34

Clare fuhr zeitig zum Revier. Rita Mkhize war schon da und hatte eine Liste mit Telefonnummern von Floristen vor sich liegen.

»Hi, Clare. Danke.« Sie freute sich über den mitgebrachten Cappuccino. »Raten Sie mal, wer gestern im Sushi-Zen hätte gewesen sein können?«

»Wer?«, fragte Clare.

»Brian King. Indias Stiefvater. Er hatte für neun einen Tisch reserviert. Aber er ist nicht erschienen.«

Clare rührte Zucker in ihren Kaffee. »Warum hat er es sich wohl anders überlegt? Haben Sie bei den Floristen schon etwas erreicht?«

»Überhaupt nichts. Die öffnen alle erst um halb zehn. Auf der Straße am Fundort wurde übrigens auch nichts gefunden. Falls da Reifenspuren waren, wurden sie durch die Ambulanz zerstört, die dort geparkt hat.«

Riedwaan kam mit Piet Moutons Autopsiebericht.

»Dieses Mal war eindeutig Raserei im Spiel«, sagte er. »Schau her.« Er überblätterte Moutons sorgfältige Zeichnungen der Leiche. »India hatte eine Prellung am Hinterkopf, und es gibt, anders als bei den ersten beiden, eindeutige Hinweise auf eine Vergewaltigung.«

»Körperflüssigkeiten?«, fragte Clare.

»Kein Sperma. Mouton glaubt, dass sie mit einem stumpfen hölzernen Gegenstand vergewaltigt wurde. In der Vagina waren Splitter. Die werden jetzt untersucht.«

»Blutspuren?«, fragte Rita, die sich auf Riedwaans Schreibtischkante gesetzt hatte.

»Etliche unter ihren Fingernägeln. Ihre Mundhöhle ist ziemlich zerfetzt. Blutergüsse im Gesicht. Es sieht danach aus, als wäre sie erstickt. Aber sie hat sich heftig gewehrt, bevor sie starb.«

»Todeszeitpunkt?«, fragte Clare.

»Maximal eine Stunde, bevor sie gefunden wurde. Piet glaubt, dass ihr die Kehle nach dem Tod durchgeschnitten wurde. Aber der Mörder muss sich beeilt haben, weil so viel Blut am Fundort war.«

»Er muss sie in der Nähe des Fundorts gefangen gehalten haben«, sagte Rita.

»Das müssen wir rauskriegen, bevor noch ein Mädchen stirbt«, sagte Riedwaan. »Mkhize, Sie kommen mit. Ich möchte mich noch mal mit Luis Da Cunha unterhalten. Es könnte sich lohnen herauszufinden, wo der gestern Nacht gesteckt hat.«

»Du klammerst dich aber wirklich an jeden Strohhalm, Riedwaan«, sagte Clare.

»Hast du einen besseren Vorschlag? Soll ich vielleicht einfach hier herumsitzen und dir beim Denken zuschauen?«

Clare schüttelte den Kopf und zog wortlos den Autopsiebericht zu sich heran, während die beiden anderen den Wohnwagen verließen. Sie verglich die drei Morde, heftete alles, was sie hatte, an die Pinnwände, die sie in dem provisorischen Büro aufgestellt hatten. Charnay war aus Waterfront verschwunden, Amore aus dem Canal Walk, India auf der Long Street. An all diesen Orten herrschte an Wochenendabenden Hochbetrieb. Piet Mouton hatte festgestellt, wie sie ermordet worden waren. Sie kannten die Fundorte der Leichen. Da war die Ähnlichkeit, Alter, Haarfarbe… aber sonst war der Mörder die einzige Verbindung zwischen den drei Mädchen.

Warum waren sie ermordet worden? Clare machte sich noch eine Tasse Pulverkaffee, der scheußlich schmeckte, und dachte an den Schlüssel, den jedes der Mädchen in der zusammengebundenen Faust gehalten hatte. Billige Schlüssel, nicht zurückverfolgbar. Duplikate aus irgendeinem Schlüsselschnelldienst eines Einkaufszentrums.

Sie trank einen Schluck Kaffee und schaute dabei hinaus auf den schmutzigen Sandstreifen hinter dem Wohnwagen.

»Was denkst du, Clare?« Sie hatte Riedwaan nicht hereinkommen hören.

»Was war denn mit Da Cunha?«, fragte sie im Gegenzug.

»Verreist. Die ganze Familie ist letzte Woche zu einer Hochzeit nach Portugal geflogen. Damit ist er aus dem Schneider.«

Clare deutete auf die Pinnwände. »Da muss mir etwas entgangen sein. Er hält die Mädchen ganz in der Nähe gefangen. An einem Ort, an dem vermutlich täglich Leute vorübergehen. Es gibt keine Verbindung zwischen diesen Mädchen. Charnay ist nebenher auf den Strich gegangen, aber ich glaube, das war ein Zufall. Der Täter ist keiner mit einer Mission – unterwegs, weil er die Stadt von Prostituierten säubern will. Diese Mädchen waren allein auf der Straße. Aber bei den letzten beiden nehmen wir an, dass sie nach Hause wollten. Bei Charnay wissen wir das nicht. Sie war allerdings so hübsch und so jung, dass sie wählerisch sein konnte. Ich nehme an, sie wäre beispielsweise bereitwillig mit einem Kunden mitgegangen, vor allem mit einem, den sie schon kannte.«

Riedwaan kam her und stellte sich hinter sie. »Wir haben alles in ihrem Terminkalender überprüft«, sagte er. »Da steht drin, wann sie gearbeitet hat, aber nicht, wer ihre Kunden waren.«

»Glaubst du, wir sollten ihren fiesen kleinen Bruder mit einbeziehen?«

»Rita und Joe haben noch einmal mit ihm gesprochen. Hier.« Riedwaan holte die Notizen von seinem Schreibtisch. »Sein Alibi ist wasserdicht. Es wird dich interessieren, dass zwei Anzeigen gegen ihn vorliegen.«

»Die Tätlichkeiten bei dem Rugby-Spiel?«

»Das ist die eine Anzeige, ja. Die andere ist neueren Datums. Ein Mädchen aus seiner Klasse hat ihn wegen sexueller Belästigung angezeigt.«

»Gewalttätig?«

»Nein«, sagte Riedwaan. »Er wird beschuldigt, eine Webcam im Umkleideraum der Mädchen installiert zu haben. Und die Aufnahmen hat er ins Netz gestellt.«

»Reizend«, sagte Clare.

Rita kam jetzt auch herein und setzte sich wieder auf Riedwaans Schreibtischkante.

»Haben Sie eigentlich inzwischen auf der Website von Isis nach einem Bild von Charnay gesucht?«, fragte Riedwaan sie.

»Habe ich. Keine Spur von ihr. Charnay muss schließlich doch Schiss bekommen haben.«

»Ihre Freundin Cornelle ist im Club Hostess«, sagte Clare.

»Ich habe schon mit ihr gesprochen«, sagte Rita. »Aber sie ist tatsächlich nur Hostess. Sie spielt nicht in Filmen mit.«

»Was ist mit Amore Hendricks?«, fragte Clare. »Sie sollte sich um halb elf am Taxistand mit ihrem Onkel treffen.«

»Wir wissen nicht einmal mit Sicherheit, dass sie aus dem Canal Walk entführt worden ist«, sagte Rita. »Sie kann überall hingegangen sein.«

»Sie muss unterwegs jemand getroffen haben. Und es muss jemand gewesen sein, den sie kannte«, sagte Clare.

»Was ist mit dem Anruf ihres Onkels um Viertel vor elf?«, fragte Riedwaan.

»Er hat nicht mit ihr gesprochen, weißt du noch? Ich vermute, dass sie irgendwo Station gemacht hat, vermutlich im Freien.« Sie sah in ihren Notizen nach. »Hier. An jenem Abend war es relativ warm, und es waren jede Menge Leute unterwegs. Falls ihr jemand etwas in den Drink getan hat, wäre es sehr einfach gewesen, sie in ein Auto zu ziehen.«

Riedwaan griff nach dem Autopsiebericht über India. »Das letzte Mädchen hat aber auch noch einen harten Schlag auf den Kopf bekommen. Piet Mouton ist sich ziemlich sicher, dass es ein Schlag mit einer Eisenstange war.«

»Es überrascht mich, dass er sie damit nicht totgeschlagen hat«, sagte Clare.

»Schaut her.« Riedwaan hielt zwei Fotos hoch. »Piet glaubt, dass sie ihn gewittert, vielleicht gesehen hat und fliehen wollte. Schaut euch die blauen Flecken am Arm an. Da muss er sie gepackt und dann zugeschlagen haben, als sie versuchte, wegzulaufen.«

»Was steht in diesem Bericht über Fasern in der Wunde?«

»Er hat sie allem Anschein nach aufgehoben und in ein Auto verfrachtet. Piet glaubt, dass die Wollfasern von einem Mantel stammen, höchstwahrscheinlich aus schwarzem Kaschmir.«

»Teure Garderobe«, sagte Clare. »Das entlastet unseren kleinen Koch.« Sie hatten Xavier schnell gefunden; er saß in Untersuchungshaft.

Riedwaan blätterte die Seite um. »Hört euch das an: Partikel eines Acrylteppichs. Vermutlich aus dem Kofferraum eines Autos.«

»Lässt sich die Marke feststellen?«

»Sie arbeiten daran, aber ich bezweifle es. Falls das Auto gefunden wird, sind Blutspuren auf dem Teppich.«

»Das ist alles, was du hast?«

»Ja. Bis auf einen Handyanruf bei ihrer Freundin Gemma um halb elf. Sie hat zu Gemma gesagt, sie habe versehentlich Gemmas Schal statt ihrem mitgenommen und komme am nächsten Tag vorbei, um ihn ihr zurückzugeben.«

»Sie hat nicht gesagt, wie sie nach Hause kommen will?«, fragte Clare.

»Nein, aber Gemma hatte den Eindruck, dass sie während des Gesprächs zu Fuß unterwegs war.«

»Auf der Long Street?«

»Davon hat sie nichts zu Gemma gesagt. Aber in der Pool Bar war eine Party, und Gemma hat gedacht, dass India vielleicht dort hingeht. Der DJ war früher auf ihrer Schule.«

»Habt ihr mit ihm gesprochen?«

»Mit ihr, genauer gesagt. Ja, haben wir. India hat zu ihr gesagt, sie schaut mal rein, aber sie hat sie nicht zu Gesicht gekriegt. Der Türsteher auch nicht«, sagte Riedwaan.

»Hat sie sonst jemand gesehen?«, fragte Clare.

»Nur der Wachmann des 7-Eleven-Ladens. Er hat sie kurz vor elf an den Long Street Baths vorbeigehen sehen.«

»Sonst niemand?«

»Niemand. Als ob sie sich in Luft aufgelöst hätte. Am einfachsten wäre es wohl gewesen, sie in der Keerom Street zu entführen. Von da aus kommt man in die Wale Street, und dort ist niemand mehr, von dem man gesehen werden könnte.«

»Die Stadtstreicher?«

»Auch nicht. Wir haben es überprüft.« Riedwaan schüttelte den Kopf. »Als Indias Mutter mich angerufen hat, kurz nachdem …« Er sprach nicht weiter.

»Ich konnte Constance nicht im Stich lassen.«

»Du willst sie nicht loslassen. Du hast Angst davor, sie loszulassen.« Riedwaans Zorn flammte nur einen Moment lang auf. »Ag, es tut mir doch auch leid. Ich hatte mich nur darauf gefreut, dich mal ein bisschen zu verwöhnen.« Er fasste nach ihrer Hand, und ihre Finger schlossen sich um seine. Rita beugte sich über den Schreibtisch und ordnete die herumliegenden Notizblätter zu geraden Stapeln.

Clare erschauerte bei der jähen Freude, die ihr über die Haut lief. »Soll ich noch mal mit den Eltern reden?«, fragte sie.

»Ja, mach das. Sprich mit ihrer Mutter und krieg raus, was Brian King gemacht hat. Warum er nicht im Restaurant war.« Riedwaan legte Clares Nacken frei und küsste ihn. »Ich kümmere mich um die Autowerkstätten. Frag rum, ob jemand ein Auto mit einem schmutzigen Kofferraumteppich vorbeigebracht hat.«

»Okay.«

Riedwaan ging hinaus und machte die Tür hinter sich zu. Clare presste die Hände gegen die Schläfen, um den Trommelwirbel aus warum, warum, warum abzustellen. Sie bekam davon Kopfschmerzen.

»Gehen Sie nach Hause«, sagte Rita. »Es ist nicht einfach.«

»Mit dem Fall oder mit dem Mann?«, fragte Clare.

»Beides, sisi, beides.«

Blutsbraeute
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