon alles, der Aufprall schickte eine Welle aus brennendem Schmerz durch seine Schulter. Geistesgegenwärtig hatte er im Fallen immerhin Sebastian losgelassen.

Durch den Nebel der Schmerzen wälzte sich Leif auf den Rücken – und konnte im letzten Moment seinen Zimmermannshammer hochreißen.

Derjenige, der früher Tom Kowalski gewesen war, stürzte sich auf ihn, die Hände zu Klauen gekrümmt, Blut und Geifer aus seinem Maul triefend.

Mit der Kraft schierer Verzweiflung schlug Leif blindlings zu – und traf!

Der Aufprall machte ein Geräusch, als hätte er auf eine volle Schachtel Frühstücksflocken eingeschlagen und verwandelte das Gesicht des Jungen in eine blutige Ruine. Körperflüssigkeit und Knochensplitter und andere unaussprechliche Dinge regneten auf Leif herab. Er schrie auf, teils aus Angst, teils um seinen Ekel zu unterdrücken, riss ein Bein hoch und schob seinen Feind von sich herunter.

Ein lautes Poltern drang an seine Ohren. Leif sah sich hektisch um und entdeckte einen Esstisch, der plötzlich vor der Türöffnung lag. Im nächsten Moment krachte es vernehmlich, als mehrere Läufer mit voller Wucht dagegen rannten.

Den immer noch heftigen Schmerz in seiner Schulter ignorierend, rappelte Leif sich wieder auf. Er entdeckte Sebastian, der sich mit einem Golfschläger überraschend geschickt gegen einen Angreifer zur Wehr setzte. Ein anderer lag bereits regungslos auf dem Boden.

»Ausfall, Finte, doppelt kaviert«, sagte Sebastian mit ruhiger Stimme, als würde er ein Billardturnier kommentieren.

Gurgeln und Blubbern machten Leif darauf aufmerksam, dass der frühere Tom Kowalski noch nicht ganz außer Gefecht war. Er wirbelte herum und konnte gerade noch mit dem Hammer zuschlagen, als der älteste Sprössling der Kowalskis sich erneut auf ihn stürzen wollte.

Sein Schlag riss einen großen Teil des Schädels und der darunterliegenden grauen Masse ab. Tom brach einfach zusammen, wie eine Marionette mit durchtrennten Fäden.

Leif hatte keine Zeit, seinen Triumph zu genießen oder sich erleichtert zu fühlen. Weitere Läufer hatten die improvisierte Barriere überwunden. Zwei kamen auf ihn zu. Mit einem fast komisch anmutenden Hopser über einen Stuhl brachte Leif sich aus ihrer unmittelbaren Reichweite. Sofort trat er den Stuhl dem nächsten Läufer zwischen die Beine. Zu seinem Verdruss stieß sein Gegner das Möbelstück einfach zur Seite weg, ohne auch nur aus dem Tritt zu geraten oder langsamer zu werden.

Leif wich einem Klauenarm aus, packte den anderen und riss hart daran. Der Läufer konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten und fiel seinem Kompagnon vor ebendiese. Ineinander verknäult gingen sie zu Boden.

Im Nu war Leif über ihnen und schlug auf sie ein, versuchte ihre Köpfe zu treffen. Das gelang ihm auch bei einem, aber sein Hammer blieb wieder stecken. Als er ihn befreien wollte, riss ihn ein ungeschickter Schwinger des anderen Läufers von den Füßen.

Hart schlug Leif auf dem Veloursteppich auf, was seinen Sturz nur leicht dämpfte. Kurz wurde ihm schwarz vor Augen. Er spürte noch, wie ihn der Läufer am Bein packte. Das war es dann, dachte er resigniert.

Doch der erwartete Schmerz blieb aus. Es gab nur ein dumpfes Klatschen.

Ächzend richtete Leif sich auf.

Der Körper lag regungslos neben ihm, sein Kopf mit dem aufgerissenen Maul nur wenige Zentimeter von Leifs Bein entfernt. Ein Messer steckte in seinem Nacken, welches der stellvertretende Manager jetzt hinauszog. In der anderen Hand hielt er das Hackbeil. Er lächelte.

Leif kam wieder auf die Füße. »Was machen Sie hier? Sollten Sie nicht in der Tiefgarage warten?«

»Ist Ihnen der Ausdruck ›Der Kapitän geht mit dem Schiff unter‹ vertraut?« Der Manager machte eine allumfassende Handbewegung. »Nun, das Hotel Waldesruh ist mein Schiff. Ich bin zwar nicht sein Kapitän, aber der ranghöchste Offizier, um diese Metapher etwas weiter zu verwursten. Deswegen ist diese Pflicht an mir. Also gehen Sie. Ich habe das Rolltor bereits hochgezogen.«

Leif zuckte zusammen. »Dann sind meine Tochter und die anderen …«

»Diskutieren Sie nicht mit mir!«, herrschte ihn der Manager an. »Gehen Sie!«

Leif wollte etwas einwenden, wollte gegen diese Entscheidung argumentieren. Schnell stellte er fest, dass er keine Argumente finden konnte. Und den Mann anbetteln wollte er nicht. Stattdessen wandte er sich ab und befreite seinen Hammer aus dem Kopf des Läufers.

Sebastian eilte hinzu. »Da kommen noch mehr.« Lautes Geheul und trampelnde Schritte untermalten seine Worte.

Leif wollte davonlaufen. Aber etwas hielt ihn noch fest. »Wir stecken hier seit Tagen fest und ich kenne nicht mal Ihren Namen.« Er schüttelte den Kopf. Mann, ist das dämlich.

»Otto«, sagte der stellvertretende Manager. »Otto Meißner. Und jetzt gehen Sie endlich.«

»Aber …«, wollte jetzt auch Sebastian einwenden. Leif packte ihn am Arm und zerrte ihn mit.

Auf der Treppe zur Tiefgarage riss Sebastian sich los. »Sie können ihn doch nicht einfach so sterben lassen.«

»Wieso nicht?«, sagte Leif tonlos. Er fühlte sich innerlich ausgehöhlt, wie eine dieser Holzfiguren aus Russland. »Das ist mir bei den anderen doch auch sehr gut gelungen.« Jetzt brannten seine Augen leicht. »Was ist nur schiefgegangen? Ich habe doch alles genau überlegt und geplant.«

»Der Herrgott allein kennt die Wahrheit hinter deinen Absichten und so sie rein und edel sind, wird er dir verzeihen«, hörte er Sebastian sagen, aber die Worte klangen im wahrsten Sinne des Wortes einfach hergebetet. Wie die hohlen Phrasen, die Leifs direkter Vorgesetzter immer bei den wöchentlichen Meetings aus dem Internet zog und seinen Mitarbeitern um die Ohren drosch.

Tessa stand unten am Fuß der Treppe. »Papa!«, rief sie schluchzend.

»Tessa!« Leif raste die Treppe hinab, mehrere Stufen auf einmal nehmend, und schloss seine Tochter in die Arme. »Liebes, was ist denn?«

»Frau … Frau Meier. Sie … sie ist ganz plötzlich …« Weiter kam Tessa nicht. Sie brach in Tränen aus.

»Ist ja gut, ist ja gut«, flüsterte Leif und streichelte ihr über den Kopf. »Ich sehe gleich nach ihr.«

Tessa nickte. Dann zuckte sie zurück. »Wer ist denn das?«, schniefte sie und wischte sich die Augen.

»Das ist Sebastian«, sagte Leif.

»Gott zum Gruße«, sagte der.

»Hi«, erwiderte Leifs Tochter schüchtern.

»Das ist vielleicht spät«, sagte Leif, »aber ich hab mich nicht vorgestellt. Leif Bernhard. Das ist meine Tochter Tessa.«

Hinter ihnen heulten die Kreaturen. Tessa zuckte zusammen. Leif schätzte, dass Meißner auch nicht mehr unter ihnen weilte. Wortlos schob er seine Tochter und Sebastian in die Tiefgarage und schlug die schwere Feuerschutztür zu.

Schwaches Licht aus dem offenen Rolltor erhellte die Tiefgarage nur unzureichend. Frau Meier saß auf dem Beifahrersitz ihres Golfs. Sie rührte sich nicht, das konnte Leif gleich sehen. Ihre Haut wirkte bleich und wächsern. Ihr Kopf war nach vorne auf ihre Brust gesunken. Nur der Sicherheitsgurt hielt sie noch an Ort und Stelle.

Svenja stand neben dem Wagen und wirkte ratlos.

»Wurde sie gebissen?«, fragte Leif.

»Ja, schön, dass dir auch nichts passiert ist, du Arsch«, erwiderte sie. »Nein, sie wurde nicht gebissen. Sie hat einfach nur gesagt, es wäre Zeit für ihre Tablette und kurz darauf ist sie einfach … hm, ja.« Sie machte eine hackende Geste über ihren Hals.

Linkisch griff Leif in den Wagen und fühlte Frau Meiers Puls, wie er es in grauer Vorzeit in seinem Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte. Nachdem er da nichts spürte, hielt er ihr die offene Hand unter die Nase.

Auch nichts.

Er sah ihr ins Gesicht. Ihre Augen waren leer, gebrochen. Aber nicht milchig. »Wie lange ist sie schon so?«

Svenja zuckte mit den Schultern. »Was weiß ich? Vielleicht fünf Minuten? Bin ich CSI: Schwarzwald, oder was?«

Leif überlegte. »Sie hat ihre Tablette genommen?« Er sah ins Auto. Im Fußraum fand er Frau Meiers Handtasche. Leif durchwühlte sie. Tabletten fand er keine. Dafür einen leeren Plastikstreifen, der laut Aufdruck Nitroglyzerinkapseln enthalten hatte. Leif konnte sich den Rest erklären. »Sie hat wohl ein Herzleiden gehabt. Und als wir hier festsaßen, sind ihr die Tabletten ausgegangen. Aber sie hat aus Gewohnheit weiter so getan, als würde sie sie nehmen. Bis es dann nicht mehr ging.«

Betretenes Schweigen. Sebastian griff in das Auto und verschloss die Augen der Rentnerin. »Der Heilige Geist empfange dich und geleite dich sicher auf allen Wegen«, murmelte er.

»Wege sind ein gutes Stichwort«, sagte Leif. »Fahren wir.«

»Moment mal«, fuhr Svenja dazwischen. »Wo ist mein Andy? Und die Kowalskis?«

»Sie … sie haben es nicht geschafft. Die jüngste Tochter auch nicht.«

Leif rechnete damit, dass Svenja in Tränen ausbrechen oder loskreischen würde. Stattdessen sagte sie einfach nur: »Oh.«

»Kannst du das Auto der Kowalskis nehmen? Die übrigen Kinder sind ja schon drin.« Und es dauert mir zu lange, noch mal alles umzupacken, dachte er.

»Klar«, sagte Svenja nur. Aber sie holte dennoch eine Sporttasche aus ihrem Mini und steckte sie in den Peugeot 306 der Kowalskis.

Leif beglückwünschte sich insgeheim dafür, darauf bestanden zu haben, dass die Autoschlüssel in den Autos aufbewahrt wurden. Er hatte keine Lust, noch mal in diese Hölle zurückzumüssen, nur weil jemand sich nicht von seinem Schlüssel trennen wollte.

Tessa hatte Sebastian auf einen Wink von Leif hin schon zum Hyundai Tucson der Familie Bernhard gebracht. Sie schnallten sich gerade an, als Leif ein lautes Pochen an der Feuerschutztür hörte. Er rannte zu dem SUV, gurtete sich an und startete den Motor.